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Das Seeweib

(1875)

 

In den schattigen Laubgängen des Gartens, dicht am See, der im Glanz der Abendsonne durch die Büsche funkelte, ergingen sich langsam Arm in Arm zwei stattliche Frauen, die beide schon über die Mitte des Lebens hinaus waren. Von Zeit zu Zeit blieben sie stehen, um etwa eine schön blühende Blume zu betrachten, oder einen Blick nach dem Landhause zu werfen, das auf der Höhe des sanft ansteigenden Ufers stand, von prachtvollen alten Bäumen überwölbt, alle Fenster und Balconthüren geöffnet, um die Abendkühle hereinzulassen. Tiefer ins Land hinein sah man weiße Bauernhäuser und zerstreute Fischerhütten aus dichtem Nadelholz hervorblicken; die rothen Stämme der Föhren und Tannen standen wie glühende Säulen zwischen den schwarzen Tiefen des Waldes, ein leichter silbergrauer Rauch wallte hie und da über die Wipfel hin, in der Ferne donnerte es leise von abziehenden Gewittern.

Die Luft hat sich abgekühlt, sagte die Eine der beiden Wandelnden, aber es ist seltsam: der Druck, der diesen ganzen Tag auf meiner Stimmung lag, will nicht weichen. Ich kenne diese wunderliche Beklommenheit nur zu gut an mir. Selten war mir so zu Muth, ohne daß ein Unglück oder wenigstens ein Verdruß darauf gefolgt wäre.

Du hast immer an Ahnungen geglaubt, versetzte die Andere lächelnd. Weißt du nicht mehr, Hermine, wie oft wir im Institut dich mit deinem prophetischen Gemüth geneckt haben? Und wenn du ehrlich sein willst: sind deine Kassandra-Stimmungen nicht viel öfter ohne Bestätigung geblieben, als daß sie sich bewährt hätten? Du solltest dich entschließen, Buch zu führen über deine Ahnungen, und am Ende des Jahres die Summe ziehen, wie viele eingetroffen sind und wie viele nur etwa von der Migräne herrührten.

Es ist wahr, Cornelie, erwiderte die ältere Freundin, gerade ich sollte diesen Aberglauben längst abgeschworen haben. Das Schwerste, was ich je erlebt, der Tod meines geliebten Mannes, hat mich ganz ahnungslos, im heitersten Genuß des Lebens getroffen. Du weißt, er wollte mir auf den Ball nachkommen; er hatte erst noch eine wichtige Arbeit zu vollenden. Statt seiner kam die entsetzliche Botschaft, daß er am Schreibtisch umgesunken war. So verlor ich auch meine Mutter wenige Jahre darauf, ohne jedes Vorgefühl. Und doch – es ist etwas daran. Vielleicht ist mein zweites Gesicht weitsichtig: die mir am nächsten stehen, werden nicht davon erreicht. Aber es ist thöricht, sich den herrlichen Abend mit so dunklen Dingen zu verderben. Höre, wie die Kinder vergnügt sind!

Sie waren zu einer Stelle des Ufers gekommen, wo hinter den Flieder- und Jasminbüschen ein Badehüttchen stand. Muthwilliges Geplätscher und helles Lachen von einigen Mädchenstimmen erklang hinter den hölzernen Wänden.

Mein Wildfang scheint wieder die Ausgelassenste zu sein, sagte Frau Cornelie. Sie hat ein Lachen in der Kehle, das so ansteckend wirkt, wie bei Anderen das Gähnen. Selbst mein Herr Gemahl, der manchmal den rauhen Krieger recht täuschend zu spielen weiß, ein so milder Kern in der stachligen Schale steckt, – wenn dieses gottlose Geschöpf seinen Kopf darauf setzt, ihn aufgeräumt zu machen, kann er nicht zehn Minuten sein Dienstgesicht, seine Oberstenmiene, wie wir's nennen, beibehalten. Auch deine Lilli, die ich viel ernster und in sich gekehrter gefunden habe, als das letzte Mal vor zwei Jahren, ist seit den paar Tagen in Louison's Gesellschaft fast wieder zum spiel- und tanzlustigen Backfisch geworden.

Wollte Gott, daß es vorhielte! sagte die Mutter mit einem Seufzer. Du hast ganz recht gesehen, Cornelie. Du hast das Kind nicht so wiedergefunden, wie du es damals verließest. Es sind nicht die zwei Jahre allein, die freilich gerade in dieser Jugend die Natur im Innersten zu verwandeln vermögen. Auch eine Erfahrung, die sie inzwischen gemacht, an ihrem eigenen Herzen – ich mochte dir, so wenig ich sonst Geheimnisse vor dir habe, nichts davon schreiben, da es eben nicht mein Geheimniß war. Aber ich sehe nicht ein, warum du es jetzt nicht wissen sollst; sie hat eine Neigung zu einem jungen Mann gefaßt, ernster, wie ich fürchte, als sonst erste Neigungen zu sein pflegen. Das geht ihr noch im Stillen nach, und scheu und stolz, wie sie ist, hat sie nicht einmal ihre Mutter zur Vertrauten gemacht, so daß Alles um so tiefer nach innen drang.

Eine unglückliche Liebe? Du erschreckst mich; denn so reizend wie sie sich entwickelt hat, kann ich nur an eine Passion für einen verheiratheten oder doch verlobten Mann denken. Jeder, der deiner Lilli begegnete und noch frei wäre –

Nein, Liebste; ganz so schlimm ist es zum Glücke nicht, und doch, wer weiß, ob völlige Hoffnungslosigkeit nicht besser für sie wäre. Laß dir sagen. Im vorigen Sommer, als ich ins Seebad mußte, – ich reiste allein, nur mit meiner alten Christel, – Lilli blieb hier zurück, um als Hausmütterchen für Max zu sorgen, der gerade in seinem Staatsexamen steckte; und da sie selbst viel aufgeregter und ängstlicher dabei war, als ihr Leichtfuß von Bruder, und, bis Alles überstanden, ihm nicht von der Seite wollte, mußte ich mich darein ergeben, daß mir die Kinder erst ein paar Wochen später nachkommen sollten. Auch that mir die völlige Einsamkeit, das tagelange Schweigen so wohl, wir hatten im Winter ein wenig viel Trouble um uns gehabt mit Bällen, Maskeraden und Komödiespiel im Hause, daß ich auch in Scheveningen jeder neuen Bekanntschaft und vor Allem jeder älteren sorgfältig auswich. So machte sich's, da ich immer die einsamsten Wege suchte, daß ich öfter einem jungen Mann begegnete, der gleich mir aus dem eleganten Strandgewimmel in die Abgeschiedenheit flüchtete. Nachdem wir uns einige Male stumm gegrüßt hatten, redete er mich an; es dauerte nicht lange, so begleitete er mich täglich auf meinen Spaziergängen. Er gefiel mir sehr, seine stille Art, sein bescheidenes und doch männlich festes Betragen, sein sicheres Urtheil, so jung er noch war, nicht über sechsundzwanzig, wie er mir sagte. Ich verglich ihn im Stillen mit Max, dem ich bei all seinen guten Eigenschaften etwas mehr Besonnenheit und Mäßigung wünschte, und empfand ordentlich ein mütterliches Gefühl für diesen einsamen jungen Menschen. Irgend ein Kummer schien ihm nachzugehen. Aber so viel wahrhaft herzliche Hingebung er mir auch bewies, – über seine persönlichen Stimmungen und Schicksale sprach er mit keiner Silbe. Ich erfuhr bloß, daß er ganz allein und unabhängig, ohne Amt oder eigentlichen Beruf in der Welt stehe und seit vier Jahren sich beständig auf Reisen befunden habe, bis in den Orient, Egypten, Tunis und dann durch Spanien und Frankreich zurück. Er hatte eine sehr hübsche Gabe, von Allem, was er gesehen, zu erzählen, mit der größten Anschaulichkeit und den lebendigsten Details, aber immer so, als ob er an Allem keinen tieferen Antheil genommen, diese Scenen nur erlebt hätte, wie man ein illustrirtes Reisewerk durchblättert. Auch nach meinen Verhältnissen fragte er nie, ja ich glaube, es vergingen vierzehn Tage, ohne daß er meinen Namen wußte. Es war ein so eigener Reiz in diesem anonymen und doch sympathischen Verkehr, daß auch ich diese Bekanntschaft gleichsam mit der Halbmaske vor dem Gesicht gern fortgesetzt hätte, wenn meine neugierige Christine, die mich ein paar Mal mit meinem jungen Verehrer hatte nach Haus kommen sehen, nicht den Namen ausgekundschaftet hätte. Da erfuhr ich, daß er nicht bloß ein näherer Landsmann von mir war, was ich kaum seiner Sprache nach vermuthet hätte, sondern aus einer Familie unserer Stadt, die ich oft genug hatte nennen hören. Da wir aber die letzten sechs Jahre vor dem Tode meines Mannes in L. gelebt haben, wußte ich nichts Näheres von allen Stadtgeschichten, und der Name Frank konnte mir über die melancholische Gemüthsart meines jungen Freundes keinen Aufschluß geben.

Ich hütete mich auch wohl, es ihn merken zu lassen, daß ich als junges Mädchen seine Mutter oft gesehen hatte, bei mancher Française ihr Vis-à-vis gewesen war. Eine deutliche Ahnung – lache nur nicht wieder! – ließ mich fürchten, daß er sich dann von mir zurückziehen würde. Und ich hatte mich schon so an ihn gewöhnt, daß mir seine Gesellschaft in der That gefehlt haben würde.

Auch das war seltsam an ihm, daß er schon länger als ich in Scheveningen war und noch nicht ein einziges Bad genommen hatte. Ich konnte es nicht lassen, als das erste Mal die Rede darauf kam, einen Scherz darüber zu machen: ob es sich dabei um eine Wette handle, wie bei jenem Engländer, der ein halbes Jahr in Rom gelebt, ohne je die Peterskirche zu betreten? Er wurde blutroth im Gesicht, stammelte eine verworrene Antwort und war schwer wieder in seine unbefangene Stimmung zurückzubringen. Er liebe das Meer nicht, warf er hin – und verstummte dann. Und doch hatte ich ihn an manchem späten Abend von meinem Fenster aus am Strande sitzen und wie verzaubert in die Brandung starren sehen.

Seltsam! Eine Krankheit vielleicht – ein Herzfehler, bei dem das Baden verboten ist –?

Nichts dergleichen. Ich selbst nahm mir die mütterliche Freiheit, ihn darum zu befragen. Er sei völlig gesund, versetzte er mit einem trübsinnigen Lächeln; und das sei gerade das Schlimme. Sein Herz sei aus so dauerhaftem Stoff, daß es die stärksten Stöße und Erschütterungen aushalte und er alle Aussicht habe, achtzig Jahre alt zu werden, – nicht die angenehmste Perspective für einen Menschen, der nicht eben gern lebe.

Das Warum? lag mir auf der Zunge. Schon aber war er wieder in seinem Erzählen von den Zigeunern in Sevilla oder sonst etwas Südlichem, und ich mußte alle weiteren Fragen hinunterschlucken.

Endlich war es so weit, daß ich die Kinder erwarten durfte. Max hatte es nöthig, von seinen Prüfungsstrapazen sich zu erholen, und seine treue Schwester von der sehr überflüssig ausgestandenen Angst. Ich hütete mich wohl, meinem jungen Freunde etwas davon zu sagen. Ich hatte ihn geflissentlich jeder jungen Dame ausweichen sehen, und wenn er den reizendsten Französinnen und jungen Misses einmal wider Willen nahe kam, ging er so steif und fast feindselig an ihnen vorüber, wie an einer Dornenhecke; da fürchtete ich, er möchte mich gleich im Stich lassen, sobald unser Unter-vier-Augen gestört würde.

Und wirklich, als wir uns den Tag nach der Ankunft der Kinder auf dem gewohnten Wege trafen, ich nun mit meiner jungen Escorte, sah ich ihn eine Bewegung machen, als ob er etwas verloren hätte und eilig umkehren müßte, es zu suchen. Dann aber schämte er sich doch, vor unseren Augen die Flucht ergreifen, faßte sich ein Herz und kam möglichst unbefangen auf uns zu.

Er gefiel auch gleich meinen Kindern, und sie ihrerseits schienen auf ihn den besten Eindruck zu machen, so daß es nach der ersten Viertelstunde war, als wären wir nie anders als so zu Vieren dort herumgeschlendert. Ich hatte meinem nicht gerade sehr diplomatischen Herrn Sohn einen Wink gegeben, daß er seine ungestüme, warmherzige Art, fremde Menschen, wenn sie ihm zusagten, gleich allzu vertraut zu behandeln, diesem Sonderling gegenüber im Zaum halten möchte. Er versprach es feierlich, hielt es auch eine ganze Stunde lang, fiel dann aber gleich wieder in seinen eigenthümlichen Ton zurück, und ich sah mit Erstaunen, daß seine cordiale Unverfrorenheit ihm in den Augen des jungen Menschenfeindes durchaus nicht schadete. In der ersten Stunde schon kam zur Sprache, was ich vierzehn Tage lang nie berührt hatte, daß wir aus derselben Stadt waren, daß er – Frank – Militär gewesen und als Lieutenant seinen Abschied genommen, daß er noch ein paar Jahre zu reisen vorhabe, um für ein volkswirthschaftliches Werk Material zu sammeln, – kurz, eine Menge persönlicher Notizen, an die sich allerlei allgemeine, recht interessante Debatten knüpften.

Meine Lilli, der ich nie nöthig gehabt habe über Tact und Discretion gute Lehren zu geben, betrug sich bei diesem ersten Spaziergange auffallend und fast über Gebühr zurückhaltend, so daß ich sie zu Hause befragte, ob ihr nicht wohl gewesen sei, oder ob Frank ihr einen abstoßenden Eindruck gemacht habe. Sie erwiderte ruhig, sie habe beständig in seiner Nähe mit einem schmerzlichen Gefühl zu kämpfen gehabt, wie neben einem unheilbar Kranken, an dessen Seite man sich's fast übel nehme, gesund und glücklich zu sein. Es sei ihr das um so trauriger gewesen, da sie alles Gute, was ich über ihn geschrieben, bestätigt gefunden habe. Sie könne aber nicht ohne eine unerklärliche Bangigkeit in sein Gesicht sehen.

Was soll ich dir weiter sagen? Wir blieben noch drei Wochen zusammen, und unser räthselhafter Freund war unzertrennlich von uns. Nur wenn wir nicht allein waren, was sich auf die Länge doch nicht immer vermeiden ließ, erschien er in sichtbar verstörter Laune, sprach nur das Nöthigste und zog sich nach einer Viertelstunde wieder zurück.

Max kam ihm auf die Länge nicht näher, als schon in der ersten Stunde geschehen war. Ihre Naturen hatten zu wenig Verwandtes. Aber meinem mütterlichen Blick konnte es nicht entgehen, daß er sich immer entschiedener zu Lilli hingezogen fühlte, und daß in ihrem Herzen die Bangigkeit, mit der sie anfangs sein Gesicht betrachtet hatte, einem viel lebhafteren Langen und Bangen wich, wenn sie zu der gewohnten Zeit einmal nicht in sein Gesicht sehen konnte.

Sollte ich mich darüber freuen oder ängstigen?

Ich wußte es nicht; diesmal ließen mich meine Ahnungen ganz im Stich. Aber daß ich mir, trotz aller dunklen Punkte, keinen lieberen Schwiegersohn gewünscht hätte, kann ich dir ja wohl im Vertrauen gestehen.

Es schien auch wirklich, als ob es zu einer raschen und glücklichen Entscheidung kommen würde. Aber eines Abends, als wir eben im muntersten Gespräch mit Frank das gesellige Leben in unserer Stadt, auf das er nicht gut zu sprechen war, in Schutz nahmen, kam es, daß Lilli zum ersten Mal unseres Landhauses hier am See erwähnte. Max fügte scherzend hinzu, es sei zwar auf dem Lande bei uns nicht viel zu haben, als ein Bad, ein Gericht Fische, das man selbst angele, Winters etwa ein Hase, den man selbst schießen könne; aber wenn er's mit mir und Lilli nicht verderben wolle, müsse er uns hier draußen jedenfalls besuchen und über das Haus und die Aussicht und jeden Grashalm entzückt sein.

Schon während er noch sprach, hatte ich mit Schrecken bemerkt, daß Frank's Gesicht plötzlich von einer Todtenblässe überzogen worden war. Eh' ich ihn fragen konnte, was er habe, stand er auf, machte ein paar Schritte durch das Zimmer, nahm dann rasch seinen Hut und verabschiedete sich in der seltsamsten Hast unter dem Vorwand, den er halblaut hervorstotterte: er habe sich plötzlich an einen wichtigen Brief erinnert, der heute durchaus noch geschrieben werden müsse.

Du kannst dir vorstellen, Liebe, in welcher Befremdung wir ihm nachsahen. Aber was sollten wir erst denken und sagen, als am andern Morgen in aller Frühe ein Billet von ihm kam, in welchem er mit sehr herzlichen Worten Abschied nahm, sein gestriges Davonstürmen zu entschuldigen und ihm ein freundliches Andenken zu bewahren bat, auch wenn es ihm nicht gegeben gewesen sei, sich so vieler Güte werth zu zeigen. Er tauge eben nicht zu glücklichen Menschen.

Das klingt ja nach einem Eugen Aram! rief Frau Cornelie. Arme Lilli! Ich kann mir denken, wie dem guten Kinde zu Muth war, als es sich sagen mußte, dieser Gegenstand ihres heimlichen Interesses habe, wenn auch nicht gerade einen Mord, doch sonst irgend eine Schuld auf dem Herzen, die ihn so unstät durch die Welt jage.

Sie ist ein eigenes Mädchen, versetzte die Mutter. Nicht ein Wort hat sie zu mir über dieses plötzliche Aufwachen aus einem Traum geäußert, der ihr nur leider schon zu tief im Herzen saß. Aber ihr Wesen war so rührend ernst und still, daß selbst Max, der seine Schwester leidenschaftlich liebt, obwohl er beständig mit ihr auf dem Kriegsfuße lebt, seinen Ton gegen sie völlig änderte und sie mit der ausgesuchtesten Aufmerksamkeit behandelte, als fühlte er die Pflicht, sie für ein verlorenes Glück zu entschädigen.

Du wirst begreifen, daß wir nun auch nicht mehr viel Vergnügen an der See fanden. Kaum waren wir aber wieder zu Hause, so erkundigte ich mich nach Frank's Familie und seinen eigenen Schicksalen, die ihm so unheilvoll nachgingen. Ich erfuhr, daß sein elterliches Haus schon seit fünf Jahren verödet und fest zugeschlossen sei. Bis dahin habe es der alte Frank mit diesem Sohn und einer einzigen liebenswürdigen Tochter bewohnt, sehr zurückgezogen; aber die wenigen Freunde, die bei ihnen aus- und eingingen, hatten darin übereingestimmt, nie eine glücklichere, einträchtigere Familie gesehen zu haben. Die Mutter sei früh gestorben. Da habe der um einige Jahre ältere Sohn seine kleine Schwester völlig wie eine Bonne gepflegt und behütet, da der Papa von der Gicht gelähmt die meiste Zeit in seinem Lehnstuhl zubringen mußte. Auch wie sie heranwuchs und er zum Militär ging, hörte dieses Verhältniß nicht auf, und man hatte das Mädchen kaum anders als am Arm des Bruders ausgehen sehen.

Und nun denke dir das Entsetzliche: die beiden Geschwister, die auch sonst in allen körperlichen Uebungen, im Reiten, Schwimmen, Scheibenschießen mit einander wetteiferten, fuhren eines Tags mitten im Winter hier an den See hinaus, wo gerade eine prachtvolle Eisbahn war, um sich recht nach Herzenslust mit ihren Schlittschuhen zu vergnügen. Am Abend erhält der alte Vater die Nachricht, seine Tochter sei verunglückt, in eine offene Stelle gerathen, bis jetzt nicht wieder aufgefunden, der Bruder irre wie ein Verzweifelter am Ufer umher, und man fürchte ernstlich, daß sein Kopf aus den Fugen gehen werde.

Welch ein schauerliches Unglück! rief Frau Cornelie. Nun erinnere ich mich, in einer Zeitung davon gelesen zu haben, ohne die Namen. Kein Wunder, daß der unglückliche Bruder ein Grauen davor hat, diese Gegend je wieder zu betreten! –

Er hatte sich endlich losreißen müssen, die Eisdecke hielt den Leichnam zu fest verwahrt, und den Verstand darüber zu verlieren verbot ihm eine sehr ernste Pflicht. Den Vater hatte bei der Nachricht von diesem Jammerschicksale der Schlag getroffen; er lebte aber noch viele Monate und bedurfte den Sohn, und dieser sah und hörte täglich in den erloschenen Augen des Vaters und den gebrochenen Klagelauten das Gespenst jenes grauenhaften Unglücks. Wie der Alte dann endlich starb, ging der Sohn von seinem frischen Grabe weg in die weite Welt und hat nirgend Ruhe gefunden.

Armer, armer Mensch! Und die arme Lilli –

Sie weiß Alles. Obwohl ich mir sagen mußte, daß es nur dazu beitragen würde, ihr das Bild des Unglücklichen, da er so schuldlos leidet, tiefer ins Herz zu drücken. Aber ich hatte ihn schon zu lieb gewonnen, um es zu ertragen, daß ein Schatten auf seinem Bilde blieb, der Verdacht, eine Schuld trenne ihn von den Menschen. Laß dir's gestehen, Cornelie: sogar die Hoffnung sprach leise mit, die Zeit möchte diese schauerlichen Gespenster von ihm wegbannen, und man könnte mithelfen, ihn wieder dem Leben zurückzugewinnen. Auch scheint er selbst ernstlich bemüht, sich nicht verloren zu geben. Er ist seit acht Tagen, wie Max uns schrieb, wieder in der Stadt aufgetaucht, hat auch diesmal wieder, da er meinem Sohn auf der Straße begegnete, unwillkürlich ihm auszuweichen versucht; dann aber, wie mit einem plötzlichen Entschluß, sei er gerade auf ihn zu gegangen, habe ihm herzlich die Hand geschüttelt, sich nach uns erkundigt und sogar geäußert, seine Zeit sei zwar sehr beschränkt, er werde aber doch, wenn es irgend möglich sei, uns hier draußen aufsuchen.

Um Gotteswillen! Er wird doch nicht –! Wenn nun hier die ganze unglückselige Erinnerung ihn gewaltsam wieder überfällt –

Auch ich würde es fürchten, sagte Frau Hermine, und darum ließ ich ihn durch Max fragen, ob er uns nicht lieber in der Stadt wiedersehen möchte. Daß wir jetzt Alles wissen, hatte mein Sohn ihm nicht verhehlt. Er wollte aber nichts davon hören. Wenn irgend Etwas ihm die unheimlichen Stätten wieder gleichsam reinigen könnte von allem Grauen, so sei es die Nähe zweier Menschen, die er so verehre wie mich und meine Tochter. Und so leben wir seit einigen Tagen beständig in der Erwartung dieses auf alle Fälle aufregenden Wiedersehens. Lilli's Munterkeit ist zum Theil die Folge ihrer steten Bemühung, Niemand merken zu lassen, wie bange ihr Herz zwischen Furcht und Freude hin und her schwankt. Und ich –

Mein Gott! unterbrach sie sich plötzlich – da ist er selbst!

*

Aus dem Schatten der Bäume oben neben dem Landhause traten eben zwei junge Männer ins Helle heraus, und der Eine ließ einen fröhlichen Jodelruf erschallen, während er lebhaft seinen Strohhut schwenkte. Auch der Andere grüßte zu den beiden Frauen hinunter, folgte aber mit etwas langsameren Schritten seinem Begleiter, der munter den Gartenweg hinabeilte.

Da bring' ich ihn! rief Max schon von Weitem der Mutter entgegen. Haben wir uns nicht einen schönen Tag ausgesucht, – ein kleines Miniaturgewitter, Abendroth, Vollmond, Alles was man nur wünschen kann? Auch sind wir von der letzten Station an zu Fuß gegangen, so daß wir euch den richtigen Landappetit mitbringen. Hoffentlich, liebste Mama, kannst du uns noch satt machen. Aber wo steckt denn mein Lilliput? Und Fräulein Louison?

Die Mutter hörte nichts von Allem, was ihr übermüthiger Sohn nach seiner Gewohnheit in den Tag hinein plauderte, ohne es übelzunehmen, daß man ihm die Antwort schuldig blieb. Ihre ganze Sorge war davon in Anspruch genommen, welchen Eindruck dies Begegnen hier an dem verhängnißvollen Ufer auf Frank machen würde. Zu ihrer großen Beruhigung schien die Freude, seine mütterliche Freundin wiederzusehen, jede andere Regung in ihm niederzuhalten. Er küßte Frau Herminen mit inniger Ehrerbietung die Hand, fragte nach ihrem Befinden und ließ es sich wenigstens nicht anmerken, daß es ihm unlieb sei, ein fremdes Gesicht hier zu treffen. Es schien ihm eher erwünscht, sich hier in größerer Gesellschaft zu befinden, und er sprach so lebendig und heiter von einer Menge interessanter Dinge, daß Frau Cornelie Mühe hatte, in diesem angenehmen Gesellschafter den düsteren, menschenscheuen Träumer zu erkennen, von dem die Freundin ihr erzählt hatte.

Freilich, nur so lange er sprach. Sobald er schwieg, schienen die Züge seines geistreichen Gesichts gleichsam zu erstarren; die Augen allein leuchteten von unheimlich ängstlichem Leben, und ein nervöses Zucken der Augenbrauen verrieth ein geheimes Leiden. Dann aber brauchte nur die edle Frau, der sein Besuch galt, das Wort an ihn zu richten, um sofort eine stille, wehmüthige Heiterkeit über seine Züge zu verbreiten, die Jedem, der seine Geschichte kannte, den herzlichsten Antheil abgewinnen mußte.

Er war ganz schwarz gekleidet, von hoher Gestalt, das Haar trotz seiner Jugend schon hie und da mit grauen Flocken gemischt. Wenn er lächelt, flüsterte Frau Cornelie der Freundin zu, machen ihn seine schönen Zähne ordentlich hübsch.

Auch er fragte endlich nach Fräulein Lilli; in demselben Augenblick sah er das Mädchen mit ihrer Freundin aus dem Ufergebüsch hervortauchen und ihrem Bruder entgegenfliegen, der nach der Badehütte hinabgegangen war. Er schien ihr zu sagen, wen er mitgebracht, denn sofort machte sie sich von ihm los, strich sich die aufgelösten braunen Haare aus dem Gesicht, um die Röthe zu verbergen, die ihr bis über die Stirne gestiegen war, und eilte dann dem Gast mit unbefangener Herzlichkeit entgegen.

Wie schön, daß Sie Wort halten! sagte sie, ihm die Hand reichend. Es schien der Mutter gar zu unnatürlich, Sie in der Stadt zu wissen und Sie nicht zu sehen. Wir wären Ihnen gern entgegengekommen, aber es ist besser so. Das Jahr, seit wir uns nicht gesehen, hat Ihnen gut gethan, Sie haben viel mehr Farbe als damals. Aber nun muß ich Sie vor Allem mit meiner Freundin Louison bekannt machen.

Er erwiderte ein paar höfliche Worte, verneigte sich vor dem fremden Fräulein, schien dann aber nur Augen und Ohren für Lilli zu haben, die an seiner Seite blieb und ihn über seine letzten Reisen befragte. Es ist Alles wieder wie in Scheveningen, sagte sie lächelnd, nicht wahr? Sogar die flatternden Haare, die in der Luft vollends trocknen sollen. Und nicht einmal mein Herr Bruder ist inzwischen um zwölf Monate gesetzter und verständiger geworden.

Sie hatte eine liebliche, etwas tiefe Stimme, die dem Unbedeutendsten, was sie sagen mochte, einen eigenen seelenvollen Reiz verlieh. Auf den ersten Blick fand man die blonde Louison schöner, zumal sie es sehr gut verstand, ihre natürlichen Vorzüge mit allen kleinen Künsten einer Evastochter ins beste Licht zu stellen. Auch war Max offenbar wehrlos gegen ihre muthwilligen Blicke und die ausgesucht schlechte Behandlung, die sie ihm zu Theil werden ließ. Doch ein ernsthafterer Mensch, wie Frank, konnte nicht lange darüber in Zweifel sein, welche von den beiden Freundinnen den echteren Reiz besaß. Für ihn schien die Blonde gar nicht auf der Welt zu sein. Und gerade das stachelte den Uebermuth Louison's zu immer tolleren Raketenfeuern der Koketterie, so daß Max nicht aus dem Lachen kam und nur in den kurzen Pausen des Athemschöpfens einen verstohlenen Seufzer vernehmen ließ, da er, selbst neben dem unempfindlichen Fremden, mit seiner ritterlichen Huldigung nur schlechten Dank von dem muthwilligen jungen Fräulein erntete.

So waren die drei Paare lange durch den Garten gewandelt, und die Mutter erinnerte endlich daran, daß die Stunde des Nachtessens gekommen sei. In einem Zimmer des Erdgeschosses brannte die Lampe auf dem gedeckten Tisch, von Nachtschmetterlingen umschwirrt; die alte Christel, die Frank wie einen Hausfreund mit großer Zutraulichkeit begrüßte, trug die Speisen auf, man setzte sich und genoß behaglich nach dem schwülen Tage die Wohlthat, in dem luftigen Gemach sich an Speise und Trank zu erquicken.

Das Gespräch ward allgemeiner; Max, der neben Louison saß, gerieth endlich durch den Aerger über die geflissentliche Art, wie seine blonde Flamme ihr Interesse an Frank ihn merken ließ, in einen Humor der Verzweiflung, der ihm die witzigsten Einfalle eingab, so daß selbst seine ernste Mutter von der Heiterkeit der Anderen angesteckt wurde, während sie es ihrem Sohn im Stillen Dank wußte, daß er jene ahnungsvolle Beklommenheit so glücklich zu zerstreuen verstand.

Frank erkundigte sich, ob Lilli noch fleißig gesungen habe.

Sie soll Ihnen gleich ihre neuesten Lieder zum Besten geben, sagte die Mutter. Es sind gar schöne darunter, und unser Flügel ist auch hörenswerther, als das alte Scheveninger Klavier, dem die Seeluft einen so hartnäckigen Katarrh zugezogen hatte.

Man stand vom Tische auf und begab sich in den anstoßenden Salon, dessen Fenster und mittlere Flügelthür nach dem Garten hinausgingen. Ueber den sanft sich hinabsenkenden großen Rasenplatz sah man die Büsche unten am Seeufer und dahinter die weite Wasserfläche, auf der jetzt ein ruhiger Glanz des Mondes lag. Das Gemach war einfach und ländlich möblirt, ein chinesischer Mattenteppich deckte den Fußboden, einige schöne Stiche nach Claude le Lorrain'schen Landschaften hingen an den Wänden, in der Fensternische stand Lilli's Nähtisch, ein großer Flügel von dunklem Holz nahm die eine Wand ein und ein langes Sopha die andere. Die Hängelampe mitten im Saal wurde angezündet, die Mutter öffnete das Instrument und begann erst wie präludirend zu spielen, bis sich jenes geheimnißvoll rührende Rondo von Philipp Emanuel Bach daraus entwickelte, das Frank sich schon vorm Jahr immer von Neuem hatte vorspielen lassen. Der Gast hatte sich in Lilli's Stuhl vor das kleine Tischchen gesetzt und lauschte, das Gesicht in die Hand gestützt, während seine Augen gegen den hellen Nachthimmel gerichtet waren.

Er sprach kein Wort, als das Spiel zu Ende war. Louison, die von Allen allein nicht wußte, wer er war und welcher dunkle Schatten über seinem Leben lag, flüsterte Lilli, die neben ihr auf dem Sopha saß, ins Ohr: Der sonderbare Musikfreund scheint eingeschlafen zu sein!

Wenn Musik ihm zum Schlaf verhelfen könnte, wollte ich ihm die ganze Nacht vorsingen! erwiderte Lilli und stand auf, um aus einem Schrank in der Ecke ihre Noten zu holen. Max zündete die Kerzen am Flügel an und trat dann auf die Terrasse vor dem Gartensalon hinaus, wo man ihn rauchend im Mondschein hin und her wandeln sah, während seine Schwester sang.

Sie begann mit einigen Liedern, die Frank schon in Scheveningen gefallen hatten. Sie kannte seine Eigenheit, daß es ihm unmöglich war, nach einem Gesang, der ihm an die Seele gegangen war, mit einem Zeichen des Beifalls die nachklingende Stimmung zu stören. Und doch war das tiefe Schweigen ihres Gastes heut für die Sängerin wie für die Mutter, die sie begleitete, peinlich, da sie gern gewußt hätten, ob die Musik ihm wohl oder weh that.

Soll ich weitersingen? fragte Lilli endlich schüchtern.

Wenn Sie wüßten, Fräulein, wie durstig ich nach solcher Musik war, – wie eine halbverdorrte Pflanze nach einem warmen Regen! – Aber Sie halten mir schon meine Unart zu Gut, daß ich hier im Winkel sitze und alles Herrliche, was Sie mich genießen lassen, hinnehme, als müßte es so sein.

Sie nickte nur, aber mit einem frohen Gesicht, und zog dann ein neues Heft hervor, das sie vor ihre Mutter auf das Notenpult hinstellte. Dann sang sie die folgenden Strophen:

Es kommen Blätter, es kommen Blüten,
Doch keinen Frühling erlebt mein Herz.
Ich sitze trauernd ein Grab zu hüten,
Und um Cypressen schweift mein Schmerz.

– Die sanften Lüfte, fühl, wie sie tosen!
Die hohen Sterne, sieh, wie sie glühn!
Der neue Sommer bringt neue Rosen,
Und nur für Einen soll keine blühn? –

Für mich wird nimmer ein Kranz gewunden,
An meinem Herzen sind all' verdorrt.
Es wächst ein Kräutlein, das heilt die Wunden,
Das Kraut Vergessen – wer kennt den Ort?

– Wer darf vergessen, der je besessen,
Was tief im Herzen so theuer war?
Doch giebt's ein Gärtchen, da stehn Cypressen,
Die tragen Rosen im dunklen Haar! –

Sie hatte die letzten Tone vor verhaltener Bewegung kaum noch aus der Kehle gebracht. Ich muß wirklich aufhören, sagte sie, ich werde plötzlich so heiser, daß kein Ton mehr rein klingt.

Die Mutter stand auf. Warum hast du gerade das gesungen? sagte sie leise, indem sie den Flügel schloß.

Ich hab' es einmal wagen wollen, versetzte die Tochter. Es ist so unnatürlich, immer zu thun, als wäre Alles, wie es sein sollte.

Frau Cornelie trat jetzt zu ihnen heran und sagte, das Lied erinnere sie an einen Friedhof am Genfer See in der Nähe von Montreux, wo sie einen alten Cypressenbaum gefunden, den die Ranken eines Rosenstocks so durchwachsen hätten, daß er wie ein schwarzer Baum mit rothen Blüten ausgesehen habe. Wahrscheinlich sei dem Dichter durch ein ähnliches Naturspiel der Gedanke zu seinem Liede gekommen.

Frau Hermine und Lilli erwiderten nichts. Louison saß auf dem Sopha, ein wenig verwundert über die sonderbare Stimmung, in die man heut Abend gerathen war, verdrießlich über Max, der seine Cigarre der Pflicht, ihr den Hof zu machen, vorzog, und vor Allem mehr und mehr ungehalten über den fremden Gast, um den sich Alles so sichtbar bemühte, da er ihr doch nichts weniger als liebenswürdig vorkam. In der Pause, die nach dem Gesange eintrat, griff sie mechanisch nach einem Büchlein, das auf dem Tisch vor dem Sopha lag, und beschloß auch ihrerseits einmal möglichst unartig zu sein, da dies heute Abend die Losung zu sein schien, und mitten in der Gesellschaft zu lesen, als ob sie ganz allein wäre.

Es waren Gottfried Keller's »neuere Gedichte«, die sie noch nie in der Hand gehabt hatte. Sie blätterte ein wenig, las hie und da, und da man ihr in der Pension wegen ihrer schönen Declamation immer großes Lob gespendet hatte, kam ihr plötzlich der Einfall, sich hören zu lassen, um auch ihrerseits dem Fremden, der sie so wenig beachtete, interessant zu werden. Ueberdies hatte sie ein Gedicht gefunden, dessen schauerliche Schönheit selbst auf ihre nicht sonderlich tiefe Natur einen wundersamen Eindruck machte.

Wollt ihr einmal zuhören? rief sie. Da ist ein Gedicht, das ist wie lauter Musik und dabei so recht für unsere heutige Gesellschaft, wo man nur von melancholischen Dingen hören will. Ihr müßt nur vorlieb nehmen mit meinem schlechten Lesen.

Dann las sie:

Nicht ein Flügelschlag ging durch die Welt,
Still und blendend lag der weiße Schnee,
Nicht ein Wölkchen hing am Sternenzelt,
Keine Welle schlug im starren See.

Aus der Tiefe stieg der Seebaum auf,
Bis sein Wipfel in dem Eis gefror;
An den Aesten klomm die Nix' herauf,
Schaute durch das grüne Eis empor;

Auf dem dünnen Glase stand ich da,
Das die schwarze Tiefe von mir schied;
Dicht ich unter meinen Füßen sah
Ihr weiße Schönheit Glied für Glied.

Mit ersticktem Jammer tastet' sie
An der harten Decke her und hin.
Ich vergeß' das dunkle Antlitz nie,
Immer, immer liegt es mir im Sinn!

Kaum hatte sie geendigt, so erhob sich Frank. Er war todtenblaß geworden, seine Augen irrten am Boden, wie tastend streckte er die Hände vor sich hin, um die Thüre zu finden, die ins Freie führte. Wenn die Mutter und Lilli nicht selbst vom Schrecken über das Gedicht, das so schneidend in die alte Wunde drang, wie gelähmt gewesen wären, hätten sie hinzueilen und dem Wankenden die Hand bieten müssen. So aber starrten sie ihn in rathloser Verstörung an, wie er jetzt an der Schwelle sich umwandte und mit mühsamer Stimme sagte: Es ist mir auf einmal – ich bitte, sich ja nicht stören zu lassen, – es wird sogleich im Freien besser werden – bitte, bitte, meine Gnädige! – und indem er fast gebieterisch mit der Hand abwehrte, daß Niemand ihm folgen sollte, schritt er auch an Max, der ihn anrief, mit ablehnender Geberde vorbei und verschwand im Dunkel der Bäume.

*

Zehn Minuten später ging die Mutter ihm nach. Sie fand ihn auf einer Bank, die im dichtesten Schatten stand, er hatte das Gesicht in die beiden Hände gedrückt und den Kopf auf die hölzerne Lehne sinken lassen. So überhörte er eine Weile ihre Annäherung, und erst als sie ihm die Hand leise auf das Haupt legte und ihn mit mütterlichem Ton beim Namen rief, fuhr er in die Höhe, und sie sah sein von zerdrückten Thränen nasses Gesicht und seine zuckenden Lippen.

Lieber Freund, sagte sie, verdenken Sie mir's, daß ich Sie in Ihrer tiefen Verdüsterung nicht sich selbst überlassen kann? Ich müßte Sie nicht so liebgewonnen haben, fast wie einen eigenen Sohn, wenn ich Ihnen nicht Alles nachfühlen sollte, was dieser unglückselige Zufall in Ihnen aufgeregt hat. Darf ich mich hier zu Ihnen setzen, und wollen Sie mir Ihre Hand überlassen? Meine Kinder behaupten, wenn sie krank sind und ich sitze neben ihrem Bett und halte ihre Hand, so werde ihnen besser.

O meine theure, gütige Freundin, rief er, meine zweite Mutter, ziehen Sie Ihre Hand von mir ab, es bringt Ihnen nur Unheil, daß Sie so viel Liebe und Erbarmen an mich elenden Menschen verschwenden! Ich hätte es wissen sollen, daß es zu kühn war, zu glauben, in Ihrer Nähe würden keine Gespenster sich an mich wagen; sie haben die Herausforderung übelgenommen und mir nun gezeigt, wie viel Macht sie noch über mich haben und ewig behalten werden. Mir war vorhin so wohl! Sie wiederzusehen, Ihre Kinder, die seelenvolle Stimme ihrer Tochter zu hören – ich glaubte wahrhaftig einen Augenblick, es sei nun Alles gewonnen, ich sollte noch einmal leben wie andere Menschen. Aber die Krankheit sitzt schon zu tief in meinem Blut. Nur ein winziger Tropfen vom Gift der Erinnerung – und gleich ras't es mir wieder wie eine Hölle durch alle Fasern meines Daseins. Nein! – und er sprang auf und suchte seine Hand aus der ihrigen zu lösen – es ist besser, ich fliehe wieder, so weit meine Füße mich tragen, als daß ich gute Menschen, die besten, gütigsten Freundesseelen anstecke mit meinem Unglück, und so hoffnungslos wie ich bin –

Sie lästern die Vorsehung, Frank! sagte die Frau mit Nachdruck. Es ist nicht wahr, daß Sie alle Heilmittel erschöpft haben. Darf ich ganz offen mit Ihnen sein? Sehen Sie, lieber Freund, in einem so unstäten, unthätigen Leben, wie Sie es geführt, wird man nicht Meister über einen Gram, der so berechtigt ist. Aber wenn Sie bedenken wollten, daß Niemand ohne Wunden, ohne bittere Erinnerungen sein Erdenschicksal vollbringt und Jeder dennoch die Pflicht zu üben hat, für Andere zu sorgen und zu wirken, – Sie schütteln den Kopf, lieber Frank, Sie wollen sagen, daß Sie für Niemand dazusein haben. Aber sind nicht auch wir für Sie da? Da wir nun einmal Sie kennen und lieb haben, sind Sie nicht auch uns etwas schuldig? Wollen Sie uns den Kummer machen, ganz ohnmächtig zu Ihrer Rettung gewesen zu sein, trotz unsres herzlichsten guten Willens? Gönnen Sie uns nicht lieber die Freude, Sie ins Leben wieder zurückgeführt zu haben?

O liebste Mutter, rief er, nun ihre beiden Hände ergreifend, wenn ich Sie so reden höre – wenn ich Sie immer und immer nur Sie reden hören könnte! – Aber es ist unmöglich. Sie wissen nicht – wissen nicht Alles

Alles weiß ich, lieber Sohn, und dennoch sage ich: vertrauen Sie auf die Macht der Liebe und den Segen der Zeit! Glauben Sie nur ein bischen an Wunder! Ist es nicht schon eines, daß wir uns gefunden haben, unter den tausend Menschen, die seit vier Jahren an Ihnen vorbeigegangen, endlich die rechten und Ihnen notwendigen, die Ihnen eine neue Familie sein sollen und Nichts dafür verlangen, als daß Sie sich nicht gewaltsam und eigensinnig von ihnen abwenden? Gewiß, kaum Sie selbst können so heftig von dem, was eben vorgefallen, erschüttert worden sein, wie wir. Aber vielleicht war es gut, daß es einmal zu einem starken, Gott gebe letzten Anfall Ihres Leidens kam, damit wir uns aussprechen konnten. Ich wäre sonst vielleicht noch lange zu feige gewesen. Nun aber sage ich Ihnen, daß ich Ihre Hand fasse und nicht eher wieder loslasse, bis sie mir versprochen haben, ein Mann sein zu wollen, Ihr Leben als eine Aufgabe, nicht als eine Last zu betrachten und Alles zu thun, was ein redlicher Wille vermag, um ein schweres Schicksal zu besiegen.

Er drückte ihre Hand wieder und wieder, schwieg aber, und sie wußte nicht, ob er zustimmte, oder ihre Worte nur nicht bestritt, um sie nicht zu betrüben. Es dünkte ihr aber schon viel gewonnen, daß er ruhiger geworden war und offenbar sich ihrer mütterlichen Einwirkung gern überließ. So drängte sie ihn auch nicht, irgend welche Versprechungen zu machen und Entschlüsse zu fassen, sondern sprach noch eine Weile gütige und eindringliche Worte, indem sie von eigenen gewaltsam-traurigen Erlebnissen erzählte und wie sie gerungen habe, auch die bittersten Schmerzen mit fester Resignation zu überwinden. Er hielt ihre Hand dabei in den seinen und streichelte sie leise und sagte nur, als sie endlich schwieg: Ich danke Ihnen; ich danke Ihnen tausendmal! Ich wollte, ich könnt's Ihnen je vergelten.

Darüber war es spät geworden; sie hörten vom Dorfkirchthurm die zehnte Stunde schlagen. Gehen wir jetzt hinein, sagte Frau Hermine; morgen ist auch ein Tag, und hoffentlich haben wir noch viele, um von dem zu reden, was man nie zu Ende spricht.

Im Gartensaal fanden sie Niemand mehr als Max. Die Anderen ließen durch ihn gute Nacht wünschen, Lilli habe ein wenig Kopfweh gehabt, sie fürchte, sich im Bade erkältet zu haben. – So wurde des Vorfalls mit keiner Silbe mehr erwähnt; das Buch, in welchem das unselige Gedicht stand, war beiseite geschafft worden, auf dem Sopha ein Bett aufgeschlagen.

Sie werden nebenan in Max' Zimmer die Nacht zubringen, lieber Frank, sagte die Mutter. Unser eigentliches Fremdenstübchen ist von meiner Freundin und ihrer Tochter in Beschlag genommen.

Und Max? fragte der Gast.

Ich campire hier im Salon. Das alte Schlafsopha, kann ich Sie versichern, ist nicht zu verachten.

Wenn Sie mich nicht aus dem Hause treiben wollen, lieber Freund, so bleiben Sie ruhig in Ihrem gewohnten Zimmer und überlassen mir dieses Lager. Ich versichere Sie, daß ich in Ihrem Bett kein Auge zuthun würde. Helfen Sie mir, liebe Mama, ihn zu überzeugen, daß es so am besten ist.

Die Mutter wechselte einen Blick mit Max, und es geschah nach dem Wunsch des Gastes. Nur bat dieser, eh' er sich von seiner Wirthin trennte, die ganze Nacht die Lampe brennen lassen zu dürfen, die von der Mitte des Saales aus alle Winkel erleuchtete. Dann schieden sie mit einem Händedruck, und alle Drei gingen zur Ruhe.

*

Doch währte es noch lange, bis die Mutter zur Ruhe kam. Ihr Schlafzimmer lag im obersten Stock des Hauses, gerade über dem Gartensalon. Daneben war Lilli's Stübchen. Sie fand die Tochter noch angekleidet am Fenster sitzen, sagte ihr, was sie mit Frank gesprochen und daß sie fest vertraue, er werde sich nun zurechtfinden.

O Mutter, rief das Mädchen, sich an ihren Hals werfend, es ist so furchtbar traurig! Du sagst, was du nicht glaubst, um mich zu beruhigen. Auch ich, wie ich das Lied sang, wollte mich damit beschwichtigen, aber mittendrin fühlte ich, es ist umsonst. Hat er nicht gesagt, du wüßtest noch nicht Alles? Was kann er meinen? Ach, ich wußte es wohl, ihr Tod allein, so sehr er sie auch geliebt haben mag, – wie kann ihm der bloße Verlust eines noch so theuren Menschen sein ganzes Leben so völlig zerstören, da Männer sich sonst über das Schwerste hinweghelfen mit Arbeiten, Plänen und Ehrgeiz? O Mutter, wer doch Alles wüßte, wer doch helfen könnte!

Sie hatte sich endlich mit ihren Thränen und Klagen ein wenig das Herz erleichtert; es war das erste Mal, daß die Mutter so in ihr Inneres blicken durfte. So ließ sie es sich endlich gefallen, wie ein Kind ausgekleidet und zu Bett gebracht zu werden, und drang nun auch in die Mutter, sich niederzulegen.

Aber die bekümmerte Frau, obwohl sie sich in ihr Zimmer zurückzog und sogar zu Bette ging, fand so bald noch keinen Schlaf. Sie hörte deutlich, wie ihr Gast unten im Saale ruhelos auf und ab wanderte; einmal öffnete er sogar die Glasthür und schien ins Freie zu treten. Dann hörte sie die Thür schließen, aber die Schritte wieder hin und her gehen. Endlich wurde es still, und ihre heimliche Angst, daß es ihn nach dem See hinunterlocken möchte, war für diesmal beruhigt. Sie hatte zwar Max eingeschärft, auf jedes Geräusch nebenan zu horchen, um gleich bei der Hand zu sein. Der aber hatte einen so gesunden Schlaf. Er mochte nicht einmal gehört haben, daß die Glasthür klirrte und dann behutsam wieder zugemacht wurde.

Die Mitternacht kam sacht herbei, die schweren Lider der Frau hatten sich seit einer halben Stunde geschlossen, da weckte sie ein seltsamer Ton, der aus dem Saal unten herausdrang. Sie fuhr im Augenblick in die Höhe, ein kalter Schweiß trat ihr auf die Stirn, und sie horchte im Bette aufgestützt durch den Fußboden hinab in den unteren Raum. Wieder klang es, abgerissene Laute, bald schwächer, bald stärker, wie tiefes Stöhnen eines Schwerverwundeten, oder das todesbange Aechzen eines Menschen, dem die Kehle zugeschnürt wird. Der Mond drang nur in unsicheren Strahlen durch die Ritzen der festgeschlossenen Läden. Ohne erst Licht zu machen, kleidete sie sich mit fliegender Hast wieder an, war aber noch nicht damit zu Ende, als ein halb erstickter Schrei von unten heraufdrang, dann ein dumpfer Ton, wie der Fall eines schweren Körpers, dann tiefe Stille.

Einen Augenblick sank die Frau auf das Bett zurück, ihre Kniee wollten ihr den Dienst versagen. Dann nahm sie ihr Herz fest in die Hände und schlich, an der Wand sich forttastend, zur Thür hinaus. Daß ihre Tochter nebenan ruhig fortschlief, stärkte ihr den Muth.

Sie wankte die Treppe hinab, schritt durch den Speisesaal, der gestern so viel fröhliches Lachen vernommen hatte, und stand dann horchend an der Thür des Gartenzimmers. Nichts regte sich, nichts konnte sie durchs Schlüsselloch sehen, als daß die Lampe nicht mehr brannte, der Mond aber hell zu den drei Fenstern hereinsah. Da ermannte sie sich vollends, öffnete geräuschlos die Thür und trat ein.

Alles schien in tiefem Frieden. Aber das Bett auf dem Sopha war leer. Auf dem Boden daneben lag, in seinen Kleidern, nur den Rock hatte er abgestreift, den Kopf mit geschlossenen Augen weit zurückgebogen, die geballten Fäuste vor die Augen gedrückt, der Unglückliche, dessen Stöhnen sie geweckt. Er schien aber jetzt zu schlafen; nur ein Wimmern brach aus seinem Munde, seine Glieder rührten sich nicht.

Nun fühlte er eine weiche Hand auf seiner Stirn, eine andere, die ihm sanft die Hände von den Augen nahm. Gleich darauf kam er vollends zur Besinnung, richtete sich mühsam auf und sah der edlen Frau, die neben ihm auf dem Binsenteppich kniete, mit einem ängstlichen Blick ins Gesicht.

Sind Sie es! rief er. Was hat Sie hergeführt? O mein Gott – haben Sie es miterlebt? – haben Sie sie auch gesehen? – und – sind sie denn auch wirklich fort?

Von wem sprechen Sie, lieber Freund? fragte die Mutter, während sie mit heimlichem Grauen den Blicken folgte, die er suchend in allen Winkeln des mondhellen Raumes herumgehen ließ. Wer soll denn dagewesen sein? Die Thür ist geschlossen, das Zimmer ist leer, – Sie haben geträumt.

Meinen Sie? sagte er mit einem bittern Lächeln. Ich hab' es sonst wohl auch gemeint – aber heut – aber hier! – Wie bin ich nur hier auf den Fußboden gekommen? O meine theure Freundin, wie gütig von Ihnen – aber lassen Sie es jetzt genug sein – Sie sehen ja, es ist umsonst –

Er versuchte bei diesen gestammelten Worten aufzustehen, aber eine übermächtige Erschöpfung schien ihn zu lähmen, er sank wieder auf das Bett und verbarg einen Augenblick sein Gesicht im Kissen.

Die Mutter hatte sich erhoben, sie trat ganz nah zu ihm hin und streichelte ihm sanft das Haar. Lieber Frank, sagte sie, ich will Alles wissen. Sie sollen sehen, wenn Sie es mir nur anvertraut haben, wird es viel von seinen Schrecken verlieren. Was ist Ihnen begegnet? Wen oder was haben Sie hier zu sehen geglaubt?

Geglaubt? O meine beste Freundin – ich habe so gute Augen, das ist ja eben das Unglück, ich sehe, was andere Menschen nicht sehen, und nur die Blinden sind glücklich! Zumal in der Nacht, da bin ich so klarsichtig wie ein Uhu. Darum wollt' ich die Lampe brennen lassen, – der Mondschein dazu – es war so taghell, daß ich glaubte, sie wagten sich nicht herein.

Wer, lieber Freund?

Ja wer! Ich weiß es nicht, wer sie sind. Auch kommen immer Andere. Aber sie waren in der letzten Zeit seltener gekommen, ich dachte, sie seien es endlich müde, mich zu ängstigen, diese furchtbaren Spukgesichter. Und heute – heute war's gewiß mehr als Traum, glauben Sie mir's nur – ich sah's, wie ich Sie jetzt sehe, und hatte die Augen grade so weit offen, – und fühlte – o was ich fühlte!

Aber ich fand Sie doch schlafend!

O nein! das war kein Schlaf, das war Ohnmacht, so hatten sie mich um alle Sinne geängstigt. Denn hören Sie nur: wie ich endlich – es mochte gegen Mitternacht sein – wie ich eine Müdigkeit spürte und dachte, jetzt würde mich's schlafen lassen –

Sie sind aber auch nicht ordentlich zu Bett gegangen. So in den Kleidern –

Doch! Ich schlafe immer so. Ich entkleide mich nie. Mir ist, als sei ich dann weniger wehrlos. Und heute schlief ich auch ganz fest ein und fühlte die Erquickung, zu ruhen, unter Ihrem Dache, in Ihrem Schutz, meine theure Mutter. Da, auf einmal – ich weiß nicht, wie lange ich so geschlummert hatte, ganz ruhig und traumlos – da hör' ich ein Geräusch, wie wenn die Glasthür vorsichtig aufgemacht würde, und der Wind konnte es doch nicht sein, ich hatte sie selbst sorgfältig geschlossen. Und so richte ich mich auf, immer noch ganz arglos, und sehe – wie gesagt, so deutlich, wie Sie da vor mir sitzen – obwohl die Lampe ausgegangen war – der Mond aber schien kreideweiß herein, und im Mondschein sah ich – ein Weib, das hereinkam, ein wildes, garstiges Weib, die Haut glänzend wie eine Fischhaut, die Haare hingen ihr triefend über den Rücken, ein Kind trug sie an der Brust, ein anderes hielt sich mit beiden Händen an ihren schwarzen Flechten fest und zottelte so hinterdrein – nun sah ich sie deutlich: es war das Seeweib!

Sie schütteln den Kopf, aber hören Sie nur weiter, Sie werden selbst nicht länger zweifeln können. Wenn Sie sie nur gesehen hätten! Sie ging watschelnd auf zwei dicken Füßen wie eine Ente, und als sie jetzt das Gesicht nach dem Fenster kehrte, sah ich ihre glasigen grünen Augen und den großen Karpfenmund mit Zähnen wie Fischgräten. Aber es war seltsam, mir graute gar nicht vor ihr, und sie selbst schien ganz gut gelaunt. Sie lachte sogar über das ganze Gesicht, wie sie sich plötzlich in dem schönen blanken Zimmer fand, als hätte sie eine besondere Freude, endlich einmal ihre Neugier zu befriedigen, wie es wohl in einer Menschenwohnung aussehen möchte. So tappte sie mit leisem, unheimlichem Schmatzen und Kichern rings herum, die Kinder immer an ihr hängend, aber keines der Kleinen gab einen Laut, auch ihr Lachen hörte man nicht. Wie sie nun zu dem Flügel kam, betastete sie ihn erst von allen Seiten und schien sich sehr zu verwundern, was es wohl für ein Ding wäre und wozu es dienen möchte. Als das größere Kind seinen breiten, zottigen Kopf daran stieß, da klirrten innen die Saiten, und nun lachte sie wieder. Und Gott weiß, wie sie dahinter kam, das Instrument zu öffnen – plötzlich hatte sie sich auf dem Stuhl davor hingekauert und wischte mit der Hand über die Tasten, und das Kind glitt ihr vom Schoß und kugelte unbeholfen über den Boden hin, sein Bruder hinterdrein, und so wälzten sie sich wie zwei Fische im Sande, während die Mutter mit Fäusten und Ellbogen auf die Tasten stampfte, daß Alles zu springen drohte. Haben Sie denn gar nichts davon gehört? Ich wenigstens, obwohl ich noch immer kein Grauen spürte, – beständig dacht' ich, wie es Sie wohl erschrecken möchte! Aber ich war unfähig mich aufzurichten und das eingedrungene Gesindel zu verjagen; wie Blei lag mir's in allen Gliedern, nur mit den Augen konnt' ich ihr drohen, aber sie bemerkte es gar nicht, sie schien nicht einmal zu ahnen, daß ein Mensch im Zimmer sei.

Das dauerte – ich weiß nicht, wie lange. Sie schien den entsetzlichen Lärm nicht satt zu bekommen. Ich sah sie so genau, daß ich sie hätte zeichnen können, ihre Haut schimmerte wie von Schuppen, silbergrau, aber sie hatte doch keine Schuppen, und ihre Lippen waren fleischfarben, statt roth, ihre Nase ganz stumpf, der Ausdruck wie von einem Raubfisch, lauernd und böse, außer wenn sie lachte über ihre Musik und die ungeschickten Tanzversuche der Kleinen. Die aber schienen noch Schuppen zu haben und kleine Flossen am Rücken, während die Mutter ganz wie ein Weib gebildet war, aber keine Spur von schöner Nixengestalt, wie man sie wohl auf Bildern sieht, – ein Scheuel und Gräuel!

Und eben überlege ich, ob ich mir nicht doch ein Herz fassen und die Brut hinausjagen soll, da seh' ich noch Etwas draußen auf die Thüre zukommen, und es nähert sich der Schwelle – und jetzt klirrt die Thür – und jetzt – o liebe Frau! dieses Gesicht! O wenn Sie sie gekannt hätten – wie sie schon im Leben, mit ihrer unschuldigsten Miene, mit einem Lächeln oder einem ganz gelassenen Blick einem das Herz rühren konnte! – und nun – nun so! Meine arme, arme Marie!

Auch sie schien sich erst gar nicht darum zu kümmern, daß ich da war. Sie ging auf das Seeweib zu und deutete und drohte – Alles ganz lautlos, aber es überlief mich ein Schauder bis in die Fußspitzen, wie ich sie mit dem Halbgeschöpf wie mit ihresgleichen sich unterhalten sah, und das Seeweib sie frech angrinste mit den offenen Lippen und nun die Jungen zu ihr hinkrochen und an ihr hinaufklettern wollten. Sie schüttelte sie aber ruhig ab und trat dann mitten ins Zimmer, – und jetzt richtete sie ihre Augen zum ersten Mal auf mich. Schwester! wollte ich rufen, aber ich brachte keinen Laut aus der Kehle. Ich sah sie nur immer an. Sie war völlig wie damals, hatte aber die Haare lose um die Schultern hängen und so etwas wie eine grüne Binsenmatte um den Leib. Dabei sah ich, wie sie fror, und hörte ihre kleinen Zähne aufeinander klappern. Und dann warf sie einen Blick durch das ganze Zimmer und besonders nach der Fensternische mit dem Nähtisch, und ich hörte sie laut aufseufzen. Das Seeweib klirrte noch immer auf den Tasten, fast war ich nun froh darüber, denn ich fürchtete mich, die Stimme wieder zu hören, die mir damals so kläglich zugerufen hatte, ich sollte ihr zu Hilfe kommen, und ich – ich Elender –

Er vergrub wieder das Gesicht in den Händen, ein Krampf schien seine ganze Gestalt zu schütteln, dann faßte er sich gewaltsam und sah wieder in die Höhe.

Wobei war ich doch? fragte er. Ja so, wie sie mich ansah. Ich machte eine Bewegung, aufzustehen, aber eh' ich mich's versah, saß sie neben mir, hier auf dem Bette. Warum willst du fort? hörte ich sie jetzt sagen. Es hilft dir doch nichts, du entgehst mir nicht, du kommst doch noch zu mir. Wenn du wüßtest, wie einsam es mir ist, wie es mich friert da unten, – fühl nur meine Hände! – und dabei drückte sie mir ihre weißen Finger gegen die Schläfen, daß es mich eisig durchschauerte. Ja, ja! sagte sie und lachte schadenfroh, als sie sah, wie ich zusammenfuhr, du bist es besser gewöhnt; die Sonne hier oben ist warm, und selbst der Mond und die Augen des schönen Mädchens, das du liebst, sind sanfter, als die da – und sie deutete mit dem Kopf nach dem Seeweib. Aber bilde dir nicht ein, daß du das Alles genießen wirst, während ich frieren muß in meinem nassen Abgrund. Du möchtest dich wohl in einem warmen Bette ausstrecken und das schöne Leben ans Herz drücken; versuch es nicht! Ich komme und lege mich mit hinein, und weh über das arme junge Ding und dreimal weh über dich!

Habe doch Erbarmen! konnt' ich endlich stöhnen. Siehst du nicht, wie jammervoll ich lebe? Soll es nie gebüßt sein? Soll ich ganz zu Grunde Zehn?

Zu Grunde, ja wohl! sagte sie und fing dabei an mit der gleichgültigsten Miene ihr Haar auszudrücken, daß ich die Tropfen auf die Matte fallen hörte. Erbarmen? Hast du dich denn meiner erbarmt? Und sind wir nicht Bruder und Schwester und haben uns so lieb gehabt? Soll denn das nie aufhören, weil ich unglücklich bin und du –

Und dabei immer das wahnsinnige Klirren und Dröhnen der geschlagenen Saiten.

Der Todesschweiß trat mir auf die Stirn, ich fühlte, wie mir das Blut in Händen und Füßen stockte und die Kälte mehr und mehr nach dem Herzen drang. Nur zu! dachte ich. Nur noch ein paar Zoll höher hinauf, so ist mit Einem Schlage Alles aus, und sie hat ihren Willen, sie hält einen Leichnam in ihren Armen. Da sehe ich, wie das ältere von den kleinen Ungeheuern sich an das Bett schleicht, und plötzlich kriecht es über die Decke zu mir hinauf und tappt mit seinen feuchtkalten Händen nach meiner Brust, nach meinem Halse, und fängt an mich zu drücken und zu kneipen, und sieht mich so mordlustig mit den kleinen geschlitzten Fischaugen an, daß ich ächzend um mich schlage, mich seiner zu erwehren, und dazwischen, um Hülfe flehend, suchen meine Augen die Blicke meiner Schwester, – die aber starren mich kalt und erbarmungslos an, und immer fester krampfen sich die Hände der kleinen Kröte um meinen Hals, ich stöhne immer verzweifelter, schon will mich die Besinnung verlassen, da ermanne ich mich mit letzter Kraft, stoße die mörderischen Krallen von mir weg und fahre mit einem Schrei in die Höhe. In demselben Augenblick wird der Flügel zugeschlagen, das Seeweib schnellt vom Stuhl auf, reißt die Kinder an sich, stürmt durch die Glasthür in die Nacht hinaus und auch die Gestalt an meinem Bett ist verschwunden. – –

*

Er hatte das Letzte so laut herausgeschrieen, daß der Schläfer im Nebenzimmer davon erwachen mußte. In höchster Bestürzung sprang Max aus dem Bette, warf nur den Schlafrock um und öffnete hastig die Thür. Er sah den Freund auf seinem Lager ausgestreckt liegen, das Gesicht wieder ins Kissen vergraben, die Mutter an seiner Seite sitzend. Sie winkte dem Sohn mit einer ernsten Geberde, daß er sich wieder zurückziehen und sie nicht stören solle. Dann, als Jener die Thür geräuschlos wieder geschlossen hatte, neigte die Frau sich zu dem Unglücklichen hinab und drückte einen Kuß auf sein Haar.

Armer, armer Freund! sagte sie leise. Was haben Sie gelitten! Was müssen Sie noch immer leiden! Aber sagen Sie selbst, kann denn das Ihre Schwester gewesen sein, die jene furchtbaren Worte gesprochen hat: es giebt kein Erbarmen? Der Geist einer Schwester, wenn er den Weg zu Ihnen fände, würde er nicht Alles thun, was in seiner Macht stände, Ihre verstörten Sinne, Ihre kranke Phantasie zur Ruhe zu bringen? Warum sollen Sie denn büßen, was Sie nicht verschuldet haben, was ein höherer Wille verhängt hat?

Er richtete sich langsam auf und ergriff ihre Hand. Und wenn ich es nun doch verschuldet hätte? fragte er mit tonloser Stimme. Und ich habe es verschuldet! Ich hätte sie retten können, vielleicht, und ich war feige und habe mich selbst gerettet! Begreifen Sie es nun? Ich hatte sie freilich gewarnt, das Eis sei nicht mehr dicht genug, ich hielt ihre Hand fest und wollte sie wegziehen, nach dem Lande zu, aber muthig und muthwillig, wie sie war, lachte sie über meine Sorge, und plötzlich war sie mir entschlüpft und fuhr in einem schönen kühnen Bogen gerade auf die gefährliche Stelle zu, und da – ehe ich nur noch einmal sie anrufen konnte – da sank sie ein, ihr Hütchen mit dem blauen Schleier glitt pfeilschnell über die glatte Fläche hin – Bruder! zu Hülfe! war das Letzte, was ich von ihr vernahm – dann sah ich nur noch ihre beiden kleinen Hände an den Rand des Eises angeklammert, das schon von den Wellen überspült war – und sah's und stand – und hätte vielleicht mit einem raschen Wagniß sie noch erreichen, ihre Hände fassen, uns mit Schwimmen wieder emporarbeiten können, oder wenn das nicht gelingen konnte – ich elender Feigling! – warum habe ich nicht lieber mit ihr den Tod gefunden, als auf der festen Scholle die Hände ringend sie langsam versinken sehen! – –

Ein langes, dumpfes Schweigen folgte auf dieses Bekenntniß.

Er hatte den Kopf auf das Kissen zurückgelegt und starrte mit unverwandtem Blick gegen die Decke des Saales. Die Frau lag im Sessel neben seinem Bett, die Augen auf den See hinausgerichtet. Ihre Hand hing über die Lehne herab, ganz nah bei der seinen. Aber sie berührte sie nicht mehr.

Und doch siegte endlich das mütterliche Gefühl.

Wollen Sie mich ruhig anhören, lieber Frank? sagte sie.

Er schüttelte langsam den Kopf.

Nein, meine theure Freundin, sprechen Sie nichts mehr darüber. Was hätten Sie mir zu sagen, wenn Sie Ihr eigenes Herz nicht betrügen wollen, als daß Sie mich beklagen, und doch heimlich verachten? Ja, verachten, wie Sie es thun würden, wenn Sie hörten, ich hätte vor einer Schlacht mich schnöde weggeschlichen und sei infam cassirt worden, da meine Kameraden nicht mehr mit mir dienen wollten.

Das, was ich Ihnen da gebeichtet, weiß sonst keine lebende Seele. Aber ich selbst – ich selbst vergesse es nie, und darum habe ich mich selbst cassirt, und darum ist meines Bleibens nirgend, wo arglose Menschen leben, die sich verleiten lassen, mich lieb zu gewinnen, ohne zu ahnen – Oder wollten Sie mir zu jener ersten Schmach noch die neue zutrauen, den Frevel, die Ruchlosigkeit, zu einem Mädchen zu sagen: ich bin ein etwas trüber Geselle, ich habe eine geliebte Schwester verloren und einen guten Vater, das hat mir eine gewisse Schwermuth zugezogen, aber wenn du darüber hinwegsehen, mich lieben und die Meine sein willst, hoff' ich wieder ein recht vergnügter Mensch zu werden? Könnten Sie mir zureden, eine solche Ehrlosigkeit zu begehen? Nun sehen Sie, und wenn ich ehrenhaft handle, wenn ich ihr Alles sage, was ich Ihnen jetzt gesagt, wird sie einem so selbstisch feigen, so unritterlichen Manne ihr Leben anvertrauen? Kennen Sie Eine, die nicht mit derselben Verachtung sich abwenden würde wie – wie ihre Mutter?

Die Mutter näherte ihr Gesicht dem seinigen. Und wenn ich Eine kennte? sagte sie leise; Eine, die gleich mir fragen wird, wer einen so schwer Getroffenen mit andern Augen ansehen könnte, als mit denen des tiefsten Mitgefühls? O mein theurer Sohn, hätten Sie doch schon früher Ihr Herz ausgeschüttet! Diese überreizte Vorstellung, die Sie sich von einer vermeintlichen Schuld gebildet und so hartnäckig tiefer und tiefer ins Herz gedrückt haben – gewiß, lieber Freund, Sie wären längst davon zurückgekommen. Jedes unbefangene Ehrengericht würde Sie freigesprochen haben, gerade weil Sie selbst sich so hart anklagen. Sagen Sie doch nur: ein Bruder, der seine Schwester so innig liebt, dessen ganzes Glück an ihr hängt und der sonst ein edler und tapferer Mensch ist und keinen Flecken je auf seiner Ehre geduldet hat, – der sollte feige gewesen sein, wo es sein Theuerstes galt, wenn es nicht die bare Unmöglichkeit war, zu helfen, wenn nicht eine physische Erstarrung, gegen die alle Seelenkraft ohnmächtig, seine ganze Natur gelähmt hätte? Es ist unmöglich, lieber Sohn, und darum tragen Sie das Entsetzliche als ein Schicksal, nicht als eine Schuld!

Sie legte ihre Hand wieder auf die seine. Er ergriff sie aber nicht. Ich danke Ihnen, sagte er. Sie meinen es gut und sprechen klug und tröstlich, wie nur ein Engelsmund sprechen könnte. Nichts läßt sich dagegen einwenden, ich bin durch langes Nachsinnen auch schon darauf gekommen, am Ende möchte es sich so verhalten; aber sehen Sie, alle Advocatenkünste der Welt können es nicht ändern: daß sie todt ist und ich noch lebe. Lassen Sie es auf sich beruhen, beste Frau. An der ewigen Notwendigkeit des Weltlaufs ändern wir ja doch nichts. Es wird seine guten Gründe haben, daß die heroische Ader mir fehlt, die Alles an Alles setzt auf Tod und Leben. Viele Menschen, die große Mehrzahl sogar behilft sich ganz vortrefflich ohne das; warum will ich mehr von mir verlangen? Und so – und in dieser bescheidenen Schätzung meiner selbst kann ich vielleicht noch alt werden, ein nützliches Glied der menschlichen Gesellschaft, nur freilich muß ich mich nicht zu der Elite verirren, da werde ich gleich unsanft daran erinnert, was mir fehlt. Und darum wollen wir morgen freundschaftlich von einander Abschied nehmen, für immer. Sie versichern mich noch einmal Ihrer Achtung, und ich –

Thränen drangen ihm unwillkürlich in die Augen, er wandte das Gesicht ab und schwieg. Sie saß wohl noch eine Stunde neben ihm, alle guten Worte aufbietend, die das Herz ihr nur eingab, um ihn mit sich selber auszusöhnen. Er schien auch wirklich ruhiger zu werden, er bestritt nicht mehr, was sie sagte, er gab sogar Hoffnung auf eine Heilung durch die Jahre. Nur daß er morgen von hier fort müsse, wiederholte er entschieden. Er hatte ihr unter Anderm gesagt, daß er nie daran gedacht habe, seinem traurigen Dasein selbst ein Ende zu machen; sie bat sich sein Ehrenwort aus, daß er auch in Zukunft das Leben ertragen wolle. Schon weil es mich freut, daß Sie auf mein Ehrenwort etwas geben, will ich es Ihnen versprechen, sagte er und lächelte bitter. Darüber war es drei Uhr geworden. Sie verließ ihn endlich, da er erklärte, er hoffe noch etwas schlafen zu können.

*

Wirklich war es schon hoher Morgen, als er aus einem tiefen, todähnlichen Schlaf erwachte. Sofort aber stand mit völliger Klarheit Alles vor ihm, was sich in der Nacht ereignet hatte. Er überlegte nicht, lange; er sah ein, daß es für alle Theile eine Wohlthat sein würde, wenn er sich ohne Abschied wegschliche und von der Stadt aus ein paar Zeilen an die Mutter richtete. In fieberhafter Eile machte er seine Morgentoilette, hing sich die kleine Wandertasche um und beschloß, durch die Schatten der Bäume dicht neben dem Hause sich ins Freie zu stehlen, an dem Gartenzaun entlang, bis er weit genug vom Hause wäre, um ihn unbemerkt zu überklettern. Er spähte durch die Glasthür, – der Rasen und die Büsche unten am See lagen in der Morgensonne still und verödet. So öffnete er behutsam die Thür und trat hinaus. Doch als er bereits glücklich die Anlagen erreicht hatte, die sich auf der Höhe des Gartens hinzogen, stand er plötzlich, um eine Ecke des Laubgangs biegend, vor Lilli.

Er erröthete wie ein ertappter Dieb und stammelte mit niedergeschlagenen Augen einen Gruß.

Sie wollen fort? hörte er sie sagen. Weiß es denn die Mutter? Und – müssen Sie fort?

Ich muß! kam es aus seiner gepreßten Brust. Wenn ich fort bin, wird die Mutter Ihnen Alles sagen, was mich forttreibt. Sie werden dann begreifen –

Sie hat es mir schon gesagt – Alles! – und gerade darum begreife ich nicht, daß Sie fort wollen, vor Denen fliehen wollen, die Sie kennen – wie wir – wie ich –

Wie Sie, Lilli? O mein Gott – Sie kennen mich und – treiben mich nicht fort aus Ihrer Nähe?

So wenig, – daß ich Sie halten möchte – für immer! hauchte sie. Die Thränen stürzten ihr aus den Augen, sie wankte einen Schritt ihm entgegen und lag an seiner Brust.

Als die erste übermächtige Erschütterung sich ausgestürmt hatte, führte er sie zu einer Bank, die in der Tiefe des kleinen Parks unter den Fichten stand; da setzte er sich neben sie und hörte ihr zu, während sie beständig in aufgeregter Freude, Angst und Innigkeit ihm erzählte, wie seit dem ersten Tage, wo er ihr begegnet, ihr Herz sich mit ihm beschäftigt hatte. Er schwieg und lächelte zuweilen und hielt immer nur ihre Hand, und nur von Zeit zu Zeit, wie zu sich selbst, sagte er: Ist es denn auch möglich! – Aber wenn sie ihn schalt, daß er an ihr zweifeln könne, zog er ihre Hand an seine Lippen, wie um sich selbst damit den Mund zu schließen.

Sie erinnerten sich endlich, daß sie nicht allein von ihrem Glück wissen durften, und suchten die Mutter auf. Sie kam mit Max ihnen entgegen, ihr edles, gütiges Gesicht leuchtete vor Rührung und liebevoller Freude, kein Schatten trüber Ahnung lag auf ihrer Stirn. Sie umarmte Frank und wollte ihn gar nicht wieder aus ihren Armen lassen; auch Max drückte ihn mit brüderlichster Wärme an sich. Frau Cornelie und Louison hatten einen Ausflug gemacht, von dem sie erst am nächsten Tage zurückkehren wollten. Als sie dann kamen, wie es schien, nicht sonderlich überrascht, ein verlobtes Paar zu finden, konnte ihre Gegenwart die glückliche Stimmung des Hauses nicht stören. Frank schien ein neuer Mensch geworden, ruhig, gleichmäßig, auch gegen die fremden Damen der aufmerksamste Cavalier, und aus Lilli's Augen schwand mehr und mehr die letzte Sorge, mit der sie den geretteten, dem Leben wiedergewonnenen Geliebten am ersten Tage noch zuweilen betrachtet hatte.

Die Mutter hatte ihn gefragt, ob sie nicht lieber gleich in die Stadt übersiedeln wollten. Warum? hatte er zur Antwort gegeben. Wo du bist und Lilli, ist mir wohl. Er theilte Nachts das Zimmer mit Max, und dieser versicherte, daß er vollkommen ruhig schlafe. Nur die Fahrten auf dem See, mit denen sie sich sonst ergötzt hatten, waren stillschweigend eingestellt worden.

Eine Woche mochte so vergangen sein. Die Verlobungskarten, die das frohe Ereigniß Frau Herminens ganzer Bekanntschaft mittheilen sollten, waren eben aus der Stadt gekommen, und die Braut hatte ein Schreibzeug in den Salon gebracht, um die hundert Adressen mit Frank's Hülfe heute noch zu schreiben. Als er das erste Kärtchen in die Hand nahm, das ihm die beiden Namen in zierlichem Drucke beisammen zeigte, wurde er auf einmal still. Sie scherzte, ob er nicht finde, daß die Namen sich gut zusammen ausnähmen, oder ob es ihm gar bange mache, daß er es der ganzen Welt schriftlich geben wolle, was er bisher nur ihr mit Hand und Mund vertraut hatte. Er antwortete nicht, lächelte nur zerstreut und sagte nach einer Weile: Ich bitte dich, Herz, schreibe du die Adressen allein, ich – mir ist der Kopf heut ein wenig benommen, – ich glaube, ich thäte gut, ein Bad zu nehmen.

Im See? fragte sie erschrocken.

Wo denn sonst, Liebste? Ich weiß, es wird mir die Schwüle aus dem Blut vertreiben. Ich habe hier so lange stillgesessen, mein Pferd ist in der Stadt, ein bischen Schwimmen wird mich wohlthätig ermüden.

Sie wagte nichts einzuwenden; aber eine wunderliche Bangigkeit hatte sie überkommen, als er das erste Wort vom Bade gesagt. Sie wußte es indessen so einzurichten, daß Max, obwohl er schon am frühen Morgen im See gewesen war, sich erbot, zur Gesellschaft noch einmal mitzubaden. Frank äußerte sich sehr erfreut darüber, küßte seine Braut und scherzte, da er sie verließ, sie werde nun absichtlich so langsam mit ihrem Geschäft vorangehen, daß er hernach noch genug zu thun fände. Aber auch er werde sich nicht übereilen.

Dann sah sie ihnen nach, wie sie heiter plaudernd Arm in Arm den Abhang nach dem See hinuntergingen. Als sie endlich zu ihrem Schreibtisch zurückkehrte, war sie so zerstreut, daß mehr als eine Adresse verunglückte und zerrissen werden mußte. Immer lag ihr im Sinn, daß sie ihn nicht hätte gehen lassen sollen. Die Mutter kam dazu, fand sie in dieser Bekümmerniß und schalt, daß sie sich trübe Gedanken mache. Sie wisse ja, wie glücklich er sei; was solle ihm begegnen? Und sei nicht auch Max –

Indem sie noch den Namen aussprach, stürzte der Sohn zur Thür herein, nur halb angekleidet, die nassen Haare wirr um den Kopf. Er fuhr zurück, als er die Frauen sah, offenbar hatte er ihnen ausweichen wollen, – nun hielten sie ihn fest, er aber beschwor sie, ihn fort zu lassen, er müsse fort, die Christel solle zum Nachbar laufen, dem Fischer, er selbst wolle die Andern aufbieten – Frank sei plötzlich untergesunken und nicht wieder auf die Oberfläche zurückgekommen.

Und so blieb er versunken. Die vereinte Mühe aller Anwohner dieses Ufers brachte ihn nicht wieder herauf. Als es entschieden war, die Nacht über dem Suchen hereinbrach und Niemand zweifeln konnte, Alles sei umsonst, erst da konnte Max, der bis dahin nur zur Rettung mitgewirkt und die Frauen sofort wieder verlassen hatte, seine Gedanken so weit sammeln, daß er zu berichten vermochte, wie es sich zugetragen. Sie seien unter muntern Scherzen hinausgeschwommen, weit in den See hinaus; Frank in der heitersten Laune habe dem Schwager vorgeschlagen, mit ihm in die Wette zu schwimmen. Anfangs sei Max ihm voraus gewesen, dann aber habe Frank alle Kraft aufgeboten und ihn eingeholt. Die Flasche Champagner, die es gilt, fängt schon an dich zu stärken! habe Max lachend ihm zugerufen. Und Frank: Bah! eine Flasche Schaumwein! Es giebt theurere Preise! – Doch indem er dies gesagt, habe er plötzlich zu rudern aufgehört und im Wasser stehend weit vor sich hin gestarrt. Entdeckst du dort eine Zauberinsel? – habe Max rufen wollen, aber den Satz nicht zu Ende gebracht; denn der Ausdruck im Gesicht des Freundes habe ihm die Zunge gelähmt. Wird dir unwohl? habe er nur rufen können. Und Frank, immer auf dieselbe Stelle starrend: Still! Siehst du die beiden kleinen Hände dort heraustauchen? Sieh nur hin – sie rühren sich nicht – sie bitten ganz stumm – und jetzt – sie sinken ein – jetzt nur noch die Finger – die Finger spitzen – allmächtiger Gott – hinunter, hinunter, hinunter!

Wie mit zusammengeschnürter Kehle habe er das Letzte gerufen, dann noch einen Laut wie Hülfe! – dann sei er verschwunden, wie von einem Strudel hinabgerissen. Im Augenblick war Max an der Stelle, wo er versank; er tauchte dem Verschwundenen nach, immer von Neuem durchfuhr er die krystallhellen Gründe des Sees, bis in eine große Tiefe hinab. Keine Spur war von dem Unglücklichen zu finden, und bis auf den heutigen Tag soll der entseelte Körper nicht ans Ufer gespült worden sein. Die Fischer sagen: das Seeweib hat ihn behalten.


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