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Anna Kölsch kam von Düsseldorf. Sie saß im Frauenabteil, fest in die Ecke gedrückt, und starrte auf die vorüberfliegende Landschaft, die sich herbstlich färbte. Vom Bahndamm winkten und schrien Kinder herüber, Jungens rannten über die Stoppelfelder und ließen den Windvogel fliegen, und fern am Waldrand, dort, wo die letzten Hügel in die Ebene stiegen, sah sie deutlich ein dicht aneinandergeschmiegtes Paar. Sie schaute so lange hin, bis die Augen sie schmerzten. Dann flogen Fabriken vorbei, Dörfer, Bahnhöfe. Ein Rasseln ging durch den Wagen, der Zug fuhr behutsamer, sie waren auf der Sonnborner Brücke. Tief unter ihr glitt gespenstisch die schwarze Wupper, öffnete sich geheimnisvoll der Talkessel; noch eine Kurve, und aus tausend glühenden Augen glotzten die Schwesterstädte Elberfeld und Barmen zur Höhe hinauf.
Das Schauspiel war ihr nicht neu. Und doch genoß sie es jedesmal wieder wie eine Überraschung. Sie rechnete vor sich hin, wie oft sie seit dem Frühjahr diesen Weg nun schon gefahren sei. Allmonatlich. Immer fröhlich den Hinweg, und immer traurig den Rückweg. Sie kam mit vollen Händen, sie hatte des Bruders Küche zu verproviantieren, und mit ganz leeren Händen reiste sie heim ...
Sie schüttelte den Kopf. Als wenn sie des Dankes wegen hinging! Der hätte ihr gerade gefehlt. Nur weil es ihr Spaß machte, für die beiden zu sorgen. Zwar – den einen, den Ewald, hatte sie bei ihrem Bruder Ernst nicht zu Gesicht bekommen. An dem Tage, an dem sie kam, hielt er sich fern. Ob der kein reines Gewissen hatte – –? Und wenn! Das hatte er doch mit sich auszumachen und nicht mit ihr. Nun ja, so tat er's ja auch. Gewiß, gewiß; nur immer zu! Wenn er es ihr auch nicht gerade so tölpelhaft hätte zu zeigen brauchen. Man war doch immerhin Freund miteinander gewesen, schon, als sie noch auf allen vieren krochen. Nein, doch nicht. Damals hatte er schon laufen können, und er hatte sie mit ernstem Kleinkindergesicht beaufsichtigt und ihr geholfen, wenn sie umfiel. Und jetzt wollte sie ihn beaufsichtigen? Fiel er denn um?
Nicht einmal den Gefallen tat er ihr, daß sie Vergeltung üben konnte. Und nun mußte sie über sich selber lachen.
Ihre gesunde Natur schüttelte alle unnützen Gedanken an volle Hände und an leere Hände unwillig ab. Sie erfüllte einfach ein Gebot des Vaters. Damals, im Frühsommer, als Ernst geschrieben hatte, wie es um Ewald Wiskotten stünde, und daß sie nun gemeinsame Tafel hielten, hatte der Alte mit seiner Tochter eine Unterredung gehabt. Und das Resultat waren Annas allmonatliche Fahrten nach Düsseldorf, um mit dem Bruder Kriegsrat über die jeweiligen Bedürfnisse Ewald Wiskottens zu halten, die Speisekammer aufzufüllen und ein nach oben abgerundetes Monatsgeld zu überbringen. »Er soll dem Ewald vorschießen, was der nur braucht«, hatte der Vater gesagt. Der Stolz des alten Werkmeisters duldete es nicht, daß ein Wiskotten Hunger litt oder gar unter die Räder kam. Die Sache betraf ihn mit.
Als der Zug im Bahnhof Barmen einfuhr, gewahrte sie auf dem Bahnsteig die fünf Brüder Wiskotten. Wilhelm, der Engländer, stand einen Schritt vor den andern und spähte die Wagenreihe entlang, die den Anschluß an Vlissingen brachte. Sie nickte Gustav zu, der sie entdeckt hatte und ihr ritterlich aus dem Abteil half.
»Sie kommen von unsern Schmerzenskindern, kleine Samariterin?«
»Es geht ihnen nichts ab, Herr Wiskotten. Auch Ewald ist gesund und sehr fleißig.«
»Der Junge kann sich bei Ihnen bedanken, Fräulein Anna. Und wir auch. Sie nehmen uns da eine große Sorge ab.«
»Nicht der Rede wert«, murmelte sie.
»Ich spreche alle paar Tage mit Ihrem Vater darüber. Sie haben die Sache richtig angefaßt. Der Junge ist störrisch. Nun können wir in Ruhe abwarten, wie er sich entwickelt, ohne ihn kopfscheu zu machen.« Er drückte ihr kräftig die Hand. »Ich verlass' mich auf Sie.«
»Ich werde schon aufpassen«, schnitt sie hastig ab. »Sie werden gesucht, Herr Wiskotten.«
»Wilhelms Braut ist gekommen. Miß Mabel White aus London. Ich gehör' zum Empfangskomitee.« Er nickte ihr zu und ging rasch den Zug entlang. Anna Kölsch schlug allein den Heimweg ein.
Auf dem Bahnsteig stand Wilhelm Wiskotten neben einer schlanken, brünetten Dame in elegantem, festanliegendem Reisekostüm, die mit sichtbarem Vergnügen die Vorstellung der Brüder entgegennahm.
»Dies ist unser Ältester. Mein Bruder Gustav.«
»Ich habe sehr viel von Ihnen gehört, Herr Gustav«, sagte sie lächelnd, und sie schüttelten sich die Hände. Sie sprach ein vollkommenes Deutsch bis auf einen leisen Akzent, der ihre englische Abstammung verriet. »Wir werden sehr gute Freunde sein.«
Gustav Wiskotten sah ihr in die leuchtenden Augen. Wie frank und kameradschaftlich sie sich gab. »Ich denke, wir sind's jetzt schon, Fräulein White.«
»So viele Männer!« lachte sie. »Das ist ja eine Ehreneskorte.«
»Wir zeigen uns auch nur bei festlichen Gelegenheiten in corpore. Sonst sieht's gleich aus, als sei der Landsturm einberufen.«
»Der Wagen steht vor dem Bahnhof, Mabel.«
Die beiden jüngeren Wiskottens übernahmen schnell die Besorgung des Gepäcks. »Was, Paul?« meinte Fritz und strich, den Bruder anzwinkernd, den Schnurrbart hoch. »Da lohnt sich's, nach England zu reisen. Mensch, ist das ein tadelloses Frauenzimmer!«
Das Gepäck wurde aufgeladen. Gustav Wiskotten zwängte sich als Garde mit in den Wagen des Brautpaares, und die übrigen Brüder sprangen auf eine Pferdebahn, die nach Rittershausen fuhr. »Droschken gibt's hier nicht«, erklärte Gustav der neuen Schwägerin, die sich verwundert nach den Schwägern umsah. »Das Tal ist zu eng, und die Menschen haben hier ein Wort, vor dessen Klang sie schon schaudern.«
»Was ist das für ein schrecklich Wort?«
»Luxus!«
Sie blickte schelmisch an sich hinab und dann ihren Verlobten an. »Und ich bin nicht nur ein Wort, ich bin eine leibhaftige Person ...?«
»Du bist eine Ausnahme«, erklärte Wilhelm Wiskotten stolz.
»Was aus dem Ausland kommt, Fräulein White, passiert die Zensur nicht. Dafür gibt's nur kritiklose Bewunderung.«
»Wie drollig!.«
»Das geht so weit, daß wir Fabrikanten unsre Barmer Artikel, unsre Bänder, Litzen und Spitzen nach Paris und London exportieren und unsre Grossisten sie von dort in denselben Kartons als Pariser Nouveautés und letzte englische Mode zurückbeziehen.«
»Wo bleibt da der Gewinn?«
»Was vom Ausland kommt, hat höheren Preis.«
»Auch die Frauen?«
»Na, Wilhelm, nun red du!«
Sie berührte wie unabsichtlich den Arm ihres Verlobten. Der behielt die englische Maske auf. Aber das Wuppertaler Blut stürmte doch, kaum zu bändigen, hinter der gepflegten Miene. Da schloß Gustav Wiskotten unbekümmert um das verdutzte Gesicht seines schönen Gegenübers die Augen – –
Die Brüder langten mit ihnen zu gleicher Zeit zu Hause an und bemächtigten sich, eifersüchtig streitend, des Gepäcks. Im Triumph führten sie die neue Schwägerin die Treppen hinauf. Fritz Wiskotten, als letzter, pfiff einen Marsch, und Paul markierte gedämpft die Tschingdatrommel. Wilhelm Wiskotten, sehr rot, öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Da saßen bei der Lampe, friedlich und selbstsicher, die alten Wiskottens mit Gustavs Frau, Emilie, beieinander.
Die am Tisch hatten sich erhoben. Lächelnd und ohne Scheu sah Miß Mabel White zu der alten Frau in der schwarzen Spitzenhaube auf. Langsam streckte Frau Wiskotten die Hände nach ihr aus. »Der Herr segne deinen Eingang, mein Kind.«
»Wollen Sie mich nicht küssen ...?«
Die alte Frau stutzte, aber sie beherrschte kalt ihre Verlegenheit und küßte sie feierlich auf die Stirn.
»Du mußt ›du‹ zu mir sagen.«
»Gern, Mutter.«
»Und hier ist der Vater«, drängte Wilhelm Wiskotten, der sich bei der patriarchalischen Bewillkommnung unbehaglich fühlte.
Der alte Wiskotten war sehr gerührt. In seinen Augen schwamm es verdächtig. Das bemerkte das schöne Mädchen auf der Stelle, und ohne zu fragen legte sie ihm die Arme um die Schultern und küßte ihn auf den Mund.
In des Alten Mienen wetterleuchtete es. »Staatsmädchen«, nickte er Gustav zu, der Miß White und seine Frau miteinander bekanntmachte. Emilie tat sehr förmlich. Der einfache Anzug der Fremden war von so elegantem Schnitt, wie ihn keine Barmer Schneiderin herausbekam. Sie erschien sich in ihrem neuen Kleide diesem selbstverständlichen Geschmack gegenüber wie eine Provinzialin und fühlte sich zurückgesetzt, ohne von sich dazu beizutragen, durch weibliche Anmut und herzliches Entgegenkommen schnell den Ausgleich herbeizuführen. Sie überließ es der Schwiegermutter, das neue Familienmitglied zunächst einmal in sein Zimmer zu führen.
Gustav sah sie mit großen Augen an. »Gefällt sie dir nicht?«
»Dir wohl desto mehr?«
»Vatter is doch auch ganz Feuer und Flamme.«
»Natürlich. Um mich bekümmert sich kein Mensch.«
»Nun hör aber mal, Emilie. Heute ist doch Wilhelms Braut Mittelpunkt. Das ist doch selbstverständlich.«
»Gewiß doch. Ich denk' mir ja auch nur mein Teil.«
»Emilie«, sagte Gustav Wiskotten leise, »du brauchst dich neben Wilhelms Braut nicht zu verstecken. Weiß Gott, du kannst dich sehen lassen. Aber diese ewigen verbitterten Mundwinkel machen dich um zehn Jahr' älter. Wenn du das doch endlich verstehen wolltest.«
»Geh, häng dich doch an sie!«
Fritz kam herbeigeschlendert.
»So ein Liebespaar färbt wohl ab? Könnt ihr eure Intimitäten nicht zu Hause betreiben? Unsereins kriegt en ganz schwachen Magen bloß vom Zusehen.« Er nahm Emilie um die Mitte. »Gib mir mal en Kuß, Kind.«
»Laß mich doch mit deinen Albernheiten zufrieden, Fritz.«
Er zog rasch die Hände zurück. »Herrje! – – Mabelchen is viel netter.«
»Mabelchen – –«, spottete sie ihm nach. –
Der Tisch war heute im Nebenzimmer gedeckt, die Speisenfolge eine reichhaltigere. Das Dienstmädchen machte ganz stolze Augen, als es die Herrlichkeiten servierte. Die beiden alten Wiskottens saßen nebeneinander auf dem Sofa am Kopfende des Tisches, rechts von ihnen hatte das Brautpaar seine Plätze, links Gustav und Emilie. Die übrigen Wiskottens schlossen sich zu beiden Seiten an. Mabel White sprühte vor Vergnügen.
»Wieviel große Söhne du hast, Mutter. Wird dir nicht bang unter all den Männern?«
Frau Wiskotten schüttelte den strengen Kopf. »Bange? Die werden schon Respekt haben.«
»Wir sind heut nicht vollzählig«, rief Paul Wiskotten von seinem Eckplatz aus der Schwägerin zu. »Einer fehlt.«
Jeder beschäftigte sich mit seinem Teller.
»Der Jüngste ist in Düsseldorf«, sagte Gustav Wiskotten ruhig. »Vorläufig gedenkt er Maler zu werden.«
»Oh – ein Künstler in der Familie ...?«
»Wir besorgen in der Familie alles selber, schöne Schwägerin. Was im Haus gearbeitet werden kann, wird gemacht. In der Hauptsache: Bänder, Litzen und Spitzen. Aber im Nebenberuf ist der Paul Dichter, der August ein halber Pastor und der Fritz Pferdekenner.«
»Und Wilhelm?«
»Im Nebenberuf?«
»Wenn ich Wilhelm wäre, würde ich zunächst mal den Hauptberuf aufgeben.«
»Sie sind galant«, lachte sie. »Und was ist Ihr Nebenberuf?«
»Wenn Sie meine Frau fragen, wird sie Ihnen antworten: Haustyrann!«
»Ach, ich glaube, den läßt man sich schon gefallen. Hab' ich recht, gnädige Frau?«
Emilie Wiskotten tat, als ob sie nicht gemeint wäre. Mutter Wiskotten hob erstaunt den Kopf und blickte Wilhelm an. Der kraulte verlegen sein Backenbärtchen.
»Ja, Mabel, nun werdet ihr wohl ›du‹ sagen müssen. Eine ›gnädige Frau‹ gibt's für dich am Familientisch nicht. Emilie ist die ältere. Sie wird dir das Du gern anbieten.«
»Wollen Sie, Frau Emilie?«
»Gern!« Sie hob ihr Glas. »Ich kann nur Ihren Namen schwer aussprechen.«
»Ma-bel! Und du heißt E-mi-lie!«
»Kuß! – Kuß! – Kuß!« riefen im Takt die jüngeren Wiskottens.
Mabel White schaute sie lachend an. Dann raffte sie ihr Kleid zusammen und lief um den Tisch zu Emiliens Platz. »Ah – –!« tönte es im Chor, als man den Kuß vernahm.
»Nur, weil Sie einmal hier sind, und um Zeit zu sparen«, sagte Gustav Wiskotten und stand mit seinem Glas neben ihr. » Time is money. Wollen wir?«
»Muß – ich – alle küssen?« fragte sie mit lachendem Erschrecken.
»Alle! Alle!« riefen die Wiskottens.
Gustav nahm sie um und küßte sie herzhaft auf den Mund. ›Was die für merkwürdig weiche Lippen hat‹, dachte er, ›zum Träumen weich.‹ Dann überlieferte er sie den Brüdern, die sie mit Freudengeschrei entgegennahmen. Selbst August vergaß seine Würde und kämpfte um die Priorität. Paul behauptete, im Haupt- und im Nebenberuf mit ihr Brüderschaft trinken zu müssen. Da er sie bestimmt andichten würde, könnte er sie in seinen Versen unmöglich mit »Sie« anreden. Nun verlangte auch Fritz, daß der Sportsmann in ihm besonders gewürdigt würde, und August vertrat energisch die Forderungen der Kirche in der Nächstenliebe. Man wollte das schöne Mädchen überhaupt nicht mehr hergeben. »Gustav, die Musterkarten für England sind doch fertig? Laß den Kerl, den Wilhelm, doch auf der Stelle abreisen! Der verträumt hier die ganze Konkurrenz!«
Aber dem Bräutigam schien doch die Konkurrenz am Platze gefährlicher zu sein. Selbst sein mühsam anerzogenes Engländertum ließ er außer acht. »Glaubt ihr, ich hab' mich für euch angestrengt, die Mabel zu bekommen?«
»Du bist auf unsre Kosten nach England gereist!«
»In die Reisespesen dürfen wir uns teilen! Könnt' dir passen, alter Sohn!«
»Demnach gehört die Mabel der Firma Gustav Wiskotten Söhne! Sag selbst, Mabel ...!«
»Hurra! Sie will sich auslösen!« –
Endlich saß sie wieder, tiefatmend, an der Seite ihres Bräutigams. Ihre Augen blitzten übermütig. Alles an ihr war Lebenslust und Freude an der Gesundheit, der Ursprünglichkeit um sie her. Und ihre eigne Gesundheit fand sich wohl dabei.
Emilie Wiskotten schaute starr vor sich hin. So hatte man ihr nie gehuldigt. Und sie war so schlank und kraftvoll wie jene da. Und ihr Haar war schöner und reicher. Wenn sie es löste, könnte sie sich darin einhüllen. Es würde keinem auffallen, dachte sie bitter.
Woher nahm die Fremde die Kunst, die Herzen zu erobern?
Eine Leuchte an Geist war sie auch nicht, und das Ausländische tat's nicht allein.
Und mit dem Instinkt des Weibes spürte Emilie Wiskotten, daß die andre mehr Weib war, weiblicher in Tugenden und Fehlern, leichtlebiger, koketter, wandlungsreicher, aber auch elastischer, hingebungsfreudiger und mitreißender. Daß da kein Nerv war, der nicht darauf brannte, sich mit dem Manne zu messen, festen Willens, sich zu ergeben, aber erst, nachdem er die ganze Skala der Leidenschaften, von der Sehnsucht bis zum Jubel, wachgerufen und erschöpft hatte. Daß diese Frau immer zuerst Frau, immer zuerst schön, immer zuerst begehrenswert und nie einen Tag wie den andern sein würde. Stets das Weib, die Genossin des Mannes, und stets ein neues Weib. Und es war Emilie Wiskotten, als ging von der Fremden das geheimnisvolle Parfüm aus, das die Herzen der Männer froh macht wie die Blume des Weins, ihre Wangen rötet und ihren Augen knabenhaft heißen Glanz gibt.
Besaß sie das Geheimnis nicht auch? Besaß es nicht jede Frau?
Es war ihr unbequem, sich darauf zu besinnen. Denn es gehörte noch etwas dazu. Die Heiterkeit eines starken Herzens.
Mit Vater Wiskotten unterhielt sich Mabel über den eignen Vater.
»Als du noch gar nich auf der Welt warst, standen wir schon in Geschäftsverbindung«, sagte der alte Wiskotten stolz. »Er war mein erster überseeischer Kunde.«
»O je«, machte Mabel, »da wirst du nicht viel an ihm verdient haben. Damals hatte er nur ein kleines Kontor.«
»Was, Mutter, wir haben auch nicht gleich mit mehrhundertpferdigen Dampfmaschinen angefangen?«
»Vater hat auch sehr schwer zu arbeiten gehabt, bis er oben war.«
»Und ich, Kind«, sagte der alte Wiskotten vergnügt, »hatte noch bis vor ganz wenigen Jahren ein paar Gesellen, von denen ich in der Jugend selber Ohrfeigen bekommen hab', wenn ich ihnen als Lehrling nich schnell genug et Bier aus der Wirtschaft holte.«
»Oh, das ist schön!« rief Mabel.
»Sieh mal, Vatter«, lachte Gustav, »wie sich deine Schwiegertochter freut, dat du mal Wichse gekriegt hast.«
»Nein«, sprach sie entrüstet, »daß du sie alle untergekriegt hast!«
»Daran is Mutter schuld«, sagte der Alte. »Die hat ihnen aus dem richtigen Gesangbuch vorgelesen.«
»Wirst du mir auch daraus vorlesen, Mutter?«
Die alte Frau konnte sich in den neckenden Ton nicht gleich hineinfinden. »Wenn du et nötig hast, Kind? Ich will et nich hoffen.«
Lärmend stimmten die jüngeren Wiskottens zu. »Mabel muß den Kopf gerad' so gewaschen bekommen wie wir. Aber wir müssen dabei sein!«
Sofort nahm sie das Gefecht auf. »Das ist nicht gentlemanlike. Ihr seid schadenfrohe Menschen.«
»Ganz egal! Wenn du nur weinst, Mabel! Und wenn wir dir dann die Tränchen trocknen ...«
»Und wenn Wilhelm mich schlecht behandelt?«
»Kriegt der Wilhelm das Jäckchen voll.«
»Und wenn er mir nicht den Willen tun will?«
»Läßt du den langweiligen Kerl laufen und kommst zu uns. Bei uns hast du allemal recht.«
»Hörst du, Wilhelm?«
Der Bräutigam hatte eingesehen, daß hier deutsche Gründlichkeit den Kurssieg über alle englisierende Reserviertheit endgültig davontragen würde. Bevor sie sich zur Wehr setzen konnte, hatte er ihren Kopf erwischt und sie schallend auf den Mund geküßt.
»So!« sagte er. »Gesegnete Mahlzeit.«
Sie sprudelte ein paar englische Sätze. Die Verwirrung kleidete sie zum Entzücken. In dem Geräusch des Stühlerückens ging ihr Protest verloren, und sie trat, um ihrer Verlegenheit Herr zu werden, schnell hinter ihren Verlobten. Aber Fritz und Paul Wiskotten standen schon neben ihr. »Gesegnete Mahlzeit«, sagten beide in dem kindlichsten Tone, der ihnen zu Gebote stand, und breiteten die Arme aus, als ob es sich um eine liebe Tante handelte.
Da warf sie, mit frisch erwachter Kampflust, hoheitsvoll den Kopf zurück und reichte den begehrlichen Schwägern die Fingerspitzen zum Kuß.
Verdutzt schauten sich die Brüder an. »Na, nu los, Paul.« »Los, Fritz!« Und wie zwei ungezähmte Wölfe warfen sie sich auf die kleinen festen Hände.
»Ich ernenne euch zu meinen Rittern.«
»Raubrittern!« schrien die beiden wie aus einem Munde.
Der Bräutigam mußte mit einem Donnerwort dazwischen fahren.
»Morgen werde ich die Fabrik besichtigen«, entschied das schöne Mädchen. »Wer wird mich führen?«
Da erklärte sich selbst Vater Wiskotten bereit. »Meine Füße sind wieder ganz schön zu Gang.«
Man kam überein, daß der Rundgang mit den Damen am Nachmittag stattfinden sollte. Und als es Mitternacht schlug, erklärte Frau Wiskotten ruhig: »Wenn jetzt nich geht, wat nich in 't Haus gehört, dreh' ich die Lampen aus.«
»'raus Wilhelm! Nu mach doch schon! Wir sind hier in einer guten Familie.«
Der Bräutigam hatte für die Spöttereien nur ein mitleidsvolles Lächeln. Sein Logis war für die nächsten Wochen im Hause Gustavs. Er sagte den Eltern gute Nacht und küßte aufmerksam seiner Braut die Hand. Die jüngeren Wiskottens drängten hinzu.
»Is dat alles?«
Wilhelm maß die Brüder mit einem geringschätzigen Blick und ging, um sich Gustav und Emilie anzuschließen.
»Sei still, Mabel«, trösteten die Zurückbleibenden, »wir werden das gleich nachholen.«
»Riskiert's!« drohte das Mädchen und huschte behend hinter Mutter Wiskotten in ihr Zimmer. »Gute Nacht, Vater«, rief sie durchs Schlüsselloch.
»Gut' Nacht, Töchterchen.«
»Gute Nacht, August. Gute Nacht, ihr Raubritter. Träumt von mir!«
»O du Wetterhexe! Wart, morgen!«
Drüben verlor sich ein silbernes Klingen ... Der alte Wiskotten und seine Söhne blickten sich an. »Staatsmädel«, schmunzelte der Alte.
»Weiß der Deubel«, erwiderte August.
»Herrgott, der August flucht ja – –?«
Über August Wiskottens gefurchte Stirn glitt eine Röte. »Gute Nacht«, sagte er kurz. »Wenn wir morgen nachmittag feiern wollen, haben wir uns morgen vormittag doppelt zu rühren. Geschenkt wird keinem von euch was.«
»Haben wir dich gefragt, Schulmeister?« –
Nach einer halben Stunde herrschte Ruhe und Frieden im Hause der alten Wiskottens. – –
»Rauchst du noch eine Zigarre?« fragte Gustav daheim seinen Gast.
»O bitte, auf mich braucht keine Rücksicht genommen zu werden. Ich leg' mich inzwischen schon.«
»Nur ein paar Züge, Emilie«, sagte Wilhelm und wünschte ihr gut zu ruhen. »Ich bin auch todmüde.«
Gustav kam aus dem Kinderschlafzimmer. Er lachte. »Sie schlafen wie die Ratzen. Der Jung' die Faust an der Nase, und das Mädel den Daumen im Mund. Ich komme in fünf Minuten hinüber, Emilie.«
Die beiden Brüder gingen rauchend auf dem Teppich auf und ab. Eine Viertelstunde. Dann warf Gustav sein Zigarrenende in den Aschenbecher. »Gib mir nochmal die Hand, Wilhelm. Zu der Frau muß ich dir heut abend extra Glück wünschen. Siehst du, das war's, was den Wiskottens immer gefehlt hat. Frisch Blut von draußen. Eine Frau, die Leben in die Bude bringt. Wir versimpeln ja sonst auf die Dauer in der ewigen Fabrikstimmung.«
»Ich wußt' ja, daß sie dir gefallen würde.«
»Schlaf wohl.«
»Du auch.«
Emilie wachte noch, als Gustav ins Schlafzimmer kam. »Habt wohl noch ein bißchen von der Lady geschwärmt –?«
»Ja, wirklich, das ist sie. Bei all der scharmanten Lustigkeit immer Dame.«
»Hat ja auch nichts andres zu tun.«
»Scharmant kann man selbst mit einem halben Dutzend Kinder sein.«
»Das soll wohl auf mich gehen? Jede kann nicht mannstoll sein.«
»Emilie! – Ich darf dich wohl bitten, dich in deinen Ausdrücken etwas zu mäßigen. Diese beständige Scharfmacherei wird dir ja zur zweiten Natur.«
»Ach Gott, halt du doch den Mund. Du bist ja schon bis über beide Ohren verliebt in sie.«
»In sie nicht, aber in ihre Art.«
»Was willst du denn überhaupt noch von mir?«
»Daß du dich ein wenig von ihr anstecken läßt. Herrje, bei deiner Jugend kann dir das Lachen und Singen doch nicht schwerer fallen als das Mucksen und Drucksen. Nimm doch mal einen Anlauf!«
»Ich bin dir wohl nicht mehr gut genug? Sag's doch gerad' heraus, daß du mich leid bist. Daß du mich los sein möchtest. Ich geh' ja schon. Ich hab's überhaupt satt.« Sie weinte zornig in die Kissen. »Laß mich in Ruh'!« fuhr sie auf, als er begütigend die Hand auf ihre Schulter legte. »Ich bin deine Mabel nicht, die sich von jedem anfassen läßt. Deine scharmante und so hochgebildete Mabel!«
Gustav Wiskotten zog die Hand zurück. Er mußte an sich halten, um in diese lächerliche Verzogenheit und Verschrobenheit nicht mit einem Wetter hineinzufahren. Und er versuchte einen trüben Scherz.
»Bildung ist nicht immer ein Kulturfortschritt. Sie kann auch die Entwicklung hemmen. Diese verdammte Bildung hindert einen zuweilen, den andern zu seinem eignen Besten mal windelweich zu prügeln.«
»Vergreif dich nur an mir! Dann kannst du dich ja deiner Mabel gegenüber auf den armen Mann hinausspielen.«
»Donnerwetter, jetzt hab' ich genug.«
»Ich hab' schon lang' genug.« Und sie weinte laut in ihre Kissen. – –
Lange lag Gustav Wiskotten wach. An seiner Seite war es still geworden. Die Dunkelheit lastete so schwer im Zimmer, daß sie seine Brust bedrückte und er die Decke zurückschlug, als könnte er dadurch freieren Atem gewinnen. Aus der Ferne hörte er das einförmige Rauschen der Wupper, die ihre schwarzen Arbeitswasser Tag und Nacht über das Wehr stürzte. Vom Fabrikhof herauf klang der Schritt des Wächters, der die Runde machte. Dann verlor er sich ... Gustav Wiskotten überlegte, daß der Wächter jetzt die neue Färberei umschreiten würde, die in den nächsten Tagen in Betrieb genommen werden sollte. Die würde Arbeit machen. Neues Färberpersonal war hinzuengagiert. Hoffentlich schlug's ein. Fritzens Erfindung sollte nun im großen ausgebeutet werden. Emiliens Vater, der alte Scharwächter, würde Augen machen. Der fabrizierte das billige Zeug, eine Ramschware in gemusterten Seidenbändern, die reißenden Absatz fand. Nun, man konnte sich wegen der Kundschaft einigen, wenn's so weit war. Es kam ja auch so Emilien zugut. Emilie ... sie schlief. Und er wachte und dachte ans Geschäft, krampfhaft immer nur ans Geschäft. Ob das nie, nie anders werden würde? Durch seine Glieder ging ein Strom, der zum Herzen drang und es zusammenpreßte. Seine Hände öffneten und schlossen sich. Und seine Augen bohrten sich starr und weit ins Dunkel ... Und plötzlich zuckte er zusammen und horchte in sich hinein. Es war gewesen, als ob jemand in ihm schrie. Ganz wild vor Sehnsucht! Und ganz wirr vor Sehnsucht. Wie ein todmüder Arbeiter nach Feierabend. Feierabend? Er betastete seine eisernen Arme. Die verlangten nicht nach Feierabend. Die waren für zwei Menschenalter geschmiedet. Aber lag denn seine Seele in den Armen? Konnten seine Arbeitsfäuste auch seine Sinne zerdrücken? Und jetzt hörte er, daß seine Sinne schrien. Aus dem Kohlendunst und Arbeitsstaub der Fabrik hinaus nach einem Quell, sich die Augen zu baden. Nach Schönheit, seliger Tollheit, flatternden Frauengewändern, huschenden Füßchen, winkenden und wehrenden Armen und plötzlich berauschenden Weibeslippen. Nach dem Jungsein! Nach der Freude! Nach einer andern Welt – irgendwo, irgendwo – –
Seine Augen brannten. Ihm war, als lägen sie in ganz tiefen Höhlen, aus denen die Backenknochen hart hervorragten.
Freude am Weib! In der Welt des Weibes!
Da lag sein junges Weib. Schön wie ein Marmor. Geschaffen, froh zu machen. Und ihre Gedanken liefen in kleinem Kreise, nüchtern und mürrisch. Eine Frau, die mit der Ehe ihre Jugend abschließt und vom Manne das gleiche verlangt. Eine Ehefrau. Und kein Lebenskamerad – in gemeinsamer Jugend – –.
Durch die Fenstervorhänge kroch grauer Tag. Regen schlug an die Scheiben. Der erste Novembersturm kam vom Wald.
Früh um Sieben ging Gustav Wiskotten hinüber zur Färberei. Er nahm im Arbeitsraum ein kaltes Bad. Das verjagte die Nachtgespenster. Dann frühstückte er mit seinem Bruder Wilhelm.
»Bist wohl heut zur Arbeit nicht aufgelegt? Grüß mir Mabel.«
»Ich werde erst kurz vor Mittag hinübergehen. Weißt du, Mutters wegen. Damit die sich schneller gewöhnt.«
»Na, dann komm aufs Kontor. Die Post wird da sein.«
In den Vormittagsstunden hatte Gustav Wiskotten eine geheime Unterredung mit Kölsch. »Wird besorgt werden, Herr Wiskotten. Um alle Tore Girlanden.« Der Fabrikherr lächelte in sich hinein, während er weiterschritt, um seinen Dienst wie alle Tage zu versehen. Aus der neuen Färberei drang lustiger Hammerschlag. Der zog ihn an. Und bald stand er zwischen Röhren und Kufen wie ein Feldherr unter seinem Kriegsmaterial.
Der Regen ließ auch am Nachmittag nicht nach. Am Fabriktor erwartete Gustav Wiskotten die Damen mit einem gewaltigen Regenschirm. Emilie wünschte sich später anzuschließen. Sie hätte keine Lust, als Ehrenjungfrau zu paradieren.
Heute wollte sich Gustav die Laune nicht verderben lassen.
Da kamen sie: Vater, Mutter, Mabel und die Brüder. Mabel im langen Regenrock mit Kapuze. Ein paar Weiber stierten staunend hinter ihr drein. Kein Mensch im Wuppertal trug so ein Ding ...
»Guten Tag, Gustav«, rief sie schon von weitem und schwenkte die Hand. »Ah, die Tore sind geschmückt! Du bist ein so aufmerksamer Schwager, daß du mich wirklich zur Schwägerin verdienst.«
Er schüttelte ihr kräftig die Hand.
»Leider konnt' ich nicht für besser Wetter sorgen.«
»Das Wetter ist gesund.«
»Muß wohl so sein. Denn bei diesem Wetter kommen im Wuppertal die meisten Kinder auf die Welt.«
»Gehört das zum guten Ton?«
»Es ist die Wahrheit. Frag Mutter. Hier kommen alle Kinder mit Gummischuhen auf die Welt und mit dem Gesangbuch.«
»Red doch nicht so Dummereien«, verwies ihn Frau Wiskotten ärgerlich. Der alte Wiskotten lachte.
Die Besichtigung begann mit den Kontorräumen, die musterhaft eingerichtet waren. »Augusts Reich«, sagte Gustav Wiskotten, »und dort hinten, wenn's keiner sieht, dichtet der Paul.«
»Hast du mir das versprochene Gedicht schon gemacht?«
Paul hob beschwörend den Finger. »August zieht's mir am Lohn ab.«
Durch Buchbinderei, Lithographie und Druckerei ging's zu den Haspelstuben. Die Mädchen und Frauen saßen schweigend bei der Arbeit. Ein junges Ding schielte empor, wurde rot, beugte sich vor und kicherte. Schweigend gab ihr Gustav eine Kopfnuß. Da brach das Kichern ab.
»Hier regiert Mutter. Wer es nicht an der Ordnung sieht, sieht es an der Bibel.«
Respektvoll sah das schöne Mädchen zu der alten Frau auf.
»Mit Gott fang an, mit Gott hör auf«, sagte die trocken.
Durch die Packstuben ging es zu den Bandstühlen. Die schnurrten, sausten und schlugen um sich, als wüßten sie sich vor Vergnügen nicht zu fassen. Gustav erklärte dem Gast die Fabrikationsmethode und ließ sie an einem der Stühle die Handgriffe machen. Sie freute sich wie ein Kind, als die Garne sich verschlangen und langsam ein Stückchen Band herausgekrochen kam. Ritterlich schnitt ihr Verlobter es ab und barg es in der Brusttasche. Sie nickte ihm mit leuchtenden Augen zu.
Rohgarne und fertige Ware wurden besichtigt, und dann rannten die Jungen, tollend wie Kinder, durch den strömenden Regen zur Färberei. »Hier bin ich der König!« schrie Fritz und riß die Türe auf. – »Das ist ein Nebelreich!« rief das Mädchen und schlug mit der Hand in den dicken Dampf. – »Dir zu Ehren! London im kleinen! Heimatgrüße!« – Die Färber grinsten, strichen sich die hängenden Schnurrbärte und arbeiteten unverdrossen weiter.
Wieder öffnete sich die Tür. Es war Emilie. In dem dichten weißen Qualm konnten die Schwägerinnen kaum ihre Umrisse erkennen.
»Nachher hol' ich die Begrüßung nach!« rief das fröhliche Mädchen.
»Jetzt zum Laboratorium!« schrie Fritz, um sich in dem Lärm der Dampfröhren und Färberknüppel verständlich zu machen. Mabel White jauchzte vor Vergnügen. Das mächtige Arbeitsgetriebe, diese niegesehene Welt regte sie auf. Alle Muskeln spannten sich, als wollten sie sich betätigen. »Vorwärts, vorwärts!«
»Achtung!« donnerte eine Stimme aus dem Schwaden. Und brausend stürzten die Wasser aus einer Kufe und überschwemmten den Steinboden.
»Konnten Sie nicht warten?« donnerte Fritz zurück.
»Nee. Ging nich!«
»Wie sollen wir nun durch den See kommen?«
»Im ›Eckehard‹ trug der fromme Klosterbruder die schöne Herzogin über die Schwelle«, schrie Paul. »Wer wagt es, Rittersmann oder Knapp'?«
Gustav Wiskotten beugte sich nieder. Wie eine Feder hob er das lachende Mädchen auf und trug sie durch siedendes Wasser und zischenden Dampf hindurch und die Stiege zum Laboratorium hinauf. Mit dem Fuß stieß er die Tür auf.
»Siehst du, jetzt hab' ich auch einen Nebenberuf. Gestern abend bin ich zu kurz gekommen.« Sie faßte seinen Schnurrbart und küßte ihn auf den Mund. »Zufrieden?«
Er setzte sie nieder. Emilie stand in der Tür. Nur eine Sekunde. Und er hörte sie die Stiege wieder hinabeilen.
Nun drängten die Brüder herein.
»Hast du auch deinen Lohn, Gustav?«
»Ich hab' ihm einen Kuß gegeben.«
»Das läßt du aber gefälligst sein!«
»Wenn du eifersüchtig bist, bekommt er noch einen."
»Sei eifersüchtig, Wilhelm«, bettelten Paul und Fritz.
Gustav Wiskotten blickte noch immer nach der Tür. Er sah dort noch immer ein junges verzerrtes Gesicht. »Habt ihr – Emilie nicht gesehen – –?«
»Sie ist nach Haus. Hat Kopfschmerzen.«
Mit halbem Ohr hörte Gustav Wiskotten, wie Fritz der Schwägerin stolz die Laboratoriumserklärungen gab. »Hier werde ich stehen und grübeln und brüten, bis ich dir ein paar Reitpferde herausdestilliert habe. Du darfst dich bereits freuen, Mabel. Mehr sag' ich nicht.«
Sie nickte ihm strahlend zu und blickte dann erschreckt auf Gustav. Wie sah der starke Mann plötzlich verfallen aus.
»Ist dir nicht wohl?« fragte sie leise und nahm seine Hand.
Die Brüder schauten auf. »Nanu, Gustav – – du wirst doch nicht –?«
»Unbesorgt – die dicke Luft – wenig geschlafen die Nacht.« Er atmete tief. »So, nu is schon vorüber. Besten Dank, Schwägerin.«
Ihre mitleidsvollen Augen hatten ihm das Gleichgewicht wiedergegeben. Nur keinen in sich hineinsehen lassen. Er biß sich auf die Lippen.
Die Brüder brachten Mabel und die Eltern nach Hause. Er blieb in der Fabrik. Dann schrillte die Dampfpfeife. Feierabend!
Mit müden Schritten ging er ins Haus. Auf dem Tisch im Eßzimmer lag ein Zettel von Emiliens Hand.
»Ich bleibe die Nacht mit den Kindern beim Vater. Morgen mehr.«
Er war tief erblaßt. Dann lief eine leise Röte über seine Schläfe, verstärkte sich, überzog die ganze Stirn und brannte bis in den Nacken. Der Zettel knisterte in seiner Hand und rollte sich zwischen den mahlenden Fingern zur steinharten Kugel. Er griff, ohne zu wissen weshalb, nach der Mütze. Als er sie in die Stirn zog, fiel ihm ein, ins Freie zu gehen. Und er ging. Der Regen strömte mit neuer Kraft. Keine Hand vor Augen war zu sehen. Nur am Brausen des Wehrs merkte er, daß er an der Wupper stand. Das Wasser des schwarzen Arbeitsstromes leckte ihm wie ein treuer Hund die Stiefel.
Da rang sich ein Laut aus seiner Kehle, ein einziger nur. Ein kurzes, jähes Hohnlachen. Vom Wind über die Wasser verschlagen ...
Die schwarze Wupper leckte aufs neue über seine Füße.
»Ja, ja«, beschwichtigte er sie wie einen Hund, »wir beide. Wir beide passen zusammen.«
Seine Augen hatten einen harten Blick, als er in der Nacht, bis auf die Haut durchnäßt, vom Fabrikhof her ins Haus ging.