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V

Es schlug zwei Uhr von dem Turm der Garnisonkirche, als Eißner und Karola aus dem Modehaus traten. Sie reichte ihm etwas verlegen die Hand, um sich zu verabschieden. Eißner aber faßte und behielt ihre Finger in beiden Händen.

»Meine verehrte Frau Karola, so lasse ich Sie nicht allein. Ich merke, es geht Ihnen nicht, wie es Ihnen gehen sollte. Ihre Stimmung macht mir Kummer. Das wenige, was ich tun kann, ist, Sie zu zerstreuen. So schlage ich denn zunächst vor, daß wir mit der Fancy Freo frühstücken.«

Karola ließ sich in das Auto helfen und von der Freo erzählen, von der sie schon gehört hatte.

Fancy Freo, ursprünglich Friederike Förster, stand damals noch im Anfang ihrer Laufbahn; sie ist im nächsten Jahr schon viel berühmter geworden, und von ihrer engelhaften Erscheinung und eigentümlichen Kunst ist noch manches zu erwarten. Ihr Vater hatte seinem Namen Ehre gemacht: Er war Forstmeister in kaiserlichen Diensten geworden und hatte dafür gesorgt, daß sein Gebieter die gewünschte Menge Wildschweine jeweilig bequem zur Strecke bringen konnte. Nach dem Sturz des Kaiserreiches bekleidete er einen Verwaltungsposten. Friederikes gute Eltern hätten es gern gesehen, daß ihr Kind einen befreundeten Forstakademiker heirate, der in Potsdamer Kreisen Ansehen und Protektion genoß.

Rikchen aber verließ mit achtzehn Jahren das Elternheim, das sich zu dieser Zeit nicht mehr unter den Föhren des Wildparks, sondern in einer Dienstwohnung des Berliner Schlosses befand, und hauste eine Zeitlang in einem trübselig möblierten Zimmer der Luisenstraße mit einem Jugendfreund, der von der Kadettenanstalt in die Filmbranche geraten war. Er brachte sie ins Komparsencafé. Bald entdeckte ein kluger Regisseur die musikalische und drastische Bühnenbegabung der jungen Figurantin, deren Talente im Film nicht zur Geltung kamen. Ihr spezieller Reiz bestand darin, daß sie bei distingiertester Haltung und mit den sparsamsten Bewegungen gewagte berlinische Gassenlieder vortrug. Dabei sprach sie das meiste in trockenem Ton und ging nur bei den besonders derben oder witzigen Stellen in einen tiefstimmig langgezogenen Gesang über. Eißner, der um diese Zeit in Fancys Leben eintrat, erwarb das besondere Verdienst, sie wieder mit ihren Eltern zu versöhnen, nachdem sie ihm öfters erklärt hatte, sie habe Heimweh nach »Mutterns Sofa mit Umbau und Vaterns Pfeifenstellage«. Sie unterhielt sich gern und lange mit Portierfrauen und Marktweibern, noch lieber mit Monteuren, Straßen- und Kanalarbeitern, überhaupt allem Mannsvolk, das in grimassenschneidenden Velvethosen umherläuft. ›Gebildete Leute‹ hatten im allgemeinen bei ihr einen schlechten Stand. »Frisierte Fressen kann ich nicht ausstehen«, pflegte sie zu sagen. Ihren Freund Eißner veranlaßte sie mit Vorliebe, sie in wüste Spelunken und Tanzhöhlen des nördlichen Berlin zu begleiten. Er mußte bei schalem Bier zusehen, wie sie mit den echten und falschen Matrosen tanzte. Manchmal geriet er dabei in Gefahr, benahm sich aber immer sehr mannhaft. Bei Anspielungen auf die Ängstlichkeit seiner Stammesgenossen wurde dieser sonst Langmütige grimmig und warf als ausgezeichneter Boxer den Gegner mit ein paar Stößen zu Boden. Dann fiel ihm die schöne Fancy, die sonst karg mit Liebkosungen war, begeistert um den Hals.

Von diesem Mädchen erzählte Eißner unterwegs seiner schweigsamen Begleiterin, bis das Auto vor dem ältesten Teile des Schlosses hielt.

»Werden wir denn in der Schloßküche bei den wohltätigen Österreichern essen?« fragte Karola.

»Nein, da verkehren der Fancy zu viel Studierende, übrigens nimmt sie ihre Mahlzeiten trotz aller Neigung zum volkstümlich Pittoresken gern in gediegenen Gaststätten ein. Ich hole sie hier von ihren Eltern ab.«

Karola sah ihm nach, wie er schwer und elastisch über das altertümlich gebuckelte Pflaster des Schloßhofs schritt. Dann, eine Weile allein, schaute sie zu dem grünberankten Gemäuer der kurfürstlichen Schloßapotheke auf und zum Wasser hin.

›Ich sollte nach Hause telephonieren, man wird sich ängstigen. Ach, ich kann heute nichts Verständiges tun.‹ Sie besah sich im Taschenspiegel, ob sie auch gut genug aussehe für die schöne Fremde. Sie konnte zufrieden sein, ihre Lippen waren brennend rot und das Gesicht von so gleichmäßig matter Blässe, daß es sinnlos gewesen wäre, mit den Utensilien des Täschchens nachzuhelfen.

Da erschien Eißner mit einer schlanken Gestalt in resedafarbenem Complet.

»Ich kenne Sie vom Ansehen«, sagte sie bei der Vorstellung mit einem Madonnenlächeln zu Karola. »Sie waren doch der Schiffsjunge auf dem letzten Kunstgewerbeball mit Anker auf dem Ärmel und richtig hinten geschnürten Hosen. Sie kamen sogar an unsern Tisch, aber mit mir wollten Sie nicht tanzen, ich sah gewiß wieder zu bürgerlich aus. Kostümfest kann ich nicht. Mein Großvater von Mutterseite war Pastor. Da ist nichts gegen zu machen.«

Als Eißner mit Genugtuung festgestellt hatte, daß der Kontakt zwischen den Frauen sich von selbst ergab, nahm er sein Notizbuch aus der Brusttasche, las und schrieb Zahlen.

»Sehen Sie nur den Wucherer«, rief Fancy, »er arbeitet im Hauptbuch. Meinem Vater seine Kontobücher sind etwas größer, und vorn steht immer ›Mit Gott‹. – Na, wie stehen denn meine Papiere, E. I.?«

»Auf Bergwerk Bedarf bleiben Sie am besten sitzen.«

»Wenn du mich sitzen läßt, dann kannst du mich auch ruhig hier vor der Frau Professor duzen. Nur keine falsche Scham.«

Eißner ließ in der Neuen Wilhelmstraße halten und führte seine Damen, von eifrigen Kellnern begrüßt und geleitet, in einen angenehmen Hoffensterwinkel der Weinstube.

»Das ist nett. Da sitzt man wie im Berliner Zimmer«, meinte Freo, »nur müßte noch so eine Estrade da sein, ein Haut-Pas oder wie das Ding heißt, dann wäre es wie bei meiner Tante in der Steglitzer Straße, aber bei der gab es immer Kartoffelpuffer, so was Feines kriegen wir hier nicht vorgesetzt. Also, Gewaltiger, bist du heute despotisch oder milde? Muß man essen, was du befiehlst, oder darf man wählen? Wenn er nämlich befiehlt, müssen Sie wissen, bekommen wir lauter Vorspeisen, œufs en cocotte und solches Kokottenzeug und ich bin von hier und esse mittags am liebsten Suppe. Wenn ich je nach Paris kommen sollte, bestelle ich mir zum Déjeuner eine Potage, und wenn sich mein Kavalier zu Tode schämt vor dem vornehmen Garçon. Als gutes Berliner Kind nähme ich ja gern Rinderbrust mit Meerrettichsauce. – Nun, nick nich gleich, Mensch!« wandte sie sich an den Kellner, der hinter Eißners Stuhl stand, »und schreib nicht so viel auf deinen neumodischen Löschblock, sag uns lieber ehrlich und aufrichtig, was heut gut ist, wie wenn wir deine Schätze wären und nicht dem feinen Herrn seine. Ich versteife mich gar nicht auf Rinderbrust, zuletzt wird es ja doch Entrecôte oder Rumsteak. Aber eins sage ich euch: Pêche Melba brauch ich nicht zu essen, ich bin ein deutsches Mädchen und möchte einen Windbeutel haben als Dessert, das bin ich dem Brotherrn meines Vaters schuldig, und wenn ihr keinen habt, dann holt mir einen aus der Bäckerei und schlagt zehn Pfennig auf.«

Als das Menü gemacht war, erhob sich Eißner, um zu telephonieren.

»Würden Sie meine Schwester anrufen und ihr sagen, daß es mir gut geht und daß ich am Abend heimkomme?« bat Karola.

»Und dann kehre zu deiner Sklavin zurück, ehe die Sonne sinkt«, sagte Fancy. »Wenn er nämlich ans Telephon geht, kommt er so bald nicht wieder. Es ist sein Tagewerk, sein Achtstundentag. Sie haben doch einen Sohn? Lassen Sie ihn rechtzeitig gut telephonieren lernen, dann wird er reich und bereitet Ihnen ein schönes Alter. Wenn er aber hübsch bleiben soll, muß er beim Telephonieren stehen. Vom Sitzen werden die Nabobs alle fettleibig und kriegen müde Augen. Da ist unser E. I. eine erfreuliche Ausnahme. Also nun geh und arbeite für uns alle. Wir werden inzwischen häßlich über dich reden.«

Aber als Eißner fort war, sagte sie lauter Rühmliches von ihm.

»Er ist nur glücklich, wenn er schenken kann, und mit dem, was man ihm zu schenken versucht, weiß er nichts anzufangen. So oft ich schüchtern mit Krawatten oder Manschettenknöpfen bei ihm antanze, bekomme ich einen Korb, und wenn er meine Gabe einmal großmütig annimmt, kriege ich sie nach ein paar Wochen zurück und muß zusehen, andere damit zu beglücken. Als ich ihn kennenlernte, dachte ich, er sei wild und grausam, und freute mich schon mächtig auf ihn, denn ich war noch sehr jung. Aber er ist rührend, ganz Pflichtgefühl, fragt immer, wie es einem geht und ob es auch schön war. Dann war es natürlich immer schön. Mein Gott, der arme Kerl. Ob er sich wohl schon einmal richtig verschossen hat? Er hat eine rotblonde feinknochige Frau, aber die ist meistens verreist.«

»Kennen Sie sie?« fragte Karola, die der lebhaften Fancy gegenüber kaum zu Worte kam.

»Ja, sie war bei meinem Debut und hat mir wunderbare Orchideen gebracht. Sie kam in meine Garderobe mit ihrem Vetter, dem jungen Domrau. Das ist ein hübscher Bengel, er hat mich aber kaum angesehen. Solche Burschen mag ich zu gern. Seit ich durch meinen sogenannten Beruf viel derber geworden bin, als mich Gott gemeint hat – ich war doch ein ganz sentimentales Mädchen mit Hängezopf und Idealen – und seit mir alle Leute nachsagen, ich könne nur Mützenmänner leiden, hab ich eine Schwäche für die Minderjährigen.«

Karola fühlte mit Verdruß, daß sie errötete. Zum Glück sprach Fancy dann nicht mehr von dem jungen Domrau, sondern führte ein anderes Beispiel ihrer Zuneigung an: »Da ist im Café ein kleiner magerer Maler aufgetaucht, so ein östlicher mit melancholischen Mandelaugen, dem würde ich furchtbar gern den Rest geben und ihn dabei milde pflegen. Ich mache Ihnen Geständnisse einer schönen Seele, was? Nehmen Sie mir meine Geschwätzigkeit nicht übel. Sie hören so still zu, und ich – ich habe noch keine Geheimnisse.«

Was sie auch sagen mochte, sie sah dabei hold und unschuldig drein. Artig erschien sie in des Wortes alter Bedeutung. Karola hatte den Freimut strebender Naturen, an dem andern das Unterscheidende, das, was sie selbst nicht besaß, zu bewundern, und so fand sie das selbständige und rückhaltlose Wesen der Freo erfreulich und wollte ihr das gerade mit Worten ausdrücken, da kam Eißner zurück.

»Der junge Domrau hat bei mir angerufen«, erzählte er, »es tut mir leid, daß er mich verfehlt hat. Vor ein paar Tagen schrieb mir seine Mutter, sie wolle ihn von Berlin forthaben. Wenn man nur etwas für den Jungen tun könnte, damit er hier bleiben darf. Aber was soll er unternehmen? Wissen Sie keinen Rat, Frau Karola?«

»Der müßte zum Film«, rief Fancy, ehe Karola eine Meinung vorbringen konnte. »Er hat einen guten Kopf und hübsche Bewegungen; so rechtschaffen sieht er aus, das wäre doch mal etwas anderes als die hysterischen Hampelmänner, für die sich die Spießer begeistern.«

»Sein Vater war ein feiner Diplomat der alten Schule«, sagte Eißner, »er lebte meist im Ausland, in Konstantinopel, Smyrna, Bukarest. Er hat seinem Sohne nichts als den Namen hinterlassen. Der Bruder des Alten, der Vater meiner Frau, starb im Kriege unter so traurigen Umständen, daß seine Kinder das Gut verkaufen mußten. So ist von väterlicher Seite für den Wendelin nichts zu erhoffen. Der Bruder seiner Mutter hat ein Gut in der Neumark und will sich gern seines Neffen annehmen, wenn er zu ihm kommen und Landwirt werden mag. Ich hätte ihm in getreuer Tradition meines Vaters, der der Finanzmann seiner Vorfahren war, gern meinen Rat angeboten, um ihm zur Diplomatenkarriere zu verhelfen.«

»Auf Kongressen würde er sicher der Niedlichste sein«, sagte Fancy.

»Gut aussehen ist eine Tugend, auf die leider bei uns wenig Wert gelegt wird«, antwortete Eißner. »Die Deutschen tun, als wenn sie wie Gott das Herz ansehen könnten.«

»Sehen Sie«, wandte sich Fancy an Karola, »dieser sympathische Jüngling ist auch einer von denen, die nicht rechtzeitig telephonieren gelernt haben.«

»Wenn er hierbleiben will, wird er es noch lernen und Handel treiben müssen wie wir alle«, sagte Eißner, »mit geistiger oder anderer Ware. Nicht jeder hat das Glück unserer lieben Fancy, daß er nur zu singen braucht, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, um zu triumphieren. Wenn ich bei der nächsten Finanzkrise daran glauben muß, werde ich dein Manager. – Wie ist es mit einem starken Kaffee, damit wir wieder den Kampf ums Dasein aufnehmen können?«

»Dazu möchte ich die Herrschaften in meine Zimmerflucht bitten«, rief Fancy, »den Kaffee will ich selbst kochen, schon um nicht den Kellner das gräßlich protzige Mocca double aussprechen zu hören. Außerdem wollen mich einige Kollegen besuchen.«

Karola war vom Burgunder so angenehm müde, daß sie sich widerstandslos mitnehmen ließ. Man fuhr ins Bayrische Viertel.

Unterwegs legte Fancy der Karola den Arm um die Schulter. »Bei mir bekommen Sie gleich ein Diwanlager.«

Als man über die Brücke am Kanal kam, dachte Karola einen Augenblick: ›Sollte ich nicht doch lieber nach Hause. Sonst komme ich erst, wenn der Erwin schon zu Bett ist.‹

Aber da hatte das Auto bereits den Lützowplatz umkreist, und diese fremde Fancy hatte ein angenehmes Parfüm.

»E. I., dein neuer Chauffeur scheint sich in meinem Stadtteil noch nicht auszukennen. Wie heißt er denn? Christof. – Also Christof, noch zweimal rechts um die Ecke und dann geradeaus auf den Marktplatz von Dinkelsbühl, wo so'n alter Brunnen steht aus dem neunzehnten Jahrhundert. Lach nicht. Er glaubt das. Wir Berliner bauen uns unsern Bedarf an Altertümern funkelnagelneu mit Zentralheizung und Lift an den Stadtrand. Eigentlich würd ich ja lieber im alten Westen hausen, aber da gibt es keine kleinen Appartements für verlorene Töchter.«

In Fancys Boudoir wurde Karola auf Daunenkissen gebettet und blieb ruhig liegen, als die andern Gäste erschienen. Der lebhafte kleine Conférencier setzte sich zu ihren Füßen auf den Rand des Diwans, um bald mit einem Witz aufzufahren, bald mit einem komischen Seufzer zurückzusinken. Er redete mehr zu den andern, versäumte aber nicht, bei jeder riskierten Bemerkung sich halb zu Karola umzudrehen und in wienerischem Tonfall zu bitten: »Die gnädige Frau wird schon entschuldigen.« Er plauderte wie vor seinem Vorhang und duckte sich oft, als wollte er seinen Übermut vor dem Protest des Publikums hinter bergende Falten flüchten. Gelassener benahm sich ein stattlicher Balte, der langsam mit der Kaffeetasse auf- und abschreitend von seinen Petersburger Offizierstagen berichtete. Seit er von seinen russischen Gütern vertrieben war, ernährte ihn vorwiegend eine auffallende Napoleonähnlichkeit, die ihm ein gutes Filmengagement verschafft hatte.

Etwas später erschien der schmalschultrige Hausdichter des Kabaretts, der unter seiner Stirnlocke zusammenbrechend in einer schüchternen Ecke Platz nahm und behauptete, er müsse nach Paris, hier falle ihm nichts mehr ein.

»Ach, was tuns denn in Paris?« meinte der Conférencier. »Absynth gibts eh keinen mehr und im Café-Concert sitzen lauter Amerikaner, die die politischen Späße nicht verstehen und sich lieber eine nackichte Revue vortanzen lassen. Das Politische können Sie auch gar nicht in Ihr geliebtes Deutsch übertragen.«

»Aber das andere –«

»Das andere! Da muß ich erst zwischendurch dem Publikum Nachhilfestunden in der Liebe geben, damit es Ihre werten Nuancen versteht.«

»Das wäre überhaupt eine schöne Aufgabe für dich, teurer Meister«, sagte die Freo. »Kannst du da nicht bei uns anfangen?«

»Es ist nicht hübsch von dir, einen ehrlichen Burschen zu verspotten, der eine alte Mutter und zwei ledige Schwestern aus Ottakring durch seine geistige Arbeit vor Armut beziehungsweise Schande bewahrt.«

»Es hilft nichts, wir müssen uns alle prostituieren«, sagte der Balte ganz ernsthaft und mit langrollendem R.

»Wer verlangt das von Ihnen, edler Korse?« fragte ein beleibter Journalist mit Hornbrille, der in diesem Augenblick eintrat.

»Kommen Sie, Frau Karola«, flüsterte die Freo, »wir drehen uns im Nebenzimmer das Grammophon an und scherbeln ein bißchen. Die Unterhaltung wird mir hier zu seriös.«

Die Männer waren allein.

»Wer ist eigentlich diese schöne Frau? Sie erinnert mich an eine Schwedin, die zu meiner Zeit in Petrograd Furore machte«, wandte sich der Balte an Eißner.

»Sie ist nicht von der Bühne, sie ist die Gattin des Professors Clemens Kestner, wenn Ihnen dieser Name bekannt sein sollte.«

»Kestner!« sagte der Journalist. »Mit dem habe ich ein Semester zusammen studiert. Der hat geheiratet? Das hätte ich ihm nie zugetraut.«

»In unseren kriegerischen Zeiten sind sogar die Professoren tollkühn geworden«, warf der Conférencier ein. »Von der Kühnheit ganz abgesehen – aber wenn er sich nicht sehr geändert hat, muß er gewissermaßen zu umständlich sein. Damals bat ich ihn eines Tages, mich im Theater zu vertreten. Ich schrieb gerade meine ersten Kritiken. Es wurde der Ödipus von Sophokles in einer neuen Aufmachung gegeben, und ich hatte den Abend etwas Besseres vor. Kestner, schon als Student sehr gelehrt, könnte, dachte ich mir, ein paar verständige Bemerkungen zur Antike und dergleichen aufsetzen. Ich bat ihn also, für mich in die Premiere zu gehen und mir am nächsten Morgen etwas Gescheites darüber zu schreiben. Tags darauf besuchte ich ihn, um mir die Kritik abzuholen. Ich fand ihn im Schlafrock an seinem Schreibtisch über den griechischen Sophokles und einige beschriebene Bogen Papier gebeugt, auf denen das meiste durchgestrichen war. ›Mein Lieben, sagte er, ›ich habe die ganze Nacht aufgesessen und über uns und den Ödipus nachgedacht. Ich komme immer mehr zu dem Resultat, daß wir noch kein Recht haben, diese Tragödie zu erneuern. Was wir da machen, wird nur Psychologie und Stimmung. Auf diesem Wege kommen wir nicht an die Antike heran. ‹ So redete er noch eine Weile weiter, recht interessant. ›Haben Sie denn etwas davon aufgeschrieben? ‹ fragte ich. ›Allerdings, aber das ist unzureichende – ›Na, und die Aufführung selbst? ‹ Im Theater hatte er auch schon immer gedacht: ›Das geht doch nicht‹ und hatte für meine Begriffe gar nichts gesehen. Ich habe dann aus seinem Durchgestrichenen ein paar nützliche Nebensätze mit ›obzwar‹ und ›so sehr auch‹ machen können, die das Verdienst des Regisseurs nur erhöhten, den Rest ergab der Theaterzettel und die Analogie.« »Dann verhilft er seiner Gattin vielleicht auch zu ein paar tugendhaften Konditionalsätzen«, meinte der Conférencier, »nachher hat sie im Hauptsatz um so größere Freiheit.«

»Es ist zum Verzweifeln«, stöhnte der Hausdichter, »wenn man von solchen Leuten hört. Die sehen gar nicht, was in der Welt vorgeht. Der Ödipus hat eben einen Komplex gehabt, gerade wie der Hamlet. Man könnte übrigens einen famosen Film aus der Begebenheit machen, aber ohne die Mitarbeiterschaft von Gelehrten.«

»Nun, ein Gelehrter schlechthin ist mein Freund Kestner nicht«, wandte Eißner ein. »Von seinen Kollegen will er nicht viel wissen. Er lebt in einem Kreis von Leuten, die zu einer ganz anderen Welt gehören. Vor dem Kriege waren es unbeirrte Wolkenkuckucksheimer, die in Münchener und Pariser Ateliers hausten, malten, dichteten und philosophierten. Jetzt haben sie sich ›umstellen‹ müssen, wie das schöne Wort lautet. Nur wenige von ihnen sind dabei richtig praktisch geworden, die meisten und gerade die sympathischsten haben irgendeine Fronarbeit übernommen und besuchen abends einander in ihren Stuben, um bald wehmütig, bald munter zusammen ihre Jugendträume weiterzuspinnen.«

Der Conférencier meinte, daß diese Leute am Ende auf ihre genügsame Art glücklicher seien als ›wir vom Betrieb‹ Aber der junge Dichter wollte diesen ›romantischen Quietismus‹ nicht zulassen.

 

Nebenan ließ sich Karola von Rampe und Garderobe erzählen.

»Ist ja nicht übel, beklatscht zu werden«, schloß die Freo. »Man wird bloß furchtbar affig. Manchmal möchte ich richtig heiraten und Kinder haben. Ist das nicht das Schönste?«

»Ich habe ein süßes Kind, es hilft nichts, einen guten klugen Mann, es hilft nichts. Ich habe Freunde, eine Schwester, die alles für mich tut. – So eine wie ich sollte vielleicht auf die Bretter und immer fort sein aus dem Haus. Ach, eigentlich will ich wohl ins Paradies.«

Die Freo küßte sie zärtlich auf Mund und Wange.

Eißner lüftete den Vorhang des Boudoirs. »Fancy, heut brauchst du doch nicht aufzutreten?«

»Nein, aber nach der Vorstellung haben wir nächtliche Generalprobe des neuen Programms.«

»Da könnten wir vorher zu den ›Schwestern‹ gehen, das wurde nebenan vorgeschlagen.«

»Zu was für Schwestern? Barmherzigen?«

»Barmherzig sind sie auch, aber nur zueinander. Sie tanzen in einem unscheinbaren Lokal des südlichen Westens, leidenschaftliche Lehrerinnen und schüchterne Ladnerinnen, vornehme Russinnen des vertriebenen Adels mit ihren internationalen Sekretärinnen und so weiter. Es soll eher rührend als großartig bei ihnen zugehen.«

Die Freo verlangte nur, Karola solle mitkommen. Karola wollte erst nach Hause, sich umzuziehen. Aber das erlaubte die Freo nicht.

»Wir tanzen im Straßenkleid. Ist doch kein Ausnahmezustand mehr. Ist doch wie das tägliche Brot.«


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