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Erstes Buch

1

»Feierabend, meine Herren!«

Lautes Gelächter von draußen. Rütteln an der Türklinke. »Aufgemacht, Oweram, wir woll'n ja nur dat Dröppelbier!«

»Dat laßt euch man geben, wo ihr heut abend Zeche gemacht habt. Meins is zu schad'.«

»Oweram, Neidhammel, andre Wirte zahlen auch Steuern!«

»Oweram, wir fangen ja erst an! Dat dicke Ende kommt erst!«

»Herr Abraham Schulte, Sie sollten im Fischertal Kaffee kochen. Zum Bierwirt fehlt Ihnen das Verständnis.«

»Geben Sie die Konzession zurück. Morgen is Stadtrat.«

»Auf!«

Da öffnete sich knarrend die Haustür, und auf der Schwelle erschien die vierschrötige Gestalt des Wirtes, hemdärmelig, die Fäuste in die Seiten stemmend. Um den Hals lief ihm ein grauer Bart wie eine Krause. Ein paarmal zwinkerten seine Augen. Dann sahen sie scharf ins Dunkel.

»Na also ... Wer von den Herren möchte denn nu zuerst in die Wupper? Donnerkiel, ek schmiet en 'rin, wenn noch eener dat Muhl opdöht.«

Der Kreis der Sechs auf dem schmalen, vom tauenden Schnee schlüpfrigen Bürgersteig hielt sich still. Dann trat einer vor, groß und breitschultrig, mit übermütigen Augen im geröteten Gesicht, und strich schmunzelnd den blonden Schnurrbart.

»Oweram, ich opfere mich. Aber vorher wollen wir bei Euch da drin en Testament machen.«

»Jawohl! Das Testament! Wir sind die Zeugen ...«

»Kuck mal«, sagte der Wirt, ohne sich aus seiner Ruhe bringen zu lassen, »dat hätt' ich mir doch gleich denken sollen. Wenn einer in Barmen die Backen vollnimmt, muß et doch ein Herr Wiskotten sein. Und nu noch alle sechs! Da tu' ich ja en Christenwerk, wenn ich die von de Straße wegnehm'. Aber en bisken piano im Lokal. Erstens schläft meine Alte, und zweitens steh' ich mich nich gerade auf du mit der neuen Sorte Nachtwächter.«

Geheimnisvoll, auf den Zehen wandelnd, drückten sich die sechs durch die Haustür. Stramme junge Männer, der Älteste Anfang der Dreißig, der Jüngste noch nicht zwanzig.

»Warraftig«, staunte der Wirt, »die sämtlichen Herren Brüder. Selbst der Herr August.«

»Wieso: selbst ich?« Es war der Dritte in der Reihe, der einzige Schnurrbartfreie, denn auch dem Jüngsten sproßte schon der Flaum. Es zuckte nervös in seinem Gesicht, als er scharf die Frage stellte.

»Nu, nu«, beruhigte der Wirt. »Ich dacht' man bloß, weil heute Abendkirche war.«

»Das geht Sie – –«

»– – einen Dreck an. Stimmt! Un da is ja auch dat Nesthäkchen ...? Wat? Darf de auch schon nach Mitternacht Bier trinken?«

Die Tür war ins Schloß gefallen. Der Riegel saß. Der Älteste der Brüder blies sich die Feuchtigkeit aus dem blonden Schnurrbart, faßte mit der einen Hand den Wirt, mit der andern den Jüngsten, und schob sie Stirn an Stirn.

»So! Und nun bitt' ich mir Respekt und Bier aus! Hier bringen wir Ihnen die Hoffnung der Familie Wiskotten –«

»Ach nee, Herr Gustav, dat sind Sie doch.«

»Die Hoffnung der Familie Wiskotten! Dieser junge Mann hat heute sein Abiturientenexamen bestanden, während wir andern uns mannhaft mit dem Berechtigungsschein zum einjährig-freiwilligen Dienst begnügten. Was sagen Sie nun?«

»Donnerkiel ...«

»Jawoll: Donnerkiel! Ihretwegen, um Ihnen diese große Freude zu verschaffen, unterbrechen wir ein Familienfest, opfern wir unsre Nachtruhe, ziehen wir durch die glitschigen Straßen, riskieren wir Arm- und Beinbruch auf die Gefahr hin, daß ein etwaiger Unfall morgen von Übelwollenden häßlicher Trunksucht zugeschoben wird –«

»Nu aber: Pßt! Ich zapp' ja schon.«

»Endlich! – Mäntel aus, Jungens.«

»Schrei doch nicht so, Gustav.«

»Ach, August, wir sind doch hier beim Oweram und nicht im Evangelischen Vereinshaus.«

»Ich verbitt' mir das.«

»Ja, weshalb bist de denn mitgezogen? Doch, weil du so gut einen im Dach hatt'st wie wir. Also sei fröhlich mit den Fröhlichen! Wir haben nur einen Bruder, der das Abiturium gemacht hat, und wir kriegen auch keinen mehr.«

Der Zweitälteste und der Vierte der Wiskottens mischten sich ein. Beide waren mit peinlicher Sorgfalt gekleidet und frisiert. Der eine mit gepflegten englischen Bartkoteletts, der andre mit aufgebürstetem dunklem Schnurrbärtchen. Jetzt aber glühten beider Köpfe in der Farbe des genossenen Weins.

»Bier her, Bier – für des Königs schönste Leutnants!«

»Der englische Willem und der preußische Fritze! Tambour, schlag an!«

»Der Gustav spielt den Demokraten. Und hat sich selber zum Reserveonkel wählen lassen!«

»Gehört mal dazu; aber im Nebenamt. Prost, Kinder! Selbst der August – na, prost August – hat sich wählen lassen, weil er zum Feldkaplan doch nicht die nötige Vorbildung hatte. Und der Paul hat auch schon das Portepee, und daß der Ewald, wenn er dient, die Tressen heimbringt, das ist doch alles so selbstverständlich. Reserveonkel kann jeder werden. Was aber nicht jeder werden kann, das ist: eine Familie Wiskotten! Kerls, die sich untereinander egal zerren und prügeln möchten und doch aus Leibeskräften am selben Strang ziehen, wenn's gilt, einem Dritten die Zähne zu zeigen! Kerls, die da wissen, daß die Hauptsache ist: Arbeiter sein! Lustige, zähe Bandwirkergesellen! Barmer Fabrikanten aus Bewußtsein! Hurra hoch! Hoch! Hoch!«

Sechs Kehlen schrien sich fast heiser daran. Im Hintergrunde, den mächtigen Körper weit über den Schanktisch vorgestreckt, klatschte sich der Wirt die breiten Handflächen rot, bevor er die frischgefüllten Tulpengläser ergriff. Gustav Wiskotten hatte den langaufgeschossenen Abiturienten erwischt und hob ihn bei jedem »Hoch« mit steifen Armen hoch gegen die Stubendecke. Ein Bild des Übermuts und überschüssiger Kraft. Und Paul Wiskotten, der Zweitjüngste, sonst der Träumer unter den Brüdern, rüttelte den Älteren vorn an der breiten Brust, vor Begeisterung kaum imstande, die Worte hervorzustoßen.

»Mensch, von der Poesie hast du keinen Schimmer, und – und bist selbst die Poesie!«

»Ich – –? Bist du doll?«

Ein energisches Klopfen an der Haustür. Mit einer weitausholenden Handbewegung gebot der Wirt Schweigen. Alle Köpfe fuhren zusammen. Ein erwartungsfreudiges Horchen ...

»Heda! Feierabend!«

»Der neue Nachtrat«, wisperte der Wirt. »Nix wie Unruh' bringt die neue Polizei.«

»Bitte aufmachen!«

Der Wirt sah Gustav Wiskotten an. Der zwinkerte ihm zu. Da ging er und öffnete.

»Womit kann ich Ihnen dienen? Ausgeschenkt wird nix mehr.«

Den Helm ins Gesicht gedrückt, den Mantelkragen hochgestellt, trat der Mann ins Zimmer.

»Davon wollt' ich mich gerad' überzeugen. Was sind das für Gäste? Sie wissen doch, daß Ihre Schankkonzession nur bis Mitternacht reicht.« Und er nahm sein Notizbuch vor.

Gustav Wiskotten hatte ein paar Bleistiftzeilen auf die vor ihm liegende Tischkarte geworfen. Jetzt erhob er sich.

»Was ist das für eine Störung? Kennen Sie mich?«

Der Polizeidiener rückte sich zusammen. Das waren Kommandotöne.

»Jawohl, Herr Wiskotten.«

»Dann frag' ich Sie nochmals: Was soll die Störung?«

»Entschuldigen Sie, Herr Wiskotten. Aber der Wirt Schulte darf nach zwölf Uhr nachts nicht –«

»Was der Wirt Schulte nach zwölf Uhr nachts darf oder nicht darf, geht mich gar nix an. Das ist doch wohl sozusagen seine interne Angelegenheit. Im übrigen bilden wir hier eine geschlossene Gesellschaft mit Statuten. Da hat niemand was 'reinzureden.«

Der Polizist wurde unsicher. »Davon war uns bis heute nix bekannt ...«

Kopfschüttelnd wandte sich Gustav Wiskotten an seine Brüder, die mit der Miene tiefgekränkter Bürger um den Tisch saßen. »Er glaubt's nicht.« Und er nahm die Tischkarte auf. »Barmen, den achtundzwanzigsten Februar achtzehnhundertundneunzig. Stimmt's? Na, also! – Verein der Familie Wiskotten. Stimmt das? Oder sehen Sie hier einen andern als lauter Wiskottens? Weiter: Paragraph eins: Zweck des Vereins ist Donnerstag. Daß heute Donnerstag ist, werden Sie nicht bestreiten. Paragraph zwei: Außerdem bezweckt der Verein die Pflege eines edlen Hausgesanges für Wiskottensche Familienfeste. Dafür wollen wir sofort den Beweis antreten.«

Sechs Kehlen räusperten sich. Der Polizist wollte erwidern. Abraham Schulte legte ernst den Finger auf den Mund, denn die sechs Brüder Wiskotten hatten begonnen:

»An der Gartentü–a–ür
Hat mein Mädchen mi–a–ir
Sanft die Hand gedrückt.
Ach, wie ward mir da–o–a,
Als mir das geschah–o–ah,
Als mein Mädchen mi–a–ir
Sanft die Hand gedrückt.«

Dem Wächter der Nacht wurde es schwül. Er wischte sich die Stirn und grinste verlegen in seinen Helm, den er für ein paar Sekunden abgenommen hatte. Dann klappte leise die Tür. Das Lied war aus, der Wächter nicht mehr anwesend.

»Oh – ha!« lachte der Wirt und ließ den schweren Körper widerstandslos in einen Stuhl fallen, »oh – ha!« und wie ein fernes Echo grollte es noch einmal aus ihm, stockend, stoßend, atemlos: »oh – ha ...!« Und dann brach eine der wilden, urwüchsigen Stimmungen durch, wie sie nur das Wuppertal kennt, das schwer arbeitende, das Atem schöpfende.

Das Angelernte fiel. Der äußere Schliff, heimgebracht vom Militär, aus der Fremde, aus dem Verkehr mit vermögenden Geschäftsfreunden, weitblickenden Industriellen, vornehmen Bankfirmen wurde beiseitegeschoben wie ein lästiger Sonntagsrock, die gesellschaftliche Form nicht mehr berücksichtigt. Man war nicht unter Fabrikantensöhnen, die auf dem Textilmarkt der Welt ein gewichtiges Wort mitzureden hatten, man war unter den Söhnen des belgischen Landes, wie es die Väter gewesen waren, wenn sie – noch nicht die mit allen Kräften des Dampfes, der Elektrizität, der Großbetriebe arbeitenden Fabrikanten von heute – im blauen Kittel vom Bandstuhl, vom Riementisch, von der Färberkufe gekommen waren, um ohne Rangunterschiede breitbehäbig am Wirtstisch beisammenzusitzen. Derb, hanebüchen, mit saftigen Worten in plattdeutscher Mundart dreinschlagend, mit ererbten und verschärften Geschäftsinstinkten, aber mit weit offener Ehrlichkeit und ebenso unverwüstlicher Lebenslust wie Arbeitskraft.

Mit verstärkten Lungen schrien sich die Wiskottens an, schlugen auf den Tisch wie Arbeitsleute beim Kartenspiel, quittierten über jeden Witz mit schallendem Gelächter und tranken sich in mächtigen Zügen zu, als säßen sie noch immer in einer heimlichen Verbindung ihrer Gymnasiastenzeit. Allen voran Gustav Wiskotten.

»August, wenn's dein Gemüt nicht beschwert: Prost Rest!«

»Mein Gemüt? Jeder Arbeiter ist seines Lohnes wert, steht im Lukas.«

»Kinder, Kinder! August hat gesprochen! Es steht im Lukas! Oweram, Fuhlpelz, wo bliewwt dat Bier? August, der Arbeiter, ist seines Lohnes wert!«

»Wart du nur, bis du nach Haus kommst.«

»'raus mit der Sprache.«

»Ich mein' man bloß: deine Emilie wird dich dann auch deines Lohnes wert halten.«

»Gustav, deine Emilie! Hoch Emilia! Un ihr Pantöffelchen! Un die Gardine! Au weih –!«

Gustav Wiskotten hatte die Brauen zusammengezogen. Er trank sein Glas leer und setzte es hart nieder.

»Laßt das. Ich hab' doch auch wohl die Berechtigung, mich mal zu amüsieren. Oder arbeit' ich nich – Himmeldonnerwetter – soviel wie ihr andern zusammen? Wenn ich mich dann mal doppelt auslüfte –«

»Gustav, gerat nich in de Wolle!«

»Gustav, hier ist doch nich Emilie, daß du Verteidigungsstellung annimmst!«

»Ach, Quatsch. Ich hab' um zehn Jahr zu früh geheiratet. Weiß ich selber. Aber doch verdammt nicht, damit ihr eure Halunkereien besser treiben könnt? 's Geld wegschmeißen? Mit 'm Säbel rasseln? Heimlich Gedichte fabrizieren statt Bänder, Litzen und Kordeln? Da! Seht euch die Fäuste an. Wuppertaler Eigenmarke. Wiskottensch. Und nu haltet 's Maul.«

»Oha, wer schmeißt Geld weg?«

»Der August. Für lauter Missionen. Für lauter Heidenbälger in China, Afrika und Kamtschatka.«

»Was verstehst du von christlicher Fürsorge!«

»Nee. Tu ich auch nich. Mir ist et Hemd näher als der Rock. Macht doch mal erst im eignen Haus gründlich rein, statt die Nase in fremde Landkarten zu stecken. Wenn ihr die Gelder für äußere und innere Mission zusammenlegtet und damit unter den Einheimischen das Elend mit Stumpf und Stiel ausrottet, daß keine Arbeit mehr zu tun wäre: dann in Gottes Namen die Fahne entrollt und ins Heidenland! Aber nich eher. Hier brennt's, und dort löscht ihr. Sag ein Zitat, Abiturient!«

»Wirtschaft, Horatio!«

»Stimmt! Wirtschaft – –!«

»Gustav als Moralist! Gustav als Volkserzieher! He, du, und das Säbelrasseln?«

»Na, da haben wir gleich zwei Matadore. Wilhelm und Fritz. Zeigt mal her! Ihr habt ja schon 'ne schiefe Hüfte, reinweg vom Schleppsäbel!«

»Wir machen unsre Übungen mit wie ihr und jeder andre. Damit basta.«

»Und setzt sie zu Haus fort. Sehen die Kerls nicht aus wie verkleidete Leutnants! Wo ist denn der Stolz auf den blauen Arbeiterkittel von unsern Alten geblieben? Wir sind der Nährstand! Wir sind, so wie wir sind, Nummer eins!«

Der zweitjüngste Wiskotten war um den Tisch herumgekommen. Seine ernsten klaren Augen bettelten.

»Gustav, sieh mal, wir haben alle unsre Liebhaberei. Du liebst einen guten Trunk aus dem Becher, ich aus den Dichtern. Schadet das der Fabrik was? Nein. Aber uns würd' es als Menschen schaden, wenn wir's ließen, weil wir dann nicht mehr wir selber wären.«

»Schon gut«, sagte Gustav Wiskotten, »ihr habt alle recht.«

Da tönte in das Schweigen hinein des Wirtes Oweram Stimme.

»Wenn jet nich mehr supen wöllt, mahkt, dat jet no Hus kömmt. Hie is keen Freilogis!«

»Oweram, Bier!«

»Oweram, Sie sind schuld. Hätten Sie uns flotter zu trinken gegeben, hätt' das Gequassel nicht angefangen.«

»Oweram, en Ölsardine. Wat kost' die?«

»En Groschen, Herr Wiskotten.«

»Wat, so 'ne kleene?«

»Glöwen jet, Se könnten für Ihren lausigen Groschen en gebrodenen Schellfisch han?«

»Oweram on Isak
Zankten sich om 'n Zwieback,
Oweram konnt' hätter schlonn,
Isak, de mot lopen gonn ...«

höhnte der Chorus im Spottlied das Rededuell, ließ die Biergläser auf der Tischplatte rappeln und neuen Übermut durch Tür und Fenster. Noch einmal griff die Stimmung durch, als sei sie nie gestört gewesen. Bis der Abiturient mit aller Kraft zwei Worte in den Tumult rief:

» Die Mutter!!«

Ein Ruck – und alle standen auf den Beinen, sahen auf die Tür und dann langsam von einem zum andern. Bis Gustav Wiskotten mit einem Lachen, das zu laut war, um echt zu sein, das Schweigen löste.

»Unsinn. Wie soll denn die Mutter nachts zum Oweram in die Kneipe geschneit kommen?«

»Deuwel, aber en Schreck war et doch. Gustav is noch ganz blaß.«

»Da hat er noch lieber 'ne Pauke von Emilie.«

»Na, hab dich man nich. Du hast wohl keine Manschetten vor ihr?«

»Welcher Schafskopp hat denn gerufen? Der Ewald! Der will wohl die Buxe stramm gezogen haben.«

»Ich – – ich – –«

»Ach was, das sind keine Witze. De Mutter!«

»Das soll doch auch kein Witz sein. Ich wollt' se leben lassen. Unsre Mutter! Die Stammutter der Wiskottens! Von ihr an zählen wir doch erst die Ahnen. Wie?«

»Oweram, Bier! Nu aber fix!«

Aber sie tranken den Schoppen doch nur in respektvollem Schweigen. Und einer nach dem andern zählte, wie unbeabsichtigt, seine Zeche auf den Tisch. Und einer dieser selbstsicheren, unbekümmerten Männer nach dem andern zog die Uhr, gähnte auffällig und griff nach Hut und Überzieher.

Es war ihnen etwas in die Glieder gefahren. Sie waren alle ernüchtert.

»Gehst du mit, August?« sagte Gustav Wiskotten und erhob sich. »Morgen is en strammer Tag in der Fabrik. Un die verfluchte Grundstücksgeschichte muß nu auch erledigt werden.«

»Laß doch das Fluchen. – Ich geh' mit.«

»Gut' Nacht, Oweram. Geld stimmt wohl?«

»Gut' Nacht zusammen. Empfehlung an de Frau Mutter.«

»Bestellen Se die man selber, wenn Se wat op 'n Kopp han woll'n.«

Auf der Straße schlug man einen kurzen schweigsamen Marsch an. Das Tauwetter war noch einmal leichtem Frost gewichen. Der volle Mond beleuchtete weithin die hohen Schieferhäuser und lag mit gespenstischem Licht auf der schwarzen Wupper.

»Ich geh' noch mit Ewald auf den Berg«, sagte der zweitjüngste Wiskotten. »Ist das eine Mondnacht!«

Gustav Wiskotten zuckte die Achseln. »Müdigkeit in der Fabrik gibt's morgen nicht. Und – – stört Mutter nicht.« Das klang seltsam weich für den starken Mann ...

»Famos, Paul, famos«, sagte hastig der Abiturient, als sie von den andern abgebogen waren und die steile Werléstraße hinaufstiegen, »wie kann man jetzt zu Bett gehen; überhaupt: in solcher Mondnacht und solcher – solcher Stimmung. Du warst wieder der einzige, der das verstanden hat.«

»Wohl nur, weil ich nicht so viel zu denken hab' wie zum Beispiel Gustav.«

»Nein, du, das ist es nicht. Es ist – weil du eben auch über den Barmer Kram hinausdenkst.«

»Hinaus?«

»Dieser ewige gleiche Trott, diese fürchterliche Nüchternheit tagsüber, und des Abends diese laute Spießbürgerlichkeit beim Bier! Das ist doch ein geisttötendes Einerlei.«

»Du siehst es mit falschen Augen an. Du mußt nur den richtigen Standpunkt dazu gewinnen, und du siehst nur Leben, tausendfach drängendes Leben.«

»Siehst du es?«

»Ich seh' es. Und ich gehöre dazu.«

Eine Zeitlang schritten sie stumm nebeneinander her. Bis auf der Höhe der Straßenzug im Feld verlief, hinter dem der Wald stand. Weiß in seinem feinen, festen Schneeüberzug, geheimnisvoll leuchtend im Mondschein, zog der Pfad fernhin zum dunkeln Tannenstand, der ihn lautlos aufsog. Ein Hund schlug an. Das Waldwirtshaus Villa Foresta tauchte im Mondlicht träumend am Waldrand auf.

»Schau dich mal um, mein Junge.«

»Was denn, Paul?«

»Hier ist ein Auslug. Nun? Was siehst du jetzt?«

»Das Wuppertal. Barmen. Was mehr?«

»Mehr ist auch nicht notwendig. Das Fehlende hineinzutragen, ist unsere Sache. Kommst doch frisch von der Schulbank und hast deinen Goethe im Kopf. Nun? Was sagt der? ›Wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen.‹ Siehst du, das paßt auf nichts besser als auf die Heimat.«

»Hast du immer so gedacht, Paul?«

»Immer nicht. Man muß in die Liebe zur Heimat – hinreinreifen. Mit der richtigen Liebe aber wird das Schwerste leicht.«

»Wir können doch nicht alle dieselbe Liebe haben. Mein Geschmack ist anders.«

»Eine doch«, sagte Paul Wiskotten und starrte von der Berghöhe hinab in das lange, schmale Tal, das im Mondlicht schlief. »Die Heimatliebe ...«

Sie starrten beide hinab, und ihre Augen gewöhnten sich an das magische Licht, daß sie die Häusermassen unterschieden und die Türme der Kirchen und wie einen Mastenwald die dunkel ragenden Schornsteine. Hüben und drüben kletterten die Straßenreihen aus dem schmalen Talkessel an den Bergwänden hinan, auf denen, hüben und drüben, hoch auf dem Kamm, der schweigende Forst die Wacht hielt. Wie wohlgeborgen in eine Muschel gebettet lag das Tal, wie ein behütetes Schatzkästlein ...

Paul Wiskotten sprach es aus. Sein Stolz auf die Heimat machte ihn zum Schwärmer.

Ewald Wiskotten schüttelte den Kopf. »Die schwarze Wupper bringst auch du nicht weg.«

»Die schwarze Wupper ist der Segen des Tals. Gott sei Dank, daß sie schwarz ist.«

»Das ist doch eine komische Anschauung. Mein Schönheitssinn ist jedenfalls für das Klare und Reine.«

»Wenn die Wupper klar und rein wär', wären die Menschen im Tal faul und liederlich. Die schwarze Farbe ist das Ehrenkleid, das die Menschen ihr und sich gegeben haben. Es bedeutet: Hier wird gearbeitet! Hier wohnt ein werktätig Volk! Hut ab!«

»Und wo bleibt die Poesie? Ich halt's hier nicht aus.«

»Die Poesie ist die Arbeit. Nur das Leben kann lebendige Poesie sein. Du, wenn das da unten erwacht, wenn sich der langgestreckte Riese da unten den Schlaf aus den Augen wischt und plötzlich anhebt, sein Morgenlied zu pfeifen. Wenn sein Atem aus all den tausend Schloten da unten gen Himmel steigt und der ganze Organismus sich dehnt und reckt, Räder und Maschinen treibt, Köpfe und Hände in Bewegung setzt, aus dem Nichts Wunderdinge vollbringt und täglich, stündlich die hohle Hand wie einen Fernsprecher an den Mund setzt, um lachend über die ganze Erde, über Länder und Meere zu brüllen: "Hier Barmen-Elberfeld! Wer dort?" Ist das nicht Poesie? Ist das nicht ein Heldenlied? Das Lied von der Arbeit? Und siehst du: deshalb ist mir auch unser Gustav – ein Stück Poesie. Verstehst du nun?«

»Unser Gustav – –?«

»Ja. Hier im Wuppertal sind unsre größten Arbeiter unsre größten Dichter. Ein Künstler muß ein Schaffender sein. Herrgott, schau zu, wie der Gustav schafft. Was geht in seinem Kopf alles um an Schöpfergedanken, mit denen er eisern ringt, bis sie Taten geworden sind, bis sie neues Leben schaffen und Brot für das neue Leben. Ach nein, mein lieber Ewald, die Genies sitzen nicht nur auf dem Parnaß. Davon kann ich mitreden.«

»Du! Weshalb bist du nicht Dichter geworden – –?«

»Du hörtest ja von Gustav, daß ich Verse mache, und – wie er darüber denkt.«

»Der ist nicht maßgebend. Von dem, was die Seele bewegt, hat er ja keine Ahnung. Nur das Geschäft, das Geschäft erkennt er an. Aber keine Persönlichkeit.«

»Einzelne Persönlichkeiten laufen genug herum. Er nennt sie ›das Scheidewasser‹. Er hat Größeres im Sinn.«

»Ich weiß, ich weiß: die Größe der Fabrik.«

»Die Persönlichkeit der Familie.«

»Versteh' ich nicht. Ist auch paradox.«

»Heute will jeder eine ›Persönlichkeit‹ sein. Das ist doch ein Unding. Das zerreißt zum Schluß jedes feste Band und treibt uns der Auflösung entgegen. Ich sage dir, die Persönlichkeit der Zukunft wird die Persönlichkeit der Familie sein. Nur fester Zusammenschluß kann ein Geschlecht stark und dauerhaft machen und zum – Genie. Wir dürfen nicht alle glauben, Ausnahmemenschen zu sein. Aber wenn jeder in der Familie sein Stück Genie zu dem des andern legt, wird's auch ein Ganzes

»Und dieser nüchternen Weisheit ordnest du dich unter? Du mit deiner reichen Seele?«

»Gustav hat auch eine reiche Seele. Vielleicht die reichste von uns allen. Er kann ihr nur nicht so nachgehen und nachgeben, weil er alle seine Kräfte auf die Fabrik, auf unser aller Wohl konzentrieren mußte. Da brachte er seine Privatangelegenheiten zum Schweigen. Wenn das nicht Größe ist ...!«

»Ach Gott, und zu Hause? Bei sich daheim? Ist das Glück nun alle die aufgewandte Größe wert?«

»Still, Ewald. Darüber mußt du nicht sprechen. Als er mit wenigen zwanzig Jahren Emilie heiratete, handelte es sich darum, der Fabrik, die gerade im Aufschwung war, ein Fundament zu geben. Die Mutter sah es ein und auch Gustav. Und wenn das Leben in seinem Hause kein friedliches geworden ist – wir haben's ihm nicht nachzurechnen, sondern wir haben es ihm leicht zu machen, weil er, gerade dadurch, unser Leben leichter gemacht hat.«

Der jüngste Wiskotten sah finster vor sich hin.

»Ich hab' ihn nicht darum gebeten«, stieß er hervor.

»Ewald!«

»Was denn: Ewald!? Nein! Ich bedanke mich für sein Opfer, wenn ich mit darunter leiden soll. Ich denke nicht daran, es anzuerkennen, wenn er mir die freie Selbstbestimmung nimmt.«

»Dir? – Du kommst doch gar nicht in Betracht. Du wirst ja studieren.«

»Ich will aber nicht Theologe werden.«

»Du – willst nicht?«

»Nein! Ich will nicht! Und wenn Gustav sich auf den Kopf stellt. Er geht ja selber nicht zur Kirche.«

»Er respektiert den Lieblingsgedanken der Mutter. Für das, was die Mutter will, kann er sterben.«

»Sterben! Das kann ich auch. Aber nicht leben. Nicht so leben. Ich kann doch nicht bei lebendigem Leib zugrunde gehen!«

Er schrie es heraus. Seine Augen flammten. Sein ganzer Körper war in Aufregung.

»Ewald!«

Da fiel der junge Mensch dem wenige Jahre älteren Bruder um den Hals und schluchzte es heraus.

»Maler will ich werden, Maler! Die ganze Familie wird über mich herfallen. Wie über einen Verrückten. Als ob ich Landstreicher werden wollt', paß auf! Sie sollen es! Sie mögen es! Was verstehen sie denn im Wuppertal von Kunst? Paul, du verstehst sie, du verstehst mich! Du wirst mithelfen, wenn zu Haus der Tanz losgeht! Paul – –«

»Junge«, sagte Paul Wiskotten, »dummer Junge ...«

Er schüttelte den Kopf.

»Du willst auch nicht?«

»Die Mutter gibt's nicht zu. Alles andere. Nur nicht Künstler.«

»Die Mutter soll's ja auch nicht werden, ich will's werden!«

»Ja – hast du denn Talent? Ich meine: über die andern Talente hinaus? Daß du neben der Familie allein stehen kannst?«

Ewald Wiskotten warf trotzig den Kopf in den Nacken. »Das wird sich finden.«

»Wenn du es nicht einmal bestimmt weißt –?«

»Nu werd' du auch noch zum Philister. Wer weiß denn alles, was wird? Was in einem steckt? Auf den Mut kommt's an, auf die Begeisterung. Die hab' ich!«

Paul Wiskotten sah dem Bruder in das erhitzte Gesicht. Er wollte ihm die Begeisterung nicht rauben.

»Sag zu Hause zunächst nichts«, meinte er nach einiger Überlegung. »Wir wollen am Sonntag nach Elberfeld gehen, in die Gesellschaft für Kunst und Literatur. Ich bin Mitglied und werde dich einführen. Da kannst du mal Fühlung nehmen und dich umhören und umsehen. Vielleicht nutzt das.«

»Paul, kommt auch der alte Maler Weert hin?«

»Sicher. Und auch der alte Dichter Korten. Gib nur gut acht.«

»Paul, Paul!«

»Nun wart mal erst ab.«

»Paul, noch eins, das mußt du mir sagen. Ich begreif' dich nämlich nicht. Nicht ganz. Hast du in der Gesellschaft von Dichtern und Künstlern denn nie den Drang verspürt, den Drang, auch hervorzutreten und – und – fort von der schwarzen Wupper, an den grünen Rhein oder sonst wohin?«

»Die andern bleiben doch auch im Wuppertal.«

»Ach, die andern! Die haben kein Feuer mehr, keinen Unternehmungsgeist. Das sind Mummelgreise hinterm Ofen, Talente für den Hausgebrauch. Du aber bist jung!«

»Das waren die andern auch einmal. Und der Weg vom Dichter und Künstler bis zum – bis zum Mitglied der Gesellschaft für Kunst und Literatur wird sie auch Opfer an Illusionen, schmerzhafte Opfer genug gekostet haben, bis sie die Wirklichkeit erkannten und sich mit ihr abfanden. Siehst du, mein Junge, es kann nicht jeder ein Goethe sein. Es muß auch solche geben, die Goethe lesen.«

»So einer bist du –?« Ewald Wiskotten richtete seine lange Gestalt gerade auf.

»So einer bin ich. Jetzt schmück' ich mir das Leben und seh' es mit frohen Augen. Andernfalls aber hätte ich es andern nicht schmücken können, und dann auch mir nicht. Man muß sich über sein Talent nur klarwerden. Dann bleibt man immer noch voll Dank. Und jetzt komm heim und schlaf aus.«

Im Tale schlief der schwarze Riese der Arbeit, vom Mondlicht so silbern überhaucht, als sei er ein lächelnder Genius. Kein Märchenerzähler für die wenigen, ein Lebensspender für die vielen! Paul Wiskotten winkte ihm zu. »Wie schön das ist!«

Ewald Wiskotten zog ein Gesicht. »Die ganze Luft riecht nach Rauch und Schweiß. Komm schnell!« Und sie stiegen von dem Berg, der ihnen den Ausblick gewährt hatte, ins Tal zurück. – –

Auch Gustav Wiskotten war heimgekommen. Als er sich vor der Haustüre von den Brüdern, die bei den Eltern wohnten, verabschiedet hatte, ging er doch noch die wenigen Schritte zum nebenan gelegenen Fabriktor, um sich im Wächterhaus von der Kontrolluhr zu überzeugen. Dann stieg er leise die Treppen zur Wohnung hinauf. Behutsam öffnete er die Tür zum Kinderzimmer und trat ein. Beim Schein der Nachtlampe betrachtete er seinen Nachwuchs, seinen siebenjährigen Jungen, sein fünfjähriges Mädel. Einen Augenblick dachte er daran, daß er selber erst zweiunddreißig zählte. Aber immer stärker strahlten seine blauen Augen auf die Kinder nieder. ›Das ist so gut wie meine Jugend.‹ Und er beugte sich nieder, die kleinen im Schlaf geöffneten Mäulchen zu küssen.

»Papa – – Papa – –!«

»Still. Schön schlafen. Gut' Nacht.«

»Gustav!«

»Ich komme schon«, und er nahm das Licht und begab sich ins Nebenzimmer.

»Du sollst doch die Kinder nicht stören. Wie spät is es nu wieder! Wenn du dich um mich nicht kümmerst, sollst du dich wenigstens vor den Kindern schämen.«

»Guten Abend, Emilie. Na, nu schimpf nich. Der Ewald hat doch sein Abitur gemacht. Das mußte doch gefeiert werden.«

»Um Ausreden bist du nie verlegen.«

»Ach, was. Gib mir 'n Kuß! 'ne kleine Ausspannung tut mir ganz gut nach all der Tagesrackerei.«

»Ich racker' mich wohl nicht?«

»Du –? Du bist 'ne brave Hausfrau, un nu gib mir en Kuß.«

»So geh doch. Du riechst nach Bier.«

»Ja«, lachte Gustav Wiskotten derb auf, »Veilchenwasser kriegt man beim Oweram nicht zu trinken.«

»In so einer Arbeiterkneipe! Pfui!«

»Hör mal, Emilie –«

»Nix will ich hören, nix. In so einer Kneipe zu hocken, während ich den Schlaf so nötig habe –«

»Dann will ich ihn dir nicht weiter stören. Also gut' Nacht denn.« Er nahm das Licht und trug es auf seinen Nachttisch.

Emilie Wiskotten setzte sich in den Kissen aufrecht. Ihr weiches braunes Haar war unter einem Mützchen versteckt, ihr hübsches Gesicht zorngerötet.

»Ich will aber mit dir sprechen. Ich brauch' mir das nicht gefallen zu lassen.«

»Dann tu die Nachtmütze ab, Emilie.«

»Verspott du mich nur. Du wirst dich noch eines Tages versündigen. Meine Jugend hab' ich dir gebracht – jawohl, meine Jugend, und mein Geld auch, und auch noch Geld vom Vater. Und du? Für die Kinder hab' ich zu sorgen und für den Haushalt, und – und – deine Mutter hab' ich zu besuchen und mich drillen zu lassen, weil ich ja nix versteh', und wenn ich sonntags nicht in die Kirche könnt' – du lieber Gott, selbst der Herr Pastor, der heute abend hier war, sagte –«

Gustav Wiskotten hatte das Licht ausgeblasen.

»Gustav ...!«

Sie hörte nur, wie er sich in die Kissen wühlte.

»Gustav – –!« Keine Antwort.

»Gustav, der Pastor –«

»Sei mal en Augenblick ruhig, ich bin am Beten ...«

Sie biß sich auf die Lippen. Sie horchte. Zornbebend. Dann ließ sie sich seufzend in die Kissen fallen.

Gustav Wiskotten schlief. Und im Schlaf träumte er vom kommenden Tag, der den ganzen Mann erforderte. Den ganzen Mann.


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