Karl von Holtei
Ein Mord in Riga / 1. Kapitel
Karl von Holtei

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Der kurze Sommer schlich langsam dahin, weil er freudlos war. Der Übergang in den Winter geschah diesmal rascher denn je, und mit ihm verschlimmerte sich des Kranken Zustand. Der Hausarzt zog den Senior der Fakultät, den vielerfahrenen Doktor Wilpert, zu Rate, und dieser stimmte ein in das Geständnis seines jüngeren Freundes, daß hier die Wissenschaft ratlos dastehe vor einem allmählich verlöschenden Lebensfeuer, dessen Glut kaum noch glimme. Auch er fand des Patienten Widerwillen gegen leibliche Nahrung für das schwierigste Hindernis, der ablaufenden Maschine stärkend beizukommen, und erklärte sämtliche Roborantia aus der lateinischen Küche für ungeeignet, die mangelnde Kräftigung durch einfache Speisen aus Lieschens Küche zu ersetzen. »Wenn unser Freund Oberältester nur wieder einmal rechtschaffenen Appetit auf ein gutes Gericht bekäme«, äußerte der greise Sohn des Äskulap orakelhaft, »dann stände es gleich anders.«

Aber es kam der Winter mit seinem wolligsten Schneegesäusel und hüllte die Fluren in ihr weißestes Gewand, ohne daß mit ihm die Lust der Geselligkeit, die ganz Riga erfüllte, zurückgekehrt wäre in das Haus, worin sie so lange heimisch gewesen. Täglich wurde es stiller und einsamer um die beiden alten Leute. Auch die nächsten Freunde blieben endlich aus, weil sie sich eingestehen mußten, daß ihre Gegenwart nur beitrug, des Kranken schlimme Laune zu verschlimmern. Die Schneedecke nannte er seufzend sein Leichentuch, ohne Rücksicht zu nehmen auf den Schmerz, den er durch diesen Ausdruck der treuen Gefährtin einer langen glücklichen Ehe bereitete. Diese trug mit wahrhaft weiblicher Würde und fester äußerlicher Haltung ihren heißen Gram, der eben darum desto schärfer nach innen bohrte und ihr liebevolles Herz anfraß. Bald schwankte sie selbst wie eine Sterbende umher, nur noch aufrecht gehalten von der Möglichkeit, es könne ja doch vielleicht die Stunde schlagen, wo ihr Gemahl, nach einer Speise verlangend, sich dem irdischen Leben noch einmal zuwenden werde. »Hör ich das«, sagte sie seufzend zu Dorchen, »dann bin ich gleich wieder auf den Beinen!« Ja, dieser Wunsch wurde bei ihr zur fixen Idee; sie redete mit allen Dienstboten davon; sogar Iwan mußte sich von der wichtigen Bedeutung eines so fernen Hoffnungsschimmers vorerzählen lassen und ward so lebhaft ergriffen, daß er den Vorschlag machte: »Mütterchen solle es doch mit einer großen Schüssel Sauerkraut versuchen – versteht sich, nicht zu scharf gesalzen. Dem vermöge kein Sterblicher zu widerstehen«, meinte er aus seinem russischen Magen heraus.

Unter Ängsten und Qualen einer edlen weiblichen Seele – um so quälender, weil sie durch unbestimmte Hoffnung stündlich neu angeregt und aufgereizt wurden – rückte endlich der Weihnachtsabend heran. Scharenweise drängten sich jung und alt durch enge Gassen, das heilige Fest der Gaben und Geschenke freudig vorzubereiten; ein Fest, für welches alljährlich Madame Singwald im Vorteil ihrer Hausbewohner unermüdlich tätig gewesen. Heute saß sie regungslos, ohne Teilnahme an fremder Freude, vor des Gatten Ruhebett. Was den Leuten gebührte, war ihnen in barem Gelde gespendet worden; zwar freigebiger wie sonst – aber doch minder beglückend, denn es fehlte ja die Überraschung durch bunte, für jeden einzelnen ausgewählte Geschenke, das Grün der Bäume, der Glanz der Lichter, welcher sonst den Abend in hellen Tag verwandelt hatte. Farblos, ohne erhellende Aussicht für die Dunkelstunde, ohne fieberhaft ungeduldige Erwartung verstrichen die Stunden wie gewöhnliche, graue Wochenstunden den Singwaldschen Dienstleuten: sie hatten ihre Silberrubel in den Taschen und freuten sich derselben wenig oder gar nicht. Also, an ihres kranken Gatten Ruhebett saß die – vielleicht kränkere – Frau und bemühte sich in rührender Aufopferung, ihn durch allerlei gleichgültiges Geschwätz zu zerstreuen, wie schwer es ihr auch wurde, von etwas anderem zu reden, als wovon ihr Busen voll war. Auch vom heutigen Tage redet sie und von der Feier desselben bei sämtlichen Nachbarn, wo schon hier und da durch festverklebte mit grünem Moose, farbigen Winterblumen und roten Waldbeeren geschmückte Doppelfenster die Kerzen der Weihnachtsbäume zu schimmern begannen.

»Es ist wunderlich«, hub Herr Singwald an; »mich überkommt in diesen Augenblicken ein Gefühl, wie ich es lange nicht gehabt; eine förmliche Sehnsucht nach der Kinderzeit; so wehmütig, so traurig, und doch so süß. Ich denke an mein altes, frommes, ehrwürdiges Lübeck, meine unvergeßliche Vaterstadt; an die ehrlichen, bürgerlich beschränkten Eltern; an die schmalen Gassen, die hohen Wälle mit schönen Bäumen, die feierliche Stadtkirche mit ihrem geheimnisvollen, winkeligen Platze und kleinen Plätzchen. Da trieb ich mich vor sechzig Jahren umher, ein munterer Junge, und wußte von keiner Welt darüber hinaus. Das war so hübsch. Und da war auch einmal heiliger Weihnachtsabend; der letzte, den meine gute Mutter mit uns verlebte, mit mir und meinem seligen Bruder. Den ganzen Tag über hatten wir gefastet, wie es Christen aus der alten Zeit geziemte, und waren schrecklich hungrig geworden; nicht ohne Murren, worüber Vater schalt. Doch Mutter vertröstete uns auf den Abend, wo sie uns lecker füttern wollte. O ich weiß es noch wie heute; eine Taubensuppe setzte sie uns vor. Das Geflügel schwamm in einer klaren kräftigen Brühe, da sie die volle tiefe Schüssel auf den Tisch stellte. Es schmeckt mir jetzt noch, wenn ich daran gedenke. Ich weiß nicht, was ich drum gäbe, hätte ich eine Schüssel solcher Taubenbrühe zur Stunde vor mir. Ein förmlicher Heißhunger überfällt mich danach. Wie kann ein alter, todkranker Mensch so kindisch sein!«

Die würdige Matrone wollte laut aufjauchzen. Doch sie überlegte sogleich, daß der Ausbruch ihres Jubels den argwöhnischen, auf jede Silbe lauernden Patienten beunruhigen könne. Deshalb beherrschte sie sich, ging scheinbar ruhig aus dem Zimmer, eilte dann der Küche zu und rief nur, in aufwallendem Danke gegen Gott: »Oh, Heiliger Abend!« Dann riß die heftig die Küchentüre auf. »Lieschen, mache fort; schaffe Tauben; sogleich; so rasch wie möglich!«

»Waih, Madame, Tauben? Wozu Tauben?« fragte Elisabeth Gabriel hocherstaunt.

»Zu einer Suppe für den Herrn, Lieschen, er verlangt darnach; frage nicht lange und mache dich auf den Weg. Wir wollen dem Himmel danken für dies Zeichen der Genesung!«

Lieschen stand sprachlos mit offenem Munde. Sie konnte dies Begehren nicht fassen und wußte noch weniger, wie es sich erfüllen ließe.

Bekanntlich gilt innerhalb Rußlands Grenzen die Taube für ein heiliges Tier; sie zu beschädigen für einen Frevel wider die Dreieinigkeit. Auf allen Plätzen der Städte erblickt man diese Vögel in Massen; sie werden teils auf öffentliche Kosten gehegt und gepflegt, teils von einzelnen gefuttert. Deutsche Einwohner, die darnach lüstern sind, mögen wohl hin und wieder Tauben verzehren, doch müssen sie es heimlich tun und werden deshalb von den Eingebornen Barbaren geschimpft. Auf dem Markte dürfte dieses Geflügel niemals feilgeboten werden. Man begreift folglich Lieschens Schreck, weil durch den Befehl der Herrin ihr etwas gleichsam Unmögliches zugemutet wurde. Wer würde ihr, noch dazu am Weihnachtsabend, Tauben verkaufen? Wo sollte sie dergleichen aufsuchen? Sie stand ratlos, und ihr stummes Widerstreben vermehrte natürlich die Ungeduld der sonst so geduldigen und freundlichen Madame Singwald.

»Mögen sie kosten, was sie wollen, Lieschen; ich muß Tauben haben!«

»Nicht für hundert Rubel Silber weiß ich eine einzige aufzutreiben, Madame!« rief Lieschen, als sie die Sprache wiedergefunden.

In diesem Augenblicke, wo fast ein Zank zwischen Herrin und Dienerin ausgebrochen wäre – im Singwaldschen Hause unerhört und nie erlebt –, erschien wie gerufen Iwan. Er vernahm nur Lieschens Weigerung, die er vollkommen begriff, und vernahm nur der Gebieterin Wunsch, durch eine Taube oder durch mehrere den kranken Herrn genesen zu machen; was er zwar nicht begriff, jedoch darum gerade desto gläubiger auffaßte. Für ihn knüpften sich an die Heiligkeit der Taube vielerlei dunkle Möglichkeiten. Daß hier von weiter nichts die Rede sei als von einer ganz gewöhnlichen Suppenbrühe, konnte ihm ebensowenig in den Sinn kommen wie daß man ihm, dem rechtgläubigen Iwan, zumuten werde, die gefiederten Symbole des Höchsten und Unbegreiflichsten für die Küche zu liefern. Er sah und hörte nichts als die drohenden Bitten der Frau, die ängstliche und heftige Weigerung der Köchin; dachte nichts als die Rettung des guten Herrn durch ein Wunder! Und dies vollbringen zu helfen, erklärte er sich bereit, sollte er auch vielleicht den Hals dabei brechen. Denn seitdem es Winter geworden, hatten einige von den in der Stadt frei herumfliegenden Tauben – wahrscheinlich junge von vergangenem Sommer, die in der überfüllten elterlichen Heimat keinen Raum mehr gefunden – sich auf dem Oberboden des Hauses, dicht am Rauchfang, ein Zufluchtsplätzchen gesucht, so sie die Nächte im Warmen zubrachten. Iwan kletterte ohne Bedenken im Sparrwerk des spitzen Giebeldaches hinaus, was bei hereingebrochener Dunkelheit nicht eben vergnüglich war, und zeigte sich so geschickt, zwei bereits in schuldlosen Traum versunkene Vögel zu erwischen, die er, nicht ohne ihnen vorher schmeichelnde Küsse und tausend verkleinernde Liebesbeinamen zu geben, unverletzt in die Küche trug, woselbst der Streit zwischen Frau und Köchin noch fortdauerte. Lieschen, die schon in Tränen schwamm über die ihr gemachten Vorwürfe, befand sich in einer für ihre gewöhnliche Sanftmut ganz außerordentlichen Aufregung; ja, soweit es bei ihr nur möglich, schien sie voll Zorn zu sein. Es hatte sie zu hart getroffen, aus dem Munde ihrer »Madame« vernehmen zu müssen: mit ihrer gepriesenen Anhänglichkeit für ihre Herrschaft könnte es nur schwach bestellt sein, weil sie zu bequem wäre, ihre Weihnachtsabendruhe zu opfern und einige Gänge in die Vorstadt zu wagen, um herbeizuschaffen, wovon vielleicht Leben und Gesundheit des Hausherrn abhänge.

Diese schreckliche Anklage ließ sich nicht verwinden. Elisabeth Gabriel war in ein Schluchzen verfallen, als ob es ihr das ehrliche Herz abstoßen wollte; Worte zu ihrer Rechtfertigung fand sie schon gar nicht; rang nur vergeblich nach Luft... da hielt ihr Iwan die zappelnden Tiere hin. Und sie beglückt, einen Gegenstand zu finden, woran unmächtige Wut auszulassen war, packte mit zitternden Händen die wehrlosen Geschöpfe, denen sie im Nu beiden die Köpfe abriß, daß sich die Rümpfe blutend am Boden wanden. Iwan dies erblicken, sich im furchtbarsten Schauder die Augen verhüllen und in einen entsetzlichen russischen Fluch über die Untat ausbrechen, war eins. »Nun muß Väterchen sterben, nun sind wir alle unglücklich!« schrie er und verließ den Ort der Entweihung.

Madame Singwald achtete nicht auf ihn; sie eilte nur, der Köchin Hilfe zu leisten. Im Nu waren die Vögel durch heißes Wasser gezogen, gerupft, gesäubert, in der glänzendverzinnten Kochpfanne beigesetzt, und Herrin wie Magd bewachten die Glut mit glühenden Augen, die Zeit heranbetend, bis die Suppe gar, das zarte Fleisch genießbar sei! Sie versöhnten sich während dieser Frist durch stumme, vielberedte Zeichen, durch Blicke, durch einen Händedruck. Sie glichen zwei Schwestern, die für den teuren Vater sorgen. Sie fühlten sich durchdrungen von der Wichtigkeit ihrer Beschäftigung. Lieschen dankte Gott im stillen, daß er sie gewürdiget habe, sie eine Köchin werden zu lassen!

Unterdessen meldeten sich abwechselnd Gabriel und Dorchen, im Namen des Kranken nachzufragen, »ob seine Taubensuppe nicht bald fertig sei«. Durch alle Räume des Hauses war die frohe Kunde gedrungen. Die Comptoiristen standen im Vorflur, des Erfolges zu harren. Der Hausknecht hatte sich in den Torweg gepflanzt, jedem Vorübergehenden zu melden: »Herr Oberältester habe seinen Appetit wieder.« Nur Iwan saß niedergeschlagen im Stalle, seine Heiligen um Hilfe anflehend und um Verzeihung.

Niemand dachte daran, den Arzt in Kenntnis setzen zu lassen. Doch erreichte ihn bald die Nachricht des unerwarteten Ereignisses durch Fremde, die ihrerseits wieder von Hausfreunden davon unterrichtet worden. Aufopfernd wie es in seiner Weise lag, verließ er die Seinigen mitten im Jubel ihres Festabends und begab sich zu seinem rätselhaften Patienten.

Er kam eben zurecht, da der Zug aus der Küche sich mit der wohlgeratenen Speise in Bewegung setzte, und schloß sich ihm an. Madame Singwald bemerkte kaum die Gegenwart des würdigen Freundes, völlig umnebelt von zuversichtlicher Hoffnung und Erwartung, wie sie war.

»Endlich!« seufzte der Kranke, als ihm der tiefe Teller voll duftig dampfender Brühe dargereicht wurde. Mit bebender Hand ergriff er den Löffel, führte ihn nach Lippen... doch kaum hatten diese den Rand des Silbers berührt, als er die begehrte Labung von sich stieß, den Löffel hinwarf und mit Ekel sagte: »Pfui, das ist nicht meine Weihnachtssuppe aus der Kindheit; das schmeckt nach Blut! Was habt ihr mir da gekocht!?«

Dann lehnte er matt sein Haupt zurück und flüsterte klagend: »Es war eine Täuschung! Mit mir ist es aus!« Sogleich aber, sich wieder ein wenig aufrichtend und zum Arzte, der ihn teilnehmend betrachtete, gewendet, rief er laut: »Nicht nach mir, Doktor, um Gottes willen, sehen Sie nach ihr

Denn die getreue Hausfrau und Pflegerin, nachdem sie so lange mit jener, nur weiblicher Heldenkraft möglichen Ausdauer dem nagenden Seelenkummer Trotz geboten, vermochte jetzt, wo sie allzufrüh täuschender Hoffnung Raum gegeben, den Folgen eines heftigen Rückfalls in die traurigste Wirklichkeit nicht mehr Widerstand zu leisten.

Des Gatten bedeutungsschweres Wort: »Mit mir ist es aus!« hatte sie darniedergeworfen, und sie lag bewußtlos, kränker als dieser – das entging dem scharfen Auge des erfahrenen Arztes nicht –, dem Kranken gegenüber.

»Schlagt ihr Sterbebette in meinem Zimmer auf«, sagte Singwald, fast heiter; »laßt sie bei mir; wir wollen zusammen enden; es wird uns beiden leichter werden. Der Himmel hat es gut mit uns vor; er will uns nicht trennen, auch auf kurze Stunden nicht, weil wir so lange friedlich miteinander gelebt.«

Am letzten Tage des Jahres waren die Gassen mit grünen Tannenzweigen bestreut, von Singwalds gastlichem Hause bis zur Kirche; und die halbe Stadt folgte zwei Leichen mit ungeheuchelter Trauer.

Die Freunde aber sagten: »Es ist ihnen wohlgeschehen, daß ein Grab beide Gatten umschließt; ihr Angedenken bleibe in Ehren, und ihres Namens Gedächtnis lebe unter uns fort, solange wir leben!«


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