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Viertes Buch.
Melpomene

Viertes Buch

1. Nach Babylons Eroberung geschah der Zug des Dareios gegen die Szythen. Denn da Asien voll bevölkert und reich an Staatseinkünften war, so bekam Dareios Lust, die Szythen dafür büßen zu lassen, daß sie zuerst durch ihren Einfall ins Medische und die Überwältigung aller, die sich ihnen entgegenstellten, mit Beleidigungen angefangen hatten. Es haben nämlich über Vorderasien, wie schon früher von mir erzählt worden ist, die Szythen achtundzwanzig Jahre geherrscht. In Verfolgung der Kimmerier fielen sie in Asien ein und entrissen dort den Medern die Herrschaft. Diese herrschten nämlich vor Ankunft der Szythen über Asien. Als nun die Szythen, die achtundzwanzig Jahre im Auslande waren, nach so langer Zeit in ihre Heimat zurückkehrten, wartete ihrer keine geringere Kampfarbeit, als die medische war, indem sie da ein nicht kleines Heer von Gegnern fanden. Die Weiber der Szythen waren nämlich, als ihre Männer so lange Zeit ausblieben, zu ihren Sklaven gegangen.

[Anmerkung:] 1. Der Einbruch der Kimmerier in Kleinasien erfolgte um 700 v. Chr. Die Szythen fielen ins Mederreich um 633 v. Chr. ein. Die Motivierung der Züge des Dareios durch diese weit zurückliegenden Ereignisse ist poetisch, doch pflegt man auf solche Erinnerungen zurückzugreifen, sobald der Krieg im Gange ist. Ranke (Weltgeschichte, Band I, Kapitel 6) hält Herodots Motivierung für richtig: »Es lag im Zusammenhange der allgemeinen Politik des Darius, daß er, nachdem er so viele andere Gegner niedergeworfen, auch einer Wiederkehr jener Anfälle, mit denen die Szythen einige Jahrzehnte vorher Asien und die Kulturwelt heimgesucht hatten, auf alle Zeit vorzubeugen unternahm.«

 

2. Die Szythen blenden aber alle ihre Sklaven, der Milch wegen, die ihr Getränk ist. Sie bereiten sie in folgender Weise: Erst nehmen sie knöcherne Blaseröhren, die ganz wie Flöten aussehen, stecken sie in die Scham der Stuten und blasen mit dem Munde hinein; während einer bläst, melkt immer der andere. Nach ihrer Aussage verfahren sie deshalb so, weil von dem Blasen die Adern der Stute anschwöllen und so das Euter sich herabbewege. Haben sie nun die Milch gemolken, so schütten sie dieselbe in hölzerne Bütten und dann stellen sie die Blinden dicht an den Bütten herum und lassen sie die Milch schütteln. Was sich nun oben aufsetzt, nehmen sie ab, und das halten sie für das Köstlichere, was sich aber unten setzt, für schlechter. Deshalb blenden die Szythen jeden, den sie fangen, denn sie sind keine Ackerbauer, sondern Nomaden.

3. Von diesen ihren Sklaven also und ihren Weibern war ihnen ein junges Volk aufgewachsen, und als diese ihrer Abkunft innewurden, stellten sie sich ihnen bei ihrer Rückkehr aus Medien entgegen. Zunächst schnitten sie das Land ab durch einen breiten Graben, den sie aushoben. Er erstreckte sich vom Taurischen Gebirge bis zum See Maiotis, wo dieser am größten ist. Dann rückten sie auch gegen die Szythen, als diese einzudringen versuchten, zur Schlacht aus. Da nun die Szythen in mehreren Schlachten keinen Vorteil im offenen Kampfe gewinnen konnten, sagte einer von ihnen folgendes: »Ihr Szythen, was tun wir? In Schlachten mit unsern Sklaven lassen wir uns töten, – und werden so immer weniger –, und töten sie, – und werden so inskünftige über weniger herrschen. Nun aber halte ich dafür, wir begeben uns der Speere und Bogen und gehen jeder mit seiner Pferdepeitsche auf sie los. Denn da sie uns bisher mit Waffen in der Hand sahen, glaubten sie, uns gleich und von gleichem Samen zu sein; werden sie aber erst Peitschen anstatt der Waffen in unserer Hand erblicken, so wird ihnen aufgehen, daß sie unsere Knechte sind, und in diesem Bewußtsein werden sie nicht standhalten.«

4. Als das die Szythen hörten, brachten sie es in Ausführung. Da wurden jene so stutzig durch den Streich, daß sie an keine Schlacht mehr dachten, sondern flohen. So haben die Szythen über Asien geherrscht, und auf solche Art sind sie, als sie wiederum von den Medern vertrieben wurden, in die Heimat zurückgekehrt. Nun aber wollte sie Dareios büßen lassen und zog ein Heer gegen sie zusammen.

5. Wie nun die Szythen sagen, so wäre ihr Volk von allen das jüngste, und das sei so gekommen. Der erste Mensch, der ins Land kam, als es noch eine Wüste war, habe Targitaos geheißen, und dieser Targitaos habe zu Eltern, sagen sie, – was sie mir nicht glaublich machen, indessen sagen sie's, – Zeus und die Tochter des Stromes Borysthenes gehabt. Von solchem Herkommen also sei Targitaos gewesen, und von ihm seien drei Söhne entsprossen, Lipoxaïs, Arpoxaïs und als der jüngste Kolaxaïs. Unter deren Herrschaft seien goldene Geräte vom Himmel herab ins Szythenland gefallen, ein Pflug, ein Joch, eine Streitaxt und eine Schale. Das habe zuerst der Älteste von ihnen erblickt, der hinzugegangen sei, um es zu nehmen, bei dessen Annäherung aber habe das Gold gebrannt. Darauf habe er sich entfernt und der zweite sei herangetreten, aber das Gold habe es wieder ebenso gemacht. Diese also habe das Gold mit seinem Brennen abgehalten, vor dem dritten aber, dem Jüngsten, sei seine Flamme erloschen, und so habe er's nach Hause getragen. Darauf hätten die ältern Brüder das Königtum dem Jüngsten zuerkannt und es ihm ganz überlassen.

6. Von Lipoxaïs nun sollen diejenigen Szythen stammen, die Auchaten mit ihrem Stammesnamen genannt werden, und von Arpoxaïs, dem Mittleren, die, welche Katiarer und Traspier genannt werden, vom jüngsten Bruder aber die königlichen Szythen, die Paralaten genannt werden; allesamt sollen sie den Namen Skoloter haben, nach dem Namen des Königs Skolotos. Szythen aber sind sie von den Hellenen benannt worden.

[Anmerkung:] 6. Das Wort Szythe bedeutet »Schütze« und ist nicht griechisch, sondern szythisch. Die Griechen am Pontos übertrugen das Wort auf das ganze Volk, weil sie dessen Geschicklichkeit im Bogenschießen bewunderten.

 

7. Dies, sagen die Szythen, sei ihr Ursprung, und die Gesamtzahl der Jahre seit der Zeit ihres Ursprunges, vom ersten Könige Targitaos an bis zu des Dareios Übergang zu ihnen, sei tausend, sagen sie, und nichts darüber. Jenes heilige Gold aber hüten die Könige aufs äußerste und nahen ihm alljährlich mit großen Sühnopfern. Wer aber am Feste das heilige Gold unter freiem Himmel hütet und dabei einschläft, von dem sagen die Szythen, daß er das Jahr nicht überlebe, und deshalb bekomme er so viel, als er an einem Tage mit seinem Pferde umreiten könne. Aus dem ganzen großen Lande nun habe Kolaxaïs drei Königtümer für seine Söhne geschaffen und darunter eines am größten gemacht, in dem das Gold bewacht werde. Was aber weiter hinauf gegen den Nordwind jenseits ihres Landes liege, seien sie nicht mehr imstande zu erschauen oder zu durchwandern vor lauter Gestöber von Federn; denn Erde und Luft seien so voll von Federn, daß man nichts sehen könne.

8. Das sagen die Szythen über ihr eigenes und das jenseitige Land, die Hellenen am Schwarzen Meere aber folgendes: Als Herakles die Rinder des Geryones wegtrieb, sei er auch in dieses Land gekommen, das jetzt die Szythen beweiden, das damals aber eine Wüste war. Des Geryones Wohnland sei aber weit entfernt von dem Lande Pontus, die von den Hellenen Erytheia genannte Insel bei Gadeira, das jenseits der Säulen des Herakles am Okeanos liegt. Vom Okeanos sagen sie wenigstens, er umströme von Sonnenaufgang her die ganze Erde, können es aber nicht wirklich dartun. Von da sei Herakles in das jetzt so genannte Szythien gekommen, sei dort von Winter und Eiskälte überfallen worden, habe sich in sein Löwenfell gewickelt und sei eingeschlafen. Nun seien seine Pferde, die unterdessen ausgespannt weideten, durch göttliche Schickung abhanden gekommen.

[Anmerkung:] 8. Gadeira: Kadiz.

 

9. Herakles habe sie nach dem Erwachen gesucht und sei nach Durchmusterung des ganzen Landes zuletzt in das sogenannte Waldland gekommen. Da habe er in einer Höhle eine doppelgestaltige Halbjungfrau, Echidna, gefunden, die von den Hinterbacken an den Oberleib eines Weibes, darunter aber die Gestalt einer Schlange hatte. Indem er diese mit Verwunderung betrachtete, habe er gefragt, ob sie keine verlaufenen Pferde gesehen habe. Da habe sie erklärt, sie habe sie und werde sie ihm nicht eher wiedergeben, als bis er bei ihr geschlafen habe. Herakles habe um diesen Preis bei ihr geschlafen. Nun habe sie aber die Zurückgabe der Pferde noch verschoben, weil sie den Herakles, je länger, je lieber, bei sich haben wollte, während er entschlossen war, mit dem Seinigen abzuziehen. Zuletzt habe sie bei der Wiedergabe zu ihm gesprochen: »Ich habe dir also die Pferde, die hierher kamen, erhalten, und du hast mir den Lohn für ihre Rettung bezahlt; denn ich habe von dir drei Söhne. Sage nun du, was geschehen soll, wenn diese groß sind. Soll ich ihnen hier Wohnplätze geben, da ich Herrin von diesem Lande bin, oder sie dir zuschicken?« Das sei ihre Frage gewesen, und darauf soll er geantwortet haben: »Wenn deine Söhne zu Männern erwachsen sind, so wirst du es am besten also machen. Welchen von ihnen du diesen Bogen so spannen und mit diesem Gürtel sich so umgürten siehst, den mache zum Einwohner dieses Landes! Wer aber in diesen von mir vorgeschriebenen Stücken zurückbleibt, den schicke aus dem Lande fort! Wenn du so verfährst, wirst du Freude davon haben und nach meiner Vorschrift verfahren.«

[Anmerkung:] 9. Die Halbschlange Echidna ist nach Hesiods »Theogonie« (Abstammung der Götter) die Mutter des Höllenhundes Zerberus, der Sphinx, des Meerungeheuers Szylla und ähnlicher Ungetüme.

 

10. Bei diesen Worten habe Herakles den einen seiner Bogen (deren er bis dahin zwei getragen) gespannt, vor ihren Augen seinen Gürtel angelegt und dann mit dem Bogen ihr den Gürtel übergeben, der über seinem Koppelschloß eine goldene Schale hatte. Hierauf sei er abgezogen. Nachdem die Söhne, die sie bekam, zu Männern geworden seien, habe sie ihnen zunächst Namen gegeben, habe den ältesten Agathyrsos, den folgenden Gelonos und den jüngsten Szythes genannt und habe dann, in Erinnerung des Auftrages, nach jener Vorschrift verfahren. Da hätten zwei von ihren Söhnen, Agathyrsos und Gelonos, die außerstande waren, mit der gegebenen Aufgabe fertig zu werden, das Land verlassen, von ihrer eigenen Mutter verstoßen; aber der jüngste Sohn, Szythes, der es vollbrachte, sei im Lande verblieben. Von diesem Szythes, dem Sohne des Herakles, stammten die jedesmaligen Könige der Szythen her, und von jener Schale her trügen auch jetzt noch die Szythen Schalen an ihren Gürteln, wie es damals die Mutter dem Szythes allein an die Hand gab. Das sagen die in Pontus wohnenden Hellenen.

11. Nun gibt es noch eine Sage folgenden Inhalts, die am verbreitetsten ist und auch meinen Beifall hat. Die in Asien heimischen Wanderszythen hätten, im Kriege von den Massageten gedrängt, sich über den Araxesfluß auf das Land der Kimmerier geworfen. Denn was jetzt die Szythen innehaben, das war, nach der Sage, vorher das Land der Kimmerier. Nun hätten beim Herannahen der Szythen die Kimmerier Rat gehalten über die Annäherung dieses großen Heeres, und da sei nicht eine Meinung vorhanden gewesen, sondern zwei sich heftig befehdende, die der Könige aber sei die bessere gewesen. Die Meinung des Volkes ging nämlich dahin, man müsse jetzt abziehen und sich nicht auf den Kampf gegen eine Überzahl einlassen, die der Könige aber, man müsse mit den Angreifenden den Kampf um das Land ausfechten. Es hätte nun weder das Volk den Königen noch die Könige dem Volke gehorchen wollen. Die einen hätten abziehen wollen ohne Schwertstreich, mit Preisgebung des Landes an die Angreifenden; die Könige aber hätten es für recht gehalten, in der Heimat zu fallen und begraben zu werden, statt mit dem Volke zu fliehen, in Erwägung all der Güter, die sie gehabt hätten, und all der voraussichtlichen Übel, in die man durch Flucht aus dem Vaterlande gerate. In diesem Streite der Meinungen hätten sie sich in zwei gleiche Teile geteilt und miteinander gefochten, und so hätten diese sich sämtlich gegenseitig umgebracht. Darauf habe sie das Volk der Kimmerier beim Flusse Tyras (wo auch jetzt noch ihre Grabstätte zu sehen ist) bestattet und nach ihrer Bestattung seinen Auszug aus dem Lande angetreten. Dann seien die Szythen herangekommen und hätten das leere Land besetzt.

12. Es gibt auch jetzt noch in Szythien eine Kimmerierfeste und eine Kimmerierfurt, und es gibt auch ein Land mit Namen Kimmerien und auch einen sogenannten kimmerischen Bosporos. Man sieht, daß die Kimmerier nach Asien von den Szythen verjagt sind und so die Halbinsel besiedelt haben, auf der jetzt die hellenische Stadt Sinope liegt. Auch von den Szythen ist es klar, daß sie ihnen nachgejagt und so ins medische Land eingefallen sind, indem sie ihren Weg verfehlten. Die Kimmerier flohen nämlich immer am Meeresufer entlang; die Szythen aber hatten bei ihrer Verfolgung immer den Kaukasus zur Rechten, bis sie endlich ins medische Land einfielen, indem sie sich ins Binnenland wandten. Das wäre also die andere Sage, die Hellenen und Barbaren übereinstimmend erzählen.

13. Aristeas aber, der Sohn des Kaustrobios, ein Prokonnesier, sagt in seinen Gedichten, er sei zu den Issedonen gekommen, als ein Phöbusbegeisterter, und jenseits der Issedonen wohnten die Arimaspen, einäugige Menschen, und jenseits dieser die goldhütenden Greifen, und von da jenseits die Hyperboreer bis ans Meer hinab. Er erzählt, wie alle, außer den Hyperboreern, von den Arimaspen an, sich immer auf ihre Nachbarn werfen, und so würden von den Arimaspen die Issedonen aus ihrem Lande vertrieben, und von den Issedonen die Szythen, die Kimmerier aber, die am Meere im Süden wohnten, verließen, von den Szythen bedrängt, ihr Land. So stimmt auch dieser nicht mit den Szythen über dies Land überein.

[Anmerkung:] 13. Die Hyperboreer wohnen jenseits des Boreas, des Nordwindes, in einem Sonnenlande. Das »Arimaspenlied«, das der sagenhafte Dichter Aristeas von Prokonnesos im siebenten Jahrhundert v. Chr. verfaßte, ging früh verloren. Aristeas scheint eine Reise bis nach Turkestan unternommen und darin beschrieben zu haben. Herodot rechnet ihn nicht zu den Forschern, sondern zu den Dichtern.

 

14. Woher nun Aristeas war, der so gedichtet hat, habe ich gesagt; jetzt will ich aber die Sage angeben, die ich in Prokonnesos und Kyzikos über ihn hörte. Aristeas, sagen sie nämlich, ein Bürger, der seinem Geschlechte nach ihrer keinem nachstand, sei zu Prokonnesos in einer Walkmühle, in die er ging, gestorben; darauf habe der Walker seine Werkstatt geschlossen und habe sich auf den Weg gemacht, um es den Angehörigen des Toten anzuzeigen. Als sich nun schon das Gerücht, Aristeas sei gestorben, in der Stadt verbreitet habe, sei dagegen ein Kyzikener mit Widerspruch aufgetreten, der aus der Stadt Artake kam und behauptete, er sei ihm auf dem Wege nach Kyzikos begegnet und mit ihm ins Gespräch gekommen. So habe dieser fest widersprochen, während sich die Angehörigen des Toten in die Walkmühle mit allem Nötigen, um ihn zu bestatten, verfügt hätten. Bei Öffnung des Hauses aber habe sich kein Aristeas, weder tot noch lebendig, gezeigt. Doch im siebenten Jahre darauf habe er sich in Prokonnesos gezeigt und die Gesänge gedichtet, die jetzt bei den Hellenen »Das Arimaspenlied« heißen; nach deren Dichtung sei er zum zweitenmal verschwunden. Das sagen diese Städte.

15. Folgendes aber ist, wie ich weiß, den Metapontinern in Italien begegnet, dreihundertundvierzig Jahre nach dem zweiten Verschwinden des Aristeas, wie ich durch Rechnung in Prokonnesos und Metapontion herausgebracht habe. Die Metapontiner behaupten, Aristeas selbst habe sich in ihrem Lande gezeigt und ihnen befohlen, dem Apollo einen Altar zu errichten und dabei eine Bildsäule unter dem Namen des Aristeas von Prokonnesos aufzustellen, und zwar aus dem Grunde, weil Apollo ihnen allein unter allen Italioten ins Land gekommen sei, wobei auch er selbst, der jetzige Aristeas, ihm gefolgt sei, der aber damals, als er dem Gotte folgte, ein Rabe gewesen sei. Nachdem er das gesprochen habe, sei er wieder verschwunden. Sie aber, sagen die Metapontiner, hätten nach Delphi gesandt und den Gott befragt, was die Erscheinung des Menschen bedeute. Die Pythia habe ihnen befohlen, der Erscheinung Folge zu leisten; wenn sie ihr folgten, werde es ihnen zu Nutz und Frommen sein. So hätten sie das angenommen und in Ausführung gebracht. Daher steht auch jetzt eine Bildsäule unter dem Namen Aristeas gleich bei dem heiligen Bildnisse des Apollo, und ringsumher stehen Lorbeerbäume. Das Bildnis aber ist auf dem Markte errichtet. So viel sei von Aristeas gesagt!

[Anmerkung:] 15. Der Rabe war dem Apollo heilig. Aristeas vertrat demnach wie Pythagoras die Lehre von der Seelenwanderung und glaubte (Kapitel 13), daß Phöbus Apollo zeitweilig in seine Seele eingehe und ihr übernatürliche Fähigkeiten verleihe. Daher nennt Erwin Rohde in der »Psyche« Aristeas unter den Beispielen »für den Aufschwung der Seele ins Göttliche oder Eingehen des Gottes in die Seele. Es konnte nicht fehlen, daß an solchen Beispielen der Glaube an einen unmittelbaren Zusammenhang der Seele mit dem Göttlichen, an deren eigene Gottesnatur, sich aufrichtete, in ihnen sich, mehr als in irgend etwas sonst, bekräftigt fühlte. Es ist nicht allein in Griechenland so gegangen. Leicht mußte der Leib, in Gegensatz zu der nach Freiheit strebenden Seele gestellt, als das Hindernde, Fesselnde, Abzutuende erscheinen.« – – So sind die Nachrichten von dem Verschwinden und Wiedererscheinen des Aristeas zu beurteilen.

 

16. Niemand weiß mit Bestimmtheit, was jenseits des Landes, von dem diesmal meine Geschichtserzählung angehoben hat, liegt. Denn ich kann eben von niemand etwas erfahren, der es als Augenzeuge zu wissen behauptete; wie denn auch Aristeas, dessen ich soeben gedacht habe, in seiner Dichtung selbst auch nicht behauptet, weiter als zu den Issedonen gekommen zu sein. Das Jenseitige gibt er nur vom Hörensagen an, indem er bemerkt, daß die Sage der Issedonen so laute. Indessen soll nunmehr alles, soweit wir es wenigstens noch mit Bestimmtheit vom Hörensagen zu erfahren vermochten, gesagt werden.

17. Von dem Stapelplatze der Borystheneïten, der nämlich in der Mitte des Küstenstriches von ganz Szythien liegt – von dem an wohnen zuerst die Kallipiden, hellenische Szythen, und nördlich von ihnen ein anderes Volk, die sogenannten Alazoner. Diese nun und die Kallipiden führen sonst ganz dasselbe Leben wie die Szythen, bauen aber auch Korn und essen es, wie auch Zwiebeln, Knoblauch, Linsen und Hirse. Nördlich von den Alazonern wohnen Ackerbau treibende Szythen, die das Korn nicht zur eigenen Nahrung, sondern zum Verkaufe bauen. Noch weiter nördlich als diese wohnen die Neurer. Von den Neurern aber gegen den Nordwind ist's menschenleere Wüste, soviel wir wissen.

[Anmerkung:] 17. Stapelplatz: Die milesische Kolonie Olbia. Nicht weit von ihren Ruinen liegt Odessa.

 

18. Dies sind die Völkerschaften längs dem Hypanisflusse, gegen Abend vom Borysthenes. Jenseits des Borysthenes aber liegt vom Meere an zuerst das Waldland, und in dem höher gelegenen Lande wohnen feldbauende Szythen, die Borystheneïten genannt werden von den am Hypanisflusse wohnenden Hellenen, die sich selbst Olbiopoliten nennen. Das Gebiet dieser feldbauenden Szythen erstreckt sich gegen Morgen drei Tagereisen weit bis hinauf zu einem Flusse, der den Namen Pantikapes führt, dann gegen den Nordwind eine Fahrt von elf Tagen den Borysthenes hinauf. Was aber jenseits davon liegt, ist ein starkes Stück Wüste. Hinter der Wüste wohnen die Androphagen, ein eigenes und keineswegs szythisches Volk. Jenseits von diesen aber liegt die völlige Wüste, und da gibt es kein Volk von Menschen mehr, soviel wir wissen.

[Anmerkung:] 18. Hypanis: Bug. Borysthenes: Dnjepr. Androphagen heißt Menschenfresser.

 

19. Was aber gegen Morgen von jenen feldbauenden Szythen liegt, jenseits des Flusses Pantikapes, das haben schon Wanderszythen inne, die nichts säen noch pflügen, und deren Land ganz von Bäumen entblößt ist, außer dem Waldlande. Diese Wanderszythen haben das Land gegen Morgen inne, einen Weg von vierzehn Tagen, bis zum Flusse Gerrhos hinauf.

20. Jenseits des Gerrhos liegt das sogenannte Königsland, und in ihm wohnen die vornehmsten und zahlreichsten Szythen, welche die übrigen Szythen als ihre Knechte ansehen. Diese reichen gegen Mittag bis ans Taurische, dann gegen Morgen bis zu jenem Graben, den die Söhne der Blinden aufgeworfen haben, und an den Maiotischen See zu dem Stapelplatze, der Kremnoi heißt; andererseits reichen sie bis zum Flusse Tanaïs hinauf. Was aber jenseits der Königsszythen gegen den Nordwind liegt, bewohnen die Melanchlainen, ein anderes und nicht szythisches Volk. Jenseits der Melanchlainen sind Seen und menschenleere Wüste, soviel wir wissen.

[Anmerkung:] 20. Der Maiotische See ist das Asowsche Meer. Kremnoi heißt Klippen, Melanchlainen Schwarzröcke. Tanais: Don.

 

21. Jenseits von dem Flusse Tanaïs ist das Land nicht mehr szythisch, sondern das erste Stück gehört den Sauromaten, die das Land von der innern Bucht des Maiotischen Sees an gegen den Nordwind auf einem Wege von fünfzehn Tagen besitzen, ein von wilden und zahmen Bäumen ganz entblößtes Land. Jenseits von ihnen wohnen auf dem zweiten Stücke die Budiner auf einem mit allerlei Holz dicht bewaldeten Boden.

22. Jenseits der Budiner aber gegen den Nord ist zuerst Wüste auf einen Weg von sieben Tagen, und nach der Wüste, etwas mehr gegen den Ostwind hin, wohnen die Thyssageten, ein großes und eigenes Volk, die von der Jagd leben. Bei ihnen und in denselben Gegenden wohnen die, welche Jyrken genannt werden. Sie leben gleichfalls von der Jagd, und zwar auf folgende Art. Der Mann lauert auf einem Baume (wie denn mit solchen ihr Land überall bewachsen ist) und hat dazu auch sein Pferd, das abgerichtet ist, sich auf den Bauch zu legen, um sich klein zu machen, nebst seinem Hunde in Bereitschaft. Wenn er nun von dem Baume herab das Wild gewahrt, schießt er und besteigt dann gleich sein Pferd und verfolgt es, auch der Hund hält sich dazu. Jenseits von diesen aber, auf der Seite gegen Morgen, wohnen noch Szythen, die von den Königsszythen abgefallen und so in dieses Land gekommen sind.

23. Alles Angeführte bis zum Lande dieser Szythen ist ebener und fruchtbarer Feldboden; von da ab erstreckt sich aber rauher Steinboden. Hinter einem starken Stücke solchen rauhen Landes wohnen am Fuße hoher Berge Menschen, die nach der Sage alle von Geburt kahlköpfig sind, Männer wie Weiber, auch plattnasig, dabei ein langes Kinn haben, eine eigene Sprache reden, szythisches Gewand tragen und von Baumfrüchten leben. Pontikon ist der Name des Baumes, von dem sie leben, seine Größe ist ziemlich die des Feigenbaumes, und die Frucht, die er trägt, ist den Bohnen ähnlich, hat aber einen Kern. Wenn nun diese gereift ist, schlagen sie sie durch Tücher, so daß eine dicke schwarze Flüssigkeit herauskommt, mit Namen Aschy. Diese lecken sie und trinken sie auch mit Milch vermischt, und aus ihren dicken Trebern machen sie Matschkuchen, die sie essen. Denn Vieh haben sie nicht viel, da es bei ihnen keine rechten Weiden gibt. Seine Wohnung hat jeder unter einem Baume, und zwar im Winter so, daß er über den Baum noch einen weißen Filzteppich herdeckt, im Sommer ohne Teppich. Diesen tut kein Mensch ein Leid; denn man nennt sie heilig; auch besitzen sie kein Kriegsgerät. Sie schlichten nicht nur die Zwistigkeiten ihrer Grenznachbarn, sondern es hat auch, wer zu ihnen seine Zuflucht nimmt, von niemand mehr ein Leid zu fürchten. Ihr Name aber ist Argippaier.

[Anmerkung:] 23. Der Pontikon genannte Baum ist der Vogelkirschbaum, dessen Früchte die Baschkiren im Ural noch heute in derselben Weise behandeln.

 

24. Bis zu diesen Kahlköpfen nun hat man reichliche Kunde von dem Lande und den Völkern vor ihnen. Denn sowohl von den Szythen kommen Leute zu ihnen, von denen leicht Erkundigungen einzuziehen sind, als auch von den Hellenen aus dem Stapelplatze des Borysthenes, wie auch aus allen andern pontischen Stapelplätzen. Die Szythen, die zu ihnen reisen, machen da mit sieben Dolmetschern in sieben Zungen ihre Geschäfte.

25. Bis dahin also geht die Kenntnis. Was aber jenseits der Kahlköpfe liegt, weiß niemand mit Bestimmtheit anzugeben, da hohe Gebirge dazwischen aufragen, über die kein Pfad führt, und die niemand übersteigt. Jene Kahlköpfe sagen aber, was mir jedoch nicht glaublich ist, auf den Gebirgen wohnten ziegenfüßige Menschen und jenseits dieser wiederum Menschen, die das halbe Jahr schlafen. Das kann ich nun schon gar nicht annehmen. Ja, was gegen Morgen von den Kahlköpfen liegt, kennt man mit Bestimmtheit als Wohnland der Issedonen; doch das weitere gegen den Nordwind kennt man jenseits der Kahlköpfe so wenig als jenseits der Issedonen, abgesehen von dem, was sie davon sagen.

26. Die Issedonen haben, sagt man, folgende Bräuche. Wenn der Vater irgendeines von ihnen stirbt, bringen die Angehörigen Haustiere herbei, die sie schlachten. Beim Zerschneiden des Fleisches zerschneiden sie aber auch den toten Vater ihres Wirtes und tischen sodann von diesem untereinander gemischten Fleische ein Mahl auf. Seinen Kopf aber machen sie glatt und rein und vergolden ihn. Fortan gilt er ihnen als ein Heiligtum, dem sie alljährlich große Opfer weihen. Dies Fest hält der Sohn dem Vater, wie die Hellenen ihren Ahnentag feiern. Sonst, sagt man, sind auch sie gerechte Menschen, und ihre Frauen haben die gleiche Macht wie die Männer. Diese kennt man also auch.

27. Daß nun jenseits von diesen die einäugigen Menschen und die goldhütenden Greifen seien, sagen die Issedonen, von denen es die Szythen hören und weiter sagen, und aus dem Munde der Szythen haben wir übrigen es angenommen und nennen sie auch mit dem szythischen Namen Arimaspen. Denn Arima heißt bei den Szythen eins, und Spu heißt das Auge.

28. Alle genannten Länder haben einen so harten Winter, daß acht Monate des Jahres eine unerträgliche eisige Kälte herrscht; und wenn in dieser Zeit jemand Wasser ausschüttet, da gibt's keinen Kot; macht er aber Feuer an, da gibt's Kot. Auch das Meer friert zu und der ganze kimmerische Bosporos, und dann ziehen auf dem Eise die innerhalb des Grabens wohnenden Szythen zu Felde, und fahren darüber ihre Wagen zu den Sindern hinüber. So hält denn der Winter acht Monate bei ihnen an, und die vier übrigen ist es dort kühl. Dieser Winter ist ganz verschieden in seiner Beschaffenheit von den Wintern aller andern Länder, da es in ihm zur Regenzeit so gut wie gar nicht regnet, während es im Sommer nicht aufhört zu regnen. Zu der Zeit, in der es anderswo Donnerwetter gibt, gibt's dort keine, im Sommer dagegen gewaltige; wenn es aber im Winter ein Donnerwetter gibt, so gilt das für ein rechtes Wunderzeichen; wie es auch, wenn ein Erdstoß geschieht, sei es nun im Sommer oder im Winter, in Szythien für ein Wunderzeichen gilt. Auch können diesen Winter die Pferde zwar aushalten, die Maulesel und Esel sind aber dazu gar nicht imstande; anderswo erfrieren die Pferde, wenn sie in der eisigen Kälte stehen, die Esel und Maulesel aber halten es aus.

29. So halte ich auch dafür, daß deshalb dem dortigen verkümmerten Rindvieh keine Hörner wachsen. Für meine Meinung zeugt auch ein Wort Homers in der »Odyssee«, das also lautet:

Libyen auch, wo den Lämmern im Nu aufsprießen die Hörner,

womit ganz richtig gesagt ist, daß in den heißen Ländern die Hörner schnell herauskommen. In den grimmig kalten aber wachsen dem Vieh entweder überhaupt keine Hörner, oder diese haben ein schwaches Wachstum. Hier geht es denn so wegen der Kälte.

30. Wunder nimmt mich aber (auf solche Zusätze ging meine Darstellung von Anfang an aus), daß im ganzen elischen Gebiete keine Maulesel erzeugt werden können, da doch weder dieses Land kalt noch sonst ein Grund ersichtlich ist. Die Eleer selbst behaupten aber, ein Fluch lasse bei ihnen keinen Maulesel gezeugt werden. Wenn daher die Zeit zur Befruchtung der Stuten kommt, treiben sie dieselben allemal zu ihren Nachbarn hinüber und lassen sie von den Eseln im Nachbarlande decken, bis die Stuten trächtig sind, worauf sie dieselben wieder heimtreiben.

[Anmerkung:] 30. Herodot wehrt mit seiner Bemerkung über die »Zusätze« einen Zuhörer ab, der ihn zur Sache ruft. Sein Werk hat durchaus den Tonfall des mündlichen Vortrages. »Die Herodoteische Historie wurde in öffentlichen Versammlungen vorgetragen« (Ranke, Weltgeschichte, Band I, Kapitel 8).

 

31. Über die Federn nun, von denen die Szythen sagen, daß die Luft mit ihnen angefüllt und es deshalb nicht möglich sei, das weitere Festland zu sehen oder zu durchwandern, habe ich die Meinung, daß es jenseits von diesem Lande immer schneit, nur im Sommer schwächer als im Winter, wie man sich denken kann. Wer nun schon in der Nähe Schneeflocken hat fallen sehen, weiß, was ich sage. Der Schnee sieht nämlich wie Federn aus, und wegen dieses argen Winters ist dort gegen den Norden das Festland unbewohnt. Federn also nennen, wie ich glaube, die Szythen und ihre Nachbarn den Schnee nach der Ähnlichkeit. Das war denn zu sagen von dem, was von den entlegensten Gegenden erzählt wird.

32. Von den hyperboreischen Menschen sagen aber weder die Szythen etwas noch die sonstigen Bewohner jener Länder, außer etwa den Issedonen. Nach meinem Dafürhalten sagen aber auch diese nichts; sonst sagten's doch die Szythen, wie sie ja auch von den Einäugigen berichten. Hesiod hat von den Hyberboreern gesprochen, auch Homer in den »Epigonen«, wenn wirklich Homer dieses Gedicht verfaßt hat.

[Anmerkung:] 32. Die Epigonen (Nachgeborenen) sind die Söhne der sieben Helden, die gegen Theben zogen, um dort dem Polyneikes, dem Sohne des Ödipus, die Herrschaft zu verschaffen. Die Söhne wiederholen den Zug ihrer Väter, sind aber glücklicher als diese; denn sie erobern und zerstören Theben. Den Zug der sieben Helden behandelte die »Thebaïs«, den ihrer Söhne die »Epigonen«. Beide Epen sind nicht von Homer und sind nicht erhalten. In tadelndem Sinne, wie in Immermanns Roman »Die Epigonen« (1836), wird das Wort im Altertum nicht gebraucht.

 

33. Am allermeisten aber sagen von ihnen die Delier, nämlich daß heilige Gaben in Weizenhalme gewickelt von den Hyperboreern aus zu den Szythen kommen und von den Szythen sodann durch die Hände der jedesmaligen Nachbarn ins Abendland und schließlich zum Adriatischen Meere gebracht werden, von da, gegen Mittag weiter geschickt, zuerst unter den Hellenen in die Hand der Dodonäer und von da zum Malischen Busen hinabkommen, dann aber nach Euböa hinübergehen, wo eine Stadt sie der andern zuschicke bis Karystos, worauf dann Andros ausgelassen werde, indem die Karystier selbst sie nach Tenos, die Tenier endlich nach Delos bringen. So kommen denn, wie sie sagen, die heiligen Gaben nach Delos. Zuerst hätten aber die Hyperboreer mit den heiligen Gaben zwei Jungfrauen gesandt, denen die Delier die Namen Hyperoche und Laodike gaben; auch hätten die Hyperboreer ihnen der Sicherheit wegen von ihren Bürgern fünf Geleitsmänner mitgegeben, die jetzt sogenannten Perphereer, die auf Delos hoch verehrt werden. Da aber die Abgesandten nicht zu den Hyperboreern zurückkehrten, seien diese bestürzt geworden und hätten gefürchtet, es solle immer ihr Schicksal sein, ihre Boten nicht wiederzubekommen. Daher trügen sie nunmehr ihre heiligen Gaben in einem Weizenbündel an die Grenzen und beföhlen den Nachbarn, sie von ihrem Lande weiter zu senden zu einem andern Volke. So, sagen sie, komme es denn durch Versendung nach Delos. Ich selbst weiß nun, daß folgendes geschieht, was diesen heiligen Gaben vergleichbar ist: daß nämlich die thrazischen und paionischen Weiber, sooft sie der Königin Artemis opfern, nicht ohne Weizenhalme ihre Gaben darbringen. Das, weiß ich, tun diese.

[Anmerkung:] 33. Hyperoche heißt »die Herrliche«, Laodike »die Beschützerin der Volksrechte«. Es sind Beinamen der Artemis, aus denen man dann Priesterinnen der Artemis gemacht hat.

 

34. Den hyperboreischen Jungfrauen aber, die in Delos starben, widmen auf Delos die Mädchen und die Jünglinge ihre Haare. Die Mädchen schneiden sich vor ihrer Hochzeit eine Locke ab, die sie dann, um eine Spindel gewickelt, auf das Grabmal legen (das Grabmal liegt linker Hand im Eingange zum Artemisheiligtume, und es steht ein Ölbaum darauf). Die Jünglinge der Delier aber legen ihre Haare, um eine Pflanze gewickelt, ebenfalls auf dem Grabmale nieder. Diese Ehre also genießen sie bei den Einwohnern von Delos.

35. Weiterhin behaupten dieselben, auch die Jungfrauen Arge und Opis seien von den Hyperboreern auf dem gleichen Wege durch jene Völker nach Delos gekommen, noch früher als Hyperoche und Laodike. Diese seien nämlich gekommen, um der Eileithyia ihren Dankzoll für glückliche Niederkunft zu bringen; die Arge und Opis aber seien zugleich mit den Göttern gekommen und hätten auch von ihnen ihre eigenen Ehren erhalten, daß nämlich die Weiber Opfergaben für sie sammeln mit Anrufung ihrer Namen in dem Hymnos, den ihnen Olen, der Lyzier, gedichtet hat. Von ihnen hätten die Inselbewohner und die Ionier gelernt, in Hymnen die Opis und Arge anzurufen und Gaben zu sammeln (derselbe Olen, der aus Lyzien kam, hat auch die andern alten Hymnen gedichtet, die in Delos gesungen werden). So werde auch die Asche von den Schenkelstücken auf dem Opferaltare genommen und auf die Grabstätte der Opis und Arge ausgestreut. Ihre Grabstätte ist hinter dem Artemisheiligtume, gegen Morgen gelegen, zunächst dem Festsaale der Keer.

[Anmerkung:] 35. Arge, »die Glänzende«, heißt Artemis als Mondgöttin, Opis, »die Ehrfurcht«, als Geburtsgöttin. Häufiger aber heißt sie in dieser Eigenschaft Eileithyia, »Wehengöttin«. Aus allen diesen Namen entwickelten sich Nebengestalten der Göttin mit neuen Mythen. Dem sagenhaften Dichter Olen schrieb man die ältesten Hymnen auf Apollo zu.

 

36. Hiermit sei von den Hyperboreern genug gesagt! Denn die Sage die man von Abaris, dem angeblichen Hyperboreer, berichtet, sage ich nicht nach, daß er nämlich seinen Pfeil auf der ganzen Erde herumgetragen habe, ohne etwas zu essen. Wenn es aber hyperboreische Menschen gibt, so muß es auch übersüdliche geben. Ich muß aber lachen, wenn ich sehe, wie schon viele den Umkreis der Erde in ganz unverständiger Weise gezeichnet haben, da sie den Okeanos in ihrer Zeichnung rings um die Erde strömen lassen, die gerundet ist, wie mit dem Zirkel, und dabei Asia ebenso groß wie Europa machen. Ich will daher kurz die Größe beider darlegen und ebenso die Gestalt, in der sie zu zeichnen sind.

[Anmerkung:] 36. Abaris war Asket, wie Herodots Bemerkung über seine Nahrungsenthaltung zeigt. Den Pfeil trug er, weil Apollo der nie fehlende Schütze ist. Die Angaben über die Lebenszeit dieses wundertätigen Priesters schwanken von 770 bis 550 v. Chr. – Nach Herodots Meinung kann die Erde nicht rund sein, weil der nördliche Teil viel größer ist als der südliche.

 

37. Die Perser wohnen bis hinab an das südliche Meer, das sogenannte Rote. Über ihnen aber, gegen den Nordwind, wohnen die Meder, über den Medern die Saspeiren, und über den Saspeiren die Kolcher bis an das nördliche Meer, in das der Phasisstrom mündet. Diese vier Völker wohnen von einem Meere zum andern.

38. Von dort gegen Abend erstrecken sich zwei große Landzungen von diesem Weltteile ins Meer, die ich beschreiben will. Da reicht nämlich die eine Landzunge im Norden, vom Phasis an, längs dem Pontos und Hellespontos ins Meer bis zum troischen Sigeion; im Süden aber reicht ebendiese Landzunge ins Meer, vom myriandrischen Busen, an dem Phönizien liegt, bis zum Vorgebirge Triopion. Auf dieser Landzunge wohnen dreißig Völkerstämme.

39. Dies ist die eine Landzunge; die andere reicht, von den Persern an, in das Rote Meer, als persisches Land, weiterhin als Assyrien und nach Assyrien als Arabien. Diese endigt (indessen nur nach der geltenden Annahme) im Arabischen Busen, in den Dareios den Kanal aus dem Nil geleitet hat. So ist es von Persien bis Phönizien eine große breite Landstrecke, und von Phönizien an reicht nun diese Landzunge in unser Meer herein, längs dem palästinischen Syrien und Ägypten, in das sie ausläuft, und sie enthält nur drei Völker. Das ist der Teil Asiens von den Persern an gegen Abend.

[Anmerkung:] 39. Nach Herodots Meinung bilden Assyrien, Babylonien, Syrien, Phönizien, Arabien und Afrika einen ungeheuern Vorsprung Asiens, der eine ganz schmale Stelle hat, die Landenge von Suez, und dann wieder sehr breit wird. Das ganze nördliche Asien rechnet er dagegen zu Europa, so daß dieses der größte Erdteil ist.

 

40. Der andere Teil ist jenseits der Perser, Meder, Saspeiren und Kolcher, gegen Morgen und Sonnenaufgang längs dem Roten Meere und gegen Norden am Kaspischen Meere und dem Araxesflusse, der gegen Sonnenaufgang strömt. Bis Indien ist Asien bewohnt; von da an aber ist es schon Wüste nach Morgen zu, und niemand vermag anzugeben, wie es beschaffen ist. Das ist die Gestalt und Größe Asiens.

41. Libyen aber ist noch auf der zweiten großen Landzunge; denn von Ägypten fängt gleich Libyen an. Bei Ägypten ist nun diese Landzunge enge, da von unserem Meere ins Rote Meer hunderttausend Klafter sind, was etwa tausend Stadien macht. Von dieser Enge an aber ist die Landzunge nachgerade sehr breit und heißt Libyen.

42. Nun wundern mich aber die Leute, welche die Welt abteilen in Libyen und Asien und Europa, da doch der Unterschied zwischen diesen Teilen kein kleiner ist. Denn der Länge nach zieht sich Europa über beide hin; in der Breite aber sind sie, nach meiner Einsicht, mit ihm nicht einmal vergleichbar. Denn einmal erkennt man Libyen als ein meerumflossenes Land, bis auf das Stück, womit es an Asien grenzt, was Nekos, der ägyptische König, soviel wir wissen, zuerst dargetan hat. Als nämlich dieser aufgehört hatte mit dem Bau des Kanals aus dem Nil in den Arabischen Busen, schickte er phönizische Männer auf Schiffen aus, mit dem Auftrage, sie sollten den Rückweg durch die Säulen des Herakles herein in das nördliche Meer nehmen und so nach Ägypten kommen. Die Phönizier liefen also aus dem Roten Meere aus und befuhren das südliche Meer. Sooft es nun Spätherbst wurde, hielten sie an und besäten das Land von Libyen, an welchem sie gerade auf ihrer Fahrt waren, und warteten die Ernte ab. Dann mähten sie das Korn ab und fuhren weiter, so daß sie nach Verlauf zweier Jahre um die Säulen des Herakles herumbogen und nach Ägypten kamen. Da sagten sie, was mir nicht glaublich ist, einem andern immerhin, daß sie beim Umschiffen Libyens die Sonne zur Rechten bekommen hätten. So ward dieser Erdteil zuerst bekannt.

[Anmerkung:] 42. Sie hatten die Sonne zur Rechten, sobald sie den Äquator passiert hatten. Die Angabe, die Herodot ganz unglaubwürdig findet, beweist die Wahrheit der Erzählung.

 

43. Sodann sind es die Karthager, die diese Behauptung aufstellen, während Sataspes, der Sohn des Teaspis, seines Stammes ein Achämenide, Libyen nicht umschifft hat, wozu er eigentlich ausgeschickt war, sondern aus Angst über die Länge der Fahrt und die Öde wieder heimkehrte und so die Aufgabe nicht ausführte, die ihm seine Mutter gestellt hatte. Er hatte nämlich einer Jungfrau, der Tochter des Zopyros, des Sohnes des Megabyzos, Gewalt angetan, und als ihn um dieser Schuld willen der König Xerxes auf den Pfahl spießen wollte, legte die Mutter dieses Sataspes, eine Schwester des Dareios, die Fürbitte ein, daß man sie selbst ihm eine andere, noch größere Strafe auferlegen lasse, nämlich das Zwangsgebot, Libyen zu umschiffen, so daß er auf der Umfahrt zuletzt in den Arabischen Busen kommen müsse. Da Xerxes auf diese Bedingung einging, so nahm Sataspes aus Ägypten, wohin er kam, Schiffe und Seeleute und fuhr hinaus zu den Säulen des Herakles. Er fuhr hindurch und um das Vorgebirge von Libyen herum, das den Namen Soloeis hat, dann gegen Mittag, durchfuhr auch viele Meeresgewässer in vielen Monaten, kehrte aber, weil der Weg nur immer länger ward, wieder um und fuhr nach Ägypten zurück. Von da kam er nun zum König Xerxes und berichtete, daß er weit in der Ferne an kleinen Menschen vorbeigekommen sei, die eine Kleidung von Palmen trügen und jedesmal, wenn das Schiff zum Lande gelenkt hätte, sich in die Berge geflüchtet und ihre Städte leer gelassen hätten. Sie seien dann, ohne etwas zu beschädigen, hineingegangen und hätten bloß kleines Vieh weggenommen. Daß er aber Libyen nicht gänzlich umschifft habe, davon gab er als Ursache an, das Fahrzeug sei unmöglich mehr weiter zu bringen gewesen, sondern steckengeblieben. Doch Xerxes ließ ihm nicht gelten, daß er die Wahrheit sage; weil er die auferlegte Aufgabe nicht ausgeführt habe, spießte er ihn auf den Pfahl, in Kraft des erstmaligen Urteils. Ein Verschnittener aber dieses Sataspes entlief nach Samos, sobald er den Tod seines Gebieters erfuhr, mit großen Schätzen, die ein Samier in Beschlag nahm, dessen Namen ich wohl weiß, aber absichtlich verschweige.

44. Von Asien ist das meiste durch Dareios entdeckt worden, der, um vom Indosstrome (dem zweiten Flusse unter allen, in dem sich Krokodile finden) – um von diesem zu wissen, wo derselbe seine Mündung ins Meer habe, eine Schiffahrt durch Leute veranstaltete, denen er zutraute, sie würden die Wahrheit berichten. Unter diesen war auch Skylax von Karyanda. Sie liefen aus der Stadt Kaspatyros vom paktyischen Lande aus und fuhren den Strom hinab gegen Morgen und Sonnenaufgang ins Meer; dann schifften sie durchs Meer gegen Abend und kamen so im dreißigsten Monat an der Stelle an, von welcher der ägyptische König die Phönizier, die ich oben erwähnt habe, die Umschiffung Libyens hatte beginnen lassen. Nachdem nun jene die Umschiffung vollbracht hatten, unterwarf sich Dareios die Inder und machte sich zum Herrn des dortigen Meeres. So ist auch Asien, außer den Teilen, die gegen Sonnenaufgang liegen, im übrigen gleichartig mit Libyen befunden worden.

[Anmerkung:] 44. Skylax unternahm nicht nur diese Reise zur Mündung des Indus, sondern erkundete auch die Küsten des Mittelländischen Meeres und beschrieb seine Fahrt. Diese Beschreibung hat in den folgenden beiden Jahrhunderten beständig Zusätze und Erweiterungen erfahren und ist in der Gestalt, die sie schließlich im vierten Jahrhundert v. Chr. angenommen hatte, auf uns gekommen. Kaspatyros lag nicht am Indus, sondern am Kabulflusse, den Herodot für den Oberlauf des Indus hielt.

 

45. Von Europa weiß dagegen niemand, weder von seinem nach Morgen zu liegenden noch von seinem nördlichen Teile, ob es vom Meere umflossen ist; nur von seiner Länge ist bekannt, daß es sich über beide Erdteile hinzieht. Auch vermag ich nicht herauszubringen, aus welchem Grunde der Erde, als einem Ganzen, dreierlei Namen, und zwar Frauennamen gegeben worden sind und zu Grenzscheiden darin der ägyptische Fluß Nil und der kolchische Phasis gemacht worden sind (wofür andere den maiotischen Fluß Tanaïs und die Kimmerierfurt angeben); ebensowenig kann ich die Namen von den Urhebern der Abgrenzung erfahren, und wonach sie die Benennungen gemacht haben. Freilich heißt es gewöhnlich bei den Hellenen, Libyen habe den Namen von einer eingeborenen Frau und Asien seine Benennung von der Frau des Prometheus. Auf diesen Namen erheben jedoch die Lyder Anspruch mit der Behauptung, nach Asias, dem Sohne des Kotys, des Sohnes des Manes, sei Asien genannt (nicht aber nach der Asia des Prometheus), nach ihm sei auch der asische Stamm in Sardes benannt. Von Europa nun aber ist weder, ob es von Meer umflossen ist, durch jemand bekannt geworden, noch woher es diesen Namen bekommen hat, noch kennt man den Namengeber selbst; es wäre denn, daß wir aussagen wollten, das Land habe diesen Namen von der Tyrierin Europa bekommen, wäre also vorher ohne Namen gewesen, wie auch die andern. Aber die ist doch bekanntlich aus Asien her und auch nicht in dasjenige Land gekommen, das jetzt bei den Hellenen Europa heißt, sondern nur aus Phönizien nach Kreta, und aus Kreta nach Lyzien. So viel sei hierüber gesagt; im übrigen wollen wir es halten, wie es einmal gebräuchlich ist.

46. Der Pontos Euxeinos aber, wohin Dareios zu Felde zog, hat, das szythische ausgenommen, die ungebildetsten Völker unter allen Ländern. Denn weder von einem klugen Volke im Bereiche des Pontos können wir reden, noch wissen wir von einem kundigen Manne dort, außer dem szytischen Volke und dem Anacharsis. Der Szythenstamm hat auch nur ein Hauptstück der menschlichen Dinge am klügsten unter allen ausgefunden, von denen wir wissen; sonst bewundere ich nichts an ihm. Das Hauptstück haben sie darin ausgefunden, daß keiner entkommt, der auf sie losgeht, noch, wenn sie nicht sich finden lassen wollen, ihrer habhaft werden kann. Solche Leute nämlich, die nicht Städte noch Festen gegründet haben, sondern sämtlich Zeltwanderer und Reiterschützen sind, nicht von Saatfrucht leben, sondern von Weidevieh, und ihre Wohnungen auf Wagen haben – wie sollten die nicht unbezwinglich und den Feinden unfaßbar sein?

[Anmerkung:] 46. Über Anacharsis s. Anm. zu Kapitel 76.

 

47. Das haben sie aber herausgefunden, weil ihr Land sich dazu eignete und die Flüsse ihnen dabei zu Hilfe kamen. Denn ihr Land, eine Ebene, ist grasreich und wohlbewässert, und Flüsse durchströmen dasselbe in nicht viel geringerer Zahl als die Kanäle in Ägypten. Die namhaften, in die man auch vom Meere aus einfahren kann, will ich nennen. Es sind der Istros mit fünf Mündungen, sowie der Tyras und Hypanis, der Borysthenes, der Pantikapes, der Hypakyris, der Gerrhos und der Tanaïs. Diese strömen, wie folgt.

[Anmerkung:] 47. Istros: Donau, Tyras: Dnjestr, Hypanis: Bug, Borysthenes: Dnjepr. Der Pantikapes, Hypakyris und Gerrhos sind nicht zu bestimmen.

 

48. Der Istros, der größte aller Ströme, von denen wir wissen, strömt immer gleich stark, wie im Sommer, so im Winter. Er strömt als der erste unter den szythischen Flüssen von Westen her und wird dadurch zum größten, daß auch andere Flüsse ihr Wasser in ihn ergießen. Es sind folgende, die ihn groß machen: erstlich fünf, die durch das Szythenland selbst strömen, der Porata, wie ihn die Szythen, oder Pyretos, wie ihn die Hellenen nennen, dann der Tiarantos, Araros, Naparis und Ordessos. Hiervon führt der erstgenannte Fluß, der nach Morgen strömt, sein Wasser dem Istros zu und ist groß, der zweitgenannte dagegen, Tiarantos, fließt westlicher und ist kleiner. Der Araros und Naparis aber und der Ordessos laufen zwischen ihnen in der Mitte zum Istros hinab. Das sind die szythischen Landesflüsse, die ihn füllen.

[Anmerkung:] 48. Pyretos: Pruth, Tiarantos: Aluta, Araros: Sereth, Naparis: Jalowitza, Ordessos: Ardschich.

 

49. Aber von den Agathyrsen her strömt der Maris in den Istros herein. Von den Höhen des Haimos herab laufen nordwärts noch drei große Ströme und münden in ihn, der Atlas, Auras und Tibisis, durch Thrazien aber und die thrazischen Krobyzer der Athrys, Noes und Artanes, die auch in ihn münden, und von den Paioniern und dem Gebirge Rhodope her kommt der Fluß Skios, der den Haimos in der Mitte trennt, ehe er sich in den Istros ergießt. Aber von den Illyriern her läuft nordwärts der Fluß Angros in die triballische Ebene und in den Fluß Brongos hinein, der Brongos aber in den Istros, so daß dieser beide, die recht große Flüsse sind, in sich aufnimmt. Dann strömen noch vom Oberlande der Ombriker der Karpisfluß und der Alpisfluß nordwärts, die gleichfalls in ihn münden. Es nimmt nämlich der Istros seinen Lauf durch ganz Europa von den Kelten an, die unter den Europäern, nächst den Kyneten, zuäußerst gegen Sonnenuntergang wohnen, und beendet seinen Lauf durch ganz Europa an den Grenzen des Szythenlandes.

[Anmerkung:] 49. Maris: Maros und Theiß, Haimos: Balkan. Mit Karpis und Alpis sind entweder Drau und Inn gemeint, oder es liegt ein Mißverständnis vor, das aus den Karpaten den Karpis und aus den Alpen den Alpis gemacht hat.

 

50. Indem nun die genannten Flüsse nebst vielen andern dem Istros ihr Wasser zuführen, machen sie ihn zum größten Flusse; wenn man dagegen von jedem nur die eigene Wassermasse in Betracht zieht, übertrifft der Nil ihn an Fülle, da ja in diesen kein Fluß und keine Quelle Zufluß von fremdem Wasser bringt. Daß der Istros aber immer, im Sommer wie im Winter, in gleicher Stärke strömt, hat nach meiner Meinung folgende Ursache. Im Winter ist er so hoch, wie er an sich ist, und schwillt nur wenig über seine natürliche Größe an, weil jenes Land im Winter gar wenig Regen und hauptsächlich nur Schneewetter hat. Im Sommer schmilzt der Schnee, der im Winter gefallen ist, in seiner ganzen Menge und fließt von allen Seiten dem Istros zu, und gerade dieser Zufluß von Schnee macht ihn so stark, indem dazu noch viele heftige Regengüsse kommen, weil es da gerade im Sommer regnet. Nun zieht zwar im Sommer die Sonne mehr Wasser an sich als im Winter, aber in gleichem Maße sind auch die Zuflüsse, die der Istros erhält, im Sommer stärker als im Winter, und das bringt, eines gegen das andere, eine Ausgleichung hervor, so daß seine Stärke sich immer als dieselbe erweist.

51. Einer also der Flüsse des Szythenlandes ist der Istros; dann kommt der Tyras, der aus der Gegend des Nordwindes herströmt. Er entspringt in einem großen See, der das szythische und neurische Land scheidet. An seiner Mündung sind Hellenen seßhaft, die Tyriten heißen.

[Anmerkung:] 51. Da es im nördlichen Szythenlande keine Gebirge gibt, nimmt Herodot an, daß die Flüsse aus großen Seen entspringen, was in Wahrheit nicht der Fall ist.

 

52. Der Hypanis, der dritte Fluß, entspringt im szythischen Lande selbst. Er strömt aus einem großen See, den rings wilde weiße Pferde umweiden. Dieser See wird mit Recht des Hypanis Mutter genannt. Daher entspringt also der Hypanisfluß und fließt dann fünf Tagereisen weit schwach und noch süß; weiterhin aber, vier Tagfahrten vom Meere, ist er gewaltig bitter. Denn es ergießt sich in ihn eine bittere Quelle, und zwar eine dermaßen bittere, daß sie, so klein sie ist, durch den Hypanis durchschlägt, der eine Größe hat wie wenige Flüsse. Diese Quelle ist an den Grenzen des Landes der Ackerszythen und der Alazoner, der Name der Quelle aber, wie auch der Gegend, in der sie fließt, ist auf szythisch Exampaios, nach unserer Sprache »die heiligen Wege«. Bei den Alazonern nähern der Tyras und Hypanis ihre Krümmungen einander; von da an aber biegt jeder aus, und der Raum zwischen ihnen wird breit.

53. Der vierte Fluß, der Borysthenes, ist der größte unter ihnen nach dem Istros und der segenreichste, unserem Urteile zufolge, nicht nur von den szythischen Flüssen, sondern auch von den andern insgesamt, außer dem ägyptischen Nil. Denn mit diesem läßt sich kein anderer Fluß vergleichen; von den übrigen aber ist der Borysthenes der segenreichste. Er hat nämlich die schönsten und dem Vieh zuträglichsten Weiden, die allervortrefflichsten und meisten Fische, das süßeste Trinkwasser, und er fließt neben schlammigen Flüssen rein dahin. An seinem Ufer wächst das trefflichste Korn und, wo kein Kornland ist, das höchste Gras, und an seiner Mündung bilden sich von selbst gewaltige Salzhaufen. Auch liefert er große Seetiere ohne Gräten, die sie Antakaien heißen, zum Einsalzen, und sonst noch viel Wundernswertes. Bis zur Landschaft Gerrhos nun, eine Fahrt von vierzig Tagen flußaufwärts, kennt man seinen Lauf vom Norden her; durch was für Völker er aber jenseits davon fließt, vermag niemand anzugeben. Sicher ist nur, daß er durch eine Wüste ins Land der Ackerszythen fließt; denn diese Szythen wohnen an seinem Ufer zehn Tagesfahrten weit. Nur von diesem Flusse, nebst dem Nil, kann ich die Quellen nicht angeben, und wie mich dünkt, überhaupt keiner von den Hellenen. Der Lauf des Borysthenes geht bis nahe ans Meer, wo sich auch der Hypanis mit ihm vereinigt und in denselben Sumpf mündet. Die zwischen diesen Flüssen befindliche Landspitze aber heißt Hippolaoshorn, und darauf ist ein Heiligtum der Göttermutter erbaut, und jenseits dieses Heiligtums wohnen am Hypanis die Borystheneïten. So viel ist über diese Flüsse zu sagen.

[Anmerkung:] 53. Antakaien: Störe.

 

54. Auf diese folgt ein fünfter Fluß, mit Namen Pantikapes. Auch dieser fließt vom Norden und aus einem See, und das Land, das zwischen ihm und dem Borysthenes liegt, bewohnen die Ackerszythen. Er fließt in das Waldland, und wenn er es hinter sich hat, vereinigt er sich mit dem Borysthenes.

55. Der Hypakyris, der sechste Fluß, kommt aus einem See, fließt mitten durch die Wanderszythen hindurch und mündet bei der Stadt Karkinitis, wo er zu seiner Rechten das Waldland und die sogenannte Achillesrennbahn abgrenzt.

[Anmerkung:] 55. Als Rennbahn des schnellfüßigen Achilles wurde eine Landzunge an der Dnjeprmündung mit einem dem Achilles geheiligten Haine bezeichnet.

 

56. Der Gerrhos, der siebente Fluß, trennt sich vom Borysthenes in der Gegend, bis zu der man den Borysthenes flußaufwärts kennt. Von dieser Landschaft ab ist er getrennt, und sein Name ist, wie der Name der Landschaft selbst, Gerrhos. Er bildet da, wo er sich dem Meere zuwendet, die Grenze zwischen den Wanderszythen und den königlichen und ergießt sich in den Hypakyris.

57. Der Tanaïs aber, der achte Fluß, fließt von oben her aus einem großen See und ergießt sich in einen noch größern See, den sogenannten Maiotischen See, der die Königsszythen von den Sauromaten scheidet. In diesen Tanaïs ergießt sich ein anderer Fluß, mit Namen Hyrgis.

[Anmerkung:] 57. Hyrgis: Donez, rechter Nebenfluß des Don.

 

58. Das sind die namhaften Flüsse, mit denen die Szythen versehen sind. Für das Vieh wächst aber im Szythenlande das Gras, das unter allem, wovon wir wissen, am meisten Galle gibt: man kann es beim Öffnen des Viehes erproben, daß dem so ist.

59. Mit den wichtigsten Dingen sind sie also wohl versorgt. Im übrigen bestehen bei ihnen folgende Bräuche. Von Göttern beten sie nur folgende an: die Hestia vornehmlich, dazu den Zeus und die Erde, indem ihnen die Erde für die Frau des Zeus gilt; dazu den Apollo und die himmlische Aphrodite, den Herakles und den Ares. Diese werden von allen Szythen verehrt; die sogenannten Königsszythen opfern aber auch noch dem Poseidon. Die Hestia heißt auf szythisch Tabiti und Zeus, nach meinem Urteile wenigstens ganz trefflich, Papaios, die Erde Apia, Apollo Oitosyros, die himmlische Aphrodite Artimpasa, und Poseidon Thamimasadas. Götterbilder aber und Altäre und Tempel sind bei ihnen nicht gebräuchlich, außer für den Ares: für den sind sie gebräuchlich.

[Anmerkung:] 59. Herodot findet in Tabiti die griechische Hestia wieder, weil sie Feuergöttin ist. Das Feuer ist den Nomadenvölkern heilig, weil es schwer wieder zu beschaffen ist. Es wird auf einem Wagen mitgeführt und sorgfältig bewacht. Wer es erlöschen läßt, wird mit dem Tode bestraft. Man nimmt an, daß aus diesem uralten Feuerkult die ewige Lampe hervorgegangen ist. Den Namen Papaios für den Himmelsgott findet Herodot treffend, weil er glaubt, das szythische Wort Papaios entspreche dem griechischen Pappas (unserm Papa). Ob die Szythen überhaupt zum indogermanischen Sprachstamm gehören, ist zweifelhaft.

 

60. Die Opferung besteht bei allen auf eine und dieselbe Weise in jedem Dienste; sie wird gehalten, wie folgt. Das Opfertier steht da mit gebundenen Vorderfüßen, und der Opfernde, der hinter dem Tiere steht, zieht nun am Ende des Seiles und wirft es hin. Sobald das Opfertier fällt, ruft er den Gott an, dem er es opfert, und alsdann wirft er ihm gleich eine Schlinge um den Hals und erwürgt es mit ihr durch einen Stock, den er hineinsteckt und herumdreht, und so, ohne Opferfeuer oder Vorweihe oder Spendeguß, macht er sich gleich, wenn er's erwürgt und abgezogen hat, ans Fleischkochen.

61. Da das szythische Land entsetzlich holzarm ist, so haben sie zum Behufe des Fleischkochens folgendes erfunden. Haben sie erst den Opfertieren die Haut abgezogen, so lösen sie die Knochen aus dem Fleische und werfen sie, wenn ihnen Kessel zur Hand sind, wie man sie dort hat, die den lesbischen Mischkrügen nahezu gleich, nur viel größer sind, in diese Kessel und kochen sie an einem Feuer, das sie von den Knochen der Opfertiere anmachen. Wenn sie aber keinen Kessel haben, so werfen sie alles Fleisch zusammen in den Bauch des Opfertieres, gießen dann Wasser zu und machen darunter das Feuer von den Knochen an. Die brennen auch aufs schönste, und der Bauch kann auch leichtlich das von den Knochen entleerte Fleisch fassen. So muß sich das Rind selbst kochen und überhaupt jedes Opfertier sich selbst. Ist nun das Fleisch gekocht, so weiht der Opferer die Erstlingsstücke vom Fleische und den Eingeweiden und wirft sie vor sich hin. Sie opfern ihr Weidevieh, besonders Pferde.

62. Auf diese Art opfern sie also diese Tiere den andern Göttern, doch dem Ares folgendermaßen. Auf jedem Gemeindeplatze in ihren Landeskreisen steht ein Aresheiligtum, das folgendermaßen aussieht: Es sind da Reisigbündel zusammengehäuft bis zu drei Stadien Länge und Breite, aber weniger hoch, und oben ist eine viereckige Fläche gemacht; die Wände aber sind an drei Seiten abschüssig, und nur an einer kann man hinaufgehen. Daran häufen sie jedes Jahr wieder hundertundfünfzig Wagen voll Reisig an, weil es nämlich durchs Unwetter immer Abgang hat. Auf jedem solchen Walle nun steht ein uraltes eisernes Schwert, und das ist das heilige Bild des Ares. Diesem Schwerte nun bringen sie jährliche Opfer von Weidevieh und Pferden dar; insbesondere aber opfern sie demselben noch folgendes mehr als den andern Göttern: Von allen Kriegsgefangenen, die sie machen, opfern sie von jeglichem Hundert einen Mann, und nicht auf dieselbe Art wie das Vieh, sondern wieder auf eine andere. Erst nämlich besprengen sie ihnen den Kopf mit Wein; dann schlachten sie die Menschen über einem Gefäße, tragen es alsdann auf den Reisigwall hinauf und gießen das Blut über das Schwert aus. Das tragen sie also hinauf; unten aber am Heiligtume machen sie's, wie folgt. Sie hauen allen geschlachteten Menschen den rechten Arm mitsamt der Hand ab und schleudern ihn in die Luft, verrichten darauf auch die andern Opfer und gehen von dannen, und der Arm bleibt liegen, wo er hinfällt, und auch der Tote an seinem besondern Platze.

[Anmerkung:] 62. Die Aufrichtung und Anbetung eines Schwertes statt eines Bildes des Kriegsgottes berichtet der römische Geschichtschreiber Ammianus Marcellinus (Ende des vierten Jahrhunderts n. Chr.) von den germanischen Stämmen der Quaden und Alanen.

 

63. Das sind die bei ihnen gebräuchlichen Opfer. Schweine bringen sie aber nicht dar und wollen überhaupt keine halten in ihrem Lande.

64. Das Kriegswesen aber ist bei ihnen folgendermaßen beschaffen. Das Blut des ersten Mannes, den ein Szythe erlegt, trinkt er. Von allen, die er in der Schlacht tötet, bringt er dem Könige die Köpfe; denn wenn er einen Kopf bringt, bekommt er Anteil an der Beute, die sie machen, sonst aber nicht. Er zieht ihn aber auf folgende Art ab: Er macht bei den Ohren einen Schnitt rundherum, faßt den Kopf und schüttelt ihn heraus; die Haut entfleischt er dann mit einer Ochsenrippe und gerbt sie mit den Händen: und wenn sie nun mürb ist, so braucht er sie als Handtuch, hängt sie an die Zügel seines Reitpferdes und prunkt damit. Denn wer die meisten Hauthandtücher hat, wird als der preiswürdigste Mann angesehen. Auch machen viele von ihnen sich aus den abgezogenen Häuten Mäntel zum Anziehen, indem sie sie zusammennähen wie Hirtenfellkleider. Viele ziehen von ihren Feinden, den toten nämlich, den rechten Arm ab bis auf die Fingernägel und machen sich Überzüge für ihre Köcher daraus. Da zeigt sich, daß die Menschenhaut, bei ihrer Stärke und ihrem Glanze, von allen Häuten die glänzendste Weiße hat. Viele häuten auch ganze Menschen ab, spannen die Haut auf Holz und führen sie auf Pferden herum. Das ist so bei ihnen gebräuchlich.

[Anmerkung:] 64. Das Skalpieren war bei den Szythen so üblich, daß die Griechen dafür das Wort aposkythizein (»abszythen«) bildeten und gebrauchten.

 

65. Aber aus den Köpfen selbst, nicht denen aller, sondern nur der ärgsten Feinde, machen sie folgendes. Es sägt jeder alles unter den Augenbrauen Befindliche weg und reinigt das übrige; dann überzieht er es, wenn er ein armer Mann ist, nur noch mit Rindshaut und bedient sich so desselben; wenn er aber ein Reicher ist, überzieht er es nicht bloß mit der Rindshaut, sondern vergoldet es auch inwendig und bedient sich so desselben als Trinkgefäß. Ebenso verfahren sie aber auch mit ihren Verwandten, wenn sie mit ihnen in Streit kommen, und dann vor dem Könige einer über den andern den Sieg davonträgt. Kommen dann Gäste zu ihm, aus denen er sich etwas macht, so setzt er ihnen diese Schädel vor und erzählt dazu, wie seine Verwandten ihn feindlich angegriffen hätten, er aber über sie den Sieg davongetragen habe, und das nennen sie Heldentugend.

[Anmerkung:] 65. Nach dem Berichte des Paulus Diakonus hatten die Langobarden dieselbe Sitte, und König Alboin (565-572 n. Chr.) zwang seine Gattin sogar, aus dem Schädel ihres Vaters, den er erschlagen hatte, zu trinken.

 

66. Einmal im Jahre mischt jeder Kreisvorsteher in seinem Kreise einen Mischkrug mit Wein, aus dem alle die Szythen trinken, die im Kriege Feinde erschlagen haben. Wer das aber nicht vollbracht hat, kostet diesen Wein nicht, sondern bleibt ohne Ehre sitzen, und das ist bei ihnen der größte Schimpf. Aber für die, welche recht viele erschlagen haben, werden immer zwei Becher zugleich gefüllt.

67. Wahrsager gibt es bei den Szythen viele, die mit vielen Weidenruten folgendermaßen wahrsagen. Erst holen sie große Bündel von Ruten, die sie dann auf den Boden legen und auseinander schütteln. Dann legen sie Rute bei Rute und weissagen; unter diesem Sprechen aber schütteln sie wieder die Ruten untereinander und legen sie dann abermals Rute für Rute zusammen. Das ist ihre altherkömmliche Wahrsagung. Die Enareer aber, die Weibmänner, sagen, Aphrodite gebe ihnen die Wahrsagung. Diese wahrsagen mit Lindenbast. Erst nämlich spaltet einer den Bast dreifach und dann gibt er, während er ihn zwischen seinen Fingern herumwickelt und dann wieder herauszieht, seinen Spruch.

[Anmerkung:] 67. Das Wahrsagen mit Stäbchen berichtet Tacitus in der »Germania« (Kapitel 10) von den Germanen, gibt aber zugleich an, daß Zeichen, also Runen, auf den Stäbchen eingeschnitten waren.

 

68. Sooft der Szythenkönig krank wird, läßt er drei Wahrsager kommen, die am meisten in Ansehen stehen. Sie wahrsagen auf die beschriebene Art, und zwar sagen sie gewöhnlich, es habe der und der beim Herde des Königs falsch geschworen, nämlich ein Bürger, den sie nennen. Beim Herde des Königs aber haben die Szythen im Brauch dann zu schwören, wenn sie den höchsten Eid schwören wollen. Nun wird der alsbald aufgegriffen, den sie des Meineides zeihen, und vorgeführt. Die Wahrsager beschuldigen ihn, er sei aus der Wahrsagung überwiesen, beim Herde des Königs falsch geschworen zu haben, und deshalb sei der König unwohl. Dagegen leugnet er, falsch geschworen zu haben, und beklagt sich heftig. Da er nun leugnet, läßt der König noch einmal so viele Wahrsager kommen. Wenn ihn auch diese nach der Einsicht in ihre Wahrsagung des Meineides schuldig finden, so haut man ihm stracks den Kopf ab, und die ersten drei Wahrsager teilen sich in sein Vermögen; wenn ihn dagegen die beigezogenen Wahrsager lossprechen, so kommen andere und immer wieder andere Wahrsager daran. Wenn nun aber die Mehrzahl den Menschen losspricht, dann ist über die ersten Wahrsager verhängt, daß sie selbst hingerichtet werden.

69. Diese Hinrichtung vollziehen sie nun auf folgende Art. Erst laden sie einen Wagen voll Reisig, spannen dann Stiere an, binden den Wahrsagern die Füße, schnüren ihnen die Hände auf den Rücken, knebeln sie und stecken sie so mitten in das Reisig hinein. Das zünden sie an, machen die Stiere scheu und lassen sie durchgehen. Da verbrennen denn viele Stiere mit den Wahrsagern; viele kommen aber nach der Versengung noch durch, wenn die Deichsel verbrannt ist. Auf die beschriebene Art verbrennen sie auch um anderer Ursachen willen die Wahrsager als Lügenwahrsager. Von denen aber, die der König töten läßt, verschont er auch die Söhne nicht, sondern tötet das ganze männliche Geschlecht; nur dem weiblichen tut er nichts.

70. Ihre Schwüre leisten die Szythen, wie folgt, wenn sie mit irgendeinem einen Bund schließen. Sie gießen Wein in einen großen irdenen Humpen und mischen darein das Blut derer, die den Bund schließen, indem sie einen Stich mit einem Pfriem oder einen leichten Einschnitt mit einem Messer in die Haut machen. Darauf tauchen sie in den Humpen einen Säbel, Pfeile, eine Streitaxt und einen Wurfspieß. Haben sie das getan, so sprechen sie allerhand Verwünschungen aus, und dann trinken es die, welche den Bund beschwören, wie auch die Angesehensten aus ihrem Gefolge.

71. Die Begräbnisse ihrer Könige sind im Gerrherlande, oben am Borysthenes, soweit er die Auffahrt gestattet. Daselbst graben sie, sooft ihnen der König stirbt, eine große viereckige Grube in die Erde. Haben sie diese fertig, so nehmen sie den Leichnam auf, nachdem sein Leib mit Wachs überzogen, sein Bauch aufgeschnitten, ausgeweidet, mit zerriebener Würzpflanze, Räucherwerk, Eppich- und Dillsamen gefüllt und wieder zusammengenäht ist, und so führen sie ihn auf einem Wagen zu einem andern Stamme. Wenn nun bei diesen der Leichnam ankommt, so machen sie es ebenso wie die Königsszythen, die sich nämlich die Ohren beschneiden, ihr Haar abscheren, sich in die Arme schneiden, sich Stirn und Nase zerkratzen und einen Pfeil durch die linke Hand stoßen. Von da führen sie zu Wagen die Leiche des Königs zu einem andern Stamme von ihren Untertanen, wobei die sie begleiten, zu denen sie zuerst kamen. Wenn sie dann bei allen mit der Leiche herumgekommen sind, so sind sie auf dem Boden der Gerrher, des äußersten Stammes von ihren Untertanen, und auf den Begräbnisstätten selbst. Nun wird auf dem Gräberplatze zuerst die Leiche auf einer Matte beigesetzt; dann stecken sie zu beiden Seiten des Leichnams Lanzen in den Boden, legen Stangen oben darüber und decken Flechtwerk darauf. In dem übrigen weiten Raume des Grabes begraben sie eines seiner Kebsweiber, das sie erwürgen, wie auch den Mundschenk, den Koch, den Stallmeister, den Leibdiener und den Botschaftmelder, wie auch Pferde und Weihopfer von allem andern und goldene Schalen. Von Silber oder Erz verwenden sie aber nichts. Nach alledem werfen sie alle miteinander einen großen Hügel auf und wetteifern miteinander und haben den Ehrgeiz, ihn so groß wie möglich zu machen.

72. Aber nach Ablauf eines Jahres tun sie wieder folgendes: Sie nehmen von den übrigen Dienern seine vertrautesten, und zwar sind das eingeborene Szythen (weil nämlich immer die den König bedienen, die er selbst dazu wählt, Kaufsklaven aber gibt es bei ihnen nicht), und von diesen Bedienten erwürgen sie fünfzig, dazu auch die fünfzig schönsten Pferde, nehmen ihnen die Eingeweide aus, reinigen sie, stopfen sie mit Spreu aus und nähen sie wieder zu, stecken dann ein halbes Rad, und zwar die untere Hälfte, an zwei Stangen, und an zwei andere wieder ein halbes Rad und befestigen eine Menge von solchen Gestellen in der Erde. Hierauf treiben sie durch die Pferde der Länge nach eine starke Stange bis zum Halse hindurch und heben sie damit in die Räder hinauf, so daß die vordern Räder unter den Schulterblättern der Pferde durchgehen und die hinteren den Bauch an den Schenkeln tragen, die Beine aber vorn und hinten frei schweben. Nun werfen sie den Pferden noch Zaum und Gebiß über, ziehen die Zügel vorn hinunter und nageln sie da fest. Dann setzen sie die fünfzig erwürgten Jünglinge jeden auf sein Pferd, und zwar folgendermaßen: Sie treiben erst durch jeden dieser Leichname eine Stange längs dem Rückgrat bis zum Halse hindurch, und was nun von dieser Stange unten heraussteht, stecken sie in ein Loch der andern Stange, die durch das Pferd geht. Solche Reiter stellen sie rundherum an dem Grabmale auf und ziehen dann ab.

73. So bestatten sie die Könige. Die andern Szythen aber werden, wenn sie gestorben sind, von ihren nächsten Angehörigen auf Wagen bei ihren Freunden herumgeführt, die sie der Reihe nach aufnehmen, dem Geleite einen Schmaus geben und auch dem Toten von allem vorsetzen, wie den andern. So werden die gewöhnlichen Leute erst vierzig Tage herumgeführt, alsdann bestattet. Nach der Bestattung reinigen sich aber die Szythen auf folgende Art. Haben sie sich erst den Kopf eingerieben und abgewaschen, verfahren sie mit dem Leibe, wie folgt. Sie stellen drei Stangen so auf, daß sie gegeneinander gelehnt sind, ziehen darüber Filzdecken, machen sie dann recht fest zu und werfen glühende Steine in eine Wanne innerhalb der Stangen und Decken.

74. Nun wächst Hanf bei ihnen im Lande, der dem Flachs fast ganz gleichkommt, abgesehen von der Dicke und Höhe, worin der Hanf diesen weit übertrifft. Er wächst sowohl von selbst als gesät; auch machen aus ihm die Thrazier Kleider, die den leinenen ganz gleichen. Wenn sich einer nicht genau darauf versteht, so kann er nicht unterscheiden, ob sie aus Flachs oder Hanf sind; wenn er aber noch keinen Hanf gesehen hat, so wird er das Kleid für ein leinenes halten.

75. Von diesem Hanf nehmen also die Szythen den Samen, schlüpfen damit unter die Filzdecken und streuen den Samen auf die glühenden Steine, wo er denn einen Rauch gibt und solch einen Dampf verbreitet, daß es kein hellenisches Schwitzbad besser kann und die Szythen vor Wohlbehagen an ihrem Schwitzbade brüllen. Das gilt ihnen statt des Bades, weil sie nämlich ihren Leib im Wasser gar nicht baden. Ihre Weiber aber zerreiben an einem rauhen Steine Zypressen-, Zedern- und Weihrauchholz, gießen Wasser darunter und überstreichen mit diesem dicken Brei ihren ganzen Leib samt dem Gesicht. Das gibt ihnen einen angenehmen Geruch, auch sind sie am folgenden Tage, wenn sie diesen Überzug abnehmen, rein und glänzend davon.

[Anmerkung:] 75. Erwin Rohde erklärt in der »Psyche« diesen Haschischrausch für einen religiösen Akt: »Rausch gilt bei den ›Naturvölkern‹ meistens für einen religiös inspirierten Zustand. Und die szythische Sitte findet die auffallendste Parallele an dem Gebrauch der ›Schwitzhütte‹ bei nordamerikanischen Indianern, dessen religiöse Bedeutung sicher ist.«

 

76. Fremde Gebräuche wollen auch die Szythen um alles nicht aufkommen lassen, selbst nicht voneinander, und am wenigsten hellenische, wie sich bei Anacharsis und dann nochmals bei Skyles gezeigt hat. Anacharsis nämlich, der sich auf großen Reisen umgesehen und dabei großen Verstand bewiesen hatte, fuhr auf dem Rückwege in die Szythenheimat durch den Hellespont und landete bei Kyzikos. Da er gerade zum Feste der Göttermutter kam, das die Kyzikener auf das feierlichste begingen, gelobte Anacharsis der Allmutter, wenn er gesund und wohlbehalten nach Hause komme, ihr auch so zu opfern, wie er's bei den Kyzikenern sah, und ihr eine Nachtfeier zu halten. Wie er nun in Szythien angekommen war, begab er sich in das sogenannte Waldland hinein, das bei der Achillesrennbahn liegt und ganz bewachsen ist mit Bäumen aller Art; dahinein begab sich Anacharsis und stellte der Göttin das Fest vollständig an, mit einer Handpauke in der Hand und mit heiligen Bildern behangen. Nun kam ein Szythe dahinter, daß er dies tue, und zeigte es dem Könige Saulios an. Dieser ging selbst hin und tötete den Anacharsis, als er ihn dies tun sah, durch einen Bogenschuß. Wenn jetzt einer die Szythen nach dem Anacharsis fragt, leugnen sie, ihn zu kennen, weil er nämlich außer Landes nach Hellas gegangen ist und fremde Sitten angenommen hat. Wie ich aber von Tymnes gehört habe, dem Verwalter des Ariapeithes, so wäre er ein Oheim des Szythenkönigs Idanthyrsos und Sohn des Gnuros, des Sohnes des Lykos, des Sohnes des Spargapeithes, gewesen. War nun Anacharsis aus diesem Hause, so ist er von seinem eigenen Bruder getötet worden; denn Idanthyrsos war ein Sohn des Saulios, und Saulios war's, der den Anacharsis tötete.

[Anmerkung:] 76. Über den barbarischen Philosophen Anacharsis, der von den Griechen als der edle Barbar dargestellt wird, wie ihn in der Neuzeit Rousseau schilderte, liefen viele Sagen um. Er wurde zu den sieben Weisen gerechnet, sollte mit Solon verkehrt und an Kroisos geschrieben haben: »Geld bedarf ich nicht; mir genügt es, als ein besserer Mensch zu den Szythen zurückzukehren.« – »So mythisch diese Gestalt erscheint«, sagt Jakob Burckhardt, »und so vieles durch Fiktion mag auf sie übertragen sein, am Vorkommen der Persönlichkeit eines solchen hochbegabten Szythen in der griechischen Gedankenwelt läßt sich nicht zweifeln.«

 

77. Freilich habe ich auch noch eine andere Sage gehört, die bei den Peloponnesiern umläuft, daß Anacharsis vom Szythenkönige abgeschickt worden sei, um sich Kenntnis von Hellas zu erwerben. Als er wieder zurückkam, habe er zu dem, der ihn ausgesandt hatte, gesagt, die Hellenen hätten allesamt nie genug Muße zu allem, was klug ist, außer den Lazedämoniern; diese verstünden es allein, vernünftig Rede und Antwort zu geben. Aber diese Sage ist nur zum Scherz von den Hellenen selbst erdichtet. Der Mann ist, wie oben erzählt, ums Leben gekommen. So erging es ihm wegen der fremden Gebräuche und wegen seines Verkehrs mit den Hellenen.

78. Sodann hatte noch viele Jahre später Skyles, der Sohn des Ariapeithes, dasselbe Schicksal. Ariapeithes nämlich, der Szythenkönig, hatte nebst andern Söhnen den Skyles, diesen aber von einer Frau aus Istria, also von keiner Inländerin. Seine Mutter lehrte ihn die hellenische Sprache und Schrift. Als darauf in der Folgezeit Ariapeithes von dem Agathyrsenkönige Spargapeithes durch List umgebracht ward, bekam Skyles das Königtum samt der Frau seines Vaters, mit Namen Opoia. Diese Opoia aber war ein Landeskind, und von ihr war der Sohn des Ariapeithes, Orikos. Als König der Szythen war nun Skyles gar nicht recht zufrieden mit der szythischen Lebensart, sondern weit mehr geneigt zum Hellenischen, infolge der Erziehung, die er genossen hatte, und machte es daher, wie folgt. Er führte oft das Heervolk der Szythen nach der Stadt der Borystheneïten (diese Borystheneïten sagen, daß sie Milesier seien), und ließ allemal, wenn er zu ihnen ging, sein Heervolk in der Vorstadt. Er selbst ging in die Stadt hinein, ließ dann die Tore schließen und zog statt seiner szythischen Tracht, die er ablegte, hellenische Kleidung an, in der er nun auf dem Markte herumging, ohne Trabanten oder sonstiges Gefolge, während die Tore bewacht wurden, damit ihn kein Szythe in dieser Tracht zu sehen bekomme. So führte er überhaupt eine hellenische Lebensweise und opferte auch den Göttern nach hellenischen Bräuchen. Hatte er sich nun einen Monat oder länger dort aufgehalten, so zog er wieder in szythischer Tracht ab. So machte er's oftmals; ja er hatte sich ein Haus zu Borysthenes gebaut und eine Einheimische als seine Gattin in dasselbe geführt.

[Anmerkung:] 78. Istria war eine milesische Kolonie und lag an einer der Donaumündungen. – Stadt der Borystheneïten: Olbia.

 

79. Da es ihm aber übel gehen sollte, so traf ihn sein Schicksal aus folgendem Anlaß. Er wünschte, in den Dienst des Dionysos Bakcheios eingeführt zu werden, und wollte eben die Weihen empfangen, als ihm ein außerordentliches Zeichen ward. In der Stadt der Borystheneïten hatte er nämlich ein großes und prächtiges Gebäude (ebendas kurz vorher von mir erwähnte), rings umgeben von Sphinxen und Greifen, aus weißem Steine; in dieses schlug nun der Blitz des Gottes, und es brannte ganz ab. Skyles aber feierte nichtsdestoweniger seine Einweihung. Nun machen die Szythen den Hellenen ihren Bakchosdienst zum Vorwurf, weil es ja wider die Vernunft sei, daß es einen Gott geben solle, der die Menschen in Raserei versetzt. Wie nun Skyles dem Bakcheios geweiht war, verriet es ein Borystheneïte den Szythen und sagte: »Weil ihr uns verlacht, ihr Szythen, daß wir bakchantisch schwärmen und der Gott uns ergreift; so hat dieser Geist jetzt auch euern König ergriffen: er schwärmt bakchantisch und ist auch von dem Gotte rasend. Wenn ihr mir nicht glaubt, so kommt mit mir, daß ich euch's zeige!« Da gingen die Fürsten der Szythen mit ihm, und der Borystheneïte führte sie insgeheim hinein und auf einen Turm hinauf. Wie nun Skyles mit dem Festschwarme vorbeikam und ihn die Szythen wirklich bakchantisch schwärmen sahen, so war ihnen das ein großes Leidwesen, und hernach zeigten sie auch draußen dem ganzen Heere an, was sie gesehen hatten.

[Anmerkung:] 79. Dionysos Bakcheios: Der die Menschen rasend machende Dionysos. Sein Kult ist, wie der Name des Gottes, ursprünglich thrazisch und nahe mit dem der phrygischen Göttermutter Kybele verwandt. »Die Feier ging«, sagt Rohde in der »Psyche«, »auf Berghöhen vor sich, in dunkler Nacht, beim unsteten Licht der Fackelbrände. Lärmende Musik erscholl, der schmetternde Schall eherner Becken, der dumpfe Donner großer Handpauken und dazwischen hinein der ›zum Wahnsinn lockende Einklang‹ der tieftönenden Flöten, deren Seele erst phrygische Auleten erweckt hatten. Von dieser wilden Musik erregt, tanzte mit gellendem Jauchzen die Schar der Feiernden … Im wütenden, wirbelnden, stürzenden Rundtanz eilte die Schar der Begeisterten über die Berghalden dahin. Meist waren es Weiber, die bis zur Erschöpfung in diesen Wirbeltänzen sich umschwangen; seltsam verkleidet: sie trugen ›Bassaren‹, lang wallende Gewänder, wie es scheint, aus Fuchspelzen genäht; sonst über dem Gewande Rehfelle, auch wohl Hörner auf dem Haupte. Wild flattern die Haare, Schlangen, dem Sabazios heilig, halten die Hände, sie schwingen Dolche oder Thyrsosstäbe, die unter dem Efeu die Lanzenspitze verbergen. So toben sie bis zur äußersten Aufregung aller Gefühle, und im ›heiligen Wahnsinn‹ stürzen sie sich auf die zum Opfer erkorenen Tiere, packen und zerreißen die eingeholte Beute und reißen mit den Zähnen das blutige Fleisch ab, das sie roh verschlingen … Einen religiösen Sinn hatte die gewaltsam herbeigeführte Steigerung des Gefühls darin, daß nur durch solche Überspannung und Ausweitung seines Wesens der Mensch in Verbindung und Berührung treten zu können schien mit Wesen einer höheren Ordnung, mit dem Gotte und seinen Geisterscharen.«

 

80. Als dann Skyles wieder in seine Heimat zog, nahmen die Szythen seinen Bruder Oktamasades zum Haupte, einen Sohn der Tochter des Teres, und empörten sich gegen Skyles. Da er nun erfuhr, was gegen ihn im Wege sei und um welcher Ursache willen, entfloh er nach Thrazien. Das vernahm Oktamasades und zog gegen Thrazien zu Felde, und wie er am Istros war, kamen ihm die Thrazier entgegen. Da sie nun miteinander handgemein werden sollten, sandte Sitalkes zu Oktamasades und ließ ihm sagen: »Was brauchen wir's miteinander zu versuchen? Du bist meiner Schwester Sohn, und du hast meinen Bruder bei dir. Gib du mir diesen zurück, so will ich dir den Skyles ausliefern: des Kampfes mit dem Heere bist du dann enthoben, und ich auch.« Das ließ ihm Sitalkes durch einen Herold entbieten, da sich bei Oktamasades ein Bruder des Sitalkes als Flüchtling befand. Oktamasades hieß das auch gut, gab seiner Mutter Bruder an Sitalkes heraus und bekam seinen Bruder Skyles dafür. Sitalkes zog mit seinem Bruder ab, dem Skyles aber hieb Oktamasades auf der Stelle den Kopf ab. So hüten die Szythen ihre Gebräuche und vollziehen an denen, die fremde Bräuche annehmen, solche Strafen.

81. Die Volksmenge der Szythen war ich nicht imstande mit Bestimmtheit zu erfahren, sondern habe ganz verschiedene Angaben über ihre Zahl gehört, daß sie nämlich sehr viele seien, und wiederum, daß es nur wenig wirkliche Szythen gebe. So viel aber ward mir durch den Augenschein gewiesen. In der Mitte der Flüsse Borysthenes und Hypanis ist ein Stück Land, mit Namen Exampaios, das ich auch schon oben erwähnte, als ich sagte, daß in ihm eine Quelle mit bitterem Wasser sei, die den Hypanis, in den sie fließt, untrinkbar mache. In diesem Stücke Land steht ein eherner Kessel, sechsmal so groß wie der Mischkrug an der Mündung des Pontos, der ein Weihgeschenk des Pausanias, des Sohnes des Kleombrotos, ist. Wer aber diesen nie gesehen hat, dem will ich es folgendermaßen klarmachen: Der eherne Kessel in Szythien faßt leichtlich sechshundert Amphoren, und die Dicke desselben Kessels beträgt sechs Finger. Von diesem sagen die Eingeborenen, er sei aus Pfeilspitzen gemacht. Ihr König nämlich, mit Namen Ariantas, habe die Volksmenge der Szythen wissen wollen und habe allen Szythen befohlen, jeder solle eine Spitze von seinem Pfeile liefern, und habe jeden, der keine liefere, mit dem Tode bedroht. Nun seien Pfeilspitzen in Menge geliefert worden, und da habe er beschlossen, ein Denkmal aus denselben zu hinterlassen, und diesen ehernen Kessel daraus gemacht und in dem besagten Exampaios gestiftet. Das hörte ich über die Volksmenge der Szythen.

82. Wunderdinge hat dieses Land nicht, nur daß es bei weitem die größten und zahlreichsten Flüsse hat. Das einzige, was noch neben den Flüssen und der Größe seiner Ebene bewundernswert ist, mag noch erwähnt werden. Sie zeigen eine Spur des Herakles, die wie der Tritt eines Mannes aussieht und zwei Ellen groß ist, in einem Felsen am Flusse Tyras. So ist dieses. Doch ich gehe zu der Geschichte zurück, deren Anfang ich bereits erzählt habe.

83. Als Dareios sich gegen die Szythen rüstete und Boten mit Befehlen abfertigte, daß die einen Fußvolk, die andern Schiffe stellen, noch andere über den thrazischen Bosporos eine Brücke schlagen sollten, da lag Artabanos, der Sohn des Hystaspes, der Bruder des Dareios, ihm noch immer an, er solle doch gegen die Szythen keinen Heereszug machen, indem er ihm klarmachte, wie schwer man an die Szythen herankommen könne. Da aber sein guter Rat keinen Eindruck auf ihn machte, gab er es auf, und Dareios zog, nachdem alles gerüstet war, mit seinem Heere von Susa aus.

84. Da bat ein Perser, Oiobazos, den Dareios, daß von drei Söhnen, die er habe und die alle ins Feld sollten, einer ihm zurückgelassen werde. Darauf erklärte dieser, da er sein Freund und die Bitte bescheiden sei, wolle er ihm alle seine Söhne zurücklassen. Darüber war Oiobazos voll Freude, in der Zuversicht, seine Söhne seien frei vom Kriegszuge; er aber befahl seinen Leuten, alle Söhne des Oiobazos zu töten. So wurden diese, als sie niedergemacht waren, dort zurückgelassen.

85. Dareios aber brach auf von Susa und kam nach Chalkedon am Bosporos, wo die Brücke geschlagen war, stieg daselbst in ein Schiff und fuhr nach den Kyaneen, den ehemaligen Irrfelsen, wie die Hellenen behaupten. Er setzte sich am Heiligtume und beschaute den Pontos, der auch beschauenswert ist; denn von allen Meeren ist er am wunderbarsten gestaltet, in der Länge elftausendeinhundert Stadien, in der Breite, wo er seine größte Breite hat, dreitausenddreihundert Stadien. Die Mündung dieses Meeres hat eine Breite von vier Stadien, und die Länge der Mündung, die eben der Hals ist, der Bosporos genannt wird, wo auch die Brücke geschlagen war, beläuft sich auf hundertundzwanzig Stadien. Der Bosporos läuft aus in die Propontis, und die Propontis, deren Breite fünfhundert Stadien beträgt und die Länge eintausendvierhundert, endet in den Hellespont, dessen engste Stelle sieben Stadien breit ist, während er vierhundert lang ist, und der Hellespont läuft aus in einen breiten Meeresraum, der das Ägäische Meer heißt.

[Anmerkung:] 85. Die Irrfelsen setzen sich in Bewegung, sobald ein Schiff durch sie hindurchfährt, und zerschmettern es. Aber die Argonauten lassen eine Taube hindurchfliegen, der die zusammenschlagenden Felsen nur die Schwanzfedern abreißen und sich dann wieder öffnen. Eiligst rudert die Argo hindurch, der die Felsen ebenfalls nur ein Stück vom Hinterverdeck abreißen. Seitdem stehen die Felsen still (Apollonios Rhodios, »Argonautengahrt«, II, Vers 533-606). – Propontis: Marmarameer, Hellespont: Dardanellen. – Das Heiligtum, bei dem Dareios Platz nimmt, ist der berühmte Tempel des Zeus Ourios, des »Fahrwindsenders«, am asiatischen Ufer des Bosporos.

 

86. Dies ist nämlich folgendermaßen gemessen. Ein Schiff fährt in der längsten Tageszeit so ziemlich siebzigtausend Klafter, in der Nacht sechzigtausend. Nun ist es aber von der Mündung an bis zum Phasis (das ist die größte Länge des Pontos) eine Fahrt von neun Tagen und acht Nächten; das gibt elfhundertundzehntausend Klafter, und so viele Klafter sind gleich elftausendundeinhundert Stadien. Dann vom Sindischen an bis nach Themiskyra am Thermodonflusse (das ist die größte Breite des Pontos) ist es eine Fahrt von drei Tagen und zwei Nächten; das gibt dreiunddreißigmal zehntausend Klafter oder dreitausendunddreihundert Stadien. Diesen Pontos samt dem Bosporos und Hellespont habe ich so ausgemessen, und ihre Gestalt ist so, wie ich sie beschrieben habe. Auch ist an diesem Pontos ein See, der in ihn mündet, nicht eben viel kleiner als er selbst, die sogenannte Maiotis und Mutter des Pontos.

87. Als nun Dareios den Pontos beschaut hatte, fuhr er zurück nach der Brücke, deren Baumeister Mandrokles von Samos gewesen war. Nachdem er auch den Bosporos beschaut hatte, stellte er an demselben zwei Säulen von weißem Stein auf, von denen die eine in assyrischer, die andere in hellenischer Schrift alle Völker verzeichnete, die er mit sich führte, und er führte alle mit sich, die er beherrschte. Ohne das Schiffsheer ergab ihre Zählung mit der Reiterei siebzigmal zehntausend Mann, und Schiffe waren sechshundert beisammen. Diese Säulen haben die Byzantiner hernachmals in ihre Stadt gebracht und zum Altare der Artemis Orthosia verwandt, bis auf einen Stein, der beim Tempel des Dionysos in Byzanz liegengeblieben und voll assyrischer Schrift ist. Die Gegend des Bosporos aber, wo Dareios die Brücke schlug, ist nach meiner Vermutung der Platz zwischen Byzanz und dem Heiligtume an der Mündung.

[Anmerkung:] 87. Orthosia, »die sich Aufbäumende«, hieß Artemis als Todesgöttin, der Menschenopfer dargebracht wurden. Als Ersatz dafür geißelte man in Sparta später an ihrem Altare Knaben, bis sie bluteten.

 

88. Dareios aber war sehr zufrieden mit der Schiffsbrücke und belohnte ihren Baumeister, den Mandrokles von Samos, mit reichen Gaben aller Art. Davon stiftete Mandrokles einen Teil zu einem Gemälde des ganzen Brückenbaues über den Bosporos, mit dem König Dareios vorn auf einem Thronsitze und seinem Heere im Hinübergehen: und dieses Gemälde weihte er in das Heraheiligtum mit folgender Aufschrift:

Über die fischreiche Flut des Bosporos spannte die Brücke
Mandrokles, der dies Gedenkbild dann der Hera geweiht,
Der sich selbst mit dem Kranze, mit Ruhm die Samier schmückte,
Da er den Willen des Großkönigs Dareios erfüllt.

Das war das Denkmal des Werkmeisters dieser Brücke.

89. Als nun Dareios den Mandrokles belohnt hatte, ging er nach Europa hinüber, mit Hinterlassung des Befehls an die Ionier, in den Pontos zu fahren bis zum Istrosstrome und, wenn sie an den Istros kämen, ihn daselbst zu erwarten und inzwischen den Strom zu überbrücken. Nämlich die Ionier und Äolier und Hellespontier führten sein Schiffsvolk. So fuhr denn sein Schiffsheer durch die Kyaneen hindurch geradeswegs nach dem Istros, fuhr dann den Strom hinauf, eine Fahrt von zwei Tagen vom Meere an, und überbrückte hier den Hals des Istros, von dem an er sich in seine Mündungen spaltet. Dareios aber zog von seiner Schiffsbrücke, auf der er über den Bosporos gegangen war, weiter durch Thrazien, bis er zu den Quellen des Flusses Tearos kam, bei denen er drei Tage lagerte.

90. Dieser Tearos ist, wie die Anwohner rühmen, vor allen Flüssen edel durch Heilkräfte überhaupt, namentlich aber zur Heilung der Krätze bei Menschen und Pferden. Seine achtunddreißig Quellen strömen alle aus einem Felsen und sind teils kalt, teils warm. Der Weg zu ihnen ist gleich weit von der Stadt Heraion bei Perinthos und von Apollonia am Pontos Euxeinos: zwei Tagereisen in beiden Fällen. Dieser Tearos ergießt sich in den Fluß Kontadesdos, der Kontadesdos in den Agrianes, der Agrianes in den Hebros und dieser ins Meer bei der Stadt Ainos.

[Anmerkung:] 90. Agrianes: Erganeh, Hebros: Maritza.

 

91. Als Dareios zu diesem Flusse gekommen war und sein Lager aufgeschlagen hatte, stellte er, da ihm der Fluß gefiel, auch wieder eine Säule auf mit einer Inschrift, die lautete: »Des Flusses Tearos Brunnquellen haben das edelste und schönste Wasser unter allen Flüssen, und zu ihnen ist auf seinem Heereszuge gegen die Szythen der edelste und schönste unter allen Menschen gekommen, Dareios, der Sohn des Hystaspes, Persiens und des ganzen Festlandes König.« Das wurde dort aufgezeichnet.

92. Dareios zog von dort weiter und kam an einen andern Fluß, mit Namen Artiskos, der durch das Odrysenland strömt. Nach seiner Ankunft bei diesem Flusse nahm er folgendes vor: Er bezeichnete seinem Kriegsvolke einen Ort und befahl nun jedem Manne, im Vorbeigehen einen Stein auf diesen bezeichneten Ort zu legen. Da das Kriegsvolk dies vollzog, so ließ er daselbst, als er mit seinem Kriegsvolke abzog, große Hügel von Steinen zurück.

93. Ehe er nun an den Istros kam, bezwang er zuerst die Geten, die da unsterblich sein wollen. Die Thrazier von Salmydessos nämlich und die oberhalb Apollonia und der Stadt Mesambria wohnenden sogenannten Skyrmiaden und Nipsaier hatten sich ohne Schwertstreich dem Dareios ergeben, die Geten aber leisteten sinnlosen Widerstand, und so wurden sie, die mannhaftesten und gerechtesten Thrazier, gleich zu Knechten gemacht.

94. Unsterblich wollen sie aber sein in der Art, daß ihr Glaube ist, sie stürben nicht, sondern der Hingeschiedene gehe zum Geiste Zalmoxis, den andere von ihnen Gebeleizis nennen. Alle vier Jahre erlosen sie aus ihrer Mitte einen Boten, den sie an Zalmoxis absenden und mit ihren jedesmaligen Anliegen beauftragen. Sie senden ihn auf folgende Weise ab: Einige von ihnen sind aufgestellt mit drei Wurflanzen in der Hand, andere packen den für Zalmoxis bestimmten Gesandten an Händen und Füßen, schwenken ihn und schleudern ihn hinauf in die Lanzenspitzen. Wenn er so durchbohrt wird, daß er stirbt, da glauben sie, der Gott sei ihnen gnädig; wenn er aber nicht stirbt, so geben sie die Schuld diesem Boten und erklären ihn für einen schlechten Menschen. Nach dieser Beschuldigung desselben senden sie einen andern ab; den Auftrag geben sie ihm aber, ehe er stirbt. Dieselben Thrazier schießen auch gegen Donner und Blitz mit Pfeilen in den Himmel hinauf und bedrohen den Gott, indem ihr Glaube ist, es sei kein anderer Gott als der ihrige.

95. Wie ich aber von den am Hellespont und am Pontos wohnenden Hellenen vernehme, so wäre dieser Zalmoxis, als ein Mensch, Sklave gewesen in Samos, und zwar Sklave des Pythagoras, des Sohnes des Mnesarchos, und dort habe er sich, nachdem er frei geworden sei, ein bedeutendes Vermögen erworben, mit dem er in seine Heimat zurückgekehrt sei. Nun hätten die Thrazier ein armseliges Leben geführt und hätten wenig Verstand besessen. Dagegen sei Zalmoxis mit der ionischen Lebensweise und mit feinern Sitten als den thrazischen vertraut gewesen; denn er habe mit Hellenen verkehrt und unter diesen Hellenen mit einem, der auch nicht der kleinste Weisheitslehrer war, mit Pythagoras. So habe er sich einen Saal ausgebaut, in dem er die Ersten der Bürger bewirtete und bei Gastmahlen lehrte, daß er und seine Gäste und ihre jederzeitigen Nachkommen nicht sterben, sondern an einen solchen Ort kommen würden, wo sie sich für immer aufhalten und jegliches Gut haben würden. Während er aber das Berichtete tat und immer solches sagte, baute er sich ein unterirdisches Wohngemach, und als sein Gemach in vollem Stande war, verschwand er den Thraziern: er stieg nämlich in das unterirdische Gemach hinab und lebte da drei Jahre lang. Sie aber vermißten ihn sehr und betrauerten ihn als einen Toten, doch im vierten Jahre zeigte er sich den Thraziern wieder, und so glaubten sie nun an das, was Zalmoxis gesagt hatte. Das, behauptet man, habe er getan.

[Anmerkung:] 95. Rhode erklärt in der »Psyche«: »Das Entweichen des Zalmoxis in ein unterirdisches Gemach ist eine Entstellung des Glaubens an seinen dauernden Aufenthalt in einem hohlen Berge, einem höhlenartigen Raum im Berge Kogaionon.« Dorthin kommen auch die Abgeschiedenen der Geten und führen dort ein seliges Leben in der Unterwelt. Was dem Herodot griechische Ansiedler am Schwarzen Meere und am Hellespont von dem Betrug des Zalmoxis und seinem Verkehr mit Pythagoras erzählten, ist nicht getischer Volksglaube, sondern griechische Umdeutung: »Wer auch immer dieses Märchen ersonnen haben mag«, sagt Rhode, »er ist darauf geführt worden durch die Wahrnehmung der nahen Verwandtschaft der Pythagoreischen Seelenlehre mit dem thrazischen Seelenglauben; ebenso wie durch dieselbe Wahrnehmung andere verführt worden sind, umgekehrt den Pythagoras zum Schüler der Thrazier zu machen.« Herodot selbst ist bei der rationalistischen Umdeutung der Sage nicht wohl, wie Kapitel 96 zeigt.

 

96. Ich bin nun nicht gerade ungläubig gegen das unterirdische Gemach, aber auch nicht sehr gläubig und halte nur dafür, daß dieser Zalmoxis viele Jahre früher als Pythagoras lebte. Doch lebte einmal ein Mensch Zalmoxis oder ist es ein Geist und Landesgott bei den Geten: lassen wir ihn hiermit! Diese also, die es hierin so halten, wurden von den Persern gebändigt und zogen mit dem übrigen Heere weiter.

97. Dareios kam darauf mit seinem Fußvolke an den Istros. Als alle dort hinübergegangen waren, befahl Dareios den Ioniern, die Schiffsbrücke jetzt abzubrechen und zu Lande mit ihm zu ziehen, samt der Mannschaft aus den Schiffen. Da nun die Ionier eben die Brücke abbrechen und nach seinem Befehle verfahren wollten, sprach Koës, der Sohn des Erxandros, der Kriegsoberste der Mytilenaier, folgendermaßen zu Dareios, nach vorheriger Anfrage, ob ihm der Vortrag einer Meinung genehm sei, wenn einer eine vortragen wolle: »König, jetzt willst du ja in ein Land ziehen, wo sich nirgends ein Saatfeld, nirgends eine gebaute Stadt zeigen wird; so laß diese Brücke an ihrem Orte und zu ihrer Hut hinterlaß dieselben, die sie geschlagen haben. Finden wir alsdann die Szythen auf und geht es uns nach Wunsch, so haben wir einen Rückweg, im andern Falle aber, wenn wir nicht imstande sind, sie zu treffen, ist wenigstens der Rückweg gedeckt. Denn das fürchte ich nicht, daß wir den Szythen in der Schlacht unterliegen könnten, wohl aber, daß wir nicht imstande seien, sie zu treffen, und dann in der Irre zu Schaden kommen möchten. Nun könnte aber einer behaupten, ich sage das um meiner selbst willen, um hier zu bleiben; aber ich lege nur die Meinung vor, die ich für dich, mein König, am ersprießlichsten finde; doch ich selbst will mit dir ziehen und will keineswegs zurückbleiben.« Diese Meinung gefiel dem Dareios gar sehr, und er gab ihm darauf die Antwort: »Mein Bundesfreund von Lesbos, wenn ich glücklich wieder zu Hause bin, so komme ja zu mir, damit ich für deinen guten Rat auch dir Gutes tue.«

98. So sprach er, knüpfte dann in einen Riemen sechzig Knoten, berief die Machthaber der Ionier zur Besprechung und sagte: »Ihr Ionier, die Meinung, die ich vorhin über die Brücke äußerte, will ich aufgeben; nehmt aber den Riemen da und macht es so: Sobald ihr mich im Aufbruche gegen die Szythen seht, so löst von der Zeit an jeden Tag einen Knoten. Wenn ich nun in dieser Zeit nicht wieder da bin und die Tage an euern Knoten abgelaufen sind, dann fahrt wieder in euer Vaterland zurück! Bis dahin aber sollt ihr, da ich meine Meinung geändert habe, die Schiffsbrücke hüten und dabei allen Eifer zu Schutz und Hut beweisen. Wenn ihr das tut, werde ich euch dafür großen Dank wissen.« So sprach Dareios und drang vorwärts.

99. Vom szythischen Lande nun zieht sich ins Meer heraus das thrazische. Dieses Land bildet einen Busen, und dann schließt sich das szythische daran, und in dasselbe läuft der Istros aus, dessen Mündung gegen den Südostwind geht. Vom Istros an will ich nun das Stück am Meere, das eben szythischen Anteils ist, bezeichnen, wie sich's in der Messung ergibt. Vom Istros an, das ist schon das alte Szythenland, gegen Mittag und den Südwind gelegen, bis zu der Stadt, die Karkinitis heißt. Das Stück von da an aber, das nach demselben Meere sich hinzieht, eine bergige Landschaft, die sich in den Pontos hinausstreckt, ist vom taurischen Volke besetzt, bis zur sogenannten Chersonesos Tracheia, die sich in das Meer gegen den Ostwind herabzieht. Vom szythischen Lande gehen nämlich zwei Seiten ans Meer hinab, die eine gegen Mittag und die andere gegen Morgen, wie vom attischen Lande, und die Taurier sitzen auf ähnliche Weise in Szythien, wie wenn in Attika ein anderes Volk und nicht die Athener auf dem Sunischen Vorlande säßen, das mit der Landspitze ins Meer vorspringt, vom Gau Thorikos bis zum anaphlystischen. Das sage ich nur, wie man Kleines mit Großem vergleichen kann. So ein Stück ist Taurien. Wer aber an dieser Seite von Attika nicht vorbeigefahren ist, dem will ich's noch so beschreiben: wie wenn von Japygien ein anderes Volk und nicht die Japyger das Stück vom brentesischen Hafen bis herum nach Tarent abgegrenzt und die Landspitze besetzt hätte. Zu den zwei ähnlichen Landschaften, die ich nenne, könnte ich noch viele andere anführen, denen Taurien ebenso gleicht.

[Anmerkung:] 99. Chersonesos Tracheia: Rauhe Halbinsel, Krim. – Brentesischer Hafen: Brindisi.

 

100. Von Taurien an bewohnen nun schon Szythen das Land oberhalb der Taurier, und was am Meere im Osten und westlich vom Kimmerischen Bosporos und dem Maiotischen See bis zum Flusse Tanaïs liegt, der in eine Bucht dieses Sees mündet. Nun aber oberhalb vom Istros, nach dem Binnenlande zu, wird Szythien begrenzt zuerst von den Agathyrsen, dann von den Neurern, dann von den Androphagen und zuletzt von den Melanchlainen.

[Anmerkung:] 100. Androphagen: Menschenfresser, Melanchlainen: Schwarzmäntel.

 

101. Nun hat Szythien bei seiner viereckigen Gestalt, indem zwei Seiten ans Meer stoßen, nach allen Seiten eine gleiche Erstreckung, ins Binnenland hinein wie längs dem Meere. Denn vom Istros an den Borysthenes ist ein Weg von zehn Tagen, und vom Borysthenes an den See Maiotis wieder von zehn, so auch vom Meer ins Binnenland bis zu den Melanchlainen, die oberhalb der Szythen wohnen, ein Weg von zwanzig Tagen. Den Tagesweg rechne ich zu zweihundert Stadien. So wäre denn Szythien viertausend Stadien in der Breite und ebensoviel in der Länge, wo es sich ins Binnenland erstreckt. Das ist also die Größe dieses Landes.

102. Die Szythen verständigten sich nun dahin, daß sie allein nicht stark genug seien, das Heer des Dareios in offener Feldschlacht zurückzudrängen, und schickten Boten zu ihren Nachbarn, deren Könige auch zusammenkamen, um wegen des Andranges eines so großen Heeres zu beraten. Die so zusammenkamen, waren die Könige der Taurier, der Agathyrsen, der Neurer, der Androphagen, der Melanchlainen, der Geloner, der Budiner, der Sauromaten.

103. Unter diesen haben die Taurier folgende Bräuche. Sie opfern der Jungfrau die Schiffbrüchigen und die dorthin verschlagenen Hellenen, die in ihre Hand fallen, auf folgende Art. Nach der Weihung schlagen sie das Opfer mit einer Keule auf den Kopf; einige sagen aber auch, sie würfen den Leib von der Felsenspitze hinunter (das Heiligtum steht nämlich auf einer Felsenspitze), und nur den Kopf spießten sie auf einen Pfahl; andere stimmen damit zwar, was den Kopf anlangt, überein, sagen dagegen vom Leibe, er werde nicht von der Felsenspitze geworfen, sondern in der Erde begraben. Von der Göttin aber, der sie opfern, sagen die Taurier selbst, es sei Iphigeneia, die Tochter Agamemnons. Mit den Kriegsfeinden, deren sie habhaft werden, machen sie's, wie folgt. Sie hauen ihnen den Kopf ab, und jeder nimmt einen mit nach Haus, wo er ihn alsdann, aufgesteckt an einer langen Stange, hoch über seinem Hause aufstellt, meistens über dem Rauchfange. Sie behaupten, so seien sie die Wächter über ihr ganzes Haus da oben in der Luft. Sie leben aber von Plünderung und Krieg.

[Anmerkung:] 103. Iphigeneia, »die Kraftgeborene«, ist einer der vielen Beinamen der Artemis. Aus ihm bildete sich zunächst die Sage, daß eine Priesterin Iphigeneia mit einem Bilde der taurischen Göttin in dem attischen Hafen Brauron gelandet sei. Diese Priesterin verschmolz man auf Grund der Namensähnlichkeit mit Iphianassa, »der Kraftgebieterin«, die Homer als Tochter Agamemnons erwähnt. Nun dichtete man den Anlaß hinzu, aus dem Agamemnons Tochter nach Taurien gekommen sei, und ebenso die Gründe ihrer Rückführung durch den Bruder Orestes, und die Iphigeniensage hatte die Gestalt, in der sie Euripides dramatisiert hat. Ihm schloß sich Goethe an, beseitigte aber gerade den Raub des taurischen Artemisbildes, der in der griechischen Sage die Hauptsache ist. Die Taurier, auf die sich Herodot beruft, sind auf der Krim wohnende Griechen, die ihm eine griechische Sage mitteilten.

 

104. Die Agathyrsen sind die weichlichsten Menschen und tragen viel Gold. Begattung mit den Weibern ist bei ihnen Gemeinschaftssache, damit sie alle Brüder untereinander seien und als Glieder eines Hauses keine Mißgunst und Feindschaft gegeneinander hegten. In ihren übrigen Gebräuchen aber haben sie sich an die Thrazier angeschlossen.

105. Die Neurer haben szythische Bräuche. Ein Menschenalter vor Dareios' Kriegszuge hatten sie das Schicksal, daß sie ihr Land ganz verlassen mußten, weil es von Schlangen wimmelte. Denn ihr eigenes Land brachte viele Schlangen hervor, und noch mehr kamen von oben aus den Einöden herbei, so daß sie die Not trieb, ihr Vaterland zu verlassen und sich bei den Budinern anzusiedeln. Diese Leute sind wohl gar Zauberer; denn die Szythen und die im Szythischen ansässigen Hellenen sagen, daß jeder Neurer einmal in jedem Jahre ein Wolf wird auf wenige Tage und dann wieder seine alte Gestalt bekommt. Indessen, was sie da sagen, machen sie mich nicht glauben; sie sagen es aber um nichts weniger und schwören noch dazu.

[Anmerkung:] 105. Die Sage von den Werwölfen, die im Altertum nur gelegentlich auftaucht und erst im Mittelalter allgemein verbreitet ist, hat sich am hartnäckigsten bei den Südslawen gehalten und scheint in Südosteuropa entstanden zu sein.

 

106. Die Androphagen haben unter allen Menschen die wildesten Sitten, sie kennen weder Recht noch Gesetz. Sie sind ein Weidevolk, haben gleiche Kleidung wie die Szythen, aber eine eigene Sprache. Sie allein unter den Genannten sind Menschenfresser.

107. Die Melanchlainen tragen alle schwarze Gewänder, von denen sie auch ihre Benennung haben, und ihre Bräuche sind szythisch.

108. Die Budiner, ein großes und zahlreiches Volk, sind lauter Leute mit hellblauen Augen und stark rötlichem Haar. Bei ihnen ist eine feste Stadt von Holz, und der Name der Stadt ist Gelonos, und die Mauer ist an jeder Seite dreißig Stadien lang und ist hoch, und zwar ganz von Holz, wie auch ihre Häuser und ihre Heiligtümer von Holz sind. Es sind nämlich daselbst Heiligtümer von hellenischen Göttern, hellenisch hergerichtet mit heiligen Bildern, Altären und hölzernen Tempeln. Auch feiern sie dem Dionysos alle zwei Jahre ein Fest und schwärmen bakchantisch. Die Geloner sind nämlich von Ursprung Hellenen, die aber, aus den Stapelorten vertrieben, bei den Budinern sich ansiedelten, auch eine halb szythische und halb hellenische Sprache haben.

[Anmerkung:] 108. Die Rassenmerkmale, die Herodot angibt, entsprechen genau denen, die Tacitus in der »Germania« (Kapitel 4) von den Germanen anführt: »Blaue Augen, rötliche Haare.«

 

109. Die Budiner haben aber nicht dieselbe Sprache wie die Geloner; überhaupt ist ihre Lebensart nicht dieselbe. Nämlich die Budiner sind das eingeborene und unstete Volk des Landes, und sie allein unter denen in dieser Gegend essen Tannenzapfen; die Geloner aber sind Feldarbeiter, Kornspeiser und Gartenbauer von ganz anderem Aussehen und ganz anderer Hautfarbe. Von den Hellenen werden auch die Budiner Geloner genannt, aber die Benennung ist falsch. Ihr Land ist ganz bewachsen mit allerlei Waldungen, und in der dicksten Waldung ist ein See, groß und wasserreich und umgeben mit Moorland und Rohr, in dem Fischottern und Biber gefangen werden und noch andere Tiere mit viereckigem Gesicht, mit deren Bälgen die Pelzröcke verbrämt werden; auch sind ihre Hoden gut zur Heilung von Mutterbeschwerden.

110. Von den Sauromaten sagt man folgendes: Als die Hellenen mit den Amazonen kämpften (die Amazonen aber nennen die Szythen Oiorpata, ein Wort, das in unserer Sprache Männertöter heißt; Oior nämlich heißt der Mann, und Pata töten) – damals, lautet die Sage, seien die Hellenen, als Sieger in der Schlacht am Thermodon, auf drei Fahrzeugen mit all den Amazonen heimgefahren, die sie gefangengenommen hatten; diese seien aber auf der See über die Männer hergefallen und hätten sie erschlagen. Nun seien sie der Fahrzeuge nicht kundig gewesen, weder des Gebrauchs der Steuer, noch der Segel und Ruder; daher sie denn, nach Erschlagung der Männer, Wind und Wellen überlassen waren und so nach Kremnoi am Maiotischen See kamen. Dieses Kremnoi liegt im Lande der freien Szythen. Daselbst stiegen die Amazonen aus den Fahrzeugen und nahmen ihren Weg ins bewohnte Land hinein, machten da die erste beste Roßherde zur Beute, setzten sich auf die Pferde und plünderten im Szythenlande.

111. Die Szythen wußten nicht aus dem Dinge klug zu werden, kannten ihre Sprache nicht, noch auch die Kleidung und den Volksstamm: sondern hatten ihr Wunder daran, wo sie herkämen. Sie hielten sie jedoch für lauter Männer ebensolchen Alters und lieferten ihnen auch eine Schlacht; wie die Szythen aus dieser Schlacht die Toten in die Hand bekamen, sahen sie erst, daß es Weiber waren. Da berieten sie und beschlossen, sie auf keine Weise mehr zu töten, sondern ihre jüngsten Männer zu ihnen hinauszuschicken, in ungefähr gleicher Anzahl, wie jene waren, um sich in ihrer Nähe zu lagern und dann immer dasselbe zu tun, was jene täten; wenn sie aber verfolgt würden, nicht zu kämpfen, sondern zu weichen, bis sie nachließen, und dann gleich wieder in ihrer Nähe zu lagern. Diesen Beschluß faßten die Szythen in der Absicht, Kinder von ihnen zu bekommen.

112. Die Jünglinge wurden hinausgeschickt und taten, was ihnen befohlen war. Da nun die Amazonen merkten, sie seien ganz ohne feindliche Absicht gekommen, ließen sie sie gehen, und von Tag zu Tage rückte das eine Lager näher an das andere heran. Die Jünglinge hatten aber, ebenso wie die Amazonen, nichts als ihre Waffen und Pferde und lebten nur, wie diese auch, vom Jagen und Plündern.

113. Nun machten es die Amazonen zur Mittagszeit immer so: Sie zerstreuten sich, einzeln oder zu zweien, um voneinander abseits ihre Notdurft zu verrichten. Da das die Szythen auch merkten, machten sie's ebenso, und da machte sich einer an eine, die ganz allein war, und die Amazone sträubte sich nicht, sondern ließ sich's gefallen. Sprechen konnte sie nun zwar nicht, weil sie einander nicht verstanden, doch bedeutete sie ihn mit der Hand, des folgenden Tages wieder an den Ort zu kommen und einen andern mitzubringen; sie deutete durch Zeichen an, daß es zwei sein sollten, und daß auch sie eine andere mitbringen wolle. Der Jüngling ging also zurück, sagte das den übrigen und kam darauf am andern Tage an den Ort mit noch einem, wo er denn auch die Amazone fand, die mit einer zweiten auf ihn wartete. Die übrigen Jünglinge machten, als sie das erfuhren, nun auch die übrigen Amazonen sich zu Willen.

114. Hernach vereinigten sie ihre Lager und wohnten beisammen, und jeder hatte die zum Weibe, zu der er sich zuerst gesellt hatte. Die Sprache der Frauen waren nun zwar die Männer nicht imstande, von ihnen zu lernen, aber die Weiber nahmen die ihrer Männer an. Da sie nun einander verstanden, sprachen die Männer zu den Amazonen, wie folgt: »Wir haben Eltern, wir haben Besitz; so laßt uns denn nicht länger dieses Leben führen, sondern zurückkehren und unter dem Volke leben. Ihr aber sollt unsere Weiber sein und keine andern.« Diese sagten hierauf folgendes: »Wir würden unter euern Weibern nicht hausen können; denn wir haben nicht dieselben Sitten wie sie. Wir schießen mit dem Bogen, werfen den Speer und sind beritten; Weiberarbeiten haben wir aber alle keine gelernt; eure Weiber aber tun keines der besagten Dinge, sondern treiben ihre Weiberarbeiten, wobei sie immer auf ihren Wagen bleiben, ohne auf die Jagd auszugehen oder sonstwohin. Wir würden uns also nicht mit ihnen vertragen können. Wenn ihr uns also zu Weibern haben und euch dabei ganz rechtschaffen zeigen wollt, so geht zu euern Eltern und holt euer Erbteil: wenn ihr dann wiederkommt, hausen wir für uns allein.«

115. Die Jünglinge nahmen das an und taten es. Wie sie dann mit ihrem Erbteile wieder zu den Amazonen zurückkamen, sprachen die Weiber zu ihnen: »Es ist uns angst und bange, in diesem Lande zu wohnen, da wir euch von euern Vätern losgerissen und außerdem eurem Lande soviel Schaden getan haben. Weil ihr uns nun einmal zu Weibern haben wollt, wohlan, so laßt uns jetzt aus diesem Lande wegziehen, über den Tanaïsstrom gehen und dort wohnen.«

116. Die Jünglinge nahmen auch das an, und sie gingen über den Tanaïs und zogen drei Tagereisen vom Tanaïs gegen Sonnenaufgang und drei vom See Maiotis gegen den Nordwind, bis sie in die Gegend kamen, wo sie jetzt wohnhaft sind, und sie zum Wohnplatze nahmen. Daher haben die Weiber der Sauromaten noch ihre alte Lebensart, gehen zu Pferde auf die Jagd, mit und ohne die Männer, ziehen in den Krieg und tragen auch dieselbe Kleidung wie ihre Männer.

[Anmerkung:] 116. Maiotissee: Asowsches Meer.

 

117. Die Sprache der Sauromaten ist eigentlich szythisch, obschon von vornherein mit Fehlern durchsetzt, da sie die Amazonen nicht ganz richtig erlernten. Das Heiraten anlangend, besteht bei ihnen die Einrichtung, daß keine Jungfrau heiratet, bevor sie einen Feind getötet hat. Und einige von ihnen kommen ans Ende ihrer Tage, ehe sie heiraten, weil sie das Gesetz nicht erfüllen können.

118. Also von den angeführten Völkern waren die Könige versammelt, und zu ihnen kamen die Boten der Szythen und brachten ihnen die Kunde, daß der Perser, da er sich bereits auf dem andern Festlande alles unterworfen habe, über eine Brücke, die er am Halse des Bosporos geschlagen habe, auf ihr Festland übergegangen sei, nach dem Übergange auch schon die Thrazier sich unterworfen habe und nun den Istrosstrom überbrücke, mit der Absicht, auch hier alles unter seine Gewalt zu bringen: »Ihr also dürft euch auf keine Weise aus dem Handel ziehen und ruhig bei unserm Untergange zusehen, sondern laßt uns alle für einen dem Angreifer entgegengehen. Werdet ihr das nicht tun, nun, so werden wir in der Not entweder unser Land verlassen oder bleiben und einen Vertrag machen. Denn was bleibt uns anders übrig, wenn ihr uns nicht beistehen wollt? Euch aber wird das nichts helfen; denn der Perser zieht ebensogut gegen euch als gegen uns, und unsere Unterwerfung wird ihm nicht genug sein, so daß er euch verschont. Hierfür können wir euch einen Hauptbeweis anführen. Wenn der Perser nämlich gegen uns allein zu Felde zöge, um für die ehemalige Knechtschaft Rache zu nehmen, so müßte er mit Verschonung aller übrigen auf unser Land losgehen und hätte es dann auch allen kundgegeben, er ziehe gegen die Szythen, gegen die übrigen aber nicht. Nun aber ist er kaum auf unser Festland übergegangen, so treibt er schon alle, die ihm in den Weg kommen, zu Paaren und hat überhaupt alle Thrazier bereits unterjocht, insbesondere auch unsere Nachbarn, die Geten.«

119. Auf diese Botschaft der Szythen hielten die von jenen Völkern zusammengetretenen Könige Rat, und da waren ihre Meinungen geteilt, indem der Geloner, der Budiner und der Sauromate, miteinander stimmend, den Szythen Beistand versprachen, der Agathyrse aber, der Neurer, der Androphage und die Könige der Melanchlainen und Taurier den Szythen erwiderten, wie folgt: »Wenn nicht ihr die Perser zuerst beleidigt und den Krieg angefangen hättet, so würden wir das, was ihr bei euerm jetzigen Begehren sagt, für richtig erkannt, euch auch Folge geleistet und gemeinschaftliche Sache mit euch gemacht haben. Nun aber seid ihr in ihr Land eingedrungen ohne uns und Herren der Perser gewesen, solange als der Gott es euch gewährte, und jene vergelten euch nun Gleiches mit Gleichem, da sie derselbe Gott erweckt. Wir aber haben damals diese Leute nicht beleidigt: wir wollen auch jetzt keinen ersten Schritt zur Beleidigung tun. Geht er indessen auch auf unser Land los und fängt mit der Beleidigung an, so werden wir es nicht leiden. Bis dahin aber wollen wir immerhin für uns bleiben, weil die Perser, nach unserem Dafürhalten, nicht gegen uns ziehen, sondern gegen die Urheber der Beleidigungen.«

120. Als dieser Bescheid den Szythen überbracht wurde, faßten sie den Beschluß, sich nicht in einen offenen Kampf einzulassen, weil sie jene nicht zu Mitstreitern bekommen hätten, dagegen sich zurückzuziehen und ihr Vieh wegzutreiben und alle Brunnen und Quellen im Vorüberziehen zu verschütten und Gras und Kraut vom Boden wegzutilgen, und zwar in zwei Abteilungen. An den einen Teil ihres Volkes, unter dem Könige Skopasis, sollten sich die Sauromaten anschließen; diese sollten, wenn sich der Perser nach dieser Seite schlüge, immer weiter nach dem Tanaïsflusse hin fliehen, längs dem Maiotischen See, Schritt vor Schritt weichend, und wenn der Perser umkehrte, herausbrechen und ihn verfolgen. Das war der eine Teil von ihrem königlichen Volke, dem der besagte Weg angewiesen war. Aber die beiden andern Teile von den Königlichen, der große, worüber Idanthyrsos herrschte, und der dritte, worüber Taxakis König war, sollten zusammen, noch verstärkt durch Geloner und Budiner, gleichfalls immer eine Tagereise voraus vor den Persern sich bewegen und auf die Art zurückweichen, wie es in ihrem Rate beschlossen war. Fürs erste nämlich sollten sie den Feind gerade in die Lande hineinziehen, die ihnen den Beistand ihrer Waffen versagt hatten, damit sie diese auch in den Krieg brächten; weil sie sich nicht gutwillig zum Kriege wider die Perser verstanden hatten, sollten sie dieselben nun wider ihren Willen in den Krieg treiben. Alsdann sollten sie wieder nach ihrem eigenen Lande umlenken und angreifen, wenn sie's in ihrem Rate für gut befänden.

121. Das war der Beschluß der Szythen, demzufolge sie sich aufmachten, dem Heereszuge des Dareios entgegen, mit Vorausschickung ihrer besten Reiter als Vortrab. Mit den Wagen aber, in denen ihre Weiber und Kinder lebten, schickten sie das Weidevieh mit Ausnahme dessen, was zu ihrem eigenen Unterhalte nötig war und deshalb zurückbehalten wurde, voraus, mit dem Befehle, immer nach Norden zu ziehen. Das wurde also vorher weggeschafft.

122. Als der Vortrab der Szythen auf die Perser stieß, waren diese einen Weg von drei Tagen vom Istros vorgerückt. Sobald er sie gefunden hatte, lagerte er sich eine Tagereise vor ihnen voraus und verwüstete immer das Feld. Die Perser ließen sich, sobald ihnen die Reiterei der Szythen zu Gesicht kam, Schritt vor Schritt hinter ihr drein immer weiter locken und verfolgten alsdann die eine Abteilung (denn gegen diese rückten sie vor) nach Morgen und dem Tanaïs zu. Als sie über den Tanaïsfluß gingen, verfolgten sie die Perser auch da hinüber, so daß sie nun durch das Land der Sauromaten hindurch in das der Budiner kamen.

123. Solange nun die Perser durch das szythische und sauromatische Land zogen, hatten sie nichts zu verheeren, weil nämlich das Land schon kahl war; jetzt aber, da sie ins Land der Budiner eindrangen, steckten sie daselbst die hölzerne Festung, die sie von den Budinern verlassen und ganz ausgeräumt fanden, in Brand. Das getan, setzten sie ihre Verfolgung Schritt vor Schritt fort, bis sie auch hier in die Wüste kamen. Diese Wüste hat gar keine Bewohner und erstreckt sich oberhalb des Budinerlandes in einer Ausdehnung von sieben Tagereisen. Oberhalb der Wüste aber wohnen die Thyssageten, aus deren Gebiet vier große Flüsse durch das Maiotenland strömen und in den sogenannten Maiotissee münden, unter den Namen Lykos, Oaros, Tanaïs und Syrgis.

124. Da also Dareios in die Wüste kam, hielt er den Lauf an und rastete mit seinem Heere am Strome Oaros. Dort baute er acht große Festen, in gleicher Entfernung voneinander, ungefähr sechzig Stadien, deren Trümmer noch zu meiner Zeit standen. Während er das vornahm, gingen die Szythen, hinter denen er drein war, oben herum und lenkten wieder nach Szythien ein. Als diese nun ganz verschwunden und keinem Auge mehr sichtbar waren, ließ auch Dareios jene Festen halbfertig stehen und lenkte jetzt gegen Abend ein, im Glauben, das wären schon alle Szythen und sie flöhen nun gegen Abend.

125. So kam er mit möglichst raschem Zuge in das Szythenland, stieß da auf beide Abteilungen der Szythen und verfolgte sie sofort. Sie hielten sich immer um eine Tagereise voraus. Dareios rückte unablässig nach, und die Szythen lenkten ihre Flucht gemäß dem gefaßten Beschlusse in das Land derer hinein, die ihnen die Waffenhilfe versagt hatten, und zwar zuerst ins Land der Melanchlainen. Als die Szythen diese durch ihren und der Perser Einbruch aufgestürmt hatten, führten sie den Feind in die Länder der Androphagen hinein. Da nun auch diese in Bewegung gebracht waren, lockten sie ihn ins Neurische. Als auch diese in Bewegung kamen, wichen die Szythen wieder zu den Agathyrsen. Die Agathyrsen aber, wie sie ihre Grenznachbarn in so stürmischer Flucht vor den Szythen sahen, ließen den Szythen, noch ehe sie in ihr Land eindrangen, durch einen Herold entbieten, sie sollten ihre Grenzen nicht betreten, mit dem Bedeuten, wenn sie einen Versuch machten einzudringen, müßten sie zuerst mit ihnen den Kampf bestehen. Die Agathyrsen taten diese Erklärung und rückten zur Abwehr an ihre Grenzen, entschlossen, den Andrang abzuhalten. Die Melanchlainen aber und die Androphagen und Neurer griffen beim Eindringen von Szythen und Persern zugleich gar nicht zur Gegenwehr, sondern vergaßen ihre Drohungen und flohen immer nordwärts nach der Wüste in stürmischer Unruhe. Die Szythen aber kamen nun nicht mehr zu den Agathyrsen, die sich das verbeten hatten, sondern leiteten die Perser aus dem neurischen Lande in das ihrige herab.

126. Da das immer wieder so ging und kein Ende fand, sandte Dareios einen Reiter an den Szythenkönig Idanthyrsos mit folgenden Worten: »Wunderlicher Mensch, was fliehst du immerfort? Du hast doch nur zwischen zwei Dingen die Wahl. Wenn du dich selbst für stark genug hältst, meiner Macht die Stirn zu bieten, nun so steh, halt ein mit dem Herumschweifen und fechte; wenn du dich mir aber nicht gewachsen fühlst, nun so halt auch dann ein im Laufe, reiche deinem Gebieter Erde und Wasser zum Geschenke und komm zu einer Unterredung!«

127. Darauf gab der Szythenkönig Idanthyrsos diese Antwort: »Mit mir steht es so, Perser. Ich bin bis jetzt noch vor keinem Menschen aus Furcht geflohen, und auch jetzt fliehe ich nicht vor dir, habe auch jetzt nicht etwas Außerordentliches getan, was ich nicht auch im Frieden zu tun gewohnt wäre. Warum ich aber nicht gleich mit dir fechte, das will ich dir auch anzeigen. Wir haben keine Städte und keine Fruchtfelder, um uns, aus Furcht, daß sie erobert oder verheert werden könnten, so geschwind mit euch in eine Schlacht einzulassen; soll es jedoch durchaus eiligst dazu kommen, nun, so haben wir väterliche Gräber; wohlan, versucht es, diese zu finden und sie zu zerstören, und dann sollt ihr erfahren, ob wir mit euch um die Gräber fechten oder nicht. Eher aber schlagen wir uns nicht mit dir, wenn uns kein Grund dafür einleuchtet. So viel sei dir über die Schlacht gesagt! Die Gebieter aber, die ich anerkenne, sind allein Zeus, mein Urahn, und Hestia, die Königin der Szythen. Doch dir will ich, anstatt des Geschenkes von Wasser und Erde, Geschenke der Art senden, wie sie dir zukommen; daß du dich aber für meinen Gebieter erklärt hast, sollst du bereuen!« Der Herold zog mit dieser Botschaft an Dareios ab.

128. Die Könige der Szythen waren gleich beim Namen der Knechtschaft in Zorn geraten. Sofort schickten sie die mit den Sauromaten vereinigte Abteilung, die Skopasis führte, mit dem Befehle ab, sich mit den Ioniern zu unterreden, welche die Brücke über den Istros bewachten. Die Zurückbleibenden beschlossen, die Perser nicht weiter herumzuführen, aber sie, sooft sie ihre Nahrung zu sich nähmen, anzugreifen. Also gaben sie acht, wann die Leute des Dareios Nahrung zu sich nähmen, und taten dann nach diesem Beschlusse. Reiterei gegen Reiterei gewannen da die Szythen immer die Oberhand. Die persischen Reiter aber flüchteten sich unters Fußvolk, und rückte nun das Fußvolk zur Hilfe, so lenkten die Szythen, wenn sie die Reiterei geworfen hatten, abgeschreckt durch das Fußvolk, wieder um. Auch in der Nacht machten die Szythen ähnliche Überfälle.

129. Was aber den Persern beistand und den Szythen ein Hemmnis war bei ihren Angriffen auf Dareios' Lager, das will ich aller Welt zum Wunder sagen: die Stimme der Esel und die Gestalt der Maultiere. Denn das szythische Land bringt weder Esel noch Maultiere hervor, wie ich auch schon oben bemerkt habe, und es gibt überhaupt im ganzen Szythengebiete keinen Esel und kein Maultier, wegen der Kälte. Daher brachten die Esel, wenn sie lebhaft wurden, die Reiterei der Szythen in Verwirrung, und oftmals wurden die Pferde, wenn sie beim Ansprengen gegen die Perser das Geschrei der Esel hörten, so verwirrt, daß sie umdrehten und dabei voll Verwunderung die Ohren spitzten über eine solche Stimme, die sie nie gehört, und die Gestalt, die sie nie gesehen hatten. Das war nun immerhin ein Vorteil im Kriege.

130. Da die Szythen sahen, daß die Perser in Unruhe waren, so machten sie's, wie folgt, damit die Perser längere Zeit in Szythien blieben und sonach in Not kämen durch gänzlichen Mangel. Sie ließen immer einen Teil ihres Viehes mit den Hirten zurück und zogen dann in eine andere Gegend. Wenn nun die Perser darüberkamen und das Vieh wegnahmen, schwoll ihnen, sooft sie etwas genommen hatten, wieder der Kamm.

131. Solches geschah oft; endlich aber steckte Dareios in Not, und nun sandten die Szythenkönige, die es wohl gewahrten, einen Herold an Dareios mit Geschenken: einem Vogel, einer Maus, einem Frosch und fünf Pfeilen. Die Perser befragten den Überbringer dieser Geschenke nach dem Sinne der Gaben; er aber sagte, es sei ihm sonst nichts aufgetragen, als nach der Übergabe gleich wieder umzukehren, und hieß die Perser selbst, wenn sie klug wären, erkennen, was die Geschenke besagen wollten.

132. Darauf berieten die Perser. Dareios' Meinung war, die Szythen ergäben sich ihm selbst und schickten Erde und Wasser. Er deutete nämlich so: die Maus findet sich in der Erde, wo sie sich von derselben Frucht wie der Mensch ernährt, und der Frosch im Wasser; der Vogel aber hat die größte Ähnlichkeit mit dem Pferde, und mit den Pfeilen überliefern sie ihre Kampfkraft. Das war die Meinung, die Dareios vortrug. Dieser Meinung stand die des Gobryas gegenüber, eines der sieben, die den Magier gestürzt hatten. Er deutete, die Geschenke besagten: »Wenn ihr Perser nicht Vögel werdet und in den Himmel auffliegt, oder Mäuse und unter die Erde kriecht, oder Frösche und in die Seen springt, so kommt ihr nicht wieder heim, sondern erliegt diesen Geschossen.« So deuteten die Perser diese Geschenke.

133. Die eine Abteilung der Szythen aber, die zuerst den Auftrag hatte, längs dem Maiotissee auf der Hut zu sein, und jetzt, am Istros mit den Ioniern zu verhandeln, sprach, als sie an der Brücke ankam, folgendes: »Ihr Ionier, wir kommen, euch die Freiheit zu bringen, wenn ihr auf uns hören wollt. Wir vernehmen, daß euch Dareios befohlen hat, nur sechzig Tage die Brücke zu bewachen, und wenn er in dieser Zeit nicht wieder da sei, in eure Heimat abzuziehen. Wenn ihr daher folgendes tut, werdet ihr frei von Schuld gegenüber ihm und frei von Schuld gegenüber uns sein: wartet die bestimmten Tage und zieht alsdann ab!« Da nun die Ionier dies zu tun versprachen, eilten diese gleich wieder zurück.

134. Aber den Persern stellten sich, nachdem Dareios jene Geschenke bekommen hatte, die zurückgebliebenen Szythen zu Fuß und zu Roß kampfbereit gegenüber. Wie die Szythen so aufgestellt waren, sprang ein Hase unter ihnen durch; da machten sie der Reihe nach, wie sie den Hasen sahen, gleich Jagd auf ihn. Bei diesem Sturm und Geschrei unter den Szythen fragte Dareios, was die Feinde so in Aufruhr bringe, und als er vernahm, sie jagten einen Hasen, sprach er zu denen, mit denen er zu reden pflegte: »Diese Leute verachten uns gar sehr, und nun sehe ich, daß Gobryas über die szythischen Geschenke das Rechte gesagt hat. Da es denn nunmehr auch nach meinem Erachten diese Bewandtnis hat, so tut ein guter Rat not, wie wir mit Sicherheit unsern Rückzug nehmen wollen.« Darauf sprach Gobryas: »König, mir war schon durch das Gerücht einigermaßen bekannt, wie schwer an diese Leute heranzukommen sei; seit ich aber herkam, bin ich dessen vollends innegeworden, indem ich sehe, daß sie unser spotten. So halte ich denn dafür, daß wir, sobald die Nacht hereinbricht, erst unsere Feuer anmachen, ganz nach unserer gewohnten Weise, und von unserm Heere die zu Kriegsbeschwerden Untauglichsten unter einem trügerischen Vorwande im Stiche lassen, dabei auch alle Esel anbinden, dann aber abziehen, bevor die Szythen auch noch an den Istros gehen, um die Brücke abzubrechen, oder auch die Ionier etwas beschließen, das uns zugrunde richten könnte.« Diesen Rat gab Gobryas.

135. Als es Nacht wurde, befolgte Dareios diesen Rat. Er ließ von seinen Leuten die Erschöpften und die, an deren Verlust am wenigsten gelegen war, bei den Eseln, die man alle anband, in seinem dortigen Lager zurück. Die Esel ließ er nämlich samt den Untauglichen des Heeres deshalb zurück, damit die Esel Geschrei machten, während die Menschen zwar um ihrer Untauglichkeit willen zurückgelassen wurden, ihnen aber vorgespiegelt wurde, daß er mit dem Kern des Heeres die Szythen angreifen wolle und sie unterdessen das Lager decken sollten. Das gab Dareios den Zurückgelassenen an, ließ auch die Feuer anzünden und eilte nun stracks nach dem Istros. Die Esel erhoben, als das Getümmel um sie aufhörte, ihre Stimme nur desto mehr, und da die Szythen die Esel hörten, waren sie der festen Zuversicht, die Perser seien noch auf dem Platze.

136. Mit Tagesanbruch aber erkannten die Zurückgelassenen, sie seien von Dareios preisgegeben, und streckten nun ihre Hände gegen die Szythen aus und sagten, wie es stand. Diese hörten das nicht so bald, als sie sich zusammenzogen: beide Teile des Szythenvolkes, auch der mit den Sauromaten, Budinern und Gelonern vereinigte, setzten den Persern auf geradem Wege nach dem Istros nach. Weil nun das persische Heer zum großen Teile Fußvolk war, auch die Wege nicht kannte, da es keine gebahnten Straßen gab, das szythische dagegen nur aus Reitern bestand und wohlbekannt mit den kürzesten Wegen war, so verfehlten sie einander, und die Szythen kamen weit früher an die Brücke als die Perser. Wie sie nun merkten, daß die Perser noch nicht hingekommen seien, sagten sie zu den Ioniern, die auf den Schiffen waren: »Ihr Ionier, die Tage sind schon über die festgesetzte Zahl hinaus; also tut ihr doch nicht recht, noch zu warten. Da ihr nun bisher aus Ängstlichkeit dageblieben seid, so brecht jetzt die Brücke ab und macht euch eiligst davon und freut euch der Freiheit und wißt es den Göttern und den Szythen Dank. Euern bisherigen Gebieter aber wollen wir so zurichten, daß er gegen niemand in der Welt mehr zu Felde ziehen soll.«

137. Darauf berieten die Ionier. Miltiades aber, der Athener, Feldherr und Machthaber der Bewohner des Chersones am Hellespont, war der Meinung, den Szythen zu folgen und Ionien zu befreien; der entgegengesetzten aber war Histiaios, der Milesier. Dieser sagte, jetzt sei jeder von ihnen durch Dareios Machthaber einer Stadt; nach dem Sturze von Dareios' Macht werde aber weder er selbst imstande sein, in Milet zu herrschen, noch ein anderer sonstwo; denn jede Stadt werde lieber eine Volksherrschaft haben wollen als einen Machthaber. Wie nun Histiaios diese Meinung darlegte, wandten sich ihr sogleich alle zu, nachdem sie vorher die Meinung des Miltiades hatten gelten lassen.

138. Die hier abstimmten und auch beim König in Ansehen standen, das waren einmal die Machthaber der Hellespontier: Daphnis von Abydos, Hippoklos von Lampsakos, Herophantos von Parion, Metrodoros von Prokonnesos, Aristagoras von Kyzikos und Ariston von Byzanz. Das waren die aus dem Hellespont. Von Ionien aber: Strattis von Chios, Aiakes von Samos, Laodamas von Phokaia und Histiaios von Milet, der seine Meinung der des Miltiades gegenübergestellt hatte. Von den Äoliern aber war nur ein Mann von Ansehen zugegen, Aristagoras von Kyme.

139. Da also diese der Meinung des Histiaios beitraten, beschlossen sie, zu derselben noch folgendes in Werk und Wort hinzuzufügen: nämlich die Brücke an der szythischen Seite abzubrechen, jedoch nur auf Pfeilschußweite, damit es, ohne daß sie etwas täten, doch aussähe, als täten sie etwas, und die Szythen nicht etwa mit Gewalt versuchten, auf der Brücke über den Istros zu gehen. Dabei wollten sie sagen, während sie die Brücke an szythischer Seite abbrächen, sie wollten alles tun, was den Szythen lieb sei. Das fügten sie jener Meinung hinzu. Darauf gab Histiaios für alle folgende Antwort: »Ihr Szythen, was ihr uns bringt, ist gut, und wozu ihr uns treibt, das ist gerade das Rechte; gleichwie also ihr uns den rechten Weg weist, so sind wir euch hierin ganz zu Dienste. Denn wie ihr seht, so brechen wir die Brücke ab und werden es an keinem Eifer fehlen lassen, weil wir frei werden wollen. Während wir aber den Bau abbrechen, ist es für euch an der Zeit, jene aufzusuchen und sie, wenn ihr sie findet, unsert- und euretwegen so büßen zu lassen, wie es ihnen gebührt.«

140. Die Szythen trauten denn zum zweitenmal den Ioniern, daß sie die Wahrheit sagten, und ritten zurück, um die Perser zu suchen, verfehlten aber dieselben auf ihrem Rückzuge ganz und gar. Und daran waren die Szythen selbst schuld, weil sie die dortigen Pferdeweiden zerstört und die Brunnen zugeschüttet hatten. Denn hätten sie das nicht getan, so wäre es ihnen, wenn sie gewollt hätten, leicht geworden, die Perser aufzufinden; nun war aber das, was sie für ihren klügsten Beschluß hielten, gerade der Fehler. Die Szythen nahmen nämlich ihren Weg durch den Teil ihres Landes, in dem Futtergras für die Pferde und Wasser war, und suchten ebenda die Feinde, in der Meinung, sie würden durch solche Gegenden ihre Flucht nehmen. Aber die Perser hielten sich genau an die Spur ihres alten Weges, und auch so fanden sie nur mit Mühe den Übergang. Da sie auch noch bei Nacht ankamen und die Brücke abgebrochen fanden, kamen sie in große Angst, die Ionier möchten sie verlassen haben.

141. Nun war bei Dareios ein Ägypter, der so laut schreien konnte wie kein anderer Mensch. Den hieß also Dareios sich an das Ufer des Istros stellen und rufen: »Histiaios von Milet!« Das tat er, und Histiaios, der gleich den ersten Ruf hörte, brachte alle Schiffe zur Überfahrt des Heeres herbei und schlug auch die Brücke wieder an.

142. So entkamen also die Perser, und die Szythen, die sie suchten, verfehlten die Perser auch das zweitemal. Daher urteilen sie auf der einen Seite, die Ionier, als freie Männer, seien die schlechtesten und feigsten Menschen in der Welt; auf der andern aber, die Ionier, als Knechte angesehen, seien die anhänglichsten und am wenigsten zum Entlaufen geneigten Sklaven. Das werfen also die Szythen den Ioniern vor.

143. Dareios zog nun durch Thrazien und kam nach Sestos im Chersones. Von da ging er selbst zu Schiffe nach Asien hinüber und ließ als Feldherrn in Europa den Megabazos zurück, einen Perser, dem Dareios in Persien einmal die hohe Ehre antat, folgendes Wort zu sprechen. Dareios nämlich wollte eben Granatäpfel essen, und gerade, wie er den ersten Granatapfel öffnete, fragte ihn sein Bruder Artabanos, was er wohl sovielmal haben möchte, als Körner in dem Apfel seien. Darauf sprach Dareios, so viele Megabaze möchte er haben, das wäre ihm lieber, als daß ihm Hellas untertan wäre. In Persien also ehrte er ihn mit diesem Worte, und damals ließ er ihn, als Feldherrn, mit achtmal zehntausend Mann von seinem Heere zurück.

144. Dieser Megabazos hat aber folgendes Wort gesprochen, durch das er ein unsterbliches Gedächtnis bei den Hellespontiern hinterlassen hat. In Byzanz nämlich hörte er, daß die Chalkedonier sich siebzehn Jahre früher als die Byzantiner in ihrer Gegend angesiedelt hätten; darauf sagte er, die Chalkedonier seien zu der Zeit Blinde gewesen; denn sie würden nicht, trotzdem daß ihnen ein schöner Platz zur Ansiedlung freistand, einen häßlichen gewählt haben, wenn sie nicht blind gewesen wären. Dieser Megabazos blieb also damals als Feldherr zurück im Lande der Hellespontier und unterjochte die, welche nicht medisch gesinnt waren. Das tat dieser.

145. Um ebendiese Zeit aber geschah gegen Libyen ein anderer großer Heereszug, aus einem Anlasse, den ich erzählen will, wenn ich zuvor noch folgendes erzählt habe. Die Kindeskinder der Argonauten waren von denselben Pelasgern, die aus Brauron die athenischen Frauen geraubt haben, aus Lemnos vertrieben worden; da fuhren sie davon nach Lazedämon, wo sie sich auf dem Taygetos festsetzten und Feuer anmachten. Das sahen die Lazedämonier und schickten einen Boten hin, um sich zu erkundigen, wer und woher sie seien. Auf diese Frage sagten sie dem Boten, sie seien Minyer, Kinder der Helden, die auf der Argo gefahren seien und bei einer Landung auf Lemnos ihren Stamm erzeugt hätten. Die Lazedämonier sandten nun, als sie diese Angabe der Abstammung der Minyer hörten, zum zweitenmal hin, mit der Frage, in welcher Absicht sie in ihr Land kämen und da Feuer anzündeten. Darauf erklärten sie, sie kämen, von den Pelasgern verjagt, in das Land ihrer Vorfahren, wie dies gerecht und billig sei, und begehrten, unter ihnen zu wohnen, mit Zutritt zu ihren Ehren und Anteil am Grundbesitz. Den Lazedämoniern gefiel es, die Minyer unter den gewünschten Bedingungen aufzunehmen, und dazu bewog sie besonders die Erinnerung, daß die Tyndariden an der Argofahrt teilgenommen hatten. So nahmen sie denn die Minyer auf, gaben ihnen Anteil am Grundbesitz und verteilten sie unter die Stämme. Auch freiten nun die Minyer gleich und verheirateten die Töchter, die sie aus Lemnos mitgebracht hatten, an andere.

[Anmerkung:] 145. Die Tyndariden: Kastor und Polydeukes, die nach dem Gatten der Leda, Tyndareos, so genannt werden. Nach ihrem wahren Vater, Zeus (Genetiv: Dios), heißen sie die Dioskuren. Sie wurden in Sparta als Schutzgottheiten der gymnastischen Spiele verehrt. Außerdem waren sie die Beschützer der Seefahrt und des Heeres.

 

146. Aber nach Verlauf einer kurzen Zeit wurden die Minyer bereits übermütig, verlangten Anteil am Königtum und begingen auch sonst noch Frevel. Da beschlossen die Lazedämonier, sie hinzurichten, griffen sie auf und warfen sie ins Gefängnis. Die Lazedämonier aber töten immer nur bei Nacht, keinen bei Tage. Als sie nun die Minyer schon zur Hinrichtung bestimmt hatten, baten die Frauen derselben, die Bürgerinnen waren und Töchter der ersten Spartiaten, um Einlaß ins Gefängnis und Unterredung einer jeden mit ihrem Manne. Das gestatteten sie ihnen, ohne sich von ihnen einer List zu versehen. Diese aber taten, als sie hineinkamen, folgendes. Sie gaben die ganze Kleidung, die sie anhatten, ihren Männern, und sie selbst nahmen die ihrer Männer dafür. So gingen die Minyer in der weiblichen Bekleidung, als Frauen, hinaus, und da sie auf diese Art entkommen waren, setzten sie sich wieder auf dem Taygetos fest.

147. Zu ebendieser Zeit aber ging Theras, der Sohn Autesions, des Sohnes des Tisamenos, des Sohnes des Thersandros, des Sohnes des Polyneikes, als Führer eines Ansiedlerzuges aus Lazedämon ab. Dieser Theras war, von Geschlecht Kadmeier, ein mütterlicher Oheim der Söhne des Aristodemos, des Eurysthenes und des Prokles, für die er, da sie noch unmündig waren, als Vormund das Königtum von Sparta verwaltete. Als aber seine Neffen herangewachsen waren und die Herrschaft übernahmen, da war es dem Theras unerträglich, von andern beherrscht zu werden, nachdem er selbst die Herrschaft gekostet hatte, und so erklärte er, daß er nicht in Lazedämon bleiben, sondern zu seinen Stammverwandten fahren wolle. Nun waren auf der Insel, die jetzt Thera heißt, vorher aber Kalliste hieß, Nachkommen des Membliaros, des Sohnes des Poikiles, eines Phöniziers. Kadmos nämlich, der Sohn Agenors, landete, als er die Europa suchte, auf dem jetzigen Thera, und gefiel ihm nun bei dieser Landung die Gegend so gut, oder war er aus andern Gründen gewillt, das zu tun: er ließ auf dieser Insel unter andern Phöniziern namentlich auch seinen Verwandten Membliaros zurück. Diese besaßen das sogenannte Kalliste schon acht Menschenalter vor der Ankunft des Theras aus Lazedämon.

[Anmerkung:] 147. Kalliste: Die Schönste. Thera heißt heute Santorin. Kadmos, der Bruder der Europa, gründete Theben, dessen Burg nach ihm Kadmeia genannt wurde. Er ist ein alter thebanischer Gott, aus dem die Griechen einen Phönizier machten, als es unter ihnen Mode wurde, alle höhere Kultur von den Phöniziern und Ägyptern abzuleiten.

 

148. Zu diesen also brach Theras mit allerlei Volk aus den Stämmen auf, um sich unter ihnen anzusiedeln, keineswegs aber, um sie zu vertreiben, die er als seine Verwandten betrachtete. Da nun die Minyer eben nach ihrer Entweichung aus dem Gefängnisse auf dem Taygetos saßen, so bat Theras die Lazedämonier, die sie umbringen wollten, kein Blut zu vergießen, und versprach, er wolle sie aus dem Lande führen. Die Lazedämonier gingen auf seinen Antrag ein, und so fuhr er mit drei Dreißigruderern zu den Nachkommen des Membliaros, indessen nicht mit allen Minyern, sondern mit wenigen von ihnen; denn die Mehrzahl wandte sich gegen die Paroreaten und Kaukonen, trieb sie aus ihrem Lande, teilte sich in sechs Abteilungen und gründete alsdann folgende Städte daselbst: Lepreon, Makistos, Phrixai, Pyrgos, Epion und Nudion, von denen die meisten zu meiner Zeit die Eleer zerstört haben. Die Insel aber erhielt von dem, der sie besiedelte, den Namen Thera.

149. Sein Sohn aber hatte erklärt, er fahre nicht mit ihm. »Nun so lasse ich dich denn«, sagte er darauf, »als ein Lamm unter den Wölfen zurück«, und von diesem Worte bekam derselbe Jüngling den Namen Oiolykos, d. h. Wölfelamm, und dieser Name behielt die Oberhand. Von Oiolykos aber stammte Aigeus, von welchem die Aigiden ihren Namen haben, ein großer Stamm in Sparta. Als den Männern dieses Stammes keine Kinder am Leben blieben, gründeten sie nach einem Götterspruche ein Heiligtum der Erinnyen des Laïos und Ödipus: darauf blieben sie ihnen und auch in Thera den Nachkommen dieser Männer.

[Anmerkung:] 149. Erinnyen: Rachegöttinnen. Da sie unterirdische Gottheiten sind, gelten sie auch als Beschützerinnen des Ackerbaus und der überall zu diesem in Beziehung gesetzten Zeugung.

 

150. So weit erzählen die Geschichte die Lazedämonier und Theraier übereinstimmend; von da an aber sagen die Theraier allein, es sei folgendermaßen gegangen. Grinos, der Sohn des Aisanios, ein Abkömmling jenes Theras und König der Insel Thera, kam nach Delphi mit einer Hekatombe seiner Stadt, wobei unter andern Bürgern insbesondere auch Battos in seinem Gefolge war, der Sohn des Polymnestos, aus dem Geschlechte des Euphemos, eines Minyers. Da nun Grinos, der König der Theraier, über etwas anderes einen Spruch einholte, sprach zu ihm die Pythia: »Gründe eine Stadt in Libyen!« Darauf gab er die Antwort: »Ich, Herr, bin schon zu alt und schwerfällig; heiße das einen von den Jüngern hier tun!« Bei dieser Rede wies er zugleich auf Battos. Damit war's damals gut. Hernach, als sie wieder fort waren, fragten sie nicht weiter nach dem Orakelspruche, da sie nicht wußten, wo Libyen liege, und keine Ansiedlung ins Unsichere ausschicken wollten.

[Anmerkung:] 150. Jakob Burckhardt betont, daß die delphischen Priester die griechische Auswanderung bewußt lenkten, da sie durch heimkehrende Festpilger stets über die Verhältnisse in den Kolonien genau unterrichtet waren: »Wer bei Herodot auch nur die reiche und vollständige Erzählung über die Gründung und Sicherung von Kyrene unter der langen und unablässigen Mahnung des Gottes von Delphi vernommen hat, kann genau wissen, was hierüber zu denken ist. Jene Delphier mochten sich als Stimmen ihres Gottes fühlen, wenn die Boten solcher Scharen vor sie traten, und zugleich als Fürsorger ihrer Nation. Und inzwischen, und wohl in Verbindung mit dieser Sammlung von Kunden der weiten Welt, wird dann Delphi von selbst schon durch das alles, was man allmählich von ihm erwartete und verlangte, zu jener freien, allgemeinen Autorität geworden sein, deren Beispiel in gar keiner andern Bildungswelt mehr vorgekommen ist.«

 

151. Darauf aber hatte Thera sieben Jahre lang keinen Regen, so daß ihnen alle Bäume auf der Insel bis auf einen einzigen verdorrten. Da nun die Theraier einen Spruch einholten, hielt ihnen die Pythia die Besiedlung von Libyen vor. Weil für ihr Übel keine Hilfe war, schickten sie Boten nach Kreta, um nachzuforschen, ob einer von den Kretern oder ihren Beisassen nach Libyen gekommen sei. Die zogen da überall herum und kamen auch in die Stadt Itanos, in der sie mit einem Purpurfärber zusammentrafen, namens Korobios, der behauptete, daß er durch einen Sturm nach Libyen verschlagen worden sei, und zwar nach der libyschen Insel Platea. Diesen gewannen sie um Lohn, daß er mit nach Thera ging. Von Thera fuhren nun zuerst nur wenige Männer als Kundschafter aus. Als Korobios sie nach jener Insel Platea hingeführt hatte, ließen sie den Korobios da mit Vorrat auf etliche Monate und fuhren stracks zurück, um den Theraiern über die Insel zu berichten.

152. Da sie aber über die ausgemachte Zeit ausblieben, ging dem Korobios alles aus. Darauf wurde ein samisches Schiff, dessen Schiffsherr Kolaios war, auf der Fahrt nach Ägypten an diese Insel Platea verschlagen. Da hörten die Samier von Korobios die ganze Geschichte und ließen ihm Vorräte auf ein Jahr zurück. Sie selbst liefen von der Insel aus und trachteten, Ägypten zu erreichen, wurden aber mitten auf der Fahrt von einem Ostwinde abgetrieben und kamen, weil der Sturm nicht nachließ, durch die Säulen des Herakles nach Tartessos, nicht ohne göttliche Schickung. Diese Handelsstätte war aber zu der Zeit noch ganz unberührt, so daß sie nach ihrer Heimkehr unter allen Hellenen, von denen wir's mit Bestimmtheit wissen, den größten Gewinn aus ihren Waren machten, wenigstens nach Sostratos, dem Sohne des Laodamas, dem Ägineten; denn mit dem kann sich kein anderer messen. Die Samier nahmen nun den Zehnten von ihrem reinen Gewinne, sechs Talente, und machten daraus ein Erzgefäß, nach Art eines argolischen Mischkruges, rings um den Rand mit hervorstehenden Greifenköpfen, und weihten es ins Heraheiligtum auf einem Gestelle von drei ehernen siebenelligen Riesenstandbildern, die auf den Knien liegen. Von jener Tat her hat sich zuerst die große Freundschaft der Kyrenaier und Theraier mit den Samiern entwickelt.

153. Die Theraier nun, die den Korobios auf der Insel gelassen hatten, kamen darauf nach Thera mit der Nachricht, daß sie eine Insel bei Libyen besetzt hätten. Da gefiel es den Theraiern, von je zwei Brüdern einen zu schicken, nach dem Lose, und zwar Männer aus allen ihren Bezirken, die sieben zählen. Ihr Anführer und König aber sollte Battos sein. So fertigten sie denn zwei Fünfzigruderer nach Platea ab.

154. So berichten die Theraier, und im weiteren Verlaufe der Geschichte kommen auch die Kyrenaier mit den Theraiern überein. Was aber den Battos betrifft, so stimmen die Kyrenaier keineswegs mit den Theraiern zusammen. Sie erzählen es nämlich so. Auf Kreta liegt eine Stadt, Axos, in der ein König war, Etearchos, der eine mutterlose Tochter, namens Phronime, hatte und nun eine andere Frau nahm. Diese neue Hausfrau meinte, sie müsse auch in der Tat der Phronime eine Stiefmutter sein: soviel Böses erwies sie ihr mit allen möglichen Ränken. Endlich legte sie ihr gar Unkeuschheit zur Last und brachte ihren Mann dahin, daß er's glaubte. Da vollführte er, beredet von seiner Frau, eine frevelhafte Tat gegen seine Tochter. Es war nämlich in Axos Themison, ein theraiischer Kaufmann; den nahm Etearchos als Gast auf und nahm ihm einen Eid ab, daß er ihm den Dienst tun wolle, um den er ihn bitte. Nachdem er den Eid von ihm hatte, überlieferte er ihm seine Tochter und hieß ihn dieselbe mitnehmen und ins Meer versenken. Themison aber, ganz außer sich über die Hinterlist mit diesem Eide, brach die Gastfreundschaft ab und tat dann folgendes. Er fuhr mit der Jungfrau ab, und als er auf der See war, ließ er sie, nur um dem Eide nachzukommen, den er dem Etearchos geleistet hatte, an Seilen ins Wasser hinab, zog sie aber wieder heraus und kam dann nach Thera.

155. Da nahm Polymnestos, ein angesehener Mann unter den Theraiern, die Phronime zu seinem Kebsweibe und bekam mit der Zeit von ihr einen Sohn, der ein Stammler und Laller war. Dieser erhielt, wie die Theraier und Kyrenaier sagen, den Namen Battos, allein meines Dafürhaltens bekam er einen andern und wurde erst, als er nach Libyen kam, in Battos umbenannt, indem das Orakel, das er in Delphi erhielt, und die Würde, die er bekleidete, ihm diesen Beinamen zuzogen. Denn bei den Libyern heißt Battos der König, und daher glaube ich, daß die Pythia ihn, als sie ihm weissagte, in libyscher Sprache angeredet hat, indem sie wußte, er werde in Libyen König werden. Als er nämlich Mann geworden war, kam er nach Delphi wegen seiner Stimme, und die Pythia gab ihm auf seine Anfrage folgenden Spruch:

Wegen der Stimme kamst du, Battos, doch Phöbus Apollo
Sendet nach Libyen dich, dem Gefilde der Herden, als Pflanzer,

eben als wenn sie in unserer Sprache gesagt hätte: »König, du kamst wegen der Stimme.« Er aber gab die Antwort: »Herr, ich kam zu dir um einen Spruch wegen meiner Stimme, und nun verkündest du mir anderes, was unmöglich ist: daß ich Libyen anpflanzen soll. Mit welcher Macht denn, mit welcher Mannschaft?« Mit diesen Worten gewann er aber doch keinen andern Spruch. Da die Weissagung wörtlich ebenso lautete wie vorher, hörte sie Battos gar nicht mehr bis zu Ende, sondern brach auf nach Thera.

156. Darauf aber brach über ihn und die Theraier all das Unglück von neuem los. Die Theraier, ganz im Dunkeln über ihr Schicksal, sandten nach Delphi wegen ihrer unglücklichen Umstände. Da gab ihnen die Pythia den Spruch, wenn sie mit Battos Kyrene in Libyen gründeten, werde es ihnen besser gehen. Darauf fertigten die Theraier den Battos mit zwei Fünfzigruderern ab. Diese fuhren nach Libyen aus, konnten sich aber nicht anders helfen, als daß sie wieder nach Thera zurückkehrten. Aber wie sie einfahren wollten, schleuderten die Theraier Geschosse auf sie und ließen sie nicht landen, sondern hießen sie zurückfahren. So fuhren sie denn gezwungen zurück und besetzten eine Insel bei Libyen, deren Name, wie schon oben bemerkt wurde, Platea ist. Die Insel soll so groß sein wie die jetzige Stadt Kyrene.

157. Diese bewohnten sie zwei Jahre; da ihnen aber gar nichts glückte, ließen sie einen zurück, und die andern fuhren alle nach Delphi. Sie kamen zum Orakel um einen Spruch, mit der Erklärung, jetzt bewohnten sie Libyen, und es gehe ihnen darum doch nicht besser. Darauf gab ihnen die Pythia folgenden Spruch:

Ei, wenn Libyas Herdengefild dir besser bekannt ist
Ohne Besuch als mir nach Besuch, dann bestaun' ich die Weisheit.

Darauf fuhr Battos mit seinen Leuten wieder zurück, weil ihnen der Gott die Ansiedlung doch nicht erließ, ehe sie nach Libyen selbst kämen. Sie kamen auf ihre Insel, holten den Zurückgelassenen ab und besetzten nun in Libyen selbst die der Insel gegenüberliegende Gegend, mit Namen Aziris, welche die schönsten Waldhänge auf zwei Seiten einschließen; auf der andern strömt ein Fluß vorbei.

158. Diese Gegend bewohnten sie sechs Jahre; im siebenten aber brachten's die Libyer mit der Verheißung, sie wollten sie in eine bessere Gegend führen, dahin, daß sie dieselbe verließen. So führten sie die Libyer von da hinweg gegen Abend zu, aber sie berechneten die Dauer der Tageshelle und führten die Hellenen, damit sie die schönste Gegend unterwegs nicht zu sehen bekämen, bei Nacht durch dieselbe. Der Name aber dieser Gegend ist Irasa. Als sie mit ihnen ankamen bei der Quelle des Apollo, wie sie genannt wird, sprachen sie: »Ihr Hellenen, hier ist der rechte Wohnplatz für euch; denn hier ist der Himmel durchlöchert.«

[Anmerkung:] 158. Der Himmel ist durchlöchert: Es fällt reichlicher Regen.

 

159. Nun waren zu Lebzeiten des Battos, des Gründers, der vierzig Jahre herrschte, und seines Sohnes Arkesilaos, der sechzehn Jahre herrschte, die Kyrenaier in ihrer Ansiedlung nicht zahlreicher als gleich anfangs, da sie dorthin ausgeschickt wurden; aber unter dem dritten König, Battos, mit dem Beinamen der Glückliche, trieb die Pythia mit einem Gottesspruch alle Hellenen an, hinzufahren und sich in Libyen unter den Kyrenaiern niederzulassen, die nämlich zu einer neuen Verteilung des Landes eingeladen hatten. Ihr Spruch lautete aber so:

Wer zu spät nach Libyen kommt, dem gesegneten Lande,
Wenn sie die Felder verteilt, der wird's noch, sag' ich, bereuen.

Als nun ein großer Haufen in Kyrene zusammenkam und viel Land den anwohnenden Libyern und ihrem Könige, namens Adikran, entrissen wurde, sandten diese wegen der Schmälerung ihres Gebietes und der Gewalt, die sie von den Kyrenaiern litten, nach Ägypten und ergaben sich Apries, dem Könige von Ägypten. Der sammelte ein großes Heer von Ägyptern und schickte es gegen Kyrene. Nun rückten die Kyrenaier in die Gegend Irasa heraus, bis zur Quelle Theste, stießen da mit den Ägyptern zusammen und besiegten sie im Treffen. Da nämlich die Ägypter sich noch nie zuvor an Hellenen versucht hatten und mit ihnen leicht fertig zu werden gedachten, wurden sie so zusammengehauen, daß nur wenige von ihnen nach Ägypten zurückkamen. Deswegen fielen die Ägypter, die dem Apries einen Vorwurf daraus machten, von ihm ab.

160. Ein Sohn dieses Battos war Arkesilaos, der als König Händel mit seinen Brüdern anfing, bis sie ihn endlich verließen und sich in eine andere Gegend Libyens wandten, in der sie auf eigene Faust die Stadt gründeten, die damals, wie jetzt, Barka hieß, und zugleich mit der Gründung derselben auch die Libyer zum Abfalle von den Kyrenaiern brachten. Darauf zog Arkesilaos gegen die Libyer, die jene aufgenommen hatten und selbst abgefallen waren. Die Libyer, die ihn fürchteten, flohen davon zu den Libyern gen Morgen. Arkesilaos aber setzte den Fliehenden nach, bis er in seiner Verfolgung nach Leukon in Libyen kam. Da beschlossen die Libyer, ihn anzugreifen, und besiegten im Treffen die Kyrenaier so gänzlich, daß siebentausend Mann von den schwerbewaffneten Kyrenaiern daselbst fielen. Nach dieser Niederlage wurde Arkesilaos, als er in einer Krankheit eine Arznei getrunken hatte, von seinem Bruder Learchos erwürgt, Learchos aber von der Frau des Arkesilaos, deren Name Eryxo war, mit List umgebracht.

[Anmerkung:] 160. Arznei getrunken: Es handelte sich offenbar um ein Schlafmittel, das den Arkesilaos wehrlos machte.

 

161. Nun überkam das Königtum der Sohn des Arkesilaos, Battos, der lahm war und nicht gut zu Fuß. Die Kyrenaier aber sandten auf das Unglück hin, das über sie gekommen war, nach Delphi die Anfrage, bei welcher Verfassung sie sich am besten befinden würden. Da hieß sie die Pythia sich aus dem arkadischen Mantinea einen Schiedsrichter holen. Um einen solchen baten also die Kyrenaier, und die Mantineer gaben ihnen den angesehensten Mann unter ihren Bürgern, mit Namen Demonax. Dieser Mann kam also nach Kyrene, unterrichtete sich genau über alles und bildete erstens drei Stämme aus ihnen, nach folgender Einteilung. Eine Abteilung nämlich machte er aus den Theraiern und den Umwohnern, eine andere aus den Peloponnesiern und Kretern und eine dritte aus allen den Leuten von den Inseln. Zweitens nahm er noch für den König Battos Grundgüter und Priesterehren aus, und dann machte er das übrige alles, was vorher in der Hand der Könige war, zur gemeinsamen Volkssache.

162. Unter diesem Battos nun blieb das so bestehen, aber unter seinem Sohne Arkesilaos erhob sich ein stürmischer Kampf über die Ehrenrechte. Arkesilaos nämlich, der Sohn Battos des Lahmen und der Pheretime, erklärte, er lasse sich's nicht länger gefallen, wie es der Mantineer Demonax angeordnet habe. Er forderte vielmehr die Ehrenrechte seiner Ahnen zurück, erregte dann einen Aufruhr, unterlag darin und floh nach Samos. Seine Mutter aber floh nach Salamis auf Zypern. In Salamis herrschte derzeit Euelthon, der das Rauchfaß in Delphi geweiht hat, ein sehenswertes Werk, das im Schatze der Korinther liegt. Zu diesem kam Pheretime und bat ihn um ein Heer zu ihrer Heimführung nach Kyrene. Allein Euelthon gab ihr alles mögliche, nur kein Heer. Sie aber nahm, was er ihr gab, mit der Erklärung, das sei zwar auch schön, schöner aber wäre es, wenn er ihr auf ihre Bitte ein Heer gäbe. Da sie das bei jeder Gabe sagte, schickte ihr Euelthon zum letzten Geschenke eine Spindel von Gold und einen Spinnrocken mit Wolle daran, und als Pheretime wieder jenes Wort sprach, erklärte Euelthon, so etwas schenke man Weibern, aber kein Heer.

163. Arkesilaos aber war zu der Zeit in Samos, wo er alle Welt zu einer neuen Verteilung seines Landes zusammenwarb. Nach Sammlung eines großen Heerhaufens fuhr Arkesilaos nach Delphi, um einen Spruch beim Orakel einzuholen über seine Heimkehr. Da gab ihm die Pythia folgenden Spruch: »Für vier Battos und vier Arkesilaos, acht Menschenalter, gewährt euch Loxias das Königtum von Kyrene: doch darüber hinaus, mahnt er, macht keinen Versuch! Sei indessen ruhig bei deiner Heimkehr! Wenn du aber den Brennofen voll Töpfe findest, so brenne die Töpfe nicht aus, sondern laß sie mit günstigem Fahrwind ziehen! Wenn du aber den Ofen ausbrennst, so geh nicht ins Meerbespülte; sonst bist du des Todes samt dem edelsten Stier.«

[Anmerkung:] 163. Den Beinamen Loxias, »der Dunkle«, trägt Apollo, weil seine Orakelsprüche nicht ohne weiteres verständlich sind. Der Spruch von den Töpfen im Brennofen ist in der Tat so dunkel wie möglich.

 

164. Diesen Spruch gab die Pythia dem Arkesilaos. Darauf nahm er die von Samos mit und kehrte nach Kyrene zurück, gewann dort wieder die Obermacht und dachte nicht an das Orakel, sondern zog seine Widersacher wegen seiner Vertreibung vor Gericht. Da verließen einige derselben das Land gänzlich; anderer ward Arkesilaos habhaft und schickte sie nach Zypern zur Hinrichtung. Diese retteten indessen die Knidier, zu denen sie verschlagen wurden, und schickten sie nach Thera. Aber andere Kyrenaier, die sich in einen großen Turm, das Eigentum des Aglomachos, geflüchtet hatten, ließ Arkesilaos, indem er Holz umherschichtete, verbrennen. Da ward er inne, aber erst nach getaner Tat, es sei dies die Weissagung, da ihm die Pythia verboten hatte, die Töpfe, die er im Ofen finde, auszubrennen. So verbannte er sich freiwillig aus Kyrene, weil er sich vor dem geweissagten Tode fürchtete und Kyrene als vom Meere bespült ansah. Nun hatte er zur Frau eine Verwandte, die Tochter des Königs von Barka, dessen Name Alazeir war, und zu diesem kam er. Da fanden ihn Männer von Barka nebst einigen Flüchtlingen aus Kyrene auf dem Markte und töteten ihn und dazu seinen Schwiegervater Alazeir. So hatte Arkesilaos wissentlich oder unwissentlich gegen seinen Orakelspruch gefehlt und vollendete sein Schicksal.

165. Seine Mutter Pheretime hatte, solange sich Arkesilaos, als seines eigenen Unglücks Urheber, in Barka aufhielt, noch alle Ehrenrechte ihres Sohnes in Kyrene, verwaltete da alles und saß mit im Rate. Als sie aber vernahm, daß ihr Sohn in Barka umgekommen war, ergriff sie die Flucht und eilte nach Ägypten. Dort kamen ihr Verdienste zugute, die sich Arkesilaos um Kambyses, den Sohn des Kyros, erworben hatte; denn ebendieser Arkesilaos war's, der Kyrene dem Kambyses übergab und sich eine Abgabe auferlegte. Wie nun Pheretime nach Ägypten kam, setzte sie sich als Schutzflehende zu den Füßen des Aryandes, mit dem Begehren um Beistand, unter dem Vorwande, daß ihr Sohn wegen seiner medischen Gesinnung umgekommen sei.

166. Dieser Aryandes war der von Kambyses eingesetzte Statthalter von Ägypten, der in späterer Zeit, als er sich dem Dareios gleichstellen wollte, umkam. Er erfuhr nämlich und sah, wie Dareios damit umging, ein solches Denkmal von sich zu hinterlassen, wie von keinem andern Könige eines vorhanden sei, und ahmte ihn darin nach, bis er seinen Lohn erhielt. Dareios ließ nämlich aus dem reinsten Golde, das er so viel als nur möglich läuterte, Münzen schlagen, und Aryandes machte es, als Statthalter von Ägypten, mit Silber ebenso, und auch jetzt noch ist das aryandische Silber das reinste. Als aber Dareios vernahm, daß er dies tat, bezichtigte er ihn einer andern Schuld, nämlich der Empörung, und brachte ihn um.

167. Damals aber hatte Aryandes Mitleid mit der Pheretime und gab ihr das gesamte Kriegsvolk von Ägypten, Land- und Seemacht. Zum Feldherrn der Landmacht ernannte er Amasis, einen Maraphier, zu dem der Seemacht Badres, einen Pasargaden von Geschlecht. Vor dem Auszug des Heeres aber sandte Aryandes einen Herold nach Barka, zur Erkundigung, wer es sei, der den Arkesilaos umgebracht habe. Die Barkaier nahmen's aber alle auf sich; denn er habe ihnen viel Böses angetan. Auf diese Nachricht ließ nun Aryandes erst das Heer mit Pheretime abgehen. Diese Ursache also diente zum Vorwande, aber das Heer ward, meines Dafürhaltens, zur Unterwerfung der Libyer ausgeschickt. Es gibt nämlich viele und mancherlei libysche Völkerschaften, und davon waren nur wenige dem Könige untergeben, und die meisten kümmerten sich gar nicht um Dareios.

[Anmerkung:] 167. Maraphier, Pasargaden: Hauptstämme der Perser.

 

168. Die Libyer aber wohnen, wie folgt. Von Ägypten an sind das erste Libyervolk die Adyrmachiden, die meist ägyptische Bräuche haben, aber dieselbe Kleidertracht wie die andern Libyer. Ihre Weiber tragen um jedes Bein eine eherne Spange, lassen ihr Haar lang wachsen, und wenn eine von ihnen eine Laus fängt, so beißt sie dieselbe allemal wieder und wirft sie erst dann weg. Diese Libyer allein tun das und stellen auch allein ihrem Könige die Jungfrauen vor, die sich verheiraten sollen; wenn eine dem Könige gefällt, wird sie von ihm entjungfert. Das Gebiet dieser Adyrmachiden erstreckt sich von Ägypten bis zu einem Hafen mit Namen Plynos.

169. An diese stoßen die Giligammen, denen das Land gegen Abend bis zur Insel Aphrodisias gehört. In dem Striche dazwischen liegt an der Küste die Insel Platea, welche die Kyrenaier besetzt haben, und auf dem Festlande der Hafen des Menelaos und Aziris, die Pflanzung der Kyrenaier; von da fängt auch das Silphion an. Dieses Silphion erstreckt sich von der Insel Platea bis zur Mündung der Syrte. Bräuche aber haben diese fast dieselben wie die andern.

[Anmerkung:] 169. Auf dem Handel mit der Silphionstaude beruhte der Reichtum der Landschaft Kyrene. Man gewann den Saft der Staude durch Einschnitte in Wurzeln und Stengel. Er wurde als Gewürz, aber auch als Medikament verwendet. Das Silphion wurde im Handel mit Silber aufgewogen. Die Pflanze ist seit dem Ende des vierten Jahrhunderts n. Chr. verschwunden und heute nicht mehr zu bestimmen.

 

170. An die Giligammen stoßen nach Abend zu die Asbyten. Diese bewohnen das Land oberhalb von Kyrene; ans Meer aber reichen die Asbyten nicht; denn der Strich am Meere gehört den Kyrenaiern. Mit Viergespannen fahren sie nicht wenig, ja am meisten unter allen Libyern. In den meisten Bräuchen ahmen sie sorgfältig die Kyrenaier nach.

171. An die Asbyten stoßen weiter gegen Abend die Auschisen. Diese bewohnen das Land oberhalb von Barka, reichen aber ans Meer bei Euhesperides. Mitten im Lande der Auschisen wohnen aber die Kabaler, ein kleines Volk, die ans Meer reichen bei der Stadt Taucheira im Barkaiischen. Bräuche haben sie dieselben wie die oberhalb von Kyrene.

172. An diese Auschisen stoßen weiter gegen Abend die Nasamonen, ein zahlreiches Volk. Sie lassen im Sommer ihre Herden am Meere und ziehen hinauf in die Gegend Augila zur Herbstlese der Datteln, die daselbst in großer Anzahl und Fülle wachsen, sämtlich Fruchtbäume. Die Heuschrecken aber, die sie fangen, dörren sie erst an der Sonne und zermahlen sie und trinken sie alsdann, in Milch angemacht. Mit den Weibern, deren nach ihrem Brauche ein jeder viele hat, ist bei ihnen die Begattung allgemein. Fast auf dieselbe Weise wie die Massageten stecken sie erst einen Stab in die Erde und begatten sich dann. Bei der ersten Hochzeit eines Nasamonen ist es Brauch, daß sich die Braut in der ersten Nacht allen Gästen der Reihe nach hingibt. Nach der Begattung reicht ihr jeder ein Geschenk, das er von Hause mitgebracht hat. Mit Eidschwüren und mit der Wahrsagung halten sie es, wie folgt. Sie schwören bei Verstorbenen, die dafür gelten, die rechtschaffensten und preiswürdigsten Männer unter ihnen gewesen zu sein, mit der Hand auf ihrem Grabe. Sie wahrsagen draußen bei den Grabmälern ihrer Ahnen, bei denen sie sich nach einem Gebete schlafen legen; was einer dann für ein Traumgesicht im Schlummer sieht, das nimmt er an. Mit Treubündnissen halten sie's, wie folgt. Der eine läßt den andern aus seiner Hand trinken, während er aus der des andern trinkt, und wenn sie nichts Flüssiges haben, so nehmen sie doch Staub vom Boden und lecken ihn auf.

173. Grenznachbarn der Nasamonen sind die Psyller, die zugrunde gegangen sind auf folgende Art: Der Südwind kam und trocknete ihnen alle Zisternen aus, und ihr Land, das ganz innerhalb der Syrte liegt, war wasserlos. Da zogen sie nach gemeinschaftlichem Ratschlusse gegen den Süd zu Felde (hier sage ich, was die Libyer sagen), und als sie in der Sandwüste waren, kam der Süd und verschüttete sie. Nach ihrem Untergange haben nunmehr die Nasamonen das Land inne.

174. Über diesen aber gegen den Südwind wohnen in der Wildnis die Garamanten, die vor jedem Menschen fliehen und vor jedermanns Gesellschaft, auch weder eine Kriegswaffe besitzen noch sich zu wehren verstehen.

175. Über den Nasamonen also wohnen diese, längs dem Meere aber stoßen an sie im Abend die Maken, die sich Schöpfe scheren, indem sie ihr Haar in der Mitte lang wachsen lassen, zu beiden Seiten aber bis auf die Haut abscheren; im Krieg aber tragen sie die Haut vom Vogel Strauß als Panzer. Durch ihr Gebiet strömt der Fluß Kinyps, der sich vom sogenannten Hügel der Chariten ins Meer ergießt. Dieser Hügel der Huldgöttinnen ist dicht bewachsen mit Waldung, während das übrige Libyen, von dem ich berichtet habe, ganz kahl ist. Es sind zu ihm, vom Meere an, zweihundert Stadien.

176. An diese Maken stoßen die Gindaner, bei denen jedes Weib viele lederne Knöchelbänder trägt, und zwar, wie man sagt, aus folgendem Grunde. Für jeden Mann, der bei ihr geschlafen hat, bindet sie sich ein Knöchelband um; die, welche die meisten hat, gilt für die vortrefflichste, weil sie von den meisten Männern geliebt worden ist.

177. Die Landzunge, die vom Gebiete dieser Gindaner ins Meer hinausgeht, bewohnen die Lotosesser, die von der Lotosfrucht als ihrer einzigen Speise leben. Diese Frucht des Lotos hat eine Größe wie die des Mastixbaumes, und an Süßigkeit ist sie der Dattelfrucht vergleichbar. Die Lotosesser bereiten auch Wein aus dieser Frucht.

[Anmerkung:] 177. Lotos: Zizyphus, Jujube, keine Fabelfrucht, sondern in Nordafrika eingebürgert, ihre Heimat ist wahrscheinlich Indien. Die Früchte sind aber nur von schwacher Süßigkeit, so daß Homer in der »Odyssee« (IX, Vers 94-97) entschieden übertreibt:
Wer nun die Honigsüße der Lotosfrüchte gekostet,
Dieser dachte nicht mehr an Kundschaft oder an Heimkehr;
Sondern sie wollten stets in der Lotophagen Gesellschaft
Bleiben und Lotos pflücken und ihrer Heimat entsagen.

 

178. An die Lotosesser stoßen längs dem Meere die Machlyer, die zwar auch Lotos genießen, allein doch weniger als die Erstgenannten. Diese erstrecken sich bis zu einem großen Flusse, mit Namen Triton. Derselbe ergießt sich in den großen Tritonissee, in dem eine Insel ist, mit Namen Phla. Diese Insel, behauptet man, sollen die Lazedämonier nach einem Götterspruche dereinst besiedeln.

179. Man hört auch folgende Sage. Nachdem Jason am Fuße des Pelion die Argo gebaut hatte, habe er in sie eine ganze Hekatombe, insbesondere auch einen ehernen Dreifuß, verladen und sei um den Peloponnes herumgefahren, in der Absicht, nach Delphi zu kommen. Da habe ihn, wie er auf seiner Fahrt bei Malea war, ein Nordwind ergriffen und nach Libyen verschlagen, wo er, ehe er noch Land erblickte, in die Untiefen des Tritonissees geriet. Als er nicht gewußt habe, wie er wieder herauskommen solle, sei ihm, berichtet die Sage, Triton erschienen, der verlangte, Jason solle ihm den Dreifuß geben; dafür wolle er ihnen die Meeresstraße zeigen und sie ohne Schaden herausbringen. Da nun Jason Folge leistete, habe ihnen erst Triton die Ausfahrt durch die Untiefen gezeigt, den Dreifuß aber in seinem eigenen Heiligtume aufgestellt und nun auf dem Dreifuß weissagend dem Jason und seinen Gefährten die ganze Sache geoffenbart, daß nämlich, wenn einmal ein Nachkomme von den Argofahrern den Dreifuß holen werde, alsdann sich um den Tritonissee hundert hellenische Städte unausbleiblich erheben würden. Als das die eingebornen Libyer hörten, hätten sie den Dreifuß verborgen.

180. An diese Machlyer stoßen die Auseer. Diese und die Machlyer wohnen um den Tritonissee herum, und die Grenze zwischen ihnen bildet der Tritonfluß. Die Machlyer tragen hinten am Kopfe langes Haar, die Auseer aber vorn. Am jährlichen Feste der Athene aber kämpfen ihre Jungfrauen in zwei Parteien gegeneinander mit Steinen und Prügeln, indem sie nach ihrer Väter Sitte, wie sie sagen, ihre Landesgöttin feiern, die wir Athene nennen. Die Jungfrauen aber, die an ihren Wunden sterben, nennen sie falsche Jungfrauen. Ehe sie den Kampf beginnen, tun sie, wie folgt. Sie statten gemeinschaftlich die preiswürdigste Jungfrau mit einer vollen hellenischen Rüstung und einem korinthischen Helme aus, setzen sie dann auf einen Wagen und fahren sie rings um den See herum. Womit sie aber vorzeiten die Jungfrauen ausschmückten, ehe sie Hellenen zu Nachbarn hatten, weiß ich nicht zu sagen, halte indessen dafür, daß sie dieselben mit ägyptischen Waffen geschmückt haben. Denn von Ägypten sind, behaupte ich, Schild und Helm zu den Hellenen gekommen. Die Athene aber erklären sie für eine Tochter des Poseidon und der Göttin Tritonis. Sie habe sich über ihren Vater zu beklagen gehabt und sich dem Zeus zu eigen gegeben, der sie zu seiner Tochter machte. Das sagen sie. Die Begattung mit ihren Weibern ist unter ihnen allgemein, ohne gemeinsames Hausen, eine Vermischung wie beim Vieh. Wenn das Kind eines Weibes gedeiht, so findet eine Versammlung der Männer im dritten Monat statt: welchem Manne das Kind gleicht, für dessen Kind gilt es.

181. Das wären die Küstenbewohner der libyschen Weidevölker. Oberhalb von diesen aber, im Binnenlande, liegt das tierreiche Libyen, und über dem tierreichen läuft ein Sandstreifen hin, der sich vom ägyptischen Theben bis zu den Säulen des Herakles erstreckt. Auf diesem Streifen ist ungefähr alle zehn Tagereisen ein Hügel von Salzstücken in großen Klumpen, und auf dem Gipfel jedes Hügels springt mitten aus dem Salze ein kühles und süßes Wasser empor. Um das Wasser wohnen Menschen, am Rande der Wüste und oberhalb des tierreichen Landes. Davon sind die ersten, zehn Tagereisen von Theben, die Ammonier, die ihr Heiligtum vom thebanischen Zeus haben; denn auch in Theben ist das Bild des Zeus, wie schon oben von mir bemerkt worden ist, widderköpfig. – Sie haben dort noch ein anderes Quellwasser. Das ist frühmorgens lau; zur Stunde, da der Markt voll wird, kälter: es wird Mittag, da ist es schon ganz kalt, und da bewässern sie ihre Gärten. Wie sich aber der Tag neigt, nimmt seine Kälte wieder ab, bis Sonnenuntergang, dann ist es schon lau; nun steigt seine Wärme immer höher und höher bis Mitternacht: da siedet es und sprudelt hoch. Mitternacht geht vorüber, da kühlt es sich wieder ab bis zum Morgen. Das nennt man den Sonnenquell.

[Anmerkung:] 181. Der dem Ammon geheiligte Sonnenquell ist eine warme Quelle, die noch heute die von Herodot angegebenen Wärmeunterschiede zeigt oder zu zeigen scheint. Das Wasser scheint nachts wärmer zu sein, weil auf die heißen Tage sehr kühle Nächte folgen, in denen das Wasser seine Temperatur behält.

 

182. Nach den Ammoniern, weiter aus dem Sandstreifen, wiederum zehn Tagereisen, ist ein gleicher Salzhügel wie der ammonische mit Wasser und Menschen, die um ihn her wohnen, und diese Gegend hat den Namen Augila. In diese Gegend ziehen die Nasamonen immer hinauf zur Herbstlese der Datteln.

183. Von Augila um zehn Tagereisen weiter ist wieder so ein Salzhügel mit Wasser und Dattelfruchtbäumen in Menge (wie sie denn auch bei den andern sind) und mit Menschen, die bei ihm wohnen, die den Namen Garamanten haben, ein gewaltig großes Volk. Sie tragen Erde auf das Salz und bestellen so den Boden. Da ist der kürzeste Weg zu den Lotosessern, zu denen man in dreißig Tagen gelangt. Bei ihnen sind auch die rückwärts weidenden Stiere, die aus folgendem Grunde beim Weiden rückwärts gehen. Ihre Hörner sind vorwärts gebogen; darum gehen sie zurück, wenn sie weiden: denn vorwärts sind sie dazu nicht imstande, da die Hörner vorn in den Boden stoßen. Sie unterscheiden sich aber in nichts von den andern Stieren als hierin und in der Dicke und Festigkeit ihrer Haut. Diese Garamanten jagen auch die höhlenbewohnenden Äthiopier mit Viergespannen. Die höhlenbewohnenden Äthiopier sind nämlich die schnellfüßigsten unter allen Menschen, von denen wir Kunde vernehmen. Die Speise der Höhlenbewohner sind aber Schlangen und Eidechsen und ähnliche kriechende Tiere. Ihre Sprache hat mit gar keiner andern Ähnlichkeit, sondern sie schwirren wie die Fledermäuse.

184. Von den Garamanten zehn Tagereisen weiter ist abermals so ein Salzhügel mit Wasser und Menschen, die um ihn her wohnen, deren Name Ataranten ist, die allein unter den Menschen, von denen wir wissen, namenlos sind. Nämlich insgesamt haben sie den Namen Ataranten, einzeln aber hat keiner einen Namen für sich. Diese fluchen der Sonne, wenn sie über ihnen steht, und stoßen allerlei Schimpfreden gegen sie aus, weil sie mit ihrer Glut sie verzehre, sowohl die Menschen selbst als ihr Land. Hernach, wiederum zehn Tagereisen weiter, ist abermals so ein Salzhügel mit Wasser und Menschen, die um ihn her wohnen. An diesen Salzhügel stößt noch ein Berg, mit Namen Atlas: der ist schmal und ganz kreisrund, aber so hoch, daß, wie man sagt, seine Gipfel nicht zu erschauen sind, weil die Wolken sie niemals verlassen, weder im Sommer noch im Winter. Er sei die Säule des Himmels, sagen die Eingeborenen. Von diesem Berge haben diese Menschen ihren Namen: denn sie heißen Atlanten. Sie speisen, sagt man, nichts Lebendiges und haben keine Träume.

185. Bis zu diesen Atlanten also weiß ich die Namen der Bewohner des Sandstreifens anzugeben, aber von diesen an nicht weiter. Der Sandstreifen erstreckt sich bis zu den Säulen des Herakles und darüber hinaus, und alle zehn Tagereisen ist eine Salzgrube auf ihm und Menschen, die da wohnen. Diese alle bauen ihre Häuser aus den Salzklumpen. Dieser Teil Libyens ist nämlich schon regenlos; denn sonst könnten die Mauern von Salz nicht halten, wenn es regnete. Das Salz wird daselbst sowohl weiß als purpurfarbig gegraben. Über diesem Streifen, südwärts ins Land hinein, ist Libyen ein wüstes, wasserloses, tierloses, regenloses und holzloses Land und hat keinen Tropfen Feuchtigkeit.

186. Also von Ägypten bis zum Tritonissee sind die Libyer Weidevölker, die Fleisch essen und Milch trinken, Kuhfleisch aber nicht genießen, aus demselben Grunde wie die Ägypter, auch keine Schweine halten. Indessen halten den Genuß der Kühe auch die Frauen der Kyrenaier für unerlaubt, wegen der ägyptischen Isis, der zu Ehren sie auch fasten und Festfeiern halten; die Frauen der Barkaier enthalten sich nicht nur der Kühe, sondern auch der Schweine. Also verhält sich dieses.

187. Aber abendwärts vom Tritonissee sind die Libyer nicht mehr Weidevölker, haben auch nicht dieselben Bräuche und tun auch an ihren Kindern nichts der Art, wie es die Weidevölker zu tun pflegen. Nämlich die Weidevölker der Libyer – ob freilich alle, das kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, – aber zum großen Teile tun sie folgendes. Sie brennen ihren Kindern, wenn sie vier Jahre alt sind, mit Schmutzwolle von ihren Schafen die Adern auf dem Scheitel, manche von ihnen auch die an den Schläfen, damit ihnen später niemals der Schleim, der sich aus dem Kopfe in den Körper verbreitet, schädlich sei. Und dadurch, sagen sie, seien sie die gesündesten Menschen. Nun sind in Wahrheit die Libyer die allergesündesten Menschen, von denen wir wissen; ob freilich dadurch, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen: indes die gesündesten sind sie. Wenn ihnen aber beim Brennen der Kinder ein Krampf dazukommt, so haben sie das Mittel erfunden, daß sie ihnen durch Besprengung mit Bocksharn helfen. Ich berichte hier nur, was die Libyer selbst sagen.

[Anmerkung:] 187. Der Rheumatismus entsteht nach der Meinung der Alten, indem sich im Kopfe Schleim bildet und sich von dort in die übrigen Körperteile verbreitet. Dagegen soll das Brennen der Kopfadern helfen, doch scheint Herodot kein volles Vertrauen zu dieser gewaltsamen Heilmethode zu haben.

 

188. Die Opfer sind bei den Weidevölkern folgende. Erst weihen sie ein Stück vom Ohr des Schlachttieres und werfen es über das Haus. Haben sie das getan, so drehen sie ihm den Hals um. Sie opfern aber nur der Sonne und dem Monde. Diesen opfern jedoch alle Libyer; nur die um den Tritonissee wohnenden opfern vornehmlich der Athene und nach ihr dem Triton und dem Poseidon.

189. Es haben auch die Hellenen die Bekleidung und die Ägis der Athenebilder den Libyerinnen nachgemacht. Denn abgesehen davon, daß die Kleidung der Libyerinnen von Leder und die Troddeln an ihren Ägiden keine Schlangen, sondern aus Lederriemen geflochten sind, ist es sonst ganz derselbe Anzug. Besonders zeigt auch der Name, daß die Tracht der Pallasbilder aus Libyen kommt. Denn die Libyerinnen werfen über ihre Kleidung glatte Ziegenfelle mit Troddeln, gefärbt mit Krapp, und von diesen Ziegenhäuten haben die Hellenen den Namen ihrer Ägiden hergenommen. Auch halte wenigstens ich dafür, daß das Festgeschrei an Heiligtümern hier aufgekommen ist; denn die Libyerinnen lassen es gern ertönen und bringen es gut heraus. Auch vier Pferde zusammenzuspannen, haben die Hellenen von den Libyern gelernt.

[Anmerkung:] 189. Die Ägis ist der Schild des Donnergottes Zeus und auch seiner Tochter Athene. Auf dem Schilde befindet sich das Haupt der Gorgo, deren Blick versteinert, mit Schlangenhaaren. Die Ägis ist das Bild der Gewitterwolke, das Wort kommt von der Wurzel aig, die stürmische Bewegung bedeutet. Herodot will es dagegen von aix, aigos, das Ziege bedeutet, ableiten.

 

190. Ihre Toten bestatten die Weidevölker wie die Hellenen, außer den Nasamonen. Diese bestatten dieselben sitzend, indem sie darauf achthaben, wenn einer das Leben aushaucht, daß sie ihn hinsetzen, damit er nicht auf dem Rücken liegend sterbe. Ihre Wohnungen sind zusammengefügt aus Asphodelosstengeln, mit Binsen durchflochten, und lassen sich herumtragen. Solche Bräuche haben diese.

191. Abendwärts von dem Tritonflusse stoßen an die Auseer schon die feldbauenden Libyer, die auch ordentliche Häuser haben. Sie heißen Maxyer und lassen sich auf der rechten Seite des Kopfes das Haar wachsen, während sie es auf der linken scheren und den Leib mit Mennig bestreichen. Sie behaupten aber, von den Männern aus Troja zu stammen. Dieses Land samt dem übrigen Libyen gegen Abend zu ist bei weitem tierreicher und bewaldeter als das Land der Weidevölker. Der Teil Libyens gegen Morgen zu, den die Weidevölker innehaben, ist nämlich sandige Niederung bis zum Tritonflusse; der Teil aber von da gegen Abend, das Land der Feldbauer, ist sehr bergig und dicht bewaldet und voll wilder Tiere; denn eben bei diesen sind die ungeheuern Schlangen und Löwen, die Elefanten und Bären, die Schildnattern und gehörnten Esel, die Hundeköpfe und die Ohneköpfe, die ihre Augen auf der Brust haben (wie wenigstens die Libyer von ihnen erzählen), und die wilden Männer und wilden Weiber und andere unzählige Tiere, die nicht erlogen sind.

[Anmerkung:] 191. Gehörnte Esel: Antilopen.

 

192. Bei den Weidevölkern aber ist nichts von diesen, sondern andere, wie folgt: Weißsteiße, Gazellen, Büffel, Esel, nicht die gehörnten, sondern andere durstlose, denn sie trinken nicht; Orys, deren Hörner die Arme an der Phönixleier abgeben, und die Größe dieses Tieres ist die eines Stieres; Füchse, Hyänen, Haubenstachelschweine, Wildschafe, Wölfe, Schakale, Panther, Borys, Landkrokodile von drei Ellen, an Gestalt den Eidechsen am ähnlichsten, Strauße und kleine Schlangen, deren jede ihr Horn hat. Diese Tiere also gibt es dort, dazu die, die es überall gibt, außer dem Hirsch und dem Wildschwein: Hirsche und Wildschweine gibt es in Libyen nämlich gar nicht. Von Mäusen gibt es dort dreierlei Gattungen. Die einen heißen Zweifüßler, die andern Zegeris, ein libysches Wort, das in unserer Sprache Hügel bedeutet; die dritten Igel. Auch finden sich Wiesel im Silphion, die den tartessischen am meisten gleichkommen. Alle diese Tiere hat das Land der libyschen Weidevölker, soweit ich es mit meiner möglichst weit ausgedehnten Erkundigung zu erfahren vermochte.

[Anmerkung:] 192. Orys: eine Gazellenart. Was Borys ist, weiß man nicht. Zweifüßler heißen die Mäuse wegen ihrer langen Hinterbeine.

 

193. An das libysche Volk der Maxyer stoßen die Zaueker, deren Wagen im Kriege die Weiber lenken.

194. An diese stoßen die Gyzanten, bei denen die Bienen viel Honig schaffen, noch viel mehr aber, wie man sagt, von Kuchenbäckern gemacht wird. Diese Leute malen sich alle mit Mennig an und essen Affen, die in ihren Gebirgen massenweise vorkommen.

195. Bei diesen, sagen die Karthager, liege eine Insel, mit Namen Kyraunis, zweihundert Stadien lang, in der Breite aber schmal, zugänglich vom Festlande aus und voll von Ölbäumen und Reben. Darin sei ein See, aus dem die Jungfrauen der Eingeborenen an mit Pech bestrichenen Vogelfedern Goldstaub aus dem Schlamme heraufziehen. Ob das wahr ist, weiß ich nicht und berichte nur, was man sagt. Es kann aber gar wohl sein, da ich selbst auch auf Zakynthos aus einem See und Wasser Pech heraufziehen sah. Es gibt nämlich daselbst mehrere Seen, von denen der größte siebzig Fuß im Umfange mißt und zwei Klafter tief ist, und in diesen stecken sie eine Stange hinein, an deren Spitze sie einen Myrtenzweig binden, und ziehen alsdann an dem Myrtenzweige Pech herauf, das den Geruch von Erdharz hat, sonst aber besser als das piërische Pech ist. Das schütten sie in eine Grube, die nahe am See gegraben ist, und wenn sie da eine Masse beisammen haben, so schütten sie es erst aus der Grube in die Krüge. Alle Dinge, die in diesen See fallen, treiben unter der Erde durch und kommen wieder zum Vorschein im Meere, das vier Stadien von dem See entfernt ist. So hat also auch das, was von der Insel bei Libyen erzählt wird, die Wahrscheinlichkeit für sich.

196. Die Karthager erzählen noch folgendes. Es gebe eine libysche Landschaft, in der Menschen wohnhaft seien, außerhalb der Säulen des Herakles. Wenn sie dahin kämen, lüden sie erst ihre Waren aus und legten sie am Meeresstrande nebeneinander hin, stiegen dann wieder in die Schiffe und machten einen großen Rauch an, worauf dann die Eingeborenen, die den Rauch sähen, ans Meer kämen und für die Waren Gold hinlegten, sich dann aber wieder von den Waren zurückzögen. Darauf stiegen die Karthager aus und sähen nach. Fänden sie nun das Gold im Werte der Waren, so nähmen sie's und führen damit ab; fänden sie's nicht gleichwertig, so stiegen sie wieder in ihre Schiffe und warteten: dann kämen jene wieder und legten noch mehr Gold hin, bis sie gewonnen seien. Aber kein Teil tue dem andern Unrecht; denn weder sie selbst rührten das Gold an, bevor es ihnen den Wert der Waren aufwöge; noch rührten jene die Waren an, bevor sie das Gold genommen hätten.

197. Das sind also die Libyer, die wir zu nennen wissen, und die meisten von diesen kümmerten sich um den König der Meder damals so wenig wie jetzt. Auch weiß ich noch so viel über dieses Land zu sagen, daß es von vier Völkern besetzt ist und weiter von keinem, soviel wir wissen. Von diesen Völkern sind zwei eingeboren, zwei aber nicht. Die Libyer nämlich und die Äthiopier sind eingeboren, jene im Norden, diese im Süden Libyens wohnhaft; die Phönizier aber und die Hellenen sind Eingewanderte.

198. Libyen halte ich auch in der Güte des Bodens für kein so vortreffliches Land, daß es mit Asien oder Europa zu vergleichen wäre, bis auf Kinyps allein, eine Landschaft, die denselben Namen hat wie der Fluß. Diese aber ist dem besten Lande gleich im Ertrage der Demeterfrucht und hat auch sonst mit dem übrigen Libyen gar keine Ähnlichkeit. Denn sie hat schwarzen Boden und Quellwasser und braucht weder Gluthitze zu fürchten, noch leidet sie Schaden von zu vielem Regen. Dieser Teil Libyens hat nämlich Regen. Im Fruchtertrage erreicht sie dasselbe Maß wie die babylonische Landschaft. Gut ist auch noch die Landschaft der Euhesperiden; denn sie kommt in ihrem höchsten Ertrage auf hundertfältige Ernte, aber die von Kinyps auf dreihundertfältige.

199. Auch das kyrenaiische Land, das höchste in dem Teil Libyens, den die Weidevölker bewohnen, hat seine drei Erntezeiten, die bewundernswürdig sind. Zuerst nämlich werden die Früchte im Küstenlande reif zur Ernte und Weinlese; sind diese heimgebracht, so stehen andere oberhalb der Küste in den Mittelgegenden, die sie die Hügel nennen, zum Heimbringen reif, und ist auch die Frucht des Mittellandes heimgebracht, so ist in der obersten Landschaft die Zeitigung und Reife da, so daß die erste Ernte aufgegessen und ausgetrunken ist, während die letzte dazu kommt. Also hält bei den Kyrenaiern der Leseherbst acht Monate an. So viel sei hiervon bemerkt!

200. Die Perser aber, die von Aryandes aus Ägypten abgeschickt wurden, um für Pheretime zu kämpfen, kamen nach Barka und belagerten sofort die Stadt. Sie stellten die Forderung, die des Mordes an Arkesilaos Schuldigen herauszugeben; da aber das gesamte Volk mitschuldig war, ließ es sich gar nicht darauf ein. Da belagerten sie Barka neun Monate lang, indem sie unterirdische Gänge bis in die Festung hineintrieben und auch mit Gewalt stürmten. Die Gänge fand ein Schmied heraus, der sich folgendes Verfahren mit einem erzüberzogenen Schilde ausgedacht hatte. Er trug ihn in der ganzen Festung herum und hielt ihn an den Boden der Stadt. Da blieb es überall, wo er ihn hinhielt, lautlos; nur wo gegraben ward, dröhnte das Erz am Schilde. Hier machten nun die Barkaier einen Gegengang und töteten die persischen Grubenarbeiter. So fanden sie also dies heraus, und die Barkaier schlugen die Stürme ab.

201. Als das schon lange gedauert hatte und von beiden Seiten immer mehr fielen, und von den Persern nicht die wenigsten, da stellte Amasis, der Feldherr des Landheeres, folgendes an. Da er überzeugt war, daß den Barkaiern auf dem Wege der Gewalt nicht beizukommen sei, sondern nur auf dem der List, machte er's so. Nachts grub er einen breiten Graben, legte dann schwache Balken darüber und überdeckte die Oberfläche der Balken mit aufgeschütteter Erde, so daß er sie dem übrigen Erdboden gleichmachte. Mit Tagesanbruch lud er nun die Barkaier zur Unterhandlung, die ihm mit Freuden Gehör gaben und sich endlich zu einem Vertrage entschlossen. Diesen Vertrag machten sie folgendermaßen, wobei sie den Eid über dem verborgenen Graben leisteten: »Solange diese Erde dieselbe ist, soll der Eid auf dem Lande bleiben, mit dem die Barkaier erklären, dem Könige zu geben, was ihm gebührt, und die Perser, nichts an der Verfassung von Barka zu ändern.« Nach diesem Eide gingen, im Vertrauen darauf, die Barkaier selbst aus der Stadt heraus und ließen von den Feinden jeden, der wollte, in die Festung hinein, deren sämtliche Tore sie öffneten. Die Perser aber rissen den verborgenen Damm ein und stürmten in die Festung. Den Damm, den sie gemacht hatten, rissen sie nämlich deshalb ein, damit sie den Eid gehalten hätten, da sie beschworen hatten, der Eid solle den Barkaiern auf alle die Zeit verbleiben, welche die Erde bleibe, wie sie damals war. Als sie den Damm eingerissen hatten, blieb der Eid also nicht mehr auf dem Lande.

202. Die Hauptschuldigen der Barkaier ließ nun Pheretime, nachdem sie ihr von den Persern übergeben waren, rings auf der Mauer aufpfählen und ihren Weibern schnitt sie die Brüste ab und steckte auch diese an der Mauer herum auf. Die übrigen Barkaier aber hieß sie die Perser zur Beute machen, außer denen, die Battiaden und nicht Mitschuldige des Mordes waren. Diesen überließ Pheretime die Stadt.

203. So verknechteten also die Perser die übrigen Barkaier und zogen dann wieder heim. Als sie vor der Stadt der Kyrenaier ankamen, ließen sie die Kyrenaier, um einem Götterspruche nachzukommen, durch ihre Stadt ziehen. Bei dem Durchzuge des Heeres riet nun Badres, der Feldherr des Schiffsheeres, zur Einnahme der Stadt; der des Landheeres aber, Amasis, ließ es nicht zu; denn sie seien nur gegen die eine hellenische Stadt, Barka, ausgeschickt. Als sie aber nach dem Durchzuge aus der Anhöhe des Zeus Lykaios lagerten, gereute sie's, Kyrene nicht zu haben, und sie versuchten, zum zweitenmal hineinzukommen, was aber die Kyrenaier nicht zugaben. Darauf befiel die Perser, ohne daß ein Mann gekämpft hätte, ein Schrecken, und sie liefen sechzig Stadien weit, ehe sie sich wieder lagerten. Auf diesem Lagerplatze kam ein Bote von Aryandes zum Heere, der sie zurückrief. Die Perser baten nun die Kyrenaier um Wegzehrung, die sie auch erhielten, und zogen damit nach Ägypten ab. Von da an lauerten ihnen aber die Libyer auf, die um der Kleider und des Gepäckes willen immer die Nachzügler, die hinter dem Heere zurückblieben, erschlugen, bis sie nach Ägypten kamen.

204. Dieses persische Heer kam in Libyen nicht über die Euhesperiden hinaus. Die verknechteten Barkaier aber schleppten sie aus Ägypten weg zum Könige, und König Dareios gab ihnen im baktrischen Lande einen Flecken zur Ansiedlung. Diesem Flecken gaben sie den Namen Barka, und er wurde bis zu meiner Zeit noch bewohnt im Lande Baktrien.

205. Aber auch Pheretime beschloß ihr Leben nicht gut. Denn nicht so bald war sie nach ihrer Rache an den Barkaiern aus Libyen nach Ägypten zurückgekehrt, als sie schmählich starb, indem sie sich bei lebendigem Leibe in Würmer auflöste. So macht die Menschen allzu harte Rache bei den Göttern verhaßt. Solcher Art und so groß war die Rache, die Pheretime, die Frau des Battos, an den Barkaiern übte.


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