Arthur Holitscher
Adela Bourkes Begegnung
Arthur Holitscher

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Versammelten waren überrascht, als die Tür aufging und Adela eintrat.

Miß Falkoner stieß einen kleinen Vogelschrei aus und lief Adela mit offenen Armen entgegen. »Adela! Meine Teure!«

Das Dienstmädchen brachte einen Stuhl herbei, Miß Falkoner aber nötigte Adela auf das Sofa an ihre Seite.

Es waren zwölf Personen da, zehn Damen, zwei alte Gentlemen. Sie hatten Teetassen vor sich. Miß Falkoner führte den Vorsitz. »Dies ist Mrs. Adela Malone,« stellte sie vor, »meine teure Freundin. O, Sie kennen sie ja, meine Teuren. Mr. und Mrs. Shuttleworth, Mrs. und Miß Baker, nicht wahr, unsre Garden-Party, und Sie, teure Mrs. Hutchinson, Mr. Kenneth Marshall, meine Teure, und Miß Bainbridge . . .«

Sie stellte vor.

»Wir sprachen gerade heute von Ihnen, Teure!« schloß Miß Falkoner. »Sie müssen es empfunden haben. Ach, ich war in solcher Sorge um Sie. Nun, die fatalen Bäume in meinem Garten, sie haben Ihnen das Fieber gebracht – aber Sie haben es ja gottlob bald überwunden.«

217 Vor Miß Falkoner stand ein silbernes Glöckchen auf dem Tisch. Sie rührte es und frug, ob man warten solle, bis Mrs. Malone ihren Tee bekommen habe und in den Lauf der Verhandlungen eingeweiht worden sei, oder ob man es vorzöge, in der Sitzung fortzufahren.

Mr. Marshall griff zu seiner Tasse und bemerkte, es sei ja noch nichts Bedeutendes vorgefallen und verhandelt worden, man könne also warten.

»Wir sprachen von dem, was heute alle Gemüter bewegt – von der Verhaftung, die sich vielleicht in dieser Minute dort drüben jenseits des Wassers begibt.«

»O!« sagte Adela.

»Unsere Sitzung steht unter dem Eindruck dieses Ereignisses. Wir sind vom Verein für Kinderschutz der Surrey-Seite, Sydenham, Streatham und Croydon hier beisammen, Teure,« sagte Miß Falkoner.

»Es liegt nichts Besonderes vor für diese Sitzung,« bemerkte Miß Bainbridge. – Sie war die Dame mit dem Papageienprofil, die Adela in Falkoners Wagen in der Rottenrow bemerkt hatte.

»Nein, es liegt nichts Nennenswertes vor,« bestätigte das Ehepaar Shuttleworth.

»In diesem Augenblick!« sagte Miß Bainbridge, und schauerte sichtlich zusammen. »O, es ist ein greuliches Gefühl.«

»Es geschieht der Gerechtigkeit Genüge,« bemerkte eine Dame. Sie hatte große runde Augen wie aus Porzellan, blau und unbeweglich.

»Vielleicht gibt es schon Spezials. Morris, mein Kellermeister, hat den Auftrag erhalten, mir alles, was auf der Straße ausgerufen wird, bereinbringen zu lassen. Ein Stalljunge steht an der Landstraße nach Croydon und paßt auf.«

»Das Ereignis wird ja erst morgen früh erwartet,« sagten einige Damen.

»Wie groß ist die Zeitdifferenz?« frug eine. Darüber waren die Meinungen geteilt. Manche wollten wissen: vier, manche: sechs Stunden.

»Vorwärts oder zurück?« frug eine Dame jüngern Jahrgangs. Sie hatte eine durchsichtige Haut und errötete tief.

»O, teure Miß Lathrop, Sie sind ungeduldig. Sie möchten den Spezial womöglich noch vor dem Ereignis haben.«

»Teure Mrs. Coole, ich kann es abwarten,« erwiderte Miß Lathrop und wurde dunkel wie eine Kirsche.

Miß Falkoner saß da und beobachtete Adela.

Eine Änderung im Wesen, ja im Aussehen Adelas fiel ihr auf. Adela war, seit sie sie zuletzt gesehen hatte, sichtlich gealtert. Miß Florence konstatierte dies nicht ohne Genugtuung. Aber nicht dies war's, was sie frappierte. Adelas Züge waren scharf, aber nicht müde, sondern gespannt. Eine Spannung lag auch über ihrer Gestalt, sie hielt sich steif aufrecht und ihre Hände, die sich zur Tasse und auf den Schoß zurückbewegten, vollführten diese Gebärden mit einer Genauigkeit, als stecke ein bewußter Wille und sogar genaue Berechnung hinter jeder Geste. Miß Florence stellte fest: die Scheidung. Und dann: Garrat!

Sie suchte aus Adelas Mienen, nach jedem Wort, das die Gesellschaft über das Schicksal des Mörders äußerte, über dem die Hand ja nur mehr auf Fingerbreite schwebte, zu ergründen: wie weit die Sorge und Teilnahme Adelas an dem Schicksal Garrats Ursache ihres ganz veränderten Gehabens sein könnte.

»Kann man Frauen zum Tode verurteilen?« frug die Dame mit den blauen Emailleaugen aus der Tiefe ihres Lehnsessels.

Die Damen, es waren unter ihnen Mitglieder der Frauenstimmrechtliga, ereiferten sich über diese Frage.

219 Man kam überein, daß die Person, die Garrat begleitete, und deren unsittliche Führung auf der »Inverneß« das Gespräch beider Hemisphären mit Stoff versorgte, unter dem unheilvollen hypnotischen Einfluß des Dämons stände und, von ihm befreit, der gesitteten Gesellschaft zurückgegeben werden würde. Es standen ja der menschlichen Gesellschaft Gefängnisse und Korrektionshäuser zu diesem Zweck zur Verfügung!

Herr Kenneth Marshall, ein gründlicher Kenner Londons und seiner Legenden, berüchtigt wegen der Umständlichkeit seiner Art, zu erzählen, fing einen Bericht über die alte Mrs. Brownrigg aus Fetter Lane an, die zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts zwei ihrer Gehilfinnen zu Tode gefoltert und im Kohlenkeller begraben hatte – ein Beispiel weiblicher Verworfenheit und zugleich ein Präzedenzfall, denn sie wurde ja nach Aussage der Chronisten: »vom Leben zum Tode gebracht« und zwar öffentlich.

Die Damen sprachen längst von allem Möglichen, die Unterhaltung war im Gange und Miß Falkoners Hand zuckte nach dem Glöckchen. Adela hatte vom Tisch ein gedrucktes Heft genommen, das die Protokolle der letzten Sitzungen der Londoner Zentralgruppe des Kinderschutzvereins enthielt und sauber mit einer weißen Seidenschnur verschnürt vor jedem Platze lag.

Als Mr. Marshall mit dem Fall Brownrigg zu Ende war, erlebte die Versammlung ihre zweite Überraschung, denn Adela ergriff, ohne die Vorsitzende zu bitten, noch sich um die Tagesordnung zu kümmern, das Wort.

Sie lehnte sich im Sofa zurück, schloß die Augen halb und sprach ihre Worte über die Köpfe der Versammlung hinüber, ins Leere hinaus.

»Die Verantwortung für die Menschen beginnt vor ihrer Geburt, ja! Wenn man Kinder im Elend der Welt sieht, dann kann man wenig tun für sie, und das Elend läßt sich 220 nicht abstellen. Man kann auch nicht das Erdreich wegräumen, die kleine Pflanze und ihre Wurzel – das ist es, ehe das Samenkorn ins Erdreich geworfen ist – da beginnt die Verantwortung! Man kann Eltern nicht strafen, weil sie ihre Kinder im Elend vernachlässigen und Kinder nicht strafen, weil sie außerhalb des Gesetzes stehend Böses verüben, denn das Elend der Welt ist zugegen um beide. Und das Elend kann nicht gestraft werden, weil es kein Mensch und keine Person ist und weil man nicht sieht, wo es anfängt und aufhört. Es fängt an und hört auf im Menschenherzen, aber nicht in dem der Schuldigen, sondern in dem derjenigen, die am wenigsten Schuld zu tragen scheinen!«

Miß Falkoner versuchte, die Hand auf Adelas Arm zu legen und sie zu bestimmen, daß sie in ihre Augen sehe und ihr Rede und Antwort stehe. Aber da Adela den Druck der Hand nicht verspürte, blickte Miß Falkoner mit einem Lächeln um sich, das Adela entschuldigen sollte, und als Mrs. Shuttleworth eine Handbewegung gegen ihre eigene Brust machte und dann nickend die neben ihr sitzende Miß Bainbridge ansah, bestätigte sie es Miß Falkoner: daß Adela ungerecht gegen die hier Anwesenden sei, die es gut meinten mit ihrem Streben, zu helfen und Not zu lindern und deren Herzen wahrhaftig nicht angeklagt werden sollten, daß gerade sie die Schuld an dem Unglück der Welt und der Verdammten trügen!

Adela fuhr unbeirrt und ohne Gefühl für die Empfindungen ihrer Umgebung fort:

»Ich bin nicht nur schuldig an dem Schicksal und der Not meines eigenen Kindes, das in die Welt kam als ein unglückliches und schrullenhaftes Wesen, weil ich es ohne die Liebe, die das Schicksal der Menschen ist, die geboren werden, gezeugt habe, sondern ich bin auch schuldig an dem Untergang und der Sünde und jedem schlechten Atemzug und falschen Blick von allen Kindern, unglücklichen 221 Geschöpfen und Nachkommen unglücklicher Geschöpfe um mich herum und in der ganzen Welt.«

»Aber, teure Mrs. Malone,« rief Mrs. Shuttleworth aus, »wir sind ja alle Christen und wir arbeiten für unsern Herrn und Heiland, wenn wir beisammensitzen und versuchen, Wege zu finden, um die Schuld der Menschen gegeneinander aufzuheben.«

»Wir sind alle Christen,« sagte eine Dame in blauer Seide und mit Blumen überreich bedecktem Hut.

»Und wir tragen keine so schwere Last an dem Unglück der andern, wie Sie es anzunehmen scheinen,« bemerkte Mrs. Coole mit harter Stimme.

»Nein, wir wären nicht zu unsrer gemeinsamen Arbeit versammelt, wenn wir so wären. Wären die andern nur vom selben Geist wie wir, alles wäre gut. Wir sind zu wenige . . .«

»Weshalb sind wir denn hier beisammen?« sagte Miß Falkoner begütigend, »Weil unser Gewissen unruhig ist und weil wir die Schuld der Welt kennen.«

»Christus komme zu uns!« seufzte Miß Wemyß, eine vornehme alte Dame mit schwerer Goldkette um den Hals.

»Wir tragen Christus in die Herberge des Lasters und der Verworfenheit!« sprach ihre Nachbarin, eine Dame mit vielen Armreifen und Berloques mit erhobenem Finger. »Wir kommen vom Gotteswort und wir bringen es jenen, die es vergessen haben.«

»Ich bin schuldig an dem Untergang meines Nächsten und an der Verführung der Schuldlosen, wie ich schuldig bin an dem Schicksal meines Kindes, das trüb und belastet in das Leben hinausgeht und ich bin nicht zuletzt schuldig an dem Lauf der Welt, der anders wäre, wenn ich recht zu leben verstünde, im rechten Augenblick!«

Alle verstummten. Sie hatten, Frauen und Männer, ihre Augen auf Miß Falkoner gerichtet, als sollte die ihnen 222 Auskunft geben über den Gemütszustand ihres Gastes und Antwort auf die Frage, ob die australische Dame nicht etwa geistesgestört sei.

»Es fehlte gerade noch, daß wir an Maroonstreet und an Garrat und an all diesen Scheußlichkeiten Schuld trügen und daß man uns der Mitwisserschaft oder der Tat selbst beschuldigte?« sagte Miß Lathrop halblaut zu Mrs. Coole und diese nickte.

Adela fühlte das Unbehagen Florence Falkoners in sich überströmen.

»Wir müssen mit den Worten unsrer Freundin nicht zu streng zu Gericht gehn,« sagte Miß Falkoner begütigend und nickte mit einem verzeihenden Lächeln die Anwesenden der Reihe nach an. »Sie hat Trauriges erlebt,« sagte sie leise zu ihrer Nachbarin, »sie steht mitten inne in traurigen Erlebnissen. Scheidung. Sie war krank.«

Adela sah die Damen am entgegengesetzten Ende des Tisches an und blickte in erschrockene und beleidigte Mienen. Ihre Brust, die vom Atem eines jähen Entschlusses geschwellt war, senkte sich und der Atem verstrich ungenutzt, seine Wärme bewegte die Atmosphäre kaum. Adela schwieg und ihre emporgescheuchte Seele kauerte nieder in einem Winkel und verstarb.

Sie sank in sich zusammen, erinnerte sich kaum an ihre Worte und hatte das Gefühl, unrecht an Miß Falkoner gehandelt zu haben. Ja, gewiß hatte sie Miß Falkoners Freundschaft mißbraucht.

Für einen Augenblick kehrte noch der heiße Wille zum Geständnis wieder in ihr Blut ein und sie öffnete schon die Lippen. Miß Florence aber, als ahne sie, was Adela zu tun im Begriff war, schüttelte das Glöckchen lange und energisch und sagte:

»Wir wollen nun unsre Arbeit fortsetzen. Bitte, Miß Lathrop, berichten Sie über Ihre Ermittlungen in der Sache 223 Molly Maunders, Warenhausdiebstahl in wiederholten Fällen, Bezirk Bermondsey, Jugendgericht Bricklayers Arms.«

Miß Lathrop errötete und begann ihren Bericht.

Eine halbe Stunde später empfahl sich das Ehepaar Shuttleworth.

Morris, der Kellermeister, erschien und meldete, der Wagen der Herrschaften sei vorgefahren. Er brachte auf einem Silbertablett einige noch feuchte Abendzeitungen.

Sie wurden hastig entfaltet, enthielten aber übereinstimmend nur die Nachricht, daß Mr. Evangeliste mit seinem Begleiter Mr. Crombie aus Scotland-Yard, dem Spezialisten für Patent-Medicin und Kurpfuschertum, dem Herrn, der Garrat persönlich kannte, auf der »Empreß of India« in Rimouski eingetroffen sei. Das Schiff sei bei Nacht und starkem Nebel an der »Inverneß« vorübergefahren, vor Kap Magdalen, auf der Höhe von Anticosti, und habe die beiden Fahrgäste in Rimouski glücklich und ohne daß die andern Passagiere es bemerkt hätten, ausgefrachtet. Die Begegnung werde morgen nach dem Frühstück stattfinden, die Wetteraussichten seien gut. – Die Nachricht war über Labrador und Point Sablon aufgenommen. –

Mr. Kenneth Marshall legte die Zeitung vor sich und bemerkte, Morton Crescent und der Fall Garrat werde ein Legendenstoff wie der von Mrs. Brownrigg werden und der drahtlosen Verfolgung wegen eine Sache, die in den Annalen Londons an besonderer Stelle verzeichnet stehen müsse.

Bald nachher, es ging auf Dinnerzeit, verabschiedeten sich die Mitglieder des Ausschusses, einzeln und in Gruppen.

Adela hatte in der letzten Viertelstunde vor dem Aufbruch versprochen, Ermittlungsarbeit zu übernehmen. Ihr war eine Auswahl von Fällen, sauber mit der Schreibmaschine vervielfältigt, auf großen Bogen Büttenpapier, überreicht worden und sie hatte durch ihre 224 Bereitwilligkeit den Eindruck des Befremdens wieder wettgemacht, den ihr unerklärlicher Ausbruch auf die Komiteemitglieder ausgeübt hatte.

Miß Florences großer Landauer wartete vor dem Tor des Parks, Adela fuhr mit drei andern Damen hinüber nach dem Stadtteil am linken Ufer der Themse; sie saß stumm auf ihrem Platze, während die andern in eifrigem Gespräch die Straßenzüge, die Brücke und den Kingsway an sich vorüberziehen ließen, auf dem Wege nach ihren Heimen, wo das Abendessen auf sie wartete. –

Dienstag früh um zehn standen die Reisenden der »Inverneß« in hellen Scharen an Backbord und sahen aus der nebligen Ferne, in der die flachen Ufer des St. Lawrence verschwammen, Konturen von Docks und Kirchtürmen, dann eine Reihe von Häusern hinter einer kleinen vorgeschobenen Insel auftauchen, die Hafeneingang und Mole schützte.

Garrat kam aufs Verdeck und sah sich nach Cora um. Er fand sie, an die Reling gestützt, die Wangen rosig, die Augen heiß, ihren Blick in weite Fernen über das Ufer des Stroms in das neue Land gerichtet.

Ryan stand mit Doktor Kennedy fünf Schritte weit von Mrs. Fergus. Der Arzt schien sich in die junge Frau vergafft zu haben. Er ließ sie nicht aus dem Auge.

Ein Boot näherte sich der »Inverneß«, darin saßen die Lotsen.

Mit Puffen und Zischen des kleinen Motors schäumte es durch den Strom und seine schnellenden Wogen heran.

Garrat hatte sich einen Weg durch die dichten Scharen der Kajütgäste gebahnt und stand hinter Cora, blickte über Coras Schulter aufs Wasser hinunter.

Warum war das Lotsenboot so voll? Er zählte: fünf – sieben Lotsen. Sonst genügten drei, wollte ihm dünken. Warum diese Fülle von Menschen?

225 Sie waren uniformiert, in weißen Kappen, blauen Anzügen.

Der Arzt kam mit Offizier Stratton heran, grüßte Garrat, Stratton machte Cora ein Kompliment über ihr Aussehen, sie lächelte, den Blick in der Ferne, als zöge eine magische Kraft ihren Willen dorthin und ließe sie nicht los, nicht für einen Augenblick, so als sei sie unter dem Einfluß einer Hypnose.

»Das Schiff ist so voll . . . ich will sagen: sind das alles Lotsen?«

»Jawohl, Mr. Fergus,« sagte Kennedy; »die Mehrzahl der Leute fährt nachher mit dem Diensthabenden in die Stadt zurück. Ihr Turnus ist zu Ende.«

»So,« sagte Garrat. Er war von Cora getrennt. Matrosen hatten die Lotsenleiter herbeigeschleppt und befestigten sie unter der Aufsicht eines Offiziers an der Reling. Zu beiden Seiten staute sich die Zuschauermenge.

Die Leiter polterte die Schiffsflanke hinunter. Die »Inverneß« hielt, man hörte die Schraube des kleinen Motors unten zischen und strudeln.

Mr. Ryan war von bezaubernder Artigkeit. »Sie werden nun unser gelobtes Land mit eignen Augen erblicken, Mrs. Fergus. Ich hoffe, Sie werden es lieben, mit allem, was ich an ihm liebe, dem Wald, den tausend Seen und Inseln und auch seinen Menschen . . .«

»Wir müssen Platz machen!« sprach Offizier Stratton, räusperte sich, seine Stimme war heiser. Cora wurde von einem Keil von Stewards und Matrosen beiseite gedrängt mitsamt ihren Kavalieren.

»Ich freue mich auf das Land,« sagte Cora, den Blick in die Ferne, über die Menschen weg gerichtet.

Die vorne Stehenden beugten sich weit über die Reling, verfolgten mit Staunen das Indiehöheklettern von sechs behenden Leuten. Ja, es war ungewohnt. Sechs Lotsen!

226 Aus der Gegend des Hafens her näherten sich noch andre Schiffe. Ein kleines, mit buntem Wimpel: das war das Zeitungsschiff, das die ersten Blätter und die Post für die an Bord mitbrachte. Auf dem kleinen Deck aber, seltsam, stand mindestens ein Dutzend Leute eng gedrängt!

Die Lotsen waren an Bord.

Kapitän Fraser empfing sie, nahm Papiere entgegen, begrüßte sie mit Handschlag. Er ließ sie zur Seite treten, kam vor, begrüßte die nächsten, die sich über die Reling aufs Verdeck schwangen.

Sie führten die Finger an die Ränder ihrer über die Stirn gezogenen Mützenschilder, bahnten sich einen Weg durch die Passagiere, nach rechts, nach links.

Offizier Stratton hatte unter ihnen einen Bekannten; er faßte ihn unter den Arm, führte ihn nach dem Eingang zu den Kabinen.

Fraser unterhielt sich mit einem hochgewachsenen, dunkelhaarigen Mann, der einen kleinen Schnurrbart mit fest zusammengedrehten Spitzen trug. »Ja, danke, die Fahrt war gut, wir hatten unbedeutende Zwischenfälle, nein, nichts von Belang,« hörten die Fahrgäste ihn sprechen.

Einer von den Lotsen kam an Fraser und seinen Kollegen heran. Er sprach etwas zu den beiden.

Das tiefe Dröhnen der Rauchfänge scholl durch hohle Trichter zum Morgenhimmel auf.

Schrille Sirenen antworteten vom Strom, vom Hafen her, fern und nah, ein Konzert von grellen Lauten, das plötzlich aufsteigend die Luft in Fetzen zerriß und um die Gesichter und Ohren der Fahrgäste flattern und schlagen ließ.

Durch das Dröhnen und den Lärm erhob sich hinter Garrats Rücken eine klare Stimme: »Dieser Mann gehört mir!«

Garrat drehte sich um. Seine Augen waren aufgerissen. Sie blickten in die Augen eines alten, runzeldurchfurchten 227 Gesichts mit schütterem Backenbart, das er im Blitz wiedererkannte . . . Crombie, der Mann von Scotland-Yard, unter der weißen Kappe des Lotsen.

Im selben Augenblick fühlte er seine Arme zurückgebogen, den kalten Stahl um die Handgelenke.

Sein Hut fiel ihm übers Gesicht. Der Dunkelhäutige trat vor, schob ihn ihm auf den Kopf zurück.

Eine Menschenmenge preßte sich um den Kern des Gewühls, zur Tür der Kabinentreppe hin.

Unten, auf dem ersten Absatz der Treppe hörte Garrat plötzlich einen Aufschrei, einen menschlich schrillen Laut, der eine Ellipse in der Luft zu beschreiben schien, niedersank und verhallte. Er wandte den Kopf, sah Frauen in Stewardeßtracht sich um eine sinkende Gestalt bemühen, wurde weiter geführt, hinunter. Eine Schar fremder Gesichter, neugieriger, gieriger Gesichter starrte rund um seines, starrte ihn an.

»Was ist mit ihr?« wollte er hervorstoßen. Es waren nur ein paar Vokale, die er zuwege brachte. Dann war er unten.

Die Tür seiner Kabine öffnete sich von innen.

Es standen zwei Männer in der geöffneten Tür.

*

Herr Lucas fuhr fort:

»Und da – an dieser Straßenecke tauchte sie vor mir auf. Es war wieder ganz so, wie das erstemal. Sie schien aus einem Hause herauszutreten, und als ich an dem Hause vorüberging, da sah ich: da war gar kein Tor!«

»Also eine Halluzination!« sagte Adela.

»Nein. Denn sie ging wie ein Mensch vor mir, ich erkannte ihren feinen leichten Schritt und die Farbe ihres Haares und Kleides. Ich erkannte auch ganz deutlich den Schimmer des goldenen Reifs unten am Knöchel ihres Fußes.«

228 »Sie sprachen mit ihr?«

»Ich hatte Angst.«

»Angst? Weshalb . . .«

»Ich kann Ihnen nicht sagen, weshalb. Ich hatte Angst, wie ich ja auch Angst hatte, mit Ihnen zu sprechen, nachdem ich Ihre schöne, ringgeschmückte Hand erblickt hatte.«

»Sie hatten Angst, Ihre Vision könnte Wirklichkeit sein?«

Sheila, die auf dem Boden bei ihren Puppen saß, wie sie's gewohnt war, mit dem Gesicht gegen die Wand, drehte ihr Köpfchen um und blickte die Mutter, dann Herrn Lucas an. Adela ließ die Hand, auf die sie den Kopf gestützt hatte, langsam sinken und verbarg sie auf ihrem Schoße.

»Ich sah sie dann noch einige Minuten lang durch die Straßen vor mir gehen, dann war sie fort. Ich hatte ganz genau gesehen, wie sie in ein Haus, eine Villa eingetreten war, die mit einem schmalen Vorgärtchen unmittelbar an der Straße lag. Ein paar Stufen, zwischen Säulen, führten hinauf in das Haus. Ein sehr breites Fenster war im Hause hell beleuchtet. Man sah die Silhouetten von Menschen hinter dem Vorhang, stehende, vorübergehende Figuren. Es war eine Gesellschaft dort. Ich ging in die Villa.«

»Herr Lucas, Sie gingen in die Villa!?«

»Ich tat es. Es waren viele Leute da. Es fiel niemandem auf, daß ich kam. Es waren wohl viele da, die sich nicht kannten. Auch waren sie alle in Straßenkleidung. Manche waren ärmlich gekleidet, manche wie Arbeiter. Aber auch Reichgekleidete waren da. Ich sah mich um nach ihr, die ich einmal vor Monaten heimlicherweise Annabel Lee genannt hatte – wie Sie wissen! Jedoch sie war nicht unter den Anwesenden. Ich war bald in ein Gespräch mit einem Mann geraten, dem zwei Frauen und ein ganz junger Knabe zuhörten. Sie hörten ihm ehrerbietig 229 zu, ich merkte sogleich, er genoß großes Ansehen im Kreise dieser Menschen. Als ich ihm eine Weile zugehört hatte, verstand ich, warum. Auch die andern blickten, wenn ihre Augen ihn streiften, mit Ehrfurcht und Rührung zu dem alten Manne hin. Es sammelten sich immer mehr Hörer um ihn. Er schien Russe, ein Slawe zu sein. Er sprach von Ketten, von Kerkern. Er kannte mich so wenig, wie ich ihn, und doch sprach er ausschließlich zu mir am Ende. Nach wenigen Minuten waren wir Freunde.«

»Und das Mädchen?«

»Ich stand im Laufe des Abends bei vielen Gruppen, denn mein Freund blieb lange und wir hatten uns verabredet, zusammen das Haus zu verlassen. Und da, in einer Gruppe, wurde von ihr gesprochen. Das heißt: ich muß annehmen, daß von ihr gesprochen wurde. Ihr Geburtshaus wurde von einem jungen Skandinavier geschildert – ein sonderbares Haus auf einer Schäre im Meer vor Stockholm, ein Haus auf Pfählen, über das Wasser der Bucht gebaut, eine Galerie eigentlich nur, man fuhr mit dem Kahn ins Haus hinein, im Winter lief man auf Schlittschuhen ins Haus; um die Galerie lagen kleine Zimmer, alles sehr ärmlich, es wohnten abenteuerlich elende Menschen dort, Holzfäller, Beerenpflücker, oft ganze Familien in einer Stube, die im Winter kaum aufs notdürftigste geheizt werden konnte.«

Sheila ließ ihre Puppen sein, kam leise zu Lucas und legte ihre Hand in die seine. Er zog ihr Köpfchen an sein Knie und sprach weiter von dem Haus auf dem Wasser und seinen Bewohnern. Dem Kinde klang es wie ein Märchen, und doch war es Wirklichkeit, noch dazu bitterste Wirklichkeit, die Not des Lebens der Armen.

»Als wir weggingen, gestand ich meinem Freund, dem Russen, daß ich uneingeladen, fremd und ohne Befugnis in das Haus und die Gesellschaft eingetreten sei. Er hörte 230 mir zu und sagte darauf: ›O, es ist oft so, man tritt unter fremde Menschen ein, von denen man nichts weiß, und die von einem nichts wissen, und findet Verwandte und Brüder und alte Freundschaft. Man muß Stichproben machen unter den Menschen, dann sieht man, daß die Menschen besser sind, als die Einsamen annehmen.‹ Ja, er hatte recht. Der Versuch glückte. Der Versuch glückte.«

»Erklären Sie mir's, Herr Lucas,« sagte Adela. Aber Herr Lucas schien diese Bitte zu überhören. Er erzählte von seinem Freunde, dem Russen, den er in ein kleines Hotel hier in der Nähe der Oxford- und Tottenhamstraße begleitet hatte, ein Hotel, in dessen Erdgeschoß ein Klub oder Versammlungslokal sich befand. An einem der nächsten Abende sollte er dort einem Diskussionsabend beiwohnen. Die Straße hieß die Windmühlenstraße. Vielleicht war Frau Malone erstaunt darüber, daß der Fremde ihn so ohne weiteres der Aufnahme in seinen geheimen Zirkel würdig befunden hatte? Ja, er selber war ja erstaunt gewesen, aber der Russe hatte ihn bloß lächelnd angeblickt und mit einer freundlichen Gebärde über seine Stirn gestreichelt: dann habe er lächelnd genickt und nur das eine Wort gesagt: »Freund!« Ja, es sei merkwürdig gewesen mit diesem Abend. Das Haus, in dem er Annabel Lee verschwinden sah, sei auf der St. Johns Wood Terrasse gewesen.

Als Herr Lucas eine Weile geschwiegen hatte, erhob Sheila ihre Stimme wie ein aus Schlummer erwachendes Kind und sagte, indem sie in des Freundes Gesicht emporblickte: »Erzähle weiter Märchen, Freund!«

»Baby!« sagte Adela. »Es sind keine Märchen, Herr Lucas erzählt, was ihm wirklich begegnet ist. Es sind doch wirkliche Menschen, von denen er erzählt. Oder hältst du Herrn Lucas für einen Lügner?«

231 »Herr Lucas erlebt Märchen. Er ist ein Märchenmann!« sagte das Kind.

»Ich verstehe mich nicht auf Märchenerzählen, Kind!« sagte Lucas verlegen. »Aber ich will mir etwas ausdenken. Hab' Geduld – dann komme ich eines Tages und hole dich zu einem Märchenspaziergang ab. Willst du?«

Das Kind blickte mit betrübtem Gesicht in die Augen seines Freundes hinauf.

»Sie ist enttäuscht,« sagte Adela. »Sie hätten mehr von dem Haus in dem Schärenmeer erzählen sollen, mehr von der Villa in St. Johns Wood. Ich hörte auch gern mehr. Wollen Sie nicht fortfahren?«

Aber Herr Lucas war nicht gesonnen, dies zu erfüllen, sondern frug Adela, die überrascht aufblickte, ob sie ihn nicht einmal zu dem Diskussionsabend in den Klub der Windmühlenstraße begleiten wollte?

»Glauben Sie?« sagte Adela unsicher. »Lassen mich die Leute zuhören? Und was soll ich dort?«

Herr Lucas sah sie lächelnd an und sprach zu ihr, indem er unwillkürlich den Tonfall der Worte nachahmte, die sein Freund, der Russe, zu ihm gesprochen hatte, um seine Zweifel und Befürchtungen zu zerstreuen: »Es sind Menschen, die das Gute wollen. Das notwendige Glück.«

Adela dachte nach. Dann blickte sie auf und sagte: »Ich will gern.«

Im selben Augenblick erdröhnten unten vor dem Hause die ersten, quellend sonoren Töne einer Drehorgel.

Adela griff sich erbleichend ans Herz. Sie sprach kein Wort mehr. Ihr Herz wollte sich nicht beruhigen. Es dröhnte in ihrem Leibe wie eine Glocke in gehöhltem Raum.

Was geschah in diesem Augenblick mit ihm, dort – weit, jenseits des Wassers? Diese entsetzliche Orgel. Sie konnte sie nicht hören, nicht diesen elenden, zerfetzten Gassenhauer hören, ohne sofort an ihn erinnert zu werden, ihn mitten 232 in ihrem Herzen zu fühlen, das zerrissen wurde von Kummer, Besorgnis, unauslöschlicher, unabwendbarer Qual über das Schicksal, das sie mit ihm verbunden hielt.

*

Seit Anfang Juli wohnte Mr. Cartwright in West-House, ein korrekter Herr in Schwarz, den noch niemand ohne Zylinder, enganliegenden Rock, Handschuhe und Aktenmappe erblickt hatte. Er war wortkarg und erschien zu den Mahlzeiten mit der Miene eines Leichenbitters, aß beträchtlich und verschwand nach einer todernsten, eckigen Verbeugung von der Tafel. Tagsüber erfüllte er irgendeine Funktion in den Gerichtshöfen des Temple, vielleicht saß er mit der Lockenperücke angetan zu Gericht über seine Mitmenschen.

Seit kurzem war Mr. Cartwright mitteilsam. Er saß vor und nach dem Dinner im raucherfüllten Hinterzimmer des Erdgeschosses, in einem der mit Wachsleinwand bespannten Klubsessel und hielt sein spitzes Kinn zwischen seinen verflochtenen dürren Fingern hochgehoben. Der Kapitän, die beiden Clerks und ein neu hinzugekommener Student der Medizin, Mr. Davison aus York, hörten ihm zu. Er hielt den Herren einen Vortrag über das Gesetz von 1881, das sich auf die Behandlung flüchtiger Verbrecher innerhalb der Gebiete des Britischen Imperiums bezog. Mr. Cartwright hatte seine Kenntnis des Gesetzes am Morgen dieses Tages aus den Gesetzbüchern aufgefrischt. Seine scharfe klare Stimme durchschnitt die Rauchschwaden, unerbittlich wie das Schwert der Gerechtigkeit. Das Gesetz ermächtigte zur Verhaftung von Individuen, die in irgendeinem Teil der britischen Dominionen aufgegriffen wurden und gegen die der Verdacht vorlag, daß sie in einem andern Teil der englischen Dominionen ein Verbrechen begangen hätten. Der Verhaftete war 233 dem Friedensrichter vorzuführen, dieser hatte, falls gegen den Verhafteten ein starker und wahrscheinlicher Evidenzspruch vorlag, die Pflicht, den Flüchtling dem Gefängnis zu überantworten, in dem derselbe seiner Rückbeförderung nach dem Orte des Verbrechens, das heißt, seiner Auslieferung an die zuständigen Behörden entgegenzusehen hatte. Der Gefangene war in diesem Falle zu verständigen, daß er erst nach Ablauf einer fünfzehntägigen Frist zurückgesandt werden sollte, falls er von der Begünstigung der Habeaskorpusakte keinen Gebrauch zu machen berechtigt war.

Die beiden Clerks, die dem Vortrag mit halbem Ohr zugehört hatten, empfahlen sich rasch und stießen in der Tür auf Mr. Escoffier, von dem soeben eine perlend lachende Stimme im Treppenhaus Abschied nahm. Mr. Escoffier steckte den Kopf in das qualmige Zimmer, zog ihn aber sofort zurück, als er bemerkte, wer da drin saß und perorierte.

Mr. Cartwright indes ließ sich nicht beirren, klopfte mit hartem Schlage seine Pfeife am Kaminrost leer und führte vor seinem verringerten Auditorium des weitern aus: daß der Gefangene nunmehr vor dem Friedensrichter auszusagen habe, ob die »Information«, die zu seiner Verhaftung Anlaß gab, auf Richtigkeit beruhe und er sich schuldig bekenne.

Kapitän Rogers bemerkte hierauf: »Gott verdamm' mich, bei dieser Frage möchte ich nicht in der Haut des Mannes in Quebec stecken!«

Mr. Cartwright führte ein brennendes Streichholz im Krater seiner Pfeife herum und sprach: »In der Regel verweigert der Häftling auf diese Frage die Antwort.«

»Und was geschieht nun mit ihm?«

»Es folgt Vernehmung der Zeugen, wenn solche vorhanden sind. Dem Häftling ist es gestattet, persönlich 234 ein Kreuzverhör mit den Zeugen vorzunehmen, falls er gegen die Prozedur der Inhaftnahme zu protestieren wünscht.«

»Und wie ist es mit der Sicherheitsleistung, Mr. Cartwright?« frug Kapitän Rogers. »Mit der Sicherheitsleistung flüchtiger Verbrecher. Können sie einen Antrag auf Freilassung gegen Kaution an Kings Bench stellen?«

»Meinen Sie den Fall Garrat, Sir?« frug Mr. Cartwright. »Doktor Garrat?«

Kapitän Rogers versuchte ein Räuspern, aber Mr. Cartwrights Miene ermutigte ihn keineswegs, sich näher zu äußern. Mr. Cartwrights starker Mund hatte sich statt zu einer Antwort zu einem kurzen, blitzscharfen Grinsen verzogen. Die haardünnen Lippen schoben sich sofort wieder in ihre natürliche Lage zurück. Aus ihrem Winkel fuhr eine kerzengerade Wolke von Rauch zur Decke hinauf. Das Auditorium begriff, was mit diesem Schweigen gemeint war: abgelehnt!

*

»Teure Mrs. Strange, lassen Sie mich sehen!« Miß West ließ ihre kurzsichtigen Augen über die Stickerei der Dame gleiten. Es war ein feines, minutiös ausgeführtes Nadelwerk und stellte eine Schierlingsblüte auf langem Stengel dar, silbern und blau. »Wie hübsch! Eine Schierlingsblüte!«

Mrs. Strange legte den Rahmen hin und hob den Kopf: »Es ist eine teure Erinnerung. Ich war mit meinem Kind in einem Garten in Suffolk, da wuchsen solche Blüten. Eines Morgens kam Baby mit einer Blüte zu mir ins Bungalow gelaufen, es hielt die Blüte über das Köpfchen und rief mir zu: Mutter, ich habe einen Schirm!« Sie hob den Rahmen und begann emsig weiter zu sticken.

Die Damen Reynolds kamen herein.

235 »O, Miß West! Guten Abend, Mrs. Strange, Mrs. Malone. Stellen Sie sich vor: wir haben die Königin gesehen!«

»Wollten Sie nicht zu den Suffragetten, Miß Reynolds?«

»Doch, teure Miß West. Aber, denken Sie sich, wie der Zug gerade aus dem Tor des Hydepark herauskommt, es ritt Miß Drummond mit der Fahne an der Spitze, Sie wissen, die starke Dame mit dem Federhut, sie reitet auf Männerart, o, ich sage Ihnen, sie hatte Landsknechtshandschuhe mit Stulpen, Sporen an den Stiefeln, eine verschnürte Jacke, Sie wissen, so, wie sie im ›Mirror‹ abgebildet ist, also die Spitze des Zuges kam aus dem Marble Arch heraus, Boadicea, die Jungfrau von Orleans, dann die Damen Pankhurst im Zug, wir hatten alles, alles gesehen – da bemerkten wir, von Park Lane her, die drei Karossen, galonierte Diener – die Königin!«

Mrs. Strange legte die Stickerei fort: »O, erzählen Sie. Was hatte sie an?«

Und die Damen Reynolds erzählten.

»Nein, ich habe die Königin nicht gesehen!« sagte Adela, als die Damen Reynolds sie danach fragten. »Die alte Königin Viktoria vor Jahren, die jetzige aber noch nicht.«

Miß Dalmayne kam in Abendtoilette, aufgeräumt, ihr folgte eine schüchterne junge Dame, mit fast weißblondem Haar, sie setzten sich in eine Ecke, sprachen leise. Dalmayne machte sich kein Hehl aus der Mißstimmung der Pensionärinnen von West-House gegen sie, seit sie sich mit Escoffier eingelassen hatte. Sie genoß diese Entfremdung, die zuweilen wie ein Boykott sich ausnahm, als einen Triumph, indem sie die Damen brüskierte. »War jemand von Ihnen im ›Lord vom Fischmarkt‹? Es wird im ›Lyric‹ gegeben, wir gehen heute abend dahin.«

»Wollen Sie früher zu Abend essen?« frug Miß West. Aber die Damen Reynolds fuhren fort, mit strengem Ton, 236 die Toilette der Königin, ihren Hut, ihre Gesichtsfarbe zu schildern, während Miß Dalmayne zum Piano eilte und Miene machte, aus dem Gedächtnis eine Melodie des »Lords«, die der Schlager der Saison zu werden versprach, vorzutragen.

Die Königin hatte, ohne von dem Festzug der Suffragetten, die doch tags zuvor die Bilder in der National Gallery durch Steinwürfe beschädigt hatten, Notiz zu nehmen, sich eifrig mit einer Dame in ihrem Wagen unterhalten, einer Dame mit hochrotem Haar, die für ihr Alter wirklich, man mußte es sagen, allzu jugendlich gekleidet zu sein schien. – Die Damen ergingen sich, mit alleiniger Ausnahme Adelas, in Vermutungen, wer die Dame gewesen sein mochte. Die Herzogin von Wessex? Die Marquise von Perth? Oder etwa die Gräfin du Vandolle, die Gattin des französischen Luftschiff-Fabrikanten? Niemand wußte es. Nun, morgen wird man es in der Zeitung lesen.

Mrs. Reynolds berichtete über ihren Besuch im Magazin für Damenkleidung an der Ecke von Bond-Street und Piccadilly. Dann über die Blumenpracht in den Schaufenstern von Gouch, Regent-Street.

»Ach, der ›Star‹! Teure Miß Alvanley, wollen Sie einen ›Star‹ kaufen?« rief Miß Dalmayne, in die Hände klatschend, aus. Und die Weißblonde sprang auf, lief, bis an die Haarwurzeln errötend, hinaus, um die Abendausgabe der Zeitung, die vor dem Hause ausgerufen wurde, zu holen.

»Ist sie nicht goldig?« rief die Sängerin aus. Sie meinte die Neuzugezogene, die Weißblonde, eine junge Musikschülerin aus Wales, die sie verehrte und von ihr ausgenutzt wurde. »Sie stottert . . . s . . . tot . . . tert ja ein bißchen, aber das schadet Klavierkünstlerinnen nicht. Nicht daß ich wüßte!« Und sie wandte sich um und schlug die ersten Takte des »Lord« an.

237 Die Zeitung war frisch und verbreitete einen leichten Gestank von nasser Druckerschwärze.

»Cora Stratton sagt: Garrat ist schuldlos!« stand in fingerdicken Lettern am Kopfe des Blattes zu lesen.

Dalmayne stieß die Worte laut hervor, es klang wie eine Herausforderung.

»O, die Verworfene!« sagten die Damen Reynolds im Chor.

Aber Miß Dalmayne verteidigte Cora Stratton mit lautem Ton. Was wußten diese vertrockneten Betschwestern und Philisterseelen, diese ewigen Boardinghauspensionärinnen von der Liebe und den Opfern, die die Liebe zu bringen fähig ist! Seit kurzer Zeit brachten die Nachrichten aus Quebec lebhafte Kontroversen in den sonst so behaglichen Ton des West-House, und es war besonders die Persönlichkeit der mit dem Mörder Entflohenen, der die Meinungsverschiedenheiten unter Miß Wests Gästen galten.

Miß Dalmayne fand es rührend, daß Coras alte Mutter der Sünderin gekabelt hatte: sie solle gestehen, die Arme der Mutter stünden ihr jederzeit offen, sie verzeihe ihr vor Gott und den Menschen! Mrs. Strange schoß einen Blick über ihre Stickerei nach der Sängerin ab und meinte, die Ehrfurcht vor Gott dem Herrn hätte es ihr gebieten sollen, die Wahrheit zu sprechen.

Dalmayne holte Atem und wollte mit dem Geständnis heraus, daß die Liebe alles entschuldige, ja sogar . . . Ja sogar – allein rechtzeitig verbarg sie mit dem Worte: »den Mord!« die ganze Sentenz in sich und bemerkte nur, daß Cora Stratton Garrat eben geliebt habe und auch im Unglück weiter liebe, das sei doch selbstverständlich.

»Das beweist, daß sie gleiche Schuld an dem Mord hat,« meinte Miß Reynolds, »ja, das beweist es! Denn sie will, indem sie ihn der Schuld ledig spricht, nur sagen, daß auch sie sie nicht begangen oder nichts von ihr gewußt habe.«

238 »Hoffentlich lassen sich die Richter nicht so leicht täuschen!« bemerkte Mutter Reynolds.

Miß Dalmayne darauf: »O, wenn man einen Mann liebt, dann nimmt man alles, was er verübt hat, gerne auf sich. Ja sogar . . . Ja sogar . . .«

»O, was sagen Sie da!« Die Damen waren in tiefster Seele erschrocken. Alle sahen die Sängerin mit weit aufgerissenen Augen, Mündern an, die Weißblonde war purpurn, aber ihre Augen leuchteten vor Bewunderung; Adela faltete ihre Hände, rang die Finger, wollte sprechen, unterdrückte es aber.

Zum Glück kam Rebekka und rief Miß West, die froh war, den Schauplatz verlassen zu dürfen.

»Jawohl, alles, alles! Ich wüßte nicht, welche Schuld ich nicht mit einem Manne teilte, den ich liebte!« rief Dalmayne in Ekstase.

»Aber Miß Dalmayne, bedenken Sie,« sagte Mrs. Strange, die sich zuerst erholte, »wenn nun ein Kindchen käme, wie könnte solch eine Mutter ihr Kind erziehen, ja es behalten, es wäre furchtbar . . .«

Dalmayne wurde abwechselnd rot und kreideblaß. Sie besann sich eine Weile und gab dann kleinlaut zu: »Ich glaube, ich könnte niemals einen Menschen lieben, der eines Mordes fähig wäre. Ich würde es sogleich beim ersten Anblick fühlen, daß der Mensch fähig wäre, einen Mord zu begehen, und da würde etwas mich vor ihm warnen, das weiß ich sicher, und ich ginge ihm aus dem Wege . . .«

Sie sah wie hilfesuchend eine nach der andern an und ihre Blicke blieben auf Adelas Gesicht haften. Ihre Blicke sogen sich an Adelas Gesicht fest, an diesem großen ebenmäßigen Gesicht mit den etwas vorquellenden Augen, der breiten Stirne, über der die krausgelockten Haare sich ringelten. Adela hielt den Blick der Sängerin aus, wandte dann den Kopf und sah zum Fenster hinaus.

239 »Sie sind so schweigsam, Adela!« sagte Dalmayne vorwurfsvoll. »Warum reden Sie nicht, warum helfen Sie nicht.«

»Ich lese keine Zeitung mehr,« sagte Adela. »Ich will von all diesen furchtbaren Geschichten nichts mehr hören. Man kann den Menschen nicht helfen. Ich weiß nichts.« Sie brach ab.

Dalmayne gab die Zeitung Miß Alvanley, die nun weiter berichtete: »Mr. Evangeliste sagt: C . . . Cora Stratton s . . . sei unschuldig, es s . . . sei seine Ü . . . berzeugung.«

»Geben Sie!« Dalmayne langte nach dem Blatte, das ihr die Weißblonde reichte: »Hier stehen noch Telegramme. Auf der letzten Seite, die letzteingetroffenen. O, drei Wochen noch!«

»Wieso drei Wochen?« frug Mrs. Reynolds.

»Ehe er zurückgebracht wird, nach London!«

»Sie haben solche Sehnsucht danach, ihn in London zu wissen? Am Ende werden Sie auch noch zu den Verhandlungen gehen?«

»Hier steht es: Garrat hat erklärt, daß er in London vor Gericht seine Schuldlosigkeit erklären wird!«

Adela erhob sich, da draußen im Korridor das Gong zum Abendessen geläutet wurde.

Sie ging in ihr Zimmer, ordnete ihr Haar, nahm Sheila bei der Hand und ging mit dem Kinde ins Speisezimmer hinunter.

Als sie eintrat, fand sie Mrs. Strange mit den Damen Reynolds beim Büffett. Miß Reynolds vollendete ihre unterbrochene Erzählung der Ereignisse ihres Nachmittags in der Stadt.

»Wir haben Tee getrunken. In der Bond-Street, in einer kleinen netten Konditorei. Ja, wir hatten solch einen netten Tee.«

Adela setzte sich auf ihren Platz und band Sheila das Serviettchen um. Bei Tische sprach man viel von Garrat. 240 Es waren ja die ersten Kabelnachrichten seit der Verhaftung eingetroffen.

Es nützt nichts, daß ich keine Zeitung mehr zur Hand nehme, sagte sich Adela. Was soll ich tun? Ich kann nicht von allem fort, ich kann mich nicht einsperren, ich muß hören und sehen, ich muß unter Menschen leben.

Mr. Escoffier erzählte vom »Lord vom Fischmarkt«, dem Stück, das er heute zum drittenmal hören wollte. Alle hörten ihm zu, belustigt und dankbar, er war zu amüsant, dieser junge Franzose aus der fröhlichen Stadt Paris!

Was soll ich tun? frug sich Adela. Wohin gehen? Sie blickte zu Herrn Lucas' Platz hinüber. Er war leer.

*


 << zurück weiter >>