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»Was wünschest du, was geschieht?« fragte Hans Steinherr wie ein freundlicher Wirt, als sie in seinem Hause an der gartenbekränzten Grafenberger Chaussee angelangt waren und Heinrich Springe rastlos durch das Zimmer wanderte.
Der Angeredete unterbrach seinen Gang.
»Hans –!« sagte er, und er legte alle Liebe und alle Innigkeit in den Ton. Er ging auf ihn zu, faßte seine Hände und suchte seinen Blick. »Hans – –!«
Der aber schüttelte stumm verneinend den Kopf.
»Hans«, fuhr Springe eindringlicher fort, »du kannst es ja nicht wollen. Du hast ja vergessen, an deine Mutter zu denken. Ich will von niemand sonst reden. Nur von deiner Mutter …«
»Meine Mutter«, sagte Hans Steinherr und sah zur Seite, »meine Mutter ist durch das Glück geschützt. Der Verlust, der sie trifft, wird an ihrem Reichtum nichts ändern.«
Er holte tief Atem. Dann fand er ein ruhiges und entschlossenes Wort: »Heinrich, mache keinen weiteren Versuch. Laß mich nicht bereuen, daß ich dich nicht auf der Stelle abgewiesen habe. Ich versprach dir, die nüchterne Überlegung am Morgen abzuwarten, obschon sie nicht nüchterner ausfallen kann. Mehr kann ich nicht und mehr will ich nicht. Das – ist mein letztes Wort.«
»Hans – –!«
Aber als der Freund sich abwandte, müde der Erwiderungen, ließ Springe von jedem Überredungsversuch ab, trat hinter ihn und legte schonungsvoll den Arm um ihn.
»Komm, ich bringe dich in dein Zimmer. Du sollst jetzt ruhig schlafen.«
Hans Steinherr lächelte leise über die sorglichen Bemühungen, aber er ließ sie geschehen.
Sie gingen die Treppen hinauf, in das obere Stockwerk, in dem das Schlafzimmer lag. Dort ließ sich Hans schweigend auf das Ruhebett fallen.
»Laß die Lampe brennen, Hans. Licht ist gut gegen einsame Gedanken. Und ich möchte von Zeit zu Zeit nachsehen kommen, ob du eingeschlafen bist oder den Wunsch hast, mich zu sprechen. Gute Nacht, Hans; ich wünsche dir mit aller Bedeutung eine gute Nacht!«
Unten im Hausflur blieb er stehen und horchte angespannt. Dann stieg er schnell ins Souterrain hinab und klopfte behutsam an der Tür der Wirtschafterin. Die Alte hatte den leichten Schlaf des Alters. Sie erwachte sofort und fragte, ob der Herr Doktor noch ein Verlangen habe.
»Bitte, Frau Schmitz, stehen Sie gleich auf! Ich bin's, Heinrich von Springe. Sie müssen mir eine Gefälligkeit erweisen.«
In wenigen Minuten hatte die erschrockene Person ihre Kleider übergeworfen. Springe beruhigte sie.
»Es ist nichts. Herr Hans fühlt sich nicht ganz wohl. Aber ich möchte doch auf alle Fälle mit Fräulein Stahl sprechen. Gehen Sie doch bitte sofort zur Immermannstraße – die Dienstmädchen machen leicht eine übertriebene Geschichte daraus – und ersuchen Sie Fräulein Stahl in meinem Namen, sich gleich herzubemühen. Das Fräulein versprach mir, aufzubleiben, bis ich aus dem ›Malkasten‹ zurück sei. Wir wollten noch plaudern.«
»Soll ich nicht«, fragte die alte Frau ängstlich, »gleich einen Doktor mitbringen?«
»Das wird hoffentlich nicht von nöten sein. Eilen Sie nur!«
Er sah ihr vom offenen Fenster aus nach, wie sie in ihrem großen Umschlagetuch eilig die Straße dahintrippelte.
Eine qualvoll lange Stunde begann für den Mann am Fenster. Er zog die Uhr. Es war eins. Vor zwei Uhr konnte Hannes nicht eintreffen. Und wenn sie nicht aufgeblieben, wenn sie schon zur Ruhe gegangen war? Aber nein, sie hatte ja am Abend erst versprochen, zu warten. Es drängte sie ja viel zu sehr, zu hören, ob der heitere Abend günstig auf Hans eingewirkt habe. Sie wollten ja noch Pläne miteinander schmieden, allein, ohne von den anderen gestört zu werden.
Hannes würde kommen; Hannes würde ganz bestimmt kommen!
Fern, aus einem der Gärten, tönten die langgezogenen Koloraturen einer Nachtigall. Sobald ihr Ruf in einem Triller erstarb, antwortete eine andere. Hin und her ging das Spiel, im Lauschen und im Schwelgen.
Aber Springe hatte heute keinen Sinn für den Wohllaut der Nacht. Als er sich dennoch beim Horchen ertappte, riß er sich ärgerlich los. Das Tirilieren zog ihn ab. Er hatte sein Gehör einer anderen Richtung zu schenken.
Das Viertelstundenschlagen der Turmuhren erschien ihm endlos. Er tastete nach seiner Zigarrentasche. Aber jetzt zu rauchen, kam ihm wie ein Verbrechen vor. Er verspürte auch nicht die geringste Lust.
Eben hatte es dreiviertel zwei geschlagen, und seine Nervosität war gestiegen, daß er die Zähne zusammenbeißen und die Fingernägel in das Fensterbrett einkratzen mußte. Herrgott, das ging ja über Menschenkräfte. Das war ja wie eine Nacht vor dem Schafott. Schlimmer, schlimmer. Da oben lag ein Mensch, den Tod vor Augen, und er stand hier unten, tatenlos, wie ein Publikum. Er fühlte, wie auf seiner Stirn große, kalte Tropfen standen. Und da draußen dieses schwelgende Nachtigallenkonzert, als gäbe es jetzt auf der weiten Welt nichts Dringenderes zu tun, als Liebeslieder zu singen.
Ein Schritt! Ein ganz hastiger Schritt! – –?
So weit, als er es vermochte, beugte sich Springe aus dem Fenster, um die Straße zu übersehen.
Da! Das Mondlicht schuf taghelle Beleuchtung. Eine Frau! Eine Frau im Umschlagetuch …! Heiliger Vater im Himmel, die Frau kam allein zurück!
Er stürzte nach der Haustür, er öffnete –
Es war Hannes.
Der Umschwung seiner Empfindungen war so stark, daß er sich einen Atemzug lang gegen die Tür lehnen mußte – daß das Mädchen in jäher Angst nach seinen Armen griff – daß sie Entsetzliches befürchtete –
»Nein, nein!« stieß er hervor. »Es kam nur – ich dachte – Frau Schmitz käme allein. Ich sah nur das große Umschlagetuch. Wenn man in der Nacht wartet, spielt die Phantasie Streiche. Mädel, Mädel, Gott sei Dank, daß du da bist!«
Er drückte geräuschlos die Tür ins Schloß und führte das Mädchen vorsichtig ins Zimmer.
»Du warst noch auf, als die Frau kam? Hat keiner etwas gehört?«
»Ich stand am Fenster, Onkel, und öffnete ihr, ohne daß sie zu läuten brauchte. Als sie mir deine Bestellung ausgerichtet hatte, nahm ich gleich ihr Umschlagetuch, ohne erst den Hut zu holen, bat die Frau, an meiner Stelle dort zu bleiben, für den Fall, daß Großmutter zufällig aufstehen und nach mir sehen sollte, und hastete hierher. Aber so sprich doch um Gottes willen, was ist? Was ist mit Hans?«
Und in fliegender Eile berichtete er ihr die Vorgänge des Abends.
»Was ich auch vorbrachte, Hannes, alles war vergebens. Er war fertig mit sich. Er hatte Abschluß gemacht. Das einzige, was ich in meiner Todesangst erzielte, war der Aufschub bis zum Morgen. Und bis dahin ist es nicht mehr weit.«
Hannes stand blaß vor ihm, aber sie stand aufrecht. Die großen, tiefen Augen weit geöffnet, ging ihr Blick an ihm vorbei.
»Nein, Onkel Springe, so weit ist es noch nicht.«
»Ich wußte mir keinen anderen Rat als dich.«
»Ich danke dir, Onkel Springe. Hat er von mir noch gesprochen?«
»Nein, Kind. Aber das beweist nichts. Viel eher …«
»Onkel Springe«, sagte sie, bevor er vollenden konnte, »ich muß sofort zu ihm.«
»Ich hatte das erwartet«, murmelte Springe, »aber es mußte von dir ausgehen.«
»Willst du mich hinbringen? Wo ist er jetzt?«
»Ich habe ihn dazu bewogen, sich zur Ruhe zu legen. In seinem Schlafzimmer.«
Aus den letzten Worten hörte sie die zögernde Frage heraus. Da sah sie ihn ernst an.
»Wie kann mich das hindern! Komm, Onkel Springe. Und dann, nicht wahr, dann läßt du mich allein.«
In Springes Brust stieg eine breite Atemwelle auf. Er antwortete nichts als: »Ich wußte es ja, ich wußte es ja. In dir täuscht man sich nicht.«
Dann ging er ihr voran in das obere Stockwerk und öffnete leise die Tür zu Hans' Zimmer.
Hans Steinherr lag auf dem Ruhebett, ganz still, das Gesicht der Wand zugekehrt.
»Bist du es, Heinrich?« fragte er und wendete ein wenig den Kopf.
Hannes hatte die Tür hinter sich ins Schloß gedrückt. Jetzt, allein mit ihm, schlug ihr das Herz so rasend, daß ihr schwindelte. Aber sie bezwang sich mit aller Tapferkeit, trat rasch an ihn heran, beugte sich über ihn, und bevor er einen Schrei der Überraschung auszustoßen vermochte, hatte sie ihre Lippen fest auf seinen Mund gepreßt, als müßte es so sein – –.
»Hans, mein alter, lieber Hans! Nun sage mir, was dir fehlt.«
Hans Steinherr versuchte zu sprechen. Er rang nach Klarheit, nach Bewußtsein. Mit entsetzten Augen starrte er die Erscheinung an, von der er nicht wußte, wie sie zu dieser Stunde in dieses Zimmer kam. Und sie strich mit ganz weicher Hand über diese wilden Augen und sagte nur immer: »Mein alter, lieber Hans …«
Noch einmal versuchte er, die Lippen zu bewegen. Aber es kam kein Ton. Sie sah nur, wie seine Schultern schütterten, und sie hinderte ihn nicht. Vielleicht, daß er weinte – –. Nur mit zärtlichen Fingern strich sie über sein Haar und wiederholte von Zeit zu Zeit: »Alter, lieber Hans! Glaubtest du denn wirklich, daß ich dich so gehen lassen würde? Einfach gehen lassen?«
Dann wurde er allmählich stiller, und sie saß bei ihm und wartete geduldig, bis er reden würde. Ihre weichen, warmen Hände, die jetzt auf seiner Stirn lagen, zeigten ihm, daß sie wartete.
»Was nun?« stammelte er, »was denn nun? Das – das habt ihr ja glücklich zu stande gebracht. Nun kann ich es doch nicht mehr tun – –«
»Wenn du es getan hättest, Hans, und ich hätte es erst morgen früh erfahren, ich hätte dich doch nicht allein gelassen.«
Er sah sie verständnislos an. Seine Gedanken sprangen noch immer im Zickzack durch seinen Kopf.
»Darauf bist du nicht selbst gekommen, Hans? Daß ich abgereist wäre, um die lieben Menschen hier nicht so arg zu treffen, und dir an irgend einem Winkel der Welt – nachgefolgt wäre?«
»Hannes, Hannes!« brachte er hervor, »wie kannst du das nur aussprechen – –«
»Wundert dich das? Das solltest du dir nicht gedacht haben, und wußtest doch, daß ich dich liebte?«
»Nein, nein!« rief er. »Das habe ich nicht gewußt. Das wäre ja Wahnsinn gewesen.«
»Was es ist«, sagte sie und lächelte vor sich hin, »das kann ich dir nicht sagen. Denn ich weiß ja nur das eine: daß ich dich lieb habe; so lieb, wie nur je im Leben; wie damals, als wir Kinder waren, und noch viel lieber.«
»Quäl' mich nicht! Quäl' mich nicht so!«
Da nahm sie hastig seinen Kopf und drückte ihn gegen ihre Brust. »Ruhig«, beschwichtigte sie mit ihrer tiefen, klingenden Stimme, »ruhig, ganz ruhig. Es ist so, und nun hast du es mir zu glauben.«
Er regte sich nicht. Er lag wie im Arm einer Mutter. Wie unendlich wohl das tat – –
Und nach einer Weile sagte sie: »Du darfst nur sprechen, wenn du ganz vernünftig bist.«
»Ich bin's.«
»Nur, wenn du etwas Vernünftiges zu sagen hast.«
»Hannes, Hannes, du bist so lieb, so – so – und es ist doch alles nutzlos.«
»Magst du mich so wenig leiden, Hans? Trotzdem ich mich dir aufdränge?«
»Du kannst scherzen«, sagte er tonlos. Aber als sie eine Bewegung machte, drückte er den Kopf fester gegen ihre Brust und schlang scheu den Arm um ihren Hals.
Sie hielt ganz still. Das war der Knabe – – der Knabe von ehemals.
»Hannes, es ist nichts aus mir geworden. Ich bin nichts und ich werde nichts. Hingegen du – du hast alles erreicht. Das sind doch keine Gleichheiten, die zueinander passen.«
»Dein Talent ist zehnmal größer und wichtiger als meins.«
»Mein Talent? Ich habe keins. Ich hab's in der Fabrik draußen kläglich erproben können.«
»Wer spricht denn von der Fabrik?«
»Von der Fabrik nicht?«
Er ließ sie los und schaute sie staunend an.
»Ja, wenn nicht von der Fabrik, von was denn in aller Welt?«
»Hältst du mich für so dumm, mein dummer Hans? Meinst du denn, ich hätte deine Gedichte und deine kunsthistorischen Aufsätze nicht in den Zeitschriften gelesen? Oder traust du mir so gar kein Verständnis zu?«
Er lachte laut auf. »Meine Gedichte! Meine Aufsätze! Ein nettes, wirres Zeug – –«
»O ja«, sagte sie, ohne die Ironie zu beachten, »ein bißchen wild ging es ja manchmal darin zu. Aber das lag nicht an deinem Kunstvermögen, das lag an dir armem, liebem Kerl selbst. Dir fehlte die Sammlung. Man muß ein Ziel haben, um unbeirrt marschieren zu können.«
Und als sie sah, daß wieder der sarkastische Zug um seinen Mund auftauchen wollte, fügte sie mit ganz leiser, ganz durchsichtiger Schelmerei hinzu: »Wie kann man Sammlung haben, wenn man nicht einmal eine Frau hat!«
»Hannes!« rief er, von dem alten Heimatston gepackt, »Hannes!«
»Aha, das siehst du ein. Das ist der erste Schritt zur Besserung. Und da ich nun einmal dabei bin, mich dir auf die schönste Weise anzutragen, so merk dir noch, daß ich schon ganz tüchtig verdiene, und daß du, als der Mann, mich unbedingt überholen mußt.«
Da lachte er nur auf.
Aber nun gab sie nicht mehr nach und kniete an seiner Seite, als wollte sie sich ganz klein machen.
»Hans, Hans, heraus mit dem Ehrgeiz! Ich habe allezeit zu dir aufgeschaut! Du bist ja so reich an Wissen und Können, daß du deine Schätze gar nicht einmal überblicken kannst, wenn du erst anfängst, mit deinem Pfund zu wuchern! Und höre einmal: Ich hab' eine große Furcht. Eine gewaltige Furcht wegen meines großen Einkommens. Wahrhaftig, Hans. Ich fürchte – ich fürchte – ach, Hans, ich werde einmal entsetzlich faul werden. Und wenn du mich lieb hast, wirst du dir das selber zuzuschreiben haben.«
Und wieder hatte der frische Heimatston des rheinischen Mädchens gesiegt.
»Hannes, das geb' ich nicht zu. Auf keinen Fall! Die Kunst ist etwas Heiliges, der wird man nicht untreu.«
»So geh mir mit gutem Beispiel voran!«
»Nein, du mir!«
»Ich habe zuerst darum gebeten. Sei nicht geizig!«
»Aber ich weiß ja nicht einmal, wie und wo ich es anfassen soll.«
»Hans, das sagt ein Düsseldorfer? Hier, deine, unsere Vaterstadt wartet. Hier ist Terrain. Hier werden Männer benötigt, die für die alte und jung aufblühende Düsseldorfer Kunst eine Klinge zu schlagen wissen. Gegen den Zopf bei uns selber und gegen die Hämlinge da draußen! Wie? Hab' ich das nicht schön gesagt? Hans, hier gibt's Arbeit. Und wenn du mit ihr noch nicht auskommst, widme dich dem öffentlichen Leben. Ach, Hans, und wenn dich der Ehrgeiz plagt, kannst du noch einmal beigeordneter Bürgermeister für das Kunstdepartement der guten Stadt Düsseldorf werden. Hans, sind das nicht Aussichten?«
Und sie lachte ihr klingendes, glückseliges Lachen, das ansteckend auf den staunenden Horcher wirkte, der mit leuchtenden Augen jedem ihrer Worte gefolgt war.
»Hans, gib acht, wenn die Sammlung kommt! Wenn du erst deine Kräfte in Kopf, Herz und Faust zusammen hast! Wie dann der Dichter sich melden wird, der die Stimmen in sich und um sich her sammelt. O, ich bin ja so froh, daß du kein Wunderkind geworden bist, kein Überflieger ohne Wurzelland. Ein Baum muß wachsen in Sturm und Wetter.«
Sie hatte den Kopf an den seinen geschmiegt, und plötzlich begann sie leise eine Verszeile aus »Ännchen von Tharau« zu singen.
»Recht als ein Palmenbaum über sich steigt.
Hat ihn erst Regen und Sturmwind gebeugt – –«
Da konnte er sich nicht mehr enthalten. Da schlang er die Arme um sie und küßte sie auf die Lippen, auf die Augen, auf das schimmernde, rotblonde Haar. Als ein Gesunder! Als ein Mensch, der nach dem Leben verlangt, nach dem fröhlichen Kampf und dem segenschweren Sieg.
»Hannes, alter, kleiner Hannes! Liebste, ach du Aller-Allerliebste! Jetzt lass' ich dich nicht mehr los.«
»Ich hab' dich nie losgelassen, Hans.« – –
Sie hörten ihre Herzen schlagen. Das war ein Gleichklang.
Und mit einem Male, in der neuen Gesundheit seines Empfindens, wurde sich Hans Steinherr der Situation bewußt.
»Mädel, Mädel, wo bist du denn hingeraten? Das ist ja mein Schlafzimmer – –«
»Herr Gott!« schrie sie auf und wich bis an die Wand zurück.
»Hans«, sagte sie dumpf, aber in ihrer Stimme vibrierte der Schalk und das Glück, »du hast mich fürchterlich kompromittiert.«
»Aber du warst ja als Krankenschwester bei mir.«
»Der Kranke ist kerngesund. Ich habe Beweise. Kannst du das leugnen?«
»Nein, ich kann es nicht leugnen.«
»Du hast mich also kompromittiert, und du wirst wissen, was ein Ehrenmann zu tun hat.«
»Hannes!« flehte er.
»Ja oder nein?«
»Wenn es denn nicht anders ist –: Ja!«
»O, bitte: das genügt mir nicht. Deutlicher, klarer, Herr Doktor Steinherr!«
»Hannes, ich seh' es ein, ich muß dich heiraten.«
Da flog sie wie der Wind heran und umhalste ihn wie ein glückliches Kind. »Hans, mein alter, lieber Hans!«
»O du alter, kleiner Hannes!«
»Weißt du, wir könnten die beiden Namen in einen fassen.«
»Wir sind ja eins und sind es immer gewesen.«
Und sie plauderten und schwatzten wie die Kinder von den Erinnerungen, und das dritte Wort war: »Weißt du noch?«
»Weißt du noch«, fragte Hannes, »als wir im Regen durch den Hofgarten liefen und ich es nicht wollte, daß du mir auf die Füße sahst, wenn ich über die Pfützen springen mußte, und du dann riefst: Ach, in ein paar Jahren bist du ja doch meine Frau?! Und heute bin ich zu dir gekommen, weil ich es mußte, und weißt du, was ich jetzt rufe?: Ach, in ein paar Wochen bist du ja doch mein Mann! Kuß! So, und jetzt müssen wir zu Onkel Springe.«
Aber sie hielt ihn noch einmal an der Tür zurück. Mit einem lieben, ernsten Zug im Gesicht.
»Hans, du darfst mich nicht falsch verstehen. Meine Liebe soll dir nie eine Last sein, sie soll dir – meine Liebe sein. Du hast als Künstler die Welt nötig. Du mußt sogar die Welt nötig haben, wenn du immer ein Wahrheitsschilderer bleiben willst. Und du wirst überall die Schönheit suchen, und manch eine Frau wirst du schön und interessant finden. Hans, ich werde nie eifersüchtig sein. Meine Liebe steht so felsenfest, daß ich weiß: ich werde der Hafen sein, zu dem er nach jeder Ausfahrt freudig und mit überlegenem Lächeln zurückkehrt. Das, Hans, das war's, was ich dir noch sagen wollte.«
Er hielt ihre Hände fest und war keines Wortes mächtig.
Dann gingen sie, Hand in Hand. Sein Schritt war fest und schnell. Ein aufrechtes Mannestum war in ihm und eine Heiterkeit, die nach frischer Lebenstat Ausschau hält, den Dank für das Leben zu bekunden. – –
Heinrich von Springe war, nachdem er Hannes in Hans Steinherrs Zimmer hatte eintreten lassen, sofort umgekehrt. Zuerst hatte er seine Wanderung durch das Parterrezimmer wieder aufgenommen, dann war er lange auf einem Fleck stehen geblieben, um seiner Erregung Herr zu werden, und die abenteuerlichsten Pläne waren ihm durch den Kopf gegangen, für den Fall, daß das Mädchen unverrichteter Sache zurückkehren würde. Als aber Viertelstunde auf Viertelstunde verstrich, ohne daß das Mädchen wieder aufgetaucht wäre, löste sich die lastende Spannung in ein verblüfftes Staunen, und das Staunen endlich in ein breites Behagen – –.
Es schlug drei Uhr. Da tastete er wieder einmal nach seiner Rocktasche, und diesmal brachte er schmunzelnd sein Etui hervor und zündete sich mit der Miene eines Mannes, der einen Genuß zu würdigen versteht, eine große Zigarre an.
Dann legte er sich in das offene Fenster, so bequem es ihm möglich schien, und beobachtete den heraufziehenden Frühlingsmorgen.
Noch immer schlug im fernen Garten eine Nachtigall, und ihr lockender Ruf ließ eine zweite antworten. Aber Dialog und Duett irritierten ihn nicht mehr. Ja, wenn ihm eine Pause in musikalischer Beziehung zu lang ausgesponnen vorkam, nahm er seine Zigarre aus dem Mund und ahmte leise den Lockruf nach.
»Tü–Türülü – – –«
Und er freute sich kindisch, wenn die kleinen unsichtbaren Gesangskünstler prompt einsetzten.
Jetzt war er so in sein Tun vertieft, daß er das Uhrenschlagen überhaupt überhörte. Nur einen Schritt überhörte er nicht. Der klang ihm denn doch zu bekannt. So ging nur Frau Margot.
Sie war schon dicht vor dem Hause, da lehnte er sich, die Zigarre zwischen den Lippen, weit aus dem Fenster, damit sie ihn erkennen sollte, und rief so gemütlich und fröhlich, als ob es sich um eine Absprache handelte: »Guten Morgen! Guten Morgen, du allerschönste Frau! Hast du dich auch herbemüht?«
Frau Margot war sprachlos. Sie hatte den Weg in der treibenden Angst der Ungewißheit zurückgelegt, von allen erdenkbaren Schreckensbildern erfüllt, und nun rekelte sich ihr geliebter Mann zigarrenrauchend im Fenster und machte Naturstudien!
»Aber Heinz – – aber Heinz!«
»Willst du zum Fenster einsteigen, oder soll ich dich feierlich an der Tür des Hauses empfangen?«
»Sei nicht so unvernünftig fidel. Ich bin ja ganz hin.«
»Das, Liebste, kommt davon, wenn man nicht seine unvernünftige Fidelität beibehält.«
»Heinz, so öffne doch!«
»Aber nicht prügeln, hörst du? Ich habe nichts verbrochen!«
Sie schüttelte lachend den Kopf über den Unverbesserlichen.
Nun war sie bei ihm im Zimmer und bestürmte ihn um Auskunft.
»Erst beichten, wer dich mir auf die Spur gebracht hat. Es muß alles seine Ordnung haben.«
»Ach Gott, Heinz, ich wachte auf und fand deinen Platz immer noch leer. Das ängstigte mich, und ich nahm meinen Morgenrock über, um zu sehen, ob bei den Toggenburgers noch Licht sei. Du und Hannes, ihr hattet ja den ganzen Tag über Heimlichkeiten gehabt. Und als ich wirklich noch Lichtschein entdeckte, klopfte ich leise an. Du kannst dir meinen Schreck vorstellen, als die Wirtschafterin von Hans mir öffnete.«
»Das ist die Strafe, wenn die Frau nicht vertrauensvoll den Mann erwarten kann«, sagte Heinrich Springe.
»Spotte du noch! Mir war alle Lustigkeit vergangen. Und als mir Frau Schmitz gar mitteilte, daß sie das Fräulein hätte holen müssen, weil der Herr Doktor daheim wohl erkrankt sei, da war ich im Handumdrehen angekleidet und, und – da bin ich.«
»Und nun beruhigt, Liebste?«
»Beruhigt –? Aber ich bin ja noch so klug wie zuvor.«
»Ach so«, stimmte Springe bei. »Ja – viel klüger bin ich auch nicht.«
»Aber so sag doch endlich, ob Hans wirklich krank ist.«
»Krank? I wo! Der wird sich in diesem Augenblick wohl so urgemütlich befinden wie noch nie in seinem Leben. Ich nehme das wenigstens an.«
»Heinz, sei ernsthaft! Was ist hier vorgegangen? Weshalb hast du Hannes in der Nacht herholen lassen? Du mußtest doch sehr schwerwiegende Gründe haben.«
»Ja, Margot, die hatte ich. Du siehst, ich bin jetzt ganz ernst. Hans wollte in dieser Nacht ohne Abschied von dannen. Er wollte wieder reisen, ins Ungewisse. Vielleicht wäre er nie wieder gekommen. Ich erfuhr davon, ich habe lang' auf ihn eingeredet, bei uns zu bleiben, gesund und froh zu werden. Es half nichts. Da dachte ich: Hier kann nur eine helfen. Wenn die Namen der Mutter und des Freundes versagen, bleibt als letztes der Name der Geliebten. Und so griff ich denn zu der stärksten Beschwörung und ließ Hannes holen.«
»Sie muß ihn sehr lieb haben«, sagte Frau Margot leise und drückte die Hand des Gatten.
»Und er sie nicht minder«, entgegnete Heinrich Springe, »denn er scheint sie jetzt überhaupt nicht mehr hergeben zu wollen. Diese Egoisten haben meine Existenz total vergessen.«
»Wo sind sie denn? Ich möchte sie sehen.«
»Oben. In seinem Schlafzimmer.«
»In seinem – –?«
»Aber Liebste, mach doch nicht so liebe, dumme Augen. Sie sind in der Tat oben. Der Junge hatte sich zur Ruhe gelegt, um nicht gestört zu werden, und in der Frühe wollte er heimlich davon. Da ist das tapfere Mädel schnurstracks hinaufgegangen, um ihn zu zwingen, sie anzuhören. Nicht nur für sich, für uns alle. Spürst du denn nicht, wie kleinlich und nichtsbedeutend in der Stunde der Gefahr alle sogenannten Anstandsregeln werden? Zimperlichkeit ist nicht rheinische Art.«
Frau Margot schmiegte sich an seinen Arm und lachte zu ihm auf.
»Du, du? Ist das nicht unschicklich?«
»Unschicklich ist es«, sagte Heinrich Springe mit einem tiefen Atemzug, »aber es ist auch verdammt schön! Und siehst du«, fuhr er fort und legte den Arm um ihren Leib, »weil die Schönheit gar so selten ist, so soll man sie, wenn sie uns grüßt, halten und fassen, wie und wo man kann. Und nie, nie im Leben soll man sie ungeküßt von dannen lassen.«
Am offenen Fenster zog er ihren Kopf zu sich heran, und sie wehrte nicht, und sie küßten sich.
»Das ist aller Weisheit Schluß, du liebe Frau.« –
Die Tür öffnete sich. Da waren die Kinder.
Und wortlos eilten die beiden Frauen aufeinander zu und umarmten sich. Eine jede den Kuß des Liebsten auf den Lippen.
»Mutter – « sagte endlich Hannes.
Frau Margot aber nahm beider Hände in die ihren – –
Heinrich Springe hatte sich abgewendet. Unmännliche Rührung mißbilligte er an der eigenen Person.
Dann standen sie alle am Fenster und atmeten tief in der Frühlingsluft.
»Wie weiß die Gärten in Blüte stehen«, sagte Hannes. »Das kommt, ohne Fragen und Zaudern, weil es seine Bestimmung ist.«
»Das ist eine bräutliche Nacht«, nickte Frau Margot. »Duft und Licht und Klang vermählen sich in eins.«
Heinrich Springe stand zwischen den beiden Frauen. Er wußte keine Sentenz. Aber er drückte sie beide an sich und sagte, lachenden, leuchtenden Auges in den aufsteigenden Morgen hinausschauend:
»Kinder, Kinder, es ist doch etwas Eigenes um den Frühling am Niederrhein.« – – –
*