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Im Stephansdom.
Vor dem Seitenaltar des heiligen Antonius kniet ein Kretin. Drei Reihen hinter ihm kniet Marianne. Alfred kommt leise. Von einem Altar her erklingen die Klingelzeichen der heiligen Wandlung – Marianne und der Kretin gehen in sich. Stille.
Alfred leise: Wirds noch lang dauern!
Marianne Wenn es dir zu lang dauert, dann laß mich allein.
Alfred Das mußt du mir nicht zweimal sagen. Stille.
Marianne So geh doch!
Alfred Kannst es wohl kaum mehr erwarten, daß ich geh?
Marianne Nicht so laut! Wir sind doch nicht zuhaus!
Der Kretin dreht sich um und fixiert die Beiden; dann beschäftigt er sich wieder mit seinem Rosenkranz.
Alfred kniet nieder neben Marianne und lächelt böse: Du Jungfrau von Orleans.
Marianne So laß mich doch beten, bitte –
Alfred Was soll denn dieser neue Sport? Fühlst du dich nicht gut in deiner Haut?
Marianne Du vielleicht? Stille.
Alfred Auch dein heiliger Antonius von Padua wird mir keine Stellung verschaffen, merken Sie sich das, gnädiges Fräulein. Den heiligen Herrn möcht ich mal kennen lernen, der einen gewöhnlichen Sterblichen auch nur einen Groschen verdienen läßt – Halt! Er packt Marianne, die sich erheben will, am Arm und drückt sie wieder in die Knie.
Marianne Au!
Der Kretin beobachtet nun wieder die beiden – während der ganzen folgenden Szene.
Alfred Wer hat mir denn die Rennplatz verleidet? Seit einem geschlagenen Jahr hab ich keinen Buchmacher mehr gesprochen, geschweige denn einen Fachmann jetzt darf ich mich natürlich aufhängen! Neue Saisons, neue Favoriten! Zweijährige, dreijährige – ich hab keinen Kontakt mehr zur neuen Generation. Und warum nicht? Weil ich statt des unmoralischen Toto ausgerechnet eine moralische Hautcreme vertrete, die keiner kauft, weil sie miserabel ist.
Marianne Die Leut haben halt kein Geld.
Alfred Nimm nur die Leut in Schutz!
Marianne Ich mach dir doch keine Vorwurf, du kannst doch nichts dafür.
Alfred Das wäre ja noch schöner!
Marianne Als ob ich was für die wirtschaftliche Krise könnt'.
Alfred Oh du exzentrische Person – – Wer hat mir denn den irrsinnigen Rat gegeben, als Kosmetikagent herumzurennen? Du! Er erhebt sich. Stille.
Marianne Du hast mir mal gesagt, daß ich dich erhöh, in seelischer Hinsicht –
Alfred Das hab ich nie gesagt. Das kann ich gar nicht gesagt haben. Und wenn, dann hab ich mich getäuscht.
Marianne schnellt entsetzt empor: Alfred!
Alfred Nicht so laut! Wir sind doch nicht zuhaus!
Marianne Ich hab so Angst, Alfred! –
Alfred Du siehst Gespenster.
Marianne Du, wenn du jetzt nämlich alles vergessen hast –
Der Kretin grinst boshaft.
Alfred deutet auf den Kretin: Schau doch nur das blöde Luder –
Marianne So laß doch den armen Trottel! Sie weint leise vor sich hin.
Stille.
Alfred Ich für meine Person glaub ja nicht an ein Fortleben nach dem Tode, aber natürlich glaub ich an ein höheres Wesen, das gibt es nämlich sicher, sonst gäbs uns ja nicht. Er streicht ihr über den Hut. Beruhig dich, die Leut schaun ja schon –
Stille.
Marianne sieht ihn groß an: Als ich noch klein gewesen bin, und wenn ich etwas verloren hab, dann hab ich nur gesagt: Heiliger Antonius, hilf mir doch! – und schon hab ich es wieder gefunden.
Alfred Also leb wohl.
Marianne Du holst mich ab?
Alfred Naturelement. Sicher. Ab.
Marianne sieht ihm nach – und allmählich entdeckt sie einen Beichtstuhl, dessen Konturen sich langsam aus der Finsternis lösen – sie nähert sich ihm zögernd; die Glocken läuten und Kirchengänger gehen vorbei – kleine Erstkommunikantinnen und alte Krüppel – ein Ministrant löscht alle Kerzen am Antoniusaltar aus und jetzt ist nurmehr der Beichtstuhl zu sehen, in dem Marianne kniet, alles übrige löst sich auf in der Finsternis; auch der Kretin ist verschwunden und nun schweigen die Glocken; es ist sehr still auf der Welt.
Beichtvater sieht Oskar Wilde ähnlich: Also rekapitulieren wir; du hast deinem armen alten Vater, der dich über alles liebt und der doch immer nur dein Bestes wollte, schmerzlichstes Leid zugefügt, Kummer und Sorgen, warst ungehorsam und undankbar – hast deinen braven Bräutigam verlassen und hast dich an ein verkommenes Subjekt geklammert, getrieben von deiner Fleischeslust – still! Das kennen wir schon! Und so lebst du mit jenem erbärmlichen Individuum ohne das heilige Sakrament der Ehe schon über das Jahr, und in diesem grauenhaften Zustand der Todsünde hast du dein Kind empfangen und geboren – wann?
Marianne Vor acht Wochen.
Beichtvater Und du hast dieses Kind der Schande und der Sünde nicht einmal taufen lassen – Sag selbst: kann denn bei all dem etwas Gutes herauskommen? Nie und nimmer! Doch nicht genug! Du bist nicht zurückgeschreckt und hast es sogar in deinem Mutterleib töten wollen – –
Marianne Nein, das war er! Nur ihm zulieb hab ich mich dieser Prozedur unterzogen!
Beichtvater Nur ihm zulieb?
Marianne Er wollte doch keine Nachkommen haben, weil die Zeiten immer schlechter werden und zwar voraussichtlich unabsehbar – – aber ich – – nein, das brennt mir in der Seele, daß ich es hab abtreiben wollen, ein jedesmal, wenn es mich anschaut –
Stille.
Beichtvater Ist das Kind bei euch?
Marianne Nein.
Beichtvater Sondern?
Marianne Bei einer Familie. In Kost.
Beichtvater Sind das gottesfürchtige Leut?
Marianne Gewiß.
Stille.
Beichtvater Du bereust es also, daß du es hast töten wollen?
Marianne Ja.
Beichtvater Und auch, daß du mit jenem entmenschten Subjekt in wilder Ehe zusammenlebst?
Stille.
Marianne Ich dachte mal, ich hätte den Mann gefunden, der mich ganz und gar ausfüllt. –
Beichtvater Bereust du es? Stille
Marianne Ja.
Beichtvater Und daß du dein Kind im Zustand der Todsünde empfangen und geboren hast – bereust du das? Stille.
Marianne Nein. Das kann man doch nicht –
Beichtvater Was sprichst du da?
Marianne Es ist doch immerhin mein Kind –
Beichtvater Aber du –
Marianne unterbricht ihn: Nein, das tu ich nicht – Nein, davor hab ich direkt Angst, daß ich es bereuen könnt – Nein, ich bin sogar glücklich, daß ich es hab, sehr glücklich –
Stille.
Beichtvater Wenn du nicht bereuen kannst, was willst du dann von deinem Herrgott?
Marianne Ich dachte, mein Herrgott wird mir vielleicht etwas sagen –
Beichtvater Du kommst nur dann zu ihm, wenn es dir schlecht geht?
Marianne Wenn es mir gut geht, dann ist Er ja bei mir – aber nein, das kann Er doch nicht von mir verlangen, daß ich das bereu – das wär ja wider jede Natur –
Beichtvater So geh! Und komme erst mit dir ins reine, ehe du vor unseren Herrgott trittst – – Er schlägt das Zeichen des Kreuzes.
Marianne Dann verzeihen Sie – – Sie erhebt sich aus dem Beichtstuhl, der sich nun auch in der Finsternis auflöst – – und nun hört man das Gemurmel einer Litanei; allmählich kann man die Stimme des Vorbeters von den Stimmen der Gemeinde unterscheiden; Marianne lauscht – – die Litanei endet mit einem Vaterunser; Marianne bewegt die Lippen.
Stille.
Marianne Amen – –
Stille.
Marianne Wenn es einen lieben Gott gibt – – was hast du mit mir vor, lieber Gott? – – – – Lieber Gott, ich bin im achten Bezirk geboren und hab die Bürgerschul besucht, ich bin kein schlechter Mensch – – hörst du mich? – – Was hast du mit mir vor, lieber Gott – – ? – –