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Über Ludwig Thoma ist von Berufenen und Unberufenen so viel geschrieben worden, daß ich dies Geschriebne kaum vermehren würde, empfände ich es nicht mit Trauer, wie wenig ihm bis auf den heutigen Tag trotz allem Erfolg und Ruhm menschlich und künstlerisch sein Recht geworden ist. Das tut mir nicht um seinetwillen leid, ist er doch über den Ehrgeiz und die Ungeduld der Lebenden hinaus, sein Werk wird dauern und kann warten – leid tut mir das um unser Volk, dem er viel mehr zu geben hätte, als es bis jetzt empfangen will.
Man hat gehört und spricht es nach, daß er der größte Bayerndichter unsrer Tage und einer der echtesten und treuesten deutschen Männer aller Zeiten war. Sich aber selbst davon zu überzeugen, fällt außerhalb seiner engeren Heimat beinah niemand und auch in dieser Heimat viel zu wenigen ein.
Norddeutsche werden aus seinem ganzen Werk meist nur die «Lausbubengeschichten» und dies oder jenes seiner heitern Bühnenwerke kennen oder ihn gar auf Grund der nach seinen Komödien gedrehten Filme schwer verkennen. So muß man in ihm freilich nichts als eine Art von Spaßmacher erblicken und sieht ihn damit falsch und viel zu klein.
Nicht, daß ich dichterischen Humor geringer anschlüge als dichterischen Ernst – im Gegenteil: am Wert der Seltenheit gemessen gebührte jenem wohl der höhere Preis, wenn man schon die zwei Dinge «valutarisch» gegeneinander abwägen will. Doch auch die persönlichsten und stärksten Gaben, die wir dem Humoristen Thoma danken, seine Bauerngeschichten, sind über Bayerns Grenzen kaum hinausgedrungen. Vor allem aber übersieht man gern, daß dies nur eine Seite seines Schaffens ist.
Steht denn nicht schon am Schlusse seines frühesten Buches «Agricola», das eine Sammlung von durch ihre Wirklichkeitsnähe unbändig lustigen Schwänken aus der Welt der Dachauer «Gescheerten» ist, der einfache Bericht vom Sterben eines alten Bauern, der dem Tode mit der gleichen würdigen Sachlichkeit begegnet, die der Leitstern seines arbeitsamen Lebens war! Hat der Satiriker des «Simplicissimus», den ich gewiß nicht unterschätzen will, nicht auch die innige, dabei durchaus nicht sentimentale Tegernseer Legende «Heilige Nacht», das ländliche Trauerspiel «Magdalena» und die drei ernsten Bauernromane «Andreas Vöst», «Der Wittiber» und «Der Ruepp» geschrieben; und gibt es ihresgleichen in unserm Schrifttum gar so viel!
Zumal der «Wittiber» ist ein ganz starkes Werk, und schwer läßt sich verstehen, warum es nicht die weiteste Verbreitung unter allen Büchern Thomas gefunden hat. Ich nenne es – und weiß genau, wieviel ich damit sage – ein Prosa-Epos größten Stils, obgleich hier nicht gewaltige Taten von Helden ohne Fehl, sondern sehr alltägliche Bauernstreitereien um Erbe und Besitz die Handlung vorwärts und zum tragischen Ende treiben. Es kommt nicht auf den Stoff an, sondern darauf, was einer aus ihm macht, darauf, ob sich sein Werk, mag es auch kleine Leute und Verhältnisse ganz ohne Übersteigerung zeigen, zu allgemeiner Gültigkeit erhebt und Abgründe der Seele aufreißt, daß wir durchschauert und erhoben davor stehen und uns sagen: «Das bin ich!»
Man würde lügen, wollte man behaupten, daß Ludwig Thomas wesentlichsten Werken jeder Erfolg versagt geblieben sei, gemessen aber an ihrer Bedeutung und den Riesenauflagen von bayrischen Bauernromanen viel geringern Wuchses erscheint dieser Erfolg beschämend klein. Entschuldigt wird dies oft damit, daß Thomas Dialekt für Norddeutsche zu schwierig sei. Doch diese Ausrede ist mehr als lahm. Wer sich die Mühe nimmt, wird sich nach wenig Seiten eingelesen haben, viel leichter als der Süddeutsche etwa in Fritz Reuters Platt.
Denn allerdings läßt Thoma seine Bauern die Sprache reden, die die ihre ist, und hat sie ihnen mit vor ihm kaum dagewesener Treue abgelauscht, doch grade darum braucht er ihre Echtheit nicht erst durch eine verschmitzt «phonetische» Rechtschreibung zu beweisen, über die das Auge jedes Lesers stolpern muß. Was Thomas Bauern sagen, liest sich für den, der frisch daran geht, gar nicht schwer; und was er selber uns zu sagen hat, schreibt er ja nicht im Dialekt, sondern in dem durch seine phrasenlose Schlichtheit vielleicht schönsten Hochdeutsch, das in neueren Büchern überhaupt zu finden ist. Etwas von seiner heimatlichen Mundart hört man freilich durch, doch ist das in meinen Augen eher ein Vorzug als ein Fehler, weil er beweist, daß er so schrieb, wie es ihm seiner Stammesart nach ungezwungen aus der Feder lief. Stilkünsteleien dienen ja meistens nur dazu, es zu verbergen, daß einer bei natürlicher Ausdrucksweise das Wort nicht klingen machen kann. Sie sind, wie Ludwig Thoma selber sagen würde, «Krampf».
Und dies Lieblingswort Thomas bringt mich von seinem Werk auf seine Menschlichkeit. Es geht mir hier ja nicht so sehr darum, weitläufig darzulegen, was ich über ihn denke, als vielmehr darum, ihn so hinzustellen, wie ich ihn sah und kennen lernte.
Wenn mir das glückt, fügt sich aus kleinen Zügen vielleicht doch ein lebendiges und, was wichtiger ist, ein richtigeres Bild von ihm, als es bis jetzt in manchem Kopf sich malt. Schon daß man vielfach nur das leichtest Zugängliche aus seinem Werk gelesen hat, muß ja ein falsches Licht auf ihn als Menschen werfen, vor allem aber haben Leute, die ihn nur oberflächlich kannten (und sicherlich auch mancher, der ihm im Leben nie begegnet ist), sich seinen großen Namen dazu helfen lassen, ihre Anekdötchenware leichter an den Mann zu bringen.
Da, was die Leute lachen macht, vor allem anderen «gefragt» ist, tritt Thoma in diesen «persönlichen Erinnerungen» meist als eine Art von, um es bayrisch auszudrücken, fidelem «Urviech» auf. Wer immer wieder solche Dinge liest, muß wohl auf den Gedanken kommen, dieser Bauerndichter sei selbst eine Art Hinterwäldler gewesen, klobig, grob und primitiv; wer ihn gekannt hat, weiß, daß dies der Wahrheit ins Gesicht schlägt. Er war in Wirklichkeit ein Nervenmensch von sehr viel höherer Bildung, als er in seinen Büchern merken läßt, war zart besaitet, herzenswarm und leicht verletzlich von Gemüt.
Ich leugne nicht, daß er sich gern grobianisch gab, zum Teil aus seiner Lust am Urwüchsigen heraus, zum größeren Teil bestimmt aus Scheu davor, die eigne Weichheit zu verraten (zutage kam sie ohnehin noch oft genug), und aus gesundem Hasse gegen alles, was ihm als «Krampf» hätte gedeutet werden können.
Dies merkt man seinen frühesten Büchern deutlich an. Eduard von Keyserling, der Thoma in der Pension, die dessen älteste Schwester damals führte, schon kennen lernte, als der junge Rechtsanwalt erst mit ein paar Gedichten in der Münchner «Jugend» an die Öffentlichkeit getreten war, und der ihn daraufhin lebhaft zum Weiterschreiben angeeifert hat, sagte einmal zu mir: «Merkwürdig, dieser Ludwig Thoma! Ich las sein neues Buch ‹Hochzeit›. Er ist verdammt begabt, und seine Bauern sind unerhört porträtjetreu, obgleich er sie doch eijentlich einseitig sieht. Ich kenn doch Bauern auch. Daß Liebe und Jemüt bei ihnen überhaupt gar keine Rolle spielen sollen, ist mir aber neu.»
Die Richtigkeit dieses bedingten Lobes kann ruhig zugegeben werden, zumal da Thoma später oft genug bewiesen hat, wie wenig fremd ihm auch die andre Seite des bäuerlichen Wesens war. Daß er anfänglich gar so stark das nüchtern Praktische betonte, das diesem Stande eignet und, wie die Dinge liegen oder damals lagen, eignen muß, geschah wahrscheinlich aus der Furcht, seine doch überall durchscheinende große Liebe zu den Bauern könnte ihn verleiten, sie zu romantisieren. Abschreckende Beispiele dafür gab es ja in Volksstücken und -erzählungen aus der Zeit vor ihm genug. In den beliebtesten und gangbarsten Romanen dieses Schlages lassen die derbsten Bauernburschen vor Liebeskummer Tränenbäche rinnen wie im Leben kaum eine schwärmerische «höhere Tochter» aus der Stadt. Dem gegenüber mußte bäuerlicher Tatsachensinn Thoma nicht nur der Billigung würdig, sondern geradezu nachahmenswert erscheinen – dies allerdings bloß in der Theorie.
Ich erinnre mich genau, wie Albert Langen ihm einmal erzählte, daß ihn ein Zeichner des «Simplicissimus» um einen Vorschuß angegangen habe, weil er heiraten wolle. Dann plötzlich fügte er in seiner impulsiven Art hinzu: «Thoma, daß Sie nicht heiraten! Sie wären der geborne Ehemann. Wenns nur am Vorschuß hängt, da laß ich mit mir sprechen. Und wenn Sie keine wissen, such ich Ihnen eine, die zu Ihnen paßt.»
«Halt einmal, verstauchen S' Ihnen nix!» besänftigte ihn Thoma. «Erstens fühl ich mich sauwohl als Junggesell, und dann, gesetzt den Fall, ich krieg einmal die goldne Freiheit dick, dann kann ich Ihnen Vorschuß geben. Denn wenn ich schon den Unsinn mach, na tu ichs unter einer aber schon ganz pfundig Schwaaren net.»
Langen verstand die letzten Worte nicht und sah ihn fragend an.
«No, eine mit dem nötigen Diridari», grinste Thoma und machte mit zwei Fingern die Bewegung des Geldaufzählens.
«Ach, eine Millionärin?» sagte Langen komisch sachlich. «Also denken wir mal nach!»
«Pressiert net», gab Thoma zurück, «die reiche Partie vertagen wir vorerst, aber als Hypothek darauf – nen Schuß von fuchzig Emm, den reiben Sie nur ruhig ein!»
Mag sein, daß Thoma, wenn er so redete, im Augenblick selbst halb und halb der Meinung war, ein wurzelständiger rauher Kerl gleich ihm müsse so gut wie seine Bauern fähig sein, bei Heiratsplänen der rechnenden Vernunft das letzte Wort zu lassen. Wer ihn gekannt hat, darf behaupten, daß ihm dies, wie alle Rechnerei, etwas vollständig Wesensfremdes war. Die Ehe, die er später schloß, hat denn auch den Beweis dafür erbracht. Er wollte aber wenigstens so tun, als läge ihm den «Weibern» gegenüber nichts ferner als die Rolle des, wie er sagen würde, «süeßen Troubadours» – was übrigens nicht hindern konnte, daß er zuzeiten einem solchen zum Verwechseln glich.
Ich habe ihn zweimal ernsthaft verliebt gesehen, und beide Male merkte man das schon auf hundert Meter Abstand, er ahnte kaum, wie deutlich; hätte er es aber auch geahnt – diese Gefühle zu verstecken wäre über seine Kraft gegangen. Er schmachtete die Dame seines Herzens immerzu so selbst- und weltvergessen selig an wie ein von einem blondzopfigen Backfisch um den Verstand gebrachter Gymnasiast.
Richtig erwachsen, wie es die Frauen meist schon als Siebzehnjährige sind, wird ein gesundes Mannsbild bis ins Greisenalter kaum, ein Stück vom Schuljungen hält beinah jeder in sich frisch, der nicht schon als männliche alte Jungfer dem Mutterleib entsprang. Auf Ludwig Thoma aber trifft das in noch höherem Maße als auf die Allgemeinheit zu. In ihm blieb, auch als er längst ein würdiger Doktor und berühmter Dichter war, nicht nur der schwärmerische Gymnasiast am Leben, sondern auch der durchtriebne Lausbub, den wir so gut aus seinem meistgekauften Buche kennen.
Denn gibt es ein andres Wort dafür als «Lausbubenstreiche», wenn ein den Jahren nach gesetzter Herr im Telephonbuch die Nummer einer jüdischen Viehhandelsfirma nachschlägt, sie anruft, sich als den Glaslbauern von Unterhaching meldet, den Prinzipal persönlich an den Apparat verlangt und ihn unter Verwendung des ganzen bäuerlichen Schimpfwortvokabulars der Gegend um Dachau herum nach Strich und Faden zusammenstaucht, weil das der «Kaibipraxer» sicherlich verdient hat, oder wenn derselbe Herr gebrauchte Trambahnkarten dutzendweise in den Manteltaschen speichert, nur zu dem Zwecke, bei gegebner Gelegenheit den offensichtlich überflüssigen Kontrolleur durch Hingabe von abgelaufnen Karten recht lange zu sekkieren, bevor sich der gültige Ausweis glücklich in der Westentasche findet, oder wenn dieser Herr, was ihm ein ganz besondres Fest ist, einen der Feuerfrösche, die er stets bei sich trägt, an seiner ewig brennenden Zigarre glimmen macht und ihn mit abgefeimter Schläue irgendwohin zu werfen weiß, wo seine Explosion ängstliche Leute schwer erschrecken muß, indes er selbst so völlig unbeteiligt aussieht, daß kein Schutzmann je auf den Gedanken kommt, ihn für den Attentäter anzusehen!
Einmal in Tübingen war Hermann Hesse dabei, als Thoma in dieser nicht sehr weiträumigen Stadt binnen einer halben Stunde ungestraft drei oder vier von diesen Fröschen knattern ließ. Begeistert ob der Kühnheit solchen Unterfangens, wollte nun auch der Dichter des «Siddartha» sich darin versuchen, wurde aber gleich beim erstenmal geschnappt und auf die Wache abgeführt.
Und Thoma sagte mitleidig: «O mei, das kennt man gleich, wenns einer bloß als Dilettant betreibt.»
Er selbst trieb es als Fachmann emsig weiter, bis der große Krieg heraufzog und mit Detonationen von ganz andrer Art der Lust an harmlosem Geknalle Einhalt tat. So kam es denn, daß sich nach Thomas Tod in seinem Schreibtisch eine Lade vorfand, randvoll von Feuerfröschen, die ihrem Zwecke zuzuführen ihm der Ernst der Zeit verboten hatte.
Seriös veranlagte Naturen könnten hier wohl fragen, was eigentlich an diesen dummen Streichen witzig sei. Nun ja, das läßt sich einem schwer erklären, der jeden Ulk stirnrunzelnd mit der geistigen Elle mißt und – Thoma nicht bei solchem Tun gesehen hat, wie er da strahlte von verschmitztem Übermut und kindlichem Vergnügen. Man mußte ihn ganz einfach lieben.
Auch sonst war er bei guter Laune schlechthin unwiderstehlich. Wer konnte das Erfreuliche, das ihm die Stunde bot, tiefinnerlich gleich ihm genießen, mochte es nun ein Stück der heimatlichen Landschaft, ein bäuerliches Original, ein Werk schlicht bodenständiger Kunst, ein Sechserbock, der schußgerecht auf eine Waldblöße seiner Jagd herausgezogen kam, ein guter Mokka oder eine Pfeife Latakia sein; wer konnte denn so herzlich lachen wie er, wenn ihm ein Blick durchs Fenster komische Menschlichkeiten zeigte, so etwa ein paar Pflasterer, die ihren ganzen Fleiß und Scharfsinn gewissenhaft darauf verwendeten, beschäftigt auszusehen, ohne die Arbeit in unwürdiger Art zu überhasten, oder wenn er – die Korrektur einer von ihm selbst verfaßten Humoreske oder eines seiner Schlemihlgedichte las!
Leuten, die über eine so unblasierte Freude am eignen Werk die Nase rümpfen, kann ich nicht helfen – ihnen fehlt von Hause aus der Sinn für Thomas ausgeprägten Scharm, der sich mehr oder weniger auch dem Bayernvolk im ganzen nachrühmen läßt. Das ists ja, was so viele «Zugereiste», denen dieser Scharm erst einmal hinter der rauhen Schale hervorgeleuchtet hat (man muß ihn allerdings auch sehen wollen), hier für die Dauer heimisch macht.
Ich selbst habe den Namen Ludwig Thoma zum erstenmal im Atelier von Bruno Paul gehört. Zu dem kam ich an einem Sonntagnachmittag, um zu erkunden, wie weit er mit der für die nächste Nummer des «Simplicissimus» fest zugesagten Zeichnung sei. Zu meinem Staunen sah ich, daß er statt des vereinbarten Motivs ganz etwas andres auf dem Reißbrett hatte: da war im Hintergrunde eine wilde ländliche Rauferei am Werk, ganz vorn im Bilde aber schwang ein Bauer in Dachauer Tracht den Maßkrug mit der Rechten hoch, bereit, ihn ins Gewühl der Kämpfer abzufeuern.
Ich, der dergleichen Überraschungen nur zu gewohnt war, rief ärgerlich: «Find ich ja lieblich! Kruziteufel, da zerbricht man sich den Kopf und macht was aus, und dann schruppt jeder runter, was ihn grade freut! Das wird so ein Vergnügen, dazu einen Text zu finden!»
«Ist ja gar nicht für euer Käsblatt», knurrte Paul, gereizt durch meinen Ton. «Die Simpelzeichnung kriegt ihr, reg dich bloß nicht auf!»
«Noch gar nicht angefangen, das ist echt!» entrüstete ich mich, «und übermorgen früh sollen die fertigen Klischees dringend expreß nach Leipzig gehn!»
«Bis morgen mittag zwölf Uhr liefre ich ab», erklärte Paul, gemächlich an seinem Dachauer Gescheerten weiterpinselnd, «die Chemigraphen können auch mal Überstunden machen.»
«Auch mal! Weil sie's ja sonst fast niemals tun!» Ich schickte einen Klageblick zur Decke und zeigte dann verächtlich auf das Reißbrett hin: «Und was ist das da für ein Mist, mit dem du es anscheinend eiliger hast?»
«Das möchtest du wohl wissen, ja! Illustrationen für ein Buch ‹Agricola› von einem jungen Münchner Rechtsanwalt, der besser schreiben kann wie du – Bauerngeschichten, die zuerst im ‹Sammler› der ‹Augsburger Abendzeitung› erschienen sind. Du, dieser Ludwig Thoma, lieber Freund ...! Schau dir das einmal an!»
«Na ja, wie wird denn auch ein Rechtsanwalt kein großer Dichter sein!» spöttelte ich und begann nur widerwillig mit dem Lesen.
Doch kaum daß ich die ersten Zeilen überflogen hatte, merkte ich auf, ich mußte immer wieder lachen, und als ich mit der Geschichte fertig war, rief ich: «Du, das ist wirklich was! Den spannen wir uns für den Simpel ein! Ja, und wie wärs mit seinem Buch für den Verlag?»
«Nein, das ist schon in festen Händen und kommt bei einer Buchhandlung in Passau, die einem Freund von ihm gehört. Klar, daß wir ihn aber für den Simpel haben müssen. Und er schreibt gern hinein. Er schwärmt für ihn. Und auch als Mensch ist er ein furchtbar netter Kerl. Ich bring ihn euch mal mittags ins Café», versprach mir Paul.
Und kurze Zeit darauf kam denn auch Thoma zum erstenmal an unsern Tisch in dem Hofgartencafé, wo sich der Stab des «Simplicissimus», damals noch lauter Junggesellen, nach dem Essen traf. Er wirkte anfangs etwas linkisch und verlegen, doch das verlor sich schnell, als er sich erst bei uns zurechtgefunden hatte; und uns gefiel er gut. Bei aller ehrlichen Bescheidenheit und allem Respekt vor den Berühmtheiten, die unsre Zeichner immerhin im dritten Jahr des «Simplicissimus« schon waren, wußte er seine Meinung zu den Dingen, über die wir sprachen, klug und sehr bestimmt zu äußern. Wich sie auch manchmal von der unsern ab, so hatte sie doch immer Hand und Fuß, war ehrlich deutsch und überlegenswert. Sein fröhlicher Humor und seine gar nicht süße, aber echte Liebenswürdigkeit taten ihr Teil dazu, ihn unserm ganzen Kreise angenehm zu machen.
So kam es denn, daß er bald täglich mit uns Kaffee trank und fast allabendlich mit uns zusammensteckte. Wir empfahlen ihn auch Albert Langen, und der lud ihn eines Tages zu sich auf die Redaktion.
Thoma hat selbst sehr hübsch erzählt, daß sie, die sich nachher so eng befreunden sollten, das erstemal nur mäßiges Gefallen aneinander fanden. Trotzdem fing Thoma für den «Simplicissimus» zu schreiben an, und Langen begrüßte seine Mitarbeit. Das konnte auch kaum anders sein – er hatte ein gutes Auge für Talente, die etwas erwarten ließen.
Richtig ans Herz wuchs Thoma uns Simpel-Leuten aber erst bei einem Festmahl (Hauptgang: Rehragout und Knödel), zu dem er uns in seine Wohnung lud, um das Erscheinen des «Agricola» zu feiern. Es ist für jeden jungen Schriftsteller ein großer Augenblick, der so nie wiederkommt, wenn er sein erstes Buch fertig gedruckt und schön gebunden in der Hand hält. Thoma aber strahlte wieder einmal so, daß alle mit ihm strahlen mußten. Ihm schien das schwerste Stück von seinem Lebenswerk geschafft und hing der Himmel voller Geigen. Was sonst noch fehlte und nicht ganz in Ordnung war, ließe sich ohne weitres mit der linken Hand erledigen – glaubte er wohl.
Sprühend von Lustigkeit machte er in ein klein wenig altväterischer Art, die aber stilvoll wirkte, den Wirt und steckte den ganzen Kreis mit seiner guten Laune an. Die Stimmung stieg sehr schnell, und als der Morgen graute, hatte er mit fast uns allen Brüderschaft gemacht und jedem einen Band «Agricola» mit eigenhändiger Widmung verehrt.
Von dieser Nacht an war ich nicht nur, wie der Münchner sagt, «per Du» mit ihm, sondern ehrlich sein Freund. Ob er sich mir gleich damals so verbunden fühlte wie ich ihm, bezweifle ich. Er hatte mich gewiß ganz gern, doch mag ihm mancherlei an mir noch fremd und damit wohl befremdend vorgekommen sein.
Ich selber fühlte mich kraft meiner Liebe auf den ersten Blick für diese Stadt und nach dem Dienstjahr bei den «Leibern» hier in München völlig akklimatisiert, er aber wird mich schwerlich so empfunden haben. Dafür gibt es einen erheiternden Beleg.
Als ich (der Ton der Simpel-Leute war zuweilen etwas rauh) zum erstenmal vor seinen Ohren im Hinblick auf jemand, der mich irgendwie geärgert hatte, die Redewendung brauchte, die hierzulande mit einem gewissen Heimatstolz «bayrischer Gruß» genannt wird, obgleich sie auch in andern Breiten gang und gäbe ist, rief Thoma lebhaft: «Das hast du von mir!» und nickte mir anerkennend zu, wie wenn er sagen wollte: «No, scheint immerhin, daß sich der Russ', der baltische, bei uns heroben mit der Zeit noch kultiviert.»
Wenige Wochen nach dem Erscheinen von Thomas «Agricola» begann die Verfolgung des «Simplicissimus» wegen Majestätsbeleidigung, deren sich das Blatt nach Meinung des Leipziger Staatsanwalts durch ein paar Beiträge in seiner Palästinanummer schuldig gemacht hatte. Das Wissenswerte, das damit zusammenhängt, habe ich bei andrer Gelegenheit genau berichtet und wiederhole mich hier nicht. Nur soviel will ich sagen: Langen mußte Deutschland bis auf weiteres verlassen und erwählte mich zu seinem Stellvertreter in der Leitung des «Simplicissimus» und seines Verlages überhaupt.
Zugleich verloren wir die Mitarbeit Frank Wedekinds, von dem seit Jahren schon in jeder Nummer ein sogenanntes «politisches» Gedicht erschienen war. Die Leser hatten sich daran gewöhnt und wären sicherlich verstimmt gewesen, wenn man da nicht Ersatz geschaffen hätte.
Auch hier versuchte ich mich zeitweilig als Lückenbüßer, fand aber selbst, daß ich nicht ganz der Richtige dafür sei – mir war das saure Pflichtarbeit, und dabei kommt nichts Überzeugendes heraus.
Es mochte Thoma ebenfalls so scheinen, und deshalb sprang er ein. Und schon beim ersten Beitrag dieser Art, den er mir brachte, erkannte ich, der vorher niemals einen Vers von ihm gelesen hatte, daß er der Mann war, den wir brauchten. Seine politischen Gedichte übertrafen nicht nur die meinen weit, sondern auch die von Wedekind, weil sie urwüchsiger waren und einem sehr viel größeren Kreis etwas zu sagen hatten.
Er zeichnete diese köstlich schlagkräftigen, durchaus nicht immer nur politischen Satiren, die hinfort beinah in jeder Nummer kamen, mit dem Pseudonym «Peter Schlemihl». Und dieses wurde nun im Handumdrehn so populär, wie es sein wahrer Name Ludwig Thoma, den er über seine jetzt in unserm Blatt sehr oft vertretnen lustigen Geschichten setzte, schon seit einer Weile war.
Er hatte sich damit zum wichtigsten und unentbehrlichsten schriftstellerischen Mitarbeiter des «Simplicissimus» gemacht, zumal da er auch von Ideen für Zeichnungen der Künstler sprühte.
Im Hauptberuf war er noch immer Rechtsanwalt, doch ohne daß er dabei Seide spann. Er hatte seine Praxis ja in Dachau angefangen, und seine bäuerliche Kundschaft aus der Umgebung dieses Marktes war ihm in München treu geblieben. An Streit- und Strafsachen jedoch, die sich um Grenzsteinverrückungen, Körperverletzungen, Ehrenbeleidigungen und dergleichen drehen, wird ein Rechtsanwalt nicht reich. Fette Zivilprozesse aber, bei denen Riesensummen auf dem Spiele stehen, bekam der Doktor Thoma nicht und – wäre wohl auch kaum der richtige Fachmann dafür gewesen, wenn man bedenkt, wie er es mit den eignen Finanzen trieb.
Ich darf, ohne in den Verdacht der Klatschsucht zu geraten, davon sprechen, weil ich mich hierin auch nicht frei von Sünde weiß, und weil Thoma in einem Schlemihlgedichte jener Zeit dies Thema selbst freimütig so behandelt hat:
«Was bin ich für ein großer Lump!
Ich leb' das ganze Jahr auf Pump,
Ich stecke tief in Schulden.
O Himmel, Herrschaft, Sapperlott!
Ich treibe mit dem Höchsten Spott.
Wie lange wird man's dulden?»
Ich führe diese Verse wörtlich an, weil sie mir für des Dichters Wesensart, die zwei Naturen in sich schloß, besonders kennzeichnend erscheinen. Steht denn hier zwischen den Zeilen, in denen eine große Wurstigkeit kühlpfeifend paradiert, nicht auch ein leiser Schauder ob der eigenen «Verruchtheit!» Und das ist Thoma, wie er leibt und lebt.
Zur Sache aber! Kurz und bündig: Thomas Geldverhältnisse waren um die Jahrhundertwende im wesentlichen Geldverlegenheiten. Und da trat nun ein andrer Rechtsanwalt an ihn heran, dem es in dieser Hinsicht besser, in bezug auf Kundschaft hingegen augenscheinlich schlechter noch als Thoma ging, und schlug ihm vor, ihm seine Praxis abzukaufen. Natürlich war dies Angebot verlockend: ein Stück Geld «bar auf die Hand», zwar kein Vermögen, aber «Sach genug», die schlimmsten Manichäer los zu werden. Die Rechtsanwaltskanzlei? O nein, um die wars Thoma ganz gewiß nicht leid. Er hätte den Beruf ja lange schon mit Kußhand an den Nagel hängen mögen. Bürodienst in der Stadt – das hing ihm schon «beim Hals heraus». Doch andrerseits: «ein bissel trug es alleweil noch ein». Daß der «Agricola» ihn nicht, wie er gehofft, auf einmal hatte aller Not entheben können, wußte er jetzt. Fragte sich also sehr, ob er schon in der Lage sei, sich nur mit Schreiben halbwegs auskömmlich durch die Welt zu bringen.
In diesen Zweifeln wendete er sich an seinen damals intimsten «Spezi» Bruno Paul. Da dieser neben seinem zeichnerischen Talent auch kaufmännischen Sinn besaß, wußte er Thoma gleich den besten Rat. Sich auf die Dichterei allein verlassen, nein, das gehe nicht, er brauche nebenher noch eine regelmäßige feste Einnahme, und der gegebne Weg dazu sei: Eintritt in die Redaktion des «Simplicissimus».
Es ehrt in meinen Augen Thoma, daß ihn erst ein andrer auf den doch naheliegenden Gedanken bringen mußte, die Stellung, die er sich durch seine eigne Leistung für unser Blatt geschaffen hatte, amtlich, wenn ich so sagen darf, zu unterbauen und sich so den Lebensunterhalt zu sichern.
Ich muß gestehen, daß ich Thomas Wunsch, der hierauf abzielte, zwar durchaus begriff und ihn nicht unberechtigt fand, im Anfang aber gegen diesen Plan doch einige Bedenken hatte – vor allem, weil die Tätigkeit eines Schriftleiters zum guten Teil doch ebenfalls nichts andres bedeutet als «Bürodienst in der Stadt», und weil so etwas Thoma sicherlich nicht lag.
Auch trennt man sich nicht gern von einer Arbeit, die einem durch vier kampf- und krisenreiche Jahre lieb geworden ist. Doch bald bekam mein besseres und klügeres Ich die Oberhand, und ich sah ein, daß ich in dieser nun abgelaufnen Zeit dem «Simplicissimus» soviel gegeben hatte, wie in meinen Gaben lag, und daß ich ihm in Zukunft nicht viel Neues geben könnte, daß aber Thomas größere und stärkere Anregergaben dem Blatte schon bisher viel von dem ihm bitter nötigen frischen Blute zugeführt hatten, und daß aus seiner festeren Verknüpfung mit dem «Simplicissimus» auch künftighin das Beste zu erwarten sei.
Daneben schien es mir nicht mehr so wesentlich, ob er sich auch der mühseligen Tagesfron eines Schriftleiters emsig und geduldig widmen würde, zumal da er an meinem bisherigen Redaktionskollegen Reinhold Geheeb den für dies Amt begabtesten, gewissenhaftesten und selbstlos aufopferndsten Mitarbeiter bekam, der sich nur denken ließ.
Ich räumte also ohne Groll und Wehmut, die mir überhaupt nicht liegt, Thoma den Platz und zog mich auf das «Altenteil» des Buchverlags zurück. So nannte ichs mit achtundzwanzig Jahren, obgleich ich ja schon damals wissen konnte, was mir vier weitre Jahrzehnte in dem Beruf vollinhaltlich bestätigt haben, daß nämlich die Geburtshilfe bei Büchern kein stetes Honigschlecken, geschweige denn ein Ruheposten ist. Doch reine Freuden gleichen Gottseidank all diese Last und manchen Ärger aus, ja überwiegen sie: Freude an Werken, die den Einsatz lohnen, Freude an schöpferischen Menschen, deren Menschentum dem Künstlerrang die Waage hält.
Und ich darf sagen, daß mir Ludwig Thoma einer der besten Freudenbringer meines Verlegerdaseins war. Ich legte meine Liebe in die Arbeit für sein Werk, er spürte das und schenkte mir Vertrauen; und da er, wenn auch in manchem sehr genau und eigen, doch immer sachlich blieb und nichts Unmögliches verlangte, war der Verkehr mit ihm als Autor leicht und angenehm.
So webte sich – ich glaube, daß auch er es so empfunden hat – aus gegenseitiger Zuneigung zwischen uns ein immer festeres Band, obgleich wir uns das nie ausdrücklich versicherten und uns mit den Jahren immer seltner sahen – eigentlich fast nur, wenn es geschäftliche Dinge zu besprechen galt.
Denn daß die regelmäßige Büroarbeit Thoma nicht lag, damit behielt ich recht. Das zeigte sich schon bald und wurde völlig offenbar, als der Erfolg seiner Komödie «Moral» ihn nicht nur mit einem Schlag von allen Schulden endgültig erlöste, sondern es ihm auch ermöglichte, sich das von seinem Freund Ignatius Taschner entworfne schöne Landhaus in Rottach am Tegernsee zu bauen.
Seitdem erschien er nur noch einmal wöchentlich an dem Beratungsabend für die nächste Nummer auf der Redaktion und drückte sich bei schönem Sommerwetter gern auch darum, wenn es irgend ging.
Nun, und Geheeb beklagte sich deswegen nicht, ja, er ermunterte ihn noch, ganz ohne Sorge wegzubleiben, weil er wußte, daß er dadurch nicht nur dem Freunde einen Dienst erwies, sondern auch dem «Simplicissimus» und unserem Buchverlag – im weitern Sinn der deutschen Dichtung überhaupt. Denn wenn Thoma fern von der Stadt, sei es im eignen Garten, sei es auf der Jagd, seiner «königlich bayrischen Ruhe» pflog, dann strömten ihm die Einfälle nur so, und seine Lust am Schaffen blühte auf. Je weniger er von dem Blatte sah und hörte, desto frischer wirkten seine Geschichten und Gedichte für den «Simplicissimus».
Daß er kein eigentlicher Faulpelz war, beweist sein Werk von über viertausend engbedruckten Seiten, das in knapp fünfundzwanzig schriftstellerischen Arbeitsjahren entstanden ist. Er produzierte allerdings, wenn er in Stimmung war, unerhört mühelos. Ich kenne umfangreiche Erstschriften von ihm, in denen kaum ein Wort verbessert ist. Sein Sitzfleisch also brauchte er beim Schreiben nicht übermäßig anzustrengen. Genie ist Fleiß, gewiß; aber vielleicht läßt sich, anders herum gesehen, in Abwandlung eines Nietzsche-Wortes auch behaupten, daß die – erbummelten Gedanken fruchtbarer als ersessene sind.
Da Thoma sich nicht gern durch Zank und Streit die Laune trüben ließ, vermutete im Alltagsleben keiner hinter ihm die Kampfnatur, er wirkte manchmal sogar überraschend nachgiebig und konziliant. War es ihm aber um eine Sache heiliger Ernst und ging es ihm um seine Überzeugung, dann pfiff er auf den «lieben Frieden», und nichts zu lachen hatte, wer ihm vor die Klinge kam.
Leute, die sich scharfsichtig dünkten, ohne daß ihr Blick je durch die Oberfläche drang, haben ihm mit tadelnd hochgehobnem Finger angekreidet, daß er seine Überzeugung mindestens zweimal im Lauf der Jahre grundlegend geändert hätte. Wer das behaupten kann, hat seines Wesens auch nicht einen Hauch verspürt.
Vom ersten Tag, da er in die politische Arena sprang, bis zu dem Tag, an dem er starb, hat ihn nur eins geleitet: Liebe zu seinem Vaterland, zum ganzen Deutschland, denn trotz festester Verwurzelung im Boden seiner engern Heimat war er nie ein Partikularist.
Mag einer auch im Eifer des Gefechts gelegentlich danebenhauen – wenn er nur immer weiß, wofür er kämpft, dann kämpft er recht. Geirrt hat Thoma sicherlich in Einzelheiten oft, doch in die Irre gegangen ist er nie; und gar, seit Anno vierzehn die halbe Welt in unsern Frieden brach, ist er auch nicht um Haaresbreite mehr von seinem schnurgeraden Weg gewichen – treu seinem Volk, treu auch sich selbst und ohne Menschenfurcht.
Treue war seine größte Tugend überhaupt, Treue durch dick und dünn und eine nie wankende Verläßlichkeit. Das wissen seine Freunde, und er hatte deren eine große Zahl, darunter Männer, um deren Zuneigung ich ihn beneiden könnte, und andre, bei denen ich seine Gefühle für sie nicht recht begriff. An jeden, der einen so großen Namen hat und soviel Geld verdient wie er in diesen Jahren, drängt sich viel Menschenvolk heran, das selbst in seinem Glanz ein wenig leuchten oder sonst was von ihm will.
Thomas Gutmütigkeit wies keinen, der da kam, so leicht zurück; und war mit ihm nichts andres aufzustellen, so konnte man sich wenigstens über ihn lustig machen, oder er spielte gut Tarock. Ich möchte fast – mit leiser Übertreibung, hinter der aber ein Körnchen Wahrheit steckt – behaupten, daß Thoma einen liebgewinnen konnte, weil der in Not war und ihm dadurch willkommnen Anlaß gab, sein gutes Herz zu zeigen.
Wie vielen hat er, nun er aus dem Vollen schöpfen durfte, freudig und großzügig geholfen – auch manchem Pumpgenie, bei dem er bald erkennen mußte, daß es schlecht angewandtes Geld gewesen war. Doch nahm er das nicht tragisch, noch ließ ers andere entgelten, die später bittend zu ihm kamen – so wenig wie es ihn an seinen geliebten Bauern irre werden ließ, wenn sie zum Beispiel ihn als Jagdherrn wegen angeblichen Wildschadens mit List und Schläue ungebührlich «hochzunehmen» suchten. Wurde ihm das schließlich doch zu dumm, so zeigte er wohl einmal einem dieser Spekulanten lächelnd, wo der Zimmermann das Loch gelassen hatte, ärgerte sich aber keinen Augenblick darüber, sondern nahm es von der heitern Seite.
Denn er war keiner von den Leuten, deren sittliche Entrüstung am schmerzlichsten aufstöhnt, wenn sie am Geldbeutel verwundet werden. Entrüsten konnte sich auch er, da mußte aber schon ein edlerer Teil getroffen sein: Als nach dem deutschen Zusammenbruch ein paar von seinen alten Freunden sich vor Eifer, den neuen Machthabern ihre Reverenz zu machen, förmlich überschlugen, hat er ihnen mit schweigender Verachtung für immer den Rücken zugekehrt.
Die letzten Friedensjahre brachten Thoma neben vielem, was ihn freute, manches Leid. Besonders nah gegangen ist ihm neben Rudolf Wilkes frühem Heimgang seines besten Freundes Ignatius Taschner Tod. Im ganzen aber war es für ihn eine gute Zeit, hinter die dann der große Krieg den Schlußpunkt setzte.
Thoma, der nie Soldat gewesen war, hat sich aus allen Kräften heiß bemüht, als Kämpfer an die Front zu kommen; da das nicht glückte, zog er als Krankenträger mit ins Feld und war sehr unglücklich, als ihn nicht lange nach der Schlacht bei Gorlice die Ruhr befiel und er deshalb nach Hause mußte. Schon damals mag die Krankheit, die ihn dann als Vierundfünfzigjährigen von uns nahm, noch unerkannt in ihm ihr anfangs schleichendes Zerstörungswerk begonnen haben.
Wenn er so auch den größten Teil der Kriegszeit gegen seinen Willen tatenlos in der Heimat sitzen mußte – stärker als er hat sicherlich auch keiner, der die vier Jahre ohne größere Unterbrechung draußen war, das große Ringen miterlebt, länger als er wohl überhaupt kein Deutscher an den deutschen Sieg geglaubt.
Da schließlich doch die Sorge um das Kriegsende so heimlich wie das körperliche Leiden in ihm zu nagen anfing, floh er vor ihr in die Vergangenheit und schrieb seine «Erinnerungen», die auch noch lange nicht genug gelesen werden. Wer es nicht tut, beraubt sich selbst; denn sie sind eins der schönsten, männlichsten und bei allem keuschen Takt, der hier auf jeder Seite waltet, ehrlichsten Lebensbücher, die es gibt, und – eins der bescheidensten. Hier findet man nicht jenen Mischmasch aus, sei mir die Wortbildung verziehen, Ressentimentalität und Wichtigtuerei, die sich in Autobiographien leider nur zu oft und gern amalgamieren, hier will uns der Verfasser nicht beweisen, welch ein bedeutender und interessanter Herr er sei; und eben weil er mehr von andern redet als von seinem lieben Ich, ersteht uns sein Gesicht in atmender Lebendigkeit, indessen doch sein Buch nichts sein will als ein Dank an gute Menschen und an dieses Erdenleben, über dessen Sinn zu grübeln sich nicht lohnt – es ist sich selber Sinn genug.
Thoma hatte sich gegen das Gespenst nahenden Unheils, wenn es auch ihn erschrecken wollte, gewaltsam blind gemacht. So traf ihn der Zusammenbruch unvorbereitet und traf ihn bis ins Mark. Dumpfe Verzweiflung überfiel ihn und ohnmächtiger Zorn, er begriff sein Volk nicht mehr, er schämte sich brennend der Würdelosigkeit, mit der sich Deutsche – er mochte sie kaum Deutsche nennen – den Demütigungen und bösartigen Diktaten der Sieger unterwarfen, ja, sich nicht scheuten, das verlogne Geschwätz der andern von deutscher Schlechtigkeit und Minderwertigkeit durch Selbstbezichtigungen noch zu übertrumpfen. Alles, was er geliebt, verehrt, heilig gehalten hatte, war in den Staub getreten und beschmutzt, sein Glaube kam ins Wanken, und er litt mehr, als leidenschaftslosere Naturen überhaupt begreifen können. Es zerbrach etwas in ihm.
Arbeit, und zumal schöpferische Arbeit, ist immer der beste Trost. Thoma hat in den knapp drei Jahren, die ihm noch dafür beschieden waren, wohl mehr geschrieben als jemals vorher im gleichen Zeitraum. Und neben leichterer Ware, die ihm als Ablenkung vom trüben Heute dienen sollte, stehen zwei so gewichtige und starke Leistungen wie «Der Ruepp» und die einleitenden Kapitel zu dem selbstbiographisch gedachten großen Ich-Roman «Kaspar Lorinser». Wer sie gelesen hat, weiß, was uns damit entging, daß es dem Dichter nicht gegönnt war, dies Werk, in dem er uns seinen «Grünen Heinrich» geben wollte, zu vollenden.
Solch reiches Schaffen muß Thoma viele Stunden innrer Befriedigung geschenkt haben; der heimatlichen Landschaft, deren Anblick ihn von je beglückte, hatte die Not der Gegenwart nichts angetan, unversehrt und heiter war sie um ihn; zuzeiten fiel noch Sonne über seinen Weg – ein andrer als Thoma hätte langsam Frieden finden können, er fand ihn nicht. Das tägliche Geschehen riß täglich neu die Wunden seines Herzens auf.
Wohl stand sein Glaube fest, daß Deutschland einmal wieder dastehen würde hoch in Ehren und in alter Kraft. Er konnte aber damals noch nicht wissen, wie bald die Uhr ausheben würde zu dem Stundenschlag der großen Schicksalswende. Daß er und das mit ihm lebende Geschlecht noch eine Besserung erleben konnten, schien ihm unmöglich, da er alles nur immer schlechter werden sah.
Auch mag die Krankheit, die ihm von Monat zu Monat größeres Unbehagen schuf, ohne daß er sie doch für etwas Ernstes hielt, das Ihre dazu beigetragen haben, ihm die Kraft für einen neuen Aufschwung zu versagen. So kreisten seine quälenden Gedanken ewig um das eine: wie dieser Niederbruch nur habe möglich werden können, in welchen Fehlern und Versäumnissen die Schuld daran zu suchen sei.
Er hat, wie Josef Hofmiller erzählt, in bitterer Selbstverspottung von diesen Grübeleien selber gesagt: «Der ganze Nach-Tarock hat keinen Sinn. Es nützt ja alles nichts.» Aber er konnte es nicht lassen, und so verdämmerte sein Leben in düstrer Hoffnungslosigkeit.
Vielleicht ist das die Art, wie uns der Tod für sich bereitet und reif werden läßt. O ja, ich weiß: das tückische Leiden, das ihn im August des Jahres einundzwanzig von uns nahm, kommt nicht davon. Trotzdem ist kein leeres Wortgetön, wenn ich behaupte: Ein Teil von ihm ist im November achtzehn schon gestorben und, mag mans auch bestreiten, daß einer an der Liebe sterben kann, gestorben an der Liebe zu seinem Volk und Vaterland.
Uns aber lebt er noch in seinem Werk und als Persönlichkeit, wie er zu seinen besten Zeiten war; so steht er vor uns: jeder Zoll ein deutscher Mann von heißem Herzen, kindlich reiner Seele und, bei aller Schlichtheit der Gebärde, vornehmster Gesinnung. Treten wir an das Grab, darin sein Sterbliches in der Heimaterde ruht, die ihn nach seinem eignen Wort nicht drücken kann, dann dürfen wir ihm mit Fug den Gruß entbieten: