Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Kaum hat der junge Prévost das Gymnasium verlassen, tötet er seinen Vater, weil dieser seiner schwangeren Geliebten einen Tritt in den Bauch versetzt hat. Flüchtet nach Holland, lebt in Doppelehe, läßt beide Frauen im Stich, entweicht nach Basel, von dort vertrieben nach London, abermals ausgewiesen zurück nach Holland, wo er Cafékellner wird und als Schmierendirektor eigene Stücke spielt. Er begeht allerlei Gaunereien, behext alle Weiber, flieht mit einer wiederum nach England, wo er wegen Fälschung nur durch ein Wunder dem Galgen entgeht. Nach völligem Bankrott kehrt er zurück nach Paris, sinkt tiefer und tiefer, nachts in üblen Häusern seine Romane schreibend, tagsüber dem Trunk ergeben. Im Walde von Chantilly trifft ihn der Schlag. Sogleich seziert, öffnet er beim ersten Schnitt des Messers die Augen, aber das Skalpell hat bereits lebenswichtige Teile verletzt: er stirbt, diesmal richtig.
Das ist der Schundroman, der sich um das Leben des Verfassers von »Manon Lescaut« gebildet und lange aufrechtgehalten hat, nach der bekannten Definition: Was ist Literaturgeschichte? Antwort: Was einer vom andern abschreibt. Er ist nicht ohne Bedeutung: so malte sich in subalternen Köpfen der notwendige Lebenslauf des Schöpfers des berühmtesten Liebesromans der Weltliteratur.
In Wirklichkeit verläuft dies Leben anders. Er ist geboren im altertümlich umwallten Hesdin im Artois am – das Datum ist bedenklich – am 1. April 1697, wächst auf in der Hut eines strengbürgerlichen Hauses, wird erzogen durch die Jesuiten seiner Vaterstadt, tritt sechzehnjährig bei den Jesuiten in Paris ein und macht sein Noviziat durch, aber nur drei Jahre lang. 1716 finden wir ihn als Freiwilligen im Heere, dem er, wiederum nach drei Jahren, den Rücken kehrt. Die Jesuiten nehmen ihn wieder, er dichtet sogar eine Ode auf den Ordensheiligen Franz Xaver, aber er bleibt nicht lang, plötzlich geht er zurück zum Militär, diesmal als Offizier. Aber 1720 tritt er nach einem schmerzlichen Herzensabenteuer als Novize bei den Benediktinern von Jumièges ein,Er muß in der Kutte niedlich ausgesehen haben, dem Steckbrief nach zu schließen, der ihm 1728 nachgesandt wurde, als er bei den Benediktinern durchbrannte; »mittlere Größe, blond, Augen blau und schön geschnitten, Gesicht rosig und voll.« legt nach einem Jahre die ewigen Gelübde ab, wird Priester und Professor am Ordensgymnasium von Saint-Germer, hält unter großem Zulaufe der eleganten Welt von Evreux Fastenpredigten, wird nach Paris berufen und kommt in das vornehme Ordenshaus von Saint-Germain des Prés. Dort verfaßt er eine Satire auf die Liebschaften des Regenten, polemisiert auf Ordensbefehl gegen den Jesuiten Lebrun, veröffentlicht in Holland die von den Benediktinern verbotene »Bibliothèque de Dom Cerf«, schreibt die ersten vier Bände der »Erinnerungen und Abenteuer eines Mannes von Stande« (1728), daneben gelehrte Werke für die Benediktiner, verläßt jedoch Saint-Germain, das ihm zu streng ist, nach siebenjährigem Aufenthalt. Er flieht, zuerst nach England, hierauf nach Holland, wo der siebente Band der »Erinnerungen und Abenteuer« erscheint (Amsterdam 1731), der die Geschichte enthält, die allein ihn unsterblich machen wird: Manon Lescaut. Immer in Geldnöten, ausschließlich von seiner Feder lebend – in diesem Punkte der erste moderne Schriftsteller –, kehrt er zurück nach England, wo er eine Wochenschrift gründet. 1734 geht er wieder nach Frankreich und lebt jahrelang nahe bei Paris in einer Art freiwilliger Verbannung, bis er, seiner Ordensgelübde entbunden, Hausgeistlicher beim Prinzen von Conti wird, schlecht bezahlt, aber in der unvergleichlichen Atmosphäre der großen Welt des geistreichsten aller Jahrhunderte. Im Genusse dieser Sinekure schreibt er eine Menge Werke, geschichtlichen, genealogischen Inhalts, vor allem aber Romane, kompromittiert sich durch Ungeschicklichkeit in einem Presseskandal, flieht nach Frankfurt, wo er gerade recht zur Krönung Karls VII. kommt. Wiederum zieht er sich zurück in die Nähe von Paris, wo er u. a. mit J. J. Rousseau und Piron verkehrt und von Massenübersetzungen aus dem Englischen lebt. Am 25. November 1763 stirbt er am Schlage auf der Straße von Senlis nach Saint-Firmin unter einem Baume. Die Benediktiner erkennen den Toten als einen der Ihren an: sie begraben ihn im Schiffe der Prioratskirche Saint-Nicolas d'Acy, die die Revolution zerstörte. Seine Grabschrift lautete:
Hic Jacet D. Antonius Prevost
Sacerdos Majoris Ordin. S. Benedicti
Monachus Professus Quam Plurimis
Voluminibus in Lucem Editis Insignitus
Obiit XXV Novembris MDCCLXIII
Requiescat in Pace.
*
Il prit, quitta, reprit la cuirasse et la haire: »Tauscht Kutte um für Uniform und Uniform für Kutte« – Voltaires Vers genügt noch nicht, die abenteuerlichen Irrfahrten des Abbé Prévost auf eine Formel zu bringen. In jenem frühen Alter, wo weder der Verstand kritische Hemmungen einschaltet noch die Sinne triebhafte, wird er Jesuit. Aus Gefügigkeit? Pietät? Nachahmung? Ehrgeiz? Wir wissen nur dieses: Loyolas Ideal, zugleich auch das des weisen Baltasar Gracian, nämlich die Welt durch Klugheit zu meistern und dennoch ein Heiliger zu werden, diese Mischung von Schlangenklugheit und Taubeneinfalt war dem Abbé versagt. In ihm lebt etwas anderes, etwas Doppeltes. Zunächst jene Spannung, die zwischen der patrizischen Beschaulichkeit des Benedikt von Nursia und der stets mobilisierten Gesellschaft Jesu besteht, und die nicht etwa einen feindlichen Gegensatz bedeutet, sondern ein polares Anderssein. Prévost aber ist zugleich der Des Grieux und der Tiberge seines Romans: das leidenschaftliche Weltkind und der betrachtende Ordensmann, der sich, nach einem Worte des Thomas von Kempen, nur wohl fühlt in boekskens cum boekskens, in stillen Klosterwinkeln mit alten Schmökern. Er flüchtet von einem Zustand in den andern, sehnt sich im einen nach dem andern. Es ist kein Zufall, wenn er seinen Helden von schmerzlichster Liebesenttäuschung sich erholen läßt – als echter Gallier durch einen Kommentar zu Vergils Dido-Episode: un commentaire amoureux, wie er überflüssigerweise hinzufügt.
Es gibt ein Ideal französischer Lebensführung, das wie ein Traumbild an ein paar Stellen von »Manon Lescaut« vorüberschwebend aufglänzt: ein friedliches Leben, ein Haus nicht an der Heeresstraße, am Ende des Gartens ein Wäldchen mit einem hellen Bach; eine auserlesene Bibliothek; wenige, aber bewährte Freunde; maßvoller Genuß der Tafelfreuden; Briefwechsel mit einem Freunde in der Hauptstadt, um auf dem Laufenden zu bleiben.
Schon aus dem zuletzt genannten Wunsche ergibt sich, daß dies kein Pariser Ideal ist, sondern das der Provinz; und nicht das des beweglichen achtzehnten Jahrhunderts; sondern eher des reservierten sechzehnten, das epikureische Lebensideal eines Horatius Christianus, wie es der Hausspruch des berühmten niederländischen Buchdruckers Christophe Plantin (1520–1589) in einem hübschen Sonett zusammenfaßt:
Ein eignes Haus, bequem und säuberlich gericht't,
Ein Gärtlein wohl umhegt von duftenden Spalieren,
Im Keller Obst und Wein, die unsre Tafel zieren,
Eine ehelich Gemahl, getreu, ergeben, schlicht,
Kein Buhlschaft und kein Schuld, kein Streit noch Prozessieren,
Kein Schwäher, Bruder, Ohm, der unser Erb anficht,
Nicht Aufwand, Prunk und Lärm, auch Zuviel Kinder nicht,
Mit wenigem vergnügt, den Großen nicht hofieren,
Ein Wandel ehrgeizlos, doch frank und ungestört,
Der Leidenschaften Herr, sie zum Gehorsam bringen,
Fromm sein mit Heiterkeit, von Skrupeln unbeschwert,
Pfropfreiser pelzen, still ein Psälterlein dazu,
Frei unsern Geist bewahrt und klar in allen Dingen:
So harren wir daheim des Tods in sanfter Ruh.Das Sonett ist von mir übersetzt; die Anklänge an die Übertragung R. A. Schröders ergaben sich von selbst aus dem Zwange des Reims.
Es ist ein Irrtum, zu glauben, zwei so verschiedene Städte wie etwa Berlin und Dinkelsbühl gehörten ein und demselben Jahrhundert an. Am deutlichsten heben sich die Zeiten noch ab in Spanien und Italien: kein Mensch wird auf den absurden Gedanken verfallen, Madrid und Toledo, oder Mailand und Volterra dem nämlichen Säkulum zuzuweisen. Ich meine nicht die Bauart der Häuser, sondern die Seelen der Bewohner. Das vielleicht ist der geheime Reiz des Reisens: aus dem Jahrhundert unserer zufälligen wenigstens eine Zeitlang in das unserer idealen Existenz zu flüchten. Die Stadt nun, in welcher der Ritter des Grieux aufwächst, gehört dem Jahrhundert Christophe Plantins an; das ist ihr Lebensstil, ihre Atmosphäre. Manons Entführung schleudert ihn plötzlich ins Jahrhundert Figaros, in dem er sich niemals wohl fühlen könnte, wäre ihm dabei nicht ihr Bruder behilflich, der sich unheimlich geschickt akklimatisiert hat. Je genauer man die Personen kennenlernt, desto mehr wird man diesen Zug des Dichters bewundern. Manon allein brächte ihren Geliebten nie zu Falschspiel und ähnlichen Kavaliersbagatellen: nous nous réglerons, wir wollen uns einschränken, ist sein Leitspruch. Erst der mit allen Wassern gewaschene Bruder Manons lehrt ihn corriger la fortune, und er wird ein so gelehriger Schüler, daß er sich seinem Vater gegenüber rechtfertigt: cosi fan tutti: »Ich lebe mit einer Geliebten zusammen, ja; aber der Herzog von X. hat zwei, und Herr D. hält seit zehn Jahren eine aus mit einer Treue, die er für seine rechtmäßige Gattin niemals empfunden hat. Zwei Drittel der hohen französischen Gesellschaft setzen ihre Ehre darein, Geliebte zu haben. Ich habe im Spiel ein wenig nachgeholfen, gewiß; aber der Marquis von A. und der Graf von B. leben überhaupt davon, und der Fürst von C. und der Herzog von D. sind die Anführer einer Ritterschaft von diesem Orden!« Ligue de l'Industrie nennt er die Hasardklubs ein andermal.
Die Auffassungen von Sittlichkeit sind lockerer geworden, sogar schon in der konservativen Provinz; ihr Lebenskern ist verdorrt, sie sind nur noch Schale. Was soll der alte Des Grieux auf diese Worte seines Sohnes erwidern, er, dessen Verhaltensideal jenes unübersetzbare sage ist, welches vom Kinde, das sich seine Kleider nicht beschmutzt, bis zum jungen Manne reicht, der seinem Verhältnis den Laufpaß gibt, bis zur untreuen Gattin, die sich nach außen hin nicht bloßstellt? Schon hundert Jahre vor Stendhal fürchtet diese Gesellschaft nichts stärker als d'être dupe. Sind jemals einem jungen Mann über die Treulosigkeit seiner Geliebten die Augen so grausam geöffnet worden wie dem jungen Des Grieux durch den Alten an der Hand des Kalenders, mit der einzigen Ermahnung que cette petite aventure me rendrait plus sage?
Natürlich ist man in Paris weiter: kein Mensch findet etwas hinter einem lukrativen Verhältnis mit einer freigebigen älteren Dame, wie es Manons Bruder dem angewiderten Des Grieux vorschlägt. Nicht einmal der fromme Tiberge läuft davon, wenn ihn sein Freund mit den Bischöfen neckt, die so gut eine fette Pfründe mit einer schlanken Mätresse zu vereinigen wissen. Und mit welch kühler Klugheit gibt Manon ihren Geliebten ihrem neuen Aushälter preis!
Dabei: welche Unschuld in dieser Verruchtheit! Sind vor Prévost die Gegensätze jemals so klar gegeneinandergestellt worden, der Mann, der liebt, und das Weib, das sich lieben läßt? Manon ist zugleich kühler und klüger. Ihre Hauptgefahr heißt Eigensinn. Welche Meisterschaft in der blitzschnellen Umdeutung aller Motive! Welch taschenspielerhafte Umdrehung aller Argumente! Die peinliche Frage, mit wem sie gedacht hätte, die Nacht zu verbringen, wird von ihr schon vorher mit einer Antwort pariert, die man je nachdem dirnenhaft oder mütterlich finden mag: »Die einzige Treue, die ich von dir erwarte, ist die des Herzens.« Jedenfalls ist sie das Gegenteil jenes Hebbelschen »Darüber kommt kein Mann weg«, und jedenfalls ist sie ausgesprochen französisch; sie wird erst möglich im Frankreich der Regentschaft. Die zersetzte Atmosphäre des »Figaro« steckt schon in »Manon Lescaut«. Prévosts sittliche Anschauungen sind ein Beaumarchais vor Beaumarchais. Es fällt einem gar nicht auf, daß Manon kein Kind bekommt; das Gegenteil würde auffallen. Prévost faßt die Beziehungen zwischen Mann und Weib so ausschließlich als solche des Liebesgenusses auf, daß er an die larmoyanten Möglichkeiten des Kindes gar nicht denkt.
Die Moral ist die einer durch Zufall herrschenden Schicht auf der einen Seite und einer aus Zwang dienenden auf der andern. Almaviva fühlt keine Verpflichtungen gegen Figaro: Bediente, Kutscher, das sind Wesen, die man bezahlt, besticht, gelegentlich auch betrügt, selbst prügelt. Umgekehrt fühlt Figaro ebensowenig Verpflichtungen gegen Almaviva: Zofen und Diener machen sich nicht die leisesten Skrupel, ihre Herrschaft möglichst auszuplündern. Der dritte Stand ist bereits in der Opposition. Bald wird er zum Angriff übergehen.
*
Meines Wissens ist noch nicht bemerkt worden, wie modern Prévosts Technik ist, nämlich eine Ich-Erzählung im Rahmen einer zweiten Ich-Erzählung. Es ist die Technik, die Mérimée in »Carmen« verwendet und Storm in zahlreichen seiner Novellen. Wie ganz anders die Ich-Form gegenüber der Er-Form wirkt, zeigt die berühmte Stelle in Homers Odyssee zu Anfang des neunten Gesangs. Zweimal, das geht voran, hat Demodokos, der Sänger an des Alkinoos Tafel, von den Taten des Odysseus gesungen, und zweimal verhüllt der unbekannte Gast mit dem Mantel das Haupt, um strömende Tränen zu verbergen. Da bittet ihn der König, sich zu entdecken, und er spricht: »Ich bin Odysseus, der Sohn des Laertes«, und »alle«, heißt es, »alle saßen und schwiegen, vor Entzücken gebannt im schattigen Dunkel des Saales.«Vgl. »Wege zu Homer« in »Umgang mit Büchern«. Über den »Schelmenroman« ebenda. Wegen Aufnahme in die Gesammelten Schriften vgl. S. 8. Es vergehen rund tausend Jahre, da beginnt einer sein ganzes Leben im Ich-Ton zu erzählen, es ist der Afrikaner Augustinus, und von seinen »Bekenntnissen« geht ein Zauber aus, der durch die Jahrhunderte nicht schwächer geworden ist. Wiederum vergehen über tausend Jahre, bis abermals einer in der Weltliteratur ein entscheidendes Ich sagt, kein Held wie Odysseus, kein Kirchenvater wie Augustinus, sondern der arme Schelm und Schlucker Lazarillo: »Ich heiße Lazaro und bin geboren auf dem Flusse Tormes.« Etwas vom Schelm und Schlucker umwittert seitdem die Helden des Ich-Romans, und ein Schlucker und Schelm ist auch Prévosts Ritter des Grieux. Man versuche sich »Manon Lescaut« im Er-Tone vorgetragen zu denken: um wieviel stumpfer und grauer wirkte der Bericht! Wobei Prévost noch, Rücksicht auf die Ermüdung des Erzählenden vorschützend, eine meisterhafte Pause einschiebt, ehe die Geschehnisse dem Höhepunkt zutreiben.
»Manon Lescaut« ist nicht der erste Ich-Roman der französischen Literatur. Der erste Teil des »Gil Blas« von Lesage z. B. war sechzehn Jahre früher erschienen. Wenn das Buch Epoche macht, verdankt es das zum mindesten ebensosehr dem Liebhaber wie seiner unsterblichen Geliebten. Denn in einer ganz bestimmten Hinsicht ist dieser Liebhaber einer der frühesten modernen Menschen. Um 1720 herum beginnt der bis dahin romantisch-galante französische Roman sich zu verdüstern. Prévost nimmt nicht nur Rousseaus hochmütige Schwermut vorweg, Goethes »Werther« – denn der nächste Des Grieux heißt Werther –, Chateaubriands »René«, die düsteren Helden Lord Byrons, Benjamin Constants »Adolphe«, die beaux ténébreux der französischen Romantik, sondern selbst noch den einsamen Tagebuchschreiber Amiel, Barrès »Culte du Moi« bis herauf zu Marcel Proust: »Das Gros der Menschen bringt es bestenfalls auf ein halbes Dutzend Leidenschaften, auf die sich all ihr Leben und Treiben, ihr Sinnen und Trachten zurückführen läßt. Die vornehme Seele hingegen wird von tausend verschiedenen Möglichkeiten bewegt, sie scheint mehr als fünf Sinne zu besitzen, ihre Gedanken und Empfindungen greifen weit hinaus übers gemeine Maß der Natur. Da sie sich dieser Auszeichnung bewußt ist, gibt es nichts, was sie eifersüchtiger festhielte. Daher ihre Verwundbarkeit gegenüber Verachtung und Lächerlichkeit, daher ihr verletzbares Schamgefühl.« Der Ritter Des Grieux spricht einen Satz aus, der Molières misanthropischem Helden aus der Seele gesprochen ist: je mépriserai ce que le commun des hommes admire, ich will verachten, was alle Welt bewundert! Schon er spielt ein halbes Jahrhundert vor Werther mit dem Gedanken des Selbstmords. Bereits um die Wende des ersten Viertels des 18. Jahrhunderts nimmt Prévost jene Verdüsterung der europäischen Seele vorweg, die sich nicht wie die des Molièreschen Alceste auf ein persönliches Leid bezieht, sondern auf das Leiden an Welt und Menschen insgesamt, das zugleich schwermütige und hochmütige Bewußtsein der Einsamkeit einer Seele von höherem Rang. Die deutsche Literatur ist erst mit Werther so weit, in der französischen bricht das mal du siècle erst mit Chateaubriands René richtig aus. Aber ein Jahr vor »Manon Lescaut«, in seinem »Cleveland«, schlägt Prévost das Thema Werthers mit einem Ausdruck an, so stark, daß er kaum übersetzbar ist: »Das Herz eines Unglücklichen ist so abgöttisch verliebt (idolâtre) in seinen Schmerz wie ein glückliches und zufriedenes in seine Freuden.«
Was ist geschehen? Reserven sind erschöpft, Hemmungen gefallen. Reserven der inneren Haltung, die noch Molières Alceste empfindet; Hemmungen, die noch Madame de Lafayettes Princesse de Clèves davor bewahren, eine schiefe Ebene des leidenschaftlichen Verhältnisses zu betreten, die allenfalls unglücklich verliebten Nähmädchen angemessen ist. Was das vornehme Jahrhundert ausgezeichnet hatte: Logik, Wille, Haltung, ist zermürbt durch plebeische Mächte: Empfindsamkeit, Leidenschaft, Nerven. Man läßt sich gehen, man verliert Haltung, Selbstbeherrschung, Selbstrespekt, nimmt sein privates Schicksal ernst, ja tragisch, spricht, längst vor Schlegels Lucinde, seine Leidenschaft heilig, versteht alles, verzeiht alles, weil man selbst auf Verständnis und Verzeihung angewiesen ist.
Was ist geschehen? Ludwig XIV. ist gestorben, sonst nichts. Die mühsam, angestrengt, unter Opfern bewahrte Haltung einer unterhöhlten Gesellschaft ist in sich zusammengesunken wie ein von Waldschnecken zerfressener Bovist. Kein Zweifel: das Dasein wird reicher an Inhalt, zum mindesten reicher an Abwechslung. Aber kein Zweifel auch: es wird vulgärer. Die alten Bindungen: Religion, Monarchie, Gesellschaft – sie versagen. Was heraufkommt, ist das zuchtlose moderne Individuum, das seine Unzulänglichkeiten weltanschaulich frisiert. Sentimentale Fäulnis beginnt zu phosphoreszieren. Der Einzelne wird sich kompromittierend interessant. Frau von Sévigné schrieb Briefe voll Heiterkeit und Geist. Selbst in der Einsamkeit empfand sie sich als zugehörig zur großen Gesellschaft. Eine kleine Weile, und man schreibt trübe Tagebücher, ohne Esprit. Selbst in der Gesellschaft empfindet man sich als einsames Individuum. Tagebücher, nicht von der skeptischen Anmut Montaignes, noch von dem taciteischen Hasse Saint-Simons, sondern kokette Selbstbespiegelungen ehrgeiziger Halbtalente in Leben und Dichtung. Man wird – wie drückt es doch Abbé Prévost aus? – man wird un caractère ambigu, etwas Schielendes und Schillerndes, Zweideutiges, man tut sich was zugute auf seinen zweideutigen Charakter, er wird Mode. Man stellt dar, was man ist. Man wird, was man darstellt. Dies alles im frühesten, lieblichsten Stadium, in seiner Sünden Maienblüte, überglänzt vom allerletzten Widerschein des lange noch zurückleuchtenden grand siècle, dies alles ist »Manon Lescaut«.
*
Aber wenn schon Des Grieux ein vorweggenommener Werther ist, welch holder Schatten steigt auf hinter Manon? Ist es nicht Goethes Philine, das unsterbliche Kindweib, hemmungslos, triebhaft, liebenswürdig, das unausstehliche und unwiderstehliche Geschöpf, das erst das neunzehnte Jahrhundert auf die Formel bringen wird? Kein Geringerer als Alfred de Musset widmet Manon (in Namouna) die berühmten Verse:
Warum, Manon Lescaut, lebst du sogleich
Vom ersten Wort so menschlich und so echt,
Daß es uns scheint, man kennt dich schon nicht schlecht?...
Manon! Seltsame Sphinx! Sirenenwesen!
Kleopatra im Reifrock! Dreifach Weib!...
Du bist verderbt. Die Lust, das Gold, das schnöde,
Besitzt dich ganz. Wie ich das Leben fasse
Im kleinsten Wort von dir!...
(Übers. v. H. Eulenberg.)
Erst mit Prévost wird die Liebesleidenschaft, die bis dahin den fürstlichen und antiken Helden Corneilles, vor allem jedoch Racines vorbehalten gewesen war, bürgerlich und zeitgenössisch, und damit ist der moderne Roman geschaffen. Er als erster sieht die Liebe als dämonische Naturmacht, nicht mehr als einen ritterlichen Glückszustand, sondern als ein plötzlich hereinbrechendes, unentrinnbares Verhängnis. Der erste moderne Roman auch im Stil, der in der Abwesenheit jedes gewollten Stils besteht. Die Geschichte scheint sich selbst zu erzählen, ohne die Würze des achtzehnten Jahrhunderts: den Esprit, ohne die Würze des neunzehnten: Landschaftsmalerei und Psychologie.
Noch eine andere Dichtung höre ich fortwährend im Unterbewußtsein bei gewissen Szenen des Romans, »Das Tanzlied« aus »Zarathustra«: »Ich fürchte dich Nahe, ich liebe dich Ferne; deine Flucht lockt mich, dein Suchen stockt mich: – ich leide, aber was litt ich um dich nicht gerne! – wer haßte dich nicht, dich große Binderin, Umwinderin, Versucherin, Sucherin, Finderin! Wer liebte dich nicht, dich unschuldige, ungeduldige, windseilige, kindsäugige Sünderin!«
Ich komme auf Carmen zurück, diesmal nicht die Novelle, sondern Bizets Oper: beginnt sie nicht, sozusagen, musikalisch mit einer Ohrfeige? Gibt es etwas, das bewußt, absichtlich trivialer wäre als die Stierkampfgrellheit der Blechbläser? Da stellt sich gegen den südlichen Spektakel plötzlich ein finsteres Posaunenthema, wir horchen auf, schrecken auf: Um Himmels willen, ist es so gemeint? Das geht ja um Mord und Totschlag! Dieselbe unheimliche Vorempfindung einer aus der Unveränderlichkeit der Charaktere sich ergebenden unvermeidlichen Katastrophe steht auf den ersten Blättern von »Manon Lescaut«, beim allerersten Zusammensein spricht Manon sie aus, mit der Gelassenheit, mit der sich Carmen den Tod aus den Karten wahrsagt. Der naive Des Grieux sieht noch den Himmel voller Geigen. Aber es kommt der Moment, im entscheidenden Augenblicke seines Lebens, als er das Priesterseminar verläßt, da nimmt er das Schicksalsmotiv auf und macht es sich zu eigen. Der Fatalismus, mit welchem hier wie dort die stoffliche Spannung unter den Tisch gewischt wird, hat etwas von Kleistens Einleitung zum »Michael Kohlhaas«. Wenn diese Einfachheit nicht Stil ist, weiß ich nicht, was Stil sein soll. »Manon Lescaut« ist noch von einer derartigen, beinahe antiken Einfachheit, daß sie formal »Daphnis und Chloe« oder »Eros und Psyche«, von denen sie durch zwei Jahrtausende getrennt ist, näher steht als »Eugenie Grandet«, von der sie nur ein Jahrhundert trennt.
Mériméisch ist auch die grausame Ironie, die durch dieses scheinbar so sanfte Buch geht. Der zukünftige Priester wird seinem Berufe abtrünnig, wird aus der bürgerlichen Gesellschaft rettungslos hinausgeschleudert, durch wen? durch eine, die den Schleier nehmen soll. Sie, beglückt, sich von einem homme de qualité geliebt zu sehen, bringt ihn und sich ins Strafhaus, in einen Sträflingstransport von Dirnen nach der Neuen Welt. Es ist das nie versagende Motiv des Schelmenromans, daß der Held immer wieder genau durch das, womit er sein Glück zu besiegeln hofft, seinen Fall herbeiführt. Im Augenblick seines theologischen Triumphes entführt ihn Manon nicht nur der Theologie, sondern allen Möglichkeiten einer bürgerlichen Existenz. Des Grieux will sein Verhältnis kirchlich legitimieren: die redliche Absicht treibt Manon in den Tod. Die letzte Ironie: Manon ist eingescharrt, aber der Mann, dessen vermeintlicher Tod ihren wirklichen herbeigeführt hat, Synnelet lebt!
Das ist einer der Gründe, warum man mit dieser Erzählung niemals ganz fertig wird: die äußere Motivierung des Schelmenromans wird beständig durchkreuzt durch die innere des Misanthropen. Der Schritt von Alceste zu Des Grieux setzt den Zerfall einer alten Gesellschaft voraus. Der von Des Grieux zu Werther die Entdeckung der modernen Landschaft: das Zwischenglied heißt »Neue Heloïse«. Nach Rousseau würde Manon ein Brief- oder Tagebuchroman; die Handlung würde zurückgedrängt durch die Gefühle; die Erzählung ein lyrischer Monolog des Helden. Aber das unsterbliche Operntextbuch, das Manon unter anderem auch ist, ginge dabei flöten.
Es wäre wahrhaftig unbegreiflich gewesen, hätte sich die Musik dieses für sie wie geschaffenen Stoffes nicht bemächtigt. Zu beklagen ist nur, daß es keine Musiker ersten Rangs waren. Was konnte ein mittelmäßiger Routinier wie Massenet, was selbst ein Puccini mit diesen Gestalten machen! Einer nur hätte die unsterbliche Oper Manon schreiben können: Giuseppe Verdi. Ich stelle mir gerne vor, wie er die entzückende Szene komponiert hätte, in der Manon ihrem Geliebten die Haare richtet, und dazu die übermütigen Kaskaden ihres silbernsten Lachens trillert. Oder jene andere, die man in die Sphäre der mittelalterlichen französischen Tristandichtung übersetzen muß, um ihre Kühnheit auszukosten: Isolde schickt als Stellvertreterin zur Schäferstunde – sie kann sich nicht freimachen, König Marke hat Verdacht geschöpft –, schickt Brangäne! Brangäne, die zitternd, bebend, durchaus nicht nur vor Furcht, vor Tristan stünde. Brangäne, die errötend (en rougissant) die Augen niederschlüge ...?
Was vollends hätte Verdi aus der größten Szene des Werks gemacht, wo Des Grieux seine Geliebte in Abwesenheit ihres Aushälters überrumpelt! Sie, ohne im geringsten in Verlegenheit zu geraten: »Ei, du bist es, Schatz?« Er, frei nach Tristan: »Dies, Manon, mir! Mir, Manon, dies!« Läßt sich erschöpft, schluchzend, in einen Stuhl fallen. Pause. Fünf zarteste Takte, Manons Schicksalsmotiv mit Sordinen; wankt hin zum Stuhle, sinkt langsam in die Knie, legt ihr blondes Haupt in seinen Schoß, bedeckt das Antlitz mit ihren Händen, weint tonlos, nur der zarte Leib bebt. Des Grieux: »Du weinest? Manon? Weinest jetzt?« Sie hebt das Haupt einen Augenblick, sieht ihn an, senkt es wiederum, küßt demütig seine Hände. Allegro, immer rascher: »Deine Schwüre, Treulose, wo sind sie?« Der Schluß der Arie erstickt in Tränen. Lange Pause. Langsam und leise: »War es so schmählich, was ich verbrach?« Da, wilder Sturm im Orchester: »Heuchlerin von Anbeginn! Verräterin! Dirne! Nimm ihn! behalt' ihn! lieb' ihn wie mich, verrat' ihn wie mich!« Schleudert sie von sich, stürzt zur Tür, wirft einen letzten Blick zurück nach Manon, steht unbeweglich, da zieht es ihn magisch zurück, ihr zu Füßen, er überhäuft sie mit Küssen: »Mein Engel, verzeih mir!« Manon, ihn sanft umschlingend, ihre Haare lösen sich, fallen nieder auf sein Haupt wie eine Krone von Strahlen: »Ich dir verzeihen? Verzeih du mir, laß mich dir alles sagen!« »Sagen, Geliebte? Was könntest du sprechen, das ich nicht wüßte, wüßte von je?« Aber klingt an dieser Stelle nicht abermals jenes »andere Tanzlied« an? »Wir sind beide zwei rechte Tunichtgute und Tunichtböse. Jenseits von Gut und Böse fanden wir unser Eiland und unsre grüne Wiese – wir zwei allein! Darum müssen wir schon einander gut sein! Und daß ich dir gut bin und oft zu gut, das weißt du!«
Daß diese unerhörte Szene in »Manon Lescaut« buchstäblich dasteht, daß sie nur auf ihren Komponisten wartet, daß kein Musiker sie lesen kann, ohne daß ihm die Finger kribbeln, ist vielleicht das Letzte, was man zum Preise dieser Aventüre sagen kann. Einmal war Verdi in die Nähe dieses magischen Kreises geraten, in seiner »Traviata«. Aber um die schönste seiner Opern sind wir gekommen, weil der Stoff weder ihm noch einem seiner Librettisten einfiel. Puccini, in dem großen Duett des zweiten Akts (Tu!... tu!... amore tu!... ah, mio immenso amore!), die im Klavierauszug fünfzehn Seiten füllt, hat wenigstens eine Ahnung, daß dies die zentrale Szene des Werks ist. Henri Meilhac und Philippe Giller, die das Libretto der »Manon« Massenets zurecht schneiderten, hatten keine: sie arrangieren lieber niedliche Ensembleszenen ...
Es wäre von hohem Reize, die Entwicklung des Liebesideals in der französischen Literatur zu verfolgen von jener entzückenden südlichen »Chantefable« von Aucassin und Nicolette an über die Princesse de Clèves, Manon Lescaut, die Liaisons Dangereuses bis zu Flauberts Education sentimentale. Aber die lebensvollste Gestalt bliebe am Ende doch Manon, immer wieder Manon. Das verleiht ihr eine dauernde Aktualität der Zeit: Manon ist heute so lebendig wie vor 200 Jahren. Und eine allgegenwärtige Aktualität des Ortes: selbst in der kümmerlichen Form des Films wirkt »Manon Lescaut« von Buenos Aires bis Kapstadt und von Tokio bis Oslo.
Sie ist der erste wirklich moderne Roman. Ohne sie kein »Wilhelm Meister« und keine »Wahlverwandtschaften«, aber auch kein »Rot und Schwarz«, und keine »Effi Briest«. Und I was ist schließlich Tolstois »Auferstehung« als eine Manon mit Läusen in Bart und Gewissen? Dabei ist dieser Roman verbotener Liebe von einer Diskretion, die kaum zu übertreffen ist: im ganzen Buch keine Szene, die irgendwie erotisch wäre. Das Erstaunlichste aber ist, daß uns diese Manon, die wir uns doch so genau vorstellen können, nirgends beschrieben wird: nur aus ihrer unwiderstehlichen Anziehungskraft schließen wir auf ihre betörende Schönheit.
Einer der besten Leser von »Manon Lescaut« war der junge Goethe. Noch in »Dichtung und Wahrheit« ist die Wirkung dieser Lektüre zu spüren. Ja, wie wir aus den Vorarbeiten zu diesem Werke wissen, wollte er sogar die Frankfurter Gretchen-Episode mit ihrer literarischen »Spiegelung« beschließen: mit Manon Lescaut. »Zur Nährung eines solchen Kummers waren gewisse Romane, besonders die von Prévost, recht auserlesen. Die Geschichte des Ritters Des Grieux und der Manon Lescaut fiel mir zu gleicher Zeit in die Hände und bestärkte mich auf eine süß quälende Weise in meinen hypochondrischen Torheiten. Der große Verstand, womit diese Dichtung konzipiert, die unschätzbare Kunst, womit sie ausgeführt worden, blieben mir freilich verborgen. Das Werk tat auf mich nur eine stoffartige Wirkung; ich bildete mir ein, so lieben und so treu sein zu können wie der Ritter, und da ich Gretchen für unendlich besser hielt, als Manon sich erwiesen, so glaubte ich, alles, was man für sie tun könne, sei sehr wohl angelegt. Und wie es die Natur des Romans ist, daß die Fülle der Jugend dadurch übersättigt und die Nüchternheit des Alters wieder aufgefrischt wird, so trug diese Lektüre nicht wenig dazu bei, mein Verhältnis zu Gretchen, solange es dauerte, reicher, behaglicher, ja wonnevoller, und als es zerstört wurde, meinen Zustand elender, ja das Übel unheilbar zu machen. Damit an mir erfüllt würde, was geschrieben steht.«
Vor allem aber spürt man die Wirkung des Romans auf Goethe im »Wilhelm Meister«, und zwar stärker noch in dessen erster Gestalt, dem »Ur-Meister«. Man urteile selbst: »Die Aufmerksamkeit des Zuschauers war indes auf den Wagen gerichtet. Die alte Kutsche, worin man die Schöne anfangs transportierte, war unterwegs gebrochen, und da man einen Bauernwagen zu Hilfe gerufen, erbat sie sich die Gesellschaft ihres Freundes, der, wegen des besonderen Begriffs von Kriminalität des Falles mit Ketten beschweret, erst nebenher ging. Sie saßen also beiderseits auf einigen Bündeln Stroh beieinander, blickten sich mit Zärtlichkeit an, und er bewegte, indem er ihre Hände küßte, mit vielem Anstände die klingenden Fesseln.« Ist das nicht genau die Situation der beiden Liebenden auf dem Wege nach Le Havre?
»Sie hatte von früher Zeit an mit einem unglaublichen Leichtsinn dahingelebt und jeden Tag und jede Nacht, gleichsam als wenn es der erste und die letzte wäre, sorglos der Freude gewidmet... Sie warf nicht leicht ihre Augen auf einen, der sich nicht auch um ihre Gunst bemüht hätte, und es war nicht leicht einer, auf den sie nicht ihre Augen warf. Sie war das gutherzigste Geschöpf der Welt, naschte gerne, putzte sich und konnte nicht leben, ohne spazierenzufahren oder sich sonst eine Veränderung zu machen; ganz allerliebst war sie aber, wenn sie ein Glas Wein im Kopfe hatte. Wer ihr diese Freuden verschaffen konnte, war ihr angenehm, und wenn sie einmal, welches doch selten geschah, einiges Geld übrig hatte, so vertat sie es auch wohl mit einem irrrenden Ritter, der ihr leidlich gefiel und dessen starke Seite der Beutel nicht war... Ihr ganzes Wesen hatte etwas Kindisches und Unschuldiges, das ihr in den Augen eines jeden einen neuen Reiz gab.« Diese meisterhafte Charakterisierung des Kindweibes Philine hat Goethe in der späteren Fassung unbegreiflicherweise gestrichen: war er sich bewußt geworden, daß das alles schon in ›Manon Lescaut‹ stand?
Mit dem Urteil eines neueren Künstlers seien diese Betrachtungen geschlossen:
›Manon Lescaut‹,schreibt der junge Adolf Hildebrand an Conrad Fiedler, »habe ich leider schon ausgelesen. Es ist ein äußerst feines Buch, und der uneingezwängte vorurteilsfreie Sinn, mit dem das Organische der Natur dargestellt ist, ganz bewundernswert; es scheint darin ein spezifisch französisches Talent zu liegen. Die Menschennatur ist doch ein unheimliches Ding und schillert in tausend Farben, und oft, wenn man ihr ins liebliche Antlitz schaut, grinst einem allmählich eine unheimliche Fratze entgegen. Es geht einem dann wie in den Kinderjahren, wo man nachts vor dem Spiegel steht und sich allmählich vor sich selber fürchtet und einen ein Grauen erfaßt...« (Juli 1874).