Hans Hoffmann
Die Teufelsmauer und andere Erzählungen
Hans Hoffmann

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Der Toten Sehnsucht

Ungeregt in der Frostnacht lag das große Meer, und schweres Dunkel darüber.

Es war um die Zeit der starren Nächte, da die Sonne sich wendet auf ihrer Jahresbahn, die Zeit der großen Sehnsucht und der neuen, scheuen Hoffnung; es ist öde geworden auf der Erde, frostig und nebeltrüb: jedoch trüber kann es fortan nicht mehr werden, das dunkle Gespinst ist vollendet und kann nicht mehr wachsen; das Licht muß herdurchbrechen und sich heimlich breiten und zum Siege wandern; die Zeit muß sich wenden, es wird schöner werden von Tage zu Tage. Das sind die Nächte der Sehnsucht, da in trüben Schauern das neue Sonnenreich heimlich geboren wird zu künftiger Herrlichkeit, der neue Sommer, die neue Ernte, die neue Kraft und Freude zum Leben.

Ungeregt lag das Meer; wie ein dumpfes Seufzen nur schauerte es darüber, ein Sehnsuchtsseufzer nach Erlösung von dem Dunkel.

Ungeregt lagen die hohen Dünen am Rande des Meeres, erstarrte Sandströme, die, müde brütend, lauerndes Leben stumm in sich verbargen; todesfahl aufragend, gleich einer endlosen, schaurigen Kette 130 blasser Totengesichter, und darunter die nackte, bleich glimmernde Strandfläche. Noch kein Schimmer von Hoffnung; die Nacht hatte kein Licht unter den hangenden Wolken, auch nicht das kalte Funkeln der Sterne.

Die Stunde kam, da die Sonne unter dem Meere am tiefsten stand, die Stunde, da die Erde dem Tode am nächsten war: da ging aus der höchsten Kuppe des Dünengebirges ein Leuchten hervor, tief, still und geheimnisvoll; Sandwirbel quollen auf gleich sausenden Dampfwolken, und heraus wuchs ein Riesenhaupt, die Schultern vom Scheitel herab überwallt von langen, weißen Locken, die sich leise blähten, und langsam taten zwei große, blaustrahlende Augen sich auf, dem Dunkel entgegen.

Und das große Haupt sprach: »Die Mitternacht ist da. Es wird anders werden, die Sehnsucht wächst auf, die Ruhe will zu Ende gehen. Ihr dürft heraufsteigen aus euren Tiefen! Der Alte vom Meere ruft.«

Und alsbald begann's über der Meeresweite sich seltsam kräuselnd zu regen, obwohl doch der Wind still blieb wie zuvor und kein Ton durch die Lüfte ging; geheimnisvoll kam es wie ein Wallen und Schwellen von innen heraus. Das Haupt blickte groß und gelassen über die strudelnde Weite. Und das Wallen ward mächtiger; Welle auf Welle hob sich über die Fläche und bäumte sich zum Sprunge, 131 Woge auf Woge rundete den Rücken und rollte sich auf und schoß vornüber, aber lautlos, ganz lautlos, unhörbare Schaumgüsse spritzten in die Tiefe und sprühten wieder aufwärts, weiß flatternde Wolken. Wie mit hunderttausend wehenden Gewändern huschte es schweigend über das Dunkel und zerriß das Dunkel mit blassen, haltlosen Gebilden.

Und die hasteten und drängten aus der tonlosen Weite dem Strande entgegen mit stumm verbissener Gier, Hunderttausende zugleich, ein stürmendes Gespensterheer, alle von der gleichen Hast nach der Kampfstätte getrieben.

Doch wo sie zerstäubend herniederstürzten auf den fahlen Sand, da verendeten sie nicht wie sonst windgetriebene Wellen in müdem Ringeln und wurden nicht verschlungen von der nachstiebenden Masse, sondern sammelten sich aus dem Schaum und festigten sich still zu aufgereckten Gestalten gleich zuckend beweglichen Menschenleibern in bleichen Gewändern. Und mit weiten Sehnsuchtsschritten hasteten sie landaufwärts quer über den Strand, bis wo die Steile des Dünenhanges gleich einem Burgwalle sich aufhob.

Und die schweigenden Scharen begannen aufzuklimmen mit stürmischem Bemühen durch den tiefen, trugvoll weichenden Sand, allein ewig vergeblich; immer schienen sie dem Höhenrande keuchend zu nahen und erreichten ihn doch niemals.

132 Das große Haupt sah dem verworrenen Wogen entgegen mit den ernsten Augen; es hob sich noch höher empor über den Dünenkamm, reckte schimmernde Arme zur Rechten und zur Linken, winkte mächtig abwehrend und zerriß das weite Schweigen mit Sturmesstimme:

»Unglückliche, was wollt ihr?«

Da erhub sich ein Wimmern und Wehklagen zur Antwort von hunderttausend wirr zitternden Stimmen, und sie alle schrieen mit flehendem Jammer:

»Wir wollen leben! Nur ein Weilchen noch leben! Nur unsre Tage zu Ende bringen, die jäh verkürzten! Es gibt in den Tiefen keine Ruhe vor der Sehnsucht nach dem Leben.«

»Ich weiß es,« sprach das Haupt, »der Alte vom Meere kennt euer Schicksal: ihr seid die Toten, die das Meer verschlang seit all den Jahrtausenden. Ich sehe euer eisdurchkältetes Gebein von Fieberbrand glühen, ich sehe eure ausgestorbenen Augenhöhlen flackern von der Sehnsucht, die alljährlich wieder aufwacht in dieser heiligen Stunde. Aber wäre euch nicht besser, ihr genösset weiter der leidlosen Ruhe in jener Kühle, statt in dumpfer Begier wieder aufzustreben in das jagende Leben? Glaubt, es wäre euch besser, ihr armen Toten!«

Doch nur heißer ward das Stöhnen in dem rastlos wallenden Geisterheere, von scheuem Lichtglanz 133 flimmerten weißlich die aufgereckten, flehenden Arme, und »Leben! Leben!« hallte es brünstig bis von fernher aus der blinden Öde des Meeres, ein Sturmlied qualvoller Sehnsucht. »Laß uns nachleben, was uns genommen ward, was wir auf Erden versäumten.«

Das große Haupt neigte gedankenvoller die Stirn und sprach mit ruhiger Stimme:

»Es ist alljährlich in dieser Stunde Einem vergönnt, zum Lichte zurückzukehren und sein Leben zu vollenden, bis er dessen satt ist. Lasset also hören, und ich will richten, wem das Größte genommen ward. – Sprich, was hast du versäumt? Was hast du nachzuholen im Leben?« fragte es die hohe Gestalt eines Mannes, der, ein blitzendes Schwert in der Faust, allen andern voranstürmte.

»Die Wellen verschlangen mich mitten im Siege, in meiner großen Seeschlacht. Eine Stunde länger, und ein neues Reich ward gegründet für Jahrhunderte Dauer, und mein Ruhm stieg in die Ewigkeit. So Großes habe ich verloren. Wie kann ich solches verschmerzen?«

So klagte der Ertrunkene. Das große Haupt aber lächelte ernst und sprach zu dem Starken:

»Versuche herüberzudringen; wenn das Ziel es wert ist, wirst du es erreichen.«

Da tat der Drängende einen neuen Ansprung zur Höhe und fuhr stürmend über den Rand; allein 134 dort oben taumelte er dahin wie eine irrende Sandwolke, huschte haltlos vorüber, brach jäh zusammen und war zerflossen wie ein Rauch.

»Leer! leer!« sprach gelassen das Haupt. »Wie ist dein Großes so klein, dein Ziel so nichtig! Ob dein Reich ein Jahrtausend bestand oder das eines andern, was verschlug es den Völkern! Eine kahle Form! Sie leben weiter so oder so und breiten sich über die Erde. Die Welt verlor wenig mit deinem Leben.«

Und es fragte einen andern, der ihm in blühender Jünglingsgestalt nahte. Und dieser entgegnete:

»Ich fuhr zu meiner Hochzeit, meinem Glück entgegen, als mein Schiff versank. Unnennbare Seligkeit hab' ich versäumt. Wenn ich nur ein Jahr noch lebte, vielleicht, daß ich die friedlose Sehnsucht bezwänge.«

»Versuch es!« sprach das Haupt, und jener drang zur Höhe. Doch ihm erging's wie dem ersten, er schwand und zerflatterte.

»Wie konntest du wissen, ob du Glück gewännest? Liebe ist nicht Lust allein, Liebe ist auch Sorgen und Leiden. Zahllose errangen, was dir versagt blieb; die Last des Lebens ward nicht verringert. Geh, ruhe in Frieden! Dein Verlust ist zu verschmerzen.«

Zum dritten nahte ein Greis mit kahlem Haupte und gefurchter, hoher Stirne, der sprach mit ernsterer Stimme:

135 »Fünfzig Jahre habe ich gerungen in unendlicher Arbeit nach dem edelsten Ziele: die Menschheit zu belehren, sie von uraltem Irrwahn endlich zu erlösen. Die Sterne sind nicht Götter, die der Menschen Schicksal lenken, sie wandeln blind ihre vorgeschriebene Bahn nach eines Größeren ewigen Gesetzen. Siebzig Jahre schon hatte ich vollendet, die Kette meiner Schlüsse war fest geschmiedet zu ehernem Ringe; ich durfte meine Wahrheit, des Sieges sicher, verkünden. Ich fuhr übers Meer zu dem weisesten der Völker, doch ich landete niemals; die Sterne verhüllten sich, der Blitz zerschlug mein Steuer. Ich ließ die Welt unerlöst von ihrem Wahne. Laß mich zurückkehren, meinen hohen Beruf zu erfüllen, und ewig wird mein Name gesegnet bleiben unter den Menschen.«

Er fuhr zur Höhe und zerflatterte in Staub.

»Der Wahn ist zerbrochen auch ohne dich schon lange, lange. Wähntest du Armer, ein großer Gedanke entkeimte jemals allein einem einzigen Haupte? Viele ahnen ihn zugleich, die Zeit läßt ihn reifen; wenn der Erntetag da ist, so mag einer die Frucht pflücken. Ob dein Name oder eines andern? Es bleibt dasselbe.«

Das große Haupt schwieg. Und weiter nahte einer nach dem andern, Tausende um Tausende, und jeglicher nannte eine andre Versäumnis, darum er 136 sich quälte. Und jeglicher errang die Höhe und verflatterte droben.

Am späten Ende kam ein junges Weib, das sprach zu dem Haupte:

»Ich trug eine Puppe bei mir als Geschenk für mein Kind, da ich zu ihm heimkehren wollte; die ist mit mir versunken, und die Kleine ist um ihre Freude gekommen; das kann ich nicht verschmerzen. Eine Stunde nur möchte ich leben, um es nachholen zu dürfen.«

»Wie lange ist es her, daß dein Unglück geschah?« so fragte der Meeresalte mit einem leisen Lächeln.

»Hundert Jahre mag es schon her sein,« sprach träumerisch das Weib.

»So ist dein Töchterchen lange schon groß geworden, gestorben und begraben.«

»Was tut das? So finde ich doch wohl ein Enkelchen auf Erden oder ein Urenkelchen gar, und wenn das nicht, so irgend ein andres Kind, das ich mit meiner Puppe erfreuen kann. Ich möchte nur noch einmal solch Kindchen so lächeln sehen.«

Als sie das gesagt hatte, erhob sich ein Gelächter und wisperndes Spotten in dem luftigen Schwarm: »Um so Kleines wagt sie sich ins Leben zurückzudrängen! Um ein elendes Spielzeug, davon ein jeglicher Tag Hunderttausende erzeugt und wieder zerbricht! Um eine Puppe! Wie kindisch!«

137 »Was ist klein? Was ist groß?« fragte ruhig das Haupt. »Was ist eine Krone mehr als ein Spielzeug? Oder wenn kein Spielzeug, wird sie dann beglücken? So lange beglücken wie eine Puppe ein Kind? Wo ist das Maß der menschlichen Freuden? Wo ein Maß der Sehnsucht? – Ein Maß aber bringt diese Frau mit sich, das vor uns nicht ohne Geltung ist; sie ersehnt die Freude nicht für sich selbst, wie alle andern vor ihr.«

Die gute Frau aber sprach: »Ach Gott, der Leiden des Menschen – wie sind ihrer so viele! Nicht leicht wird einer durchs lange Leben dem Leiden von Herzen gewachsen sein, der nicht als Kind seiner Freuden redliche Fülle genossen hat. Aus dem Sonnenschein der Kindheit quillt einzig dem Menschen die gesunde Kraft, dem harten Drange der späteren Jahre mit Freuden zu widerstehen. Morgenglück macht stark am Abend. Wer mag wissen, ob nicht eine einzige Kinderfreude zu wenig dereinst den Mann unter den Sorgen zusammenbrechen läßt? Wer weiß, ob mein Kind nicht zusammengebrochen ist? Wie sollte ich da nicht gern einem andern jungen Geschöpfe das Restchen hinzutun, das an Freuden ihm gerade vielleicht noch fehlt, es zu stählen fürs Leben? Ich versuchte es gern, wenn mir eine Stunde vergönnt wäre oder nur eine Minute.«

138 »Versuche es denn!« sprach das große Haupt, und das Weib stieg leicht aufwärts. Und siehe, als sie droben war, schwebte sie glänzend dahin über die Düne und schwebte schreitend weiter in fester Gestalt und zerfloß mit nichten wie die andern vor ihr. Nur leuchtender und holder ward immer ihre Gestalt, und ein Lichtschein ging von ihr aus wie leise aufdämmerndes Morgenrot.

Der Alte vom Meere aber machte eine furchtbare Bewegung mit den weiten Armen über den Schwall der Gespenster und rief über sie hin:

»Genug! Die eine ist gefunden, die heute heimlich kehren darf ins Leben. Ihr andern, weichet zurück in eure Tiefen, bis abermals die Sonne ihre Winterwende erreicht.«

Da entwichen die Gestalten und verstummten im Elend; sie sanken schweigend in die Tiefe und glitten zum Wasser, sie warfen sich in die Fluten und wallten vorwärts, und war nichts mehr zu sehen als wandernde Schaumkämme, die lautlos still dahinzogen, Tausende und Hunderttausende. Das große Haupt aber schaute aus seiner Einsamkeit ihnen nach ohne Zorn und ohne Mitleid.

Und es schaute auch jenem Weibe nach, das leuchtend dahinzog und immer weiter ins Land kam aus der Dünenöde zu den Stätten der Menschen, wo sie wohnten mit ihren Sorgen und in langen Qualen sich mühten.

140 Und wo sie aus der ersten Hütte ein Licht schimmern sah, da schwebte sie auf den Strahlen ins Fenster hinein und spähte nach einem Kinde. Auch fand sie deren gleich in der ersten genug und griff nur ein wenig scheu in den Busen, das einzige Püppchen herauszuholen, das sie bei sich trug von ihrer letzten Lebensstunde her.

Sie gab es dem jüngsten, und als dies hell aufjauchzte, die andern aber dumpf blickten, griff sie, ohne recht zu wollen, noch einmal in ihr Kleid. Und siehe, da fand sie die Puppe noch einmal und gar noch ein andres Spielzeug dabei, das sie vorher nicht gehabt hatte, und sie verschenkte das beides und griff nochmals in ihren Busen und fand wiederum beides noch einmal und etwas Neues dazu. Und so ging es weiter; je mehr sie verschenkte, desto reicher ward sie, und ihr weites Gewand schwoll immer mehr von lustiger Herrlichkeit.

Und nun standen die Kinder alle um sie her wie um eine Mutter, alle Augen lachten und leuchteten, und langsam wuchs ihr scheues Gewisper empor zu vollklingendem Jubel. Und zuletzt kümmerte sich keines um die Geberin mehr, jedes spielte mit seiner Puppe und lachte und zwitscherte, und da stand sie am allerglücklichsten beiseite und sah ihnen zu, wie lieblich sie's trieben, und ihre stillen Augen leuchteten und lachten so rein wie die der Kinder.

141 Nur zum Abschied nahm sie das Kleinste in die Höhe und küßte es und sagte ganz leise: »Du magst vielleicht mein Urenkelchen sein. Du hast Augen, ganz wie mein süßes Kind sie gehabt hat. Und genau so hell kannst du lachen. Ganz gewiß bist du mein Enkelchen! O, wie bin ich glücklich.«

Und als die andern sich herzudrängten und sie bestürmten mit zärtlicher Eifersucht, da sprach sie beschwichtigend: »Und du auch. – Und du auch. Ja, ihr alle seid meine Enkel, ihr alle, alle.«

Und so schwebte sie weiter, und so kam sie segnend von Haus zu Haus und beglückte die Kinder und ward selbst beglückt. Die Erwachsenen aber sahen nichts mehr von ihr als ein gleitendes Leuchten, wie wenn eine Welle flüchtig im Morgenschein blinkt.

Und das holdselige Weib ward nicht müde zu schweben und zu geben, bis dem letzten Kinde die Augen zufielen und sie keines mehr wach fand.

Da kehrte sie zurück in die offene Nacht, wo nun die Sterne schimmerten, und sprach lächelnd zu sich selbst:

»Jetzt kann ich ruhen und Frieden finden; ich habe heute wieder so viele Freude erweckt, als hätte ich zehn Kinder geboren und zum Glücke erzogen. Meine Sehnsucht ist gestillt!«

Sie breitete die Arme aus und ließ sich sinken. 142 Ein weicher Wind nahm die Entschlummernde auf und trug sie hinaus über das große Meer und bettete sie leise unter den feierlichen Sternen zu ihrem Frieden.

Das Meer war nun ganz still; nur leise Wellen legten sich sanft an den Strand, wie müde Kinder sich weich an die liebevolle Mutterbrust schmiegen.

Und der Himmel neigte sich darüber wie ein segnender Baum, der statt der Blüten Hunderttausende strahlender Lichter in seinen Zweigen trug.

 

 


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