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Es war wie Haller sagte: niemand von der Dienerschaft wußte etwas über Beziehungen des einstigen Erziehers zu einer der jungen Damen.
»Entweder handelt es sich hier um ein Liebesverhältnis, das sehr geschickt vor aller Welt verborgen wurde,« sagte Dr. Wasmut leise zum Staatsanwalt, »oder dieser Dr. Sturm ist ein Frechling, der einfach ohne Wissen der jungen Dame um sie anhielt, was dann freilich eine derbe Abweisung nur zu erklärlich machte!«
»Darüber wird uns wohl jemand von der Familie – am besten die junge Dame selbst, Auskunft geben können.«
Wasmut fuhr fort, eine Person nach der andern zu befragen, aber sein Gesicht wurde dabei immer ärgerlicher, denn das Ergebnis war gleich Null.
Die Leute hatten alle bereits geschlafen und waren erst durch den Kammerdiener alarmiert worden. Uebrigens gingen ihre Fenster nach dem Küchengarten an der Rückfront des Hauses, wo man kaum etwas von den Vorgängen an der Vorderseite wahrnehmen konnte. Niemand wußte irgend eine Person anzugeben, auf die ein Verdacht fallen konnte. Sie konnten sich das Verbrechen überhaupt nicht erklären, denn einen besseren Menschen hatte es nie gegeben als Herrn von Rittler, darüber waren alle einig.
So schienen auch die Vernehmungen der Dienstleute wie zuvor die Aufnahme des Tatbestandes resultatlos zu verlaufen, als der Untersuchungsrichter als vorletzte Person den alten Gärtner Martin aufrief.
Sofort machte sich unter der Dienerschaft eine gewisse Bewegung bemerkbar. Gespannt richteten sich aller Augen auf den alten Mann, der die üblichen Vorfragen ruhig beantwortete und dann auf die Frage, was er über die Vorgänge der Mordnacht wisse, sagte: »Ich selbst weiß gar nichts, Ew. Gnaden, denn die Gärtnerwohnung liegt bei den Treibhäusern, und ich ging wie gewöhnlich um neun Uhr schlafen. Aber da ist mein Gehilfe Valentin Faltner – wenn Sie den vielleicht mal scharf befragen wollten, Ew. Gnaden. Er ist erst um Mitternacht heimgekommen, und ich wette, er weiß etwas, wenn er's auch nicht sagen will.«
»Woraus schließen Sie dies?«
»Er hat sich selbst verraten im ersten Schrecken. Als der Stalljunge nämlich an unsern Laden polterte und uns die schreckliche Nachricht ins Zimmer schrie, wurde der Valentin geisterbleich und zitterte wie Espenlaub. ›Jesus, Maria,‹ stotterte er, ›er wird doch so was nicht getan haben!?‹ Dann fiel er auf den nächstbesten Stuhl und fing zu weinen an. ›Junge,‹ sagte ich, ›du weißt also was? Hast du etwa den Mörder gesehen, als du heimgingst?‹
›Er war's nicht, nein . . . er kann's nicht gewesen sein!‹ beteuerte Valentin und dann gab er weiter überhaupt keine Antwort mehr. Alles Zureden war vergebens und ich hoffe nur, Ew. Gnaden, es werde Ihnen besser gelingen, ihn reden zu machen. Vorwärts, Valentin –« und er schob den widerstrebenden Burschen direkt vor den Untersuchungsrichter hin.
Dieser betrachtete ihn kopfschüttelnd. Valentin wurde bald rot, bald blaß und sah verstört zu Boden.
»Warum wollen Sie nicht sagen, was Sie wissen?« fragte Dr. Wasmut ernst.
»Ich . . . nein . . . ich kann keinen unglücklich machen!«
»Ach so! Nun das ist ja sehr schön, aber Sie vergessen, daß nicht Sie, sondern der Mörder sich selbst unglücklich macht durch die Tat. Uebrigens handelt es sich vielleicht nur um harmlose Dinge, die sich aufklären lassen. Jedenfalls sind Sie als ehrlicher Mensch verpflichtet, die Wahrheit zu sagen, wenn Sie nicht selbst verdächtig werden wollen. Wo waren Sie gestern abend?«
»Ich habe in Sievering drüben eine alte Mutter, die krank ist. Die ging ich besuchen.«
»Wann kehrten Sie heim?«
»So um halb zwölf herum.«
»Welchen Weg nahmen Sie?«
»Durch den Park am Schloß vorüber. Es ist der nächste Weg und ich eilte sehr, denn es sah aus, als ob ein tüchtiges Wetter im Anzug wäre.«
»War man im Schloß noch auf? Ich meine, sahen Sie erleuchtete Fenster?«
»Nur die zwei, welche zu des gnädigen Herrn Arbeitszimmer gehören. Die Läden waren zurückgeschlagen, die Fenster aber geschlossen und eines war ganz zertrümmert, das sah ich gleich, dachte mir aber zuerst nichts dabei. Erst als ich den Herrn weglaufen sah –«
»Wo? Unter dem Fenster?«
»Ja – gerade auf dem Kiesplatz, der sich seitwärts gegen die Rampe zieht. Als ich ihn zuerst erblickte, stand er bocksteif da und schien nach dem Schloß hinauf zu blicken.«
»Erkannten Sie den Mann?«
»Anfangs nicht. Er trug einen Havelock, dessen Kragen aufgeschlagen war, und eine Radfahrermütze tief in die Stirn geschoben. Als er meine Schritte hörte, nahm er Reißaus und lief um die Hausecke. Mir aber fiel das zertrümmerte Fenster ein, und ich glaubte nichts anderes, als der Mensch habe einen Einbruch versucht. Also setzte ich natürlich hinter ihm her. Es war sehr finster, und der Sturm machte einen Heidenspektakel. Dennoch sah ich beim Schein der Blitze, wie er quer durch den Park lief geradenwegs auf ein Mauerpförtchen zu, das direkt auf die Landstraße mündet und stets verschlossen ist. ›Holla,‹ dachte ich, ›jetzt habe ich dich, denn dort hinaus kannst du nicht!‹ Aber zu meiner größten Ueberraschung war das Pförtchen nicht versperrt, er riß es auf und hatte im nächsten Augenblick ein Fahrrad ergriffen, das an der Parkmauer lehnte. Ich war dicht hinter ihm und hätte ihn wohl doch noch ergreifen können, wenn nicht . . .«
Der Bursche brach ab und starrte verlegen zu Boden.
»Nun – wenn nicht – was geschah denn, daß Sie nicht zugriffen?«
»Ein Blitz beleuchtete ihn, eben als er sich aufs Rad schwang. Da sah ich, wer es war. Und der konnte doch nie und nimmer einen Einbruch versucht haben . . . der war wahrscheinlich aus einem ganz andern Grunde gekommen . . .«
Valentin hatte leise gesprochen und dabei den Kopf gesenkt.
Dr. Wasmut, der seine Ungeduld kaum mehr zügeln konnte, fuhr ihn barsch an: »Aber zum Kuckuck, wer war es denn? Heraus mit der Sprache, sagen müssen Sie es ja doch endlich, eher geben wir Sie nicht frei!«
»Es war der Doktor Sturm, unseres jungen Herrn einstiger Hofmeister,« antwortete Valentin kaum vernehmbar, eingeschüchtert durch Wasmuts barschen Ton.
»Na also – dacht' ich's doch! Jetzt sagen Sie uns aber noch dies: Warum glauben Sie, daß Dr. Sturm aus einem ›andern Grunde‹ kam und welches könnte Ihrer Meinung nach dieser andere Grund sein? Nach Ihren Worten zu schließen, hegen Sie darüber bestimmte Vermutungen!«
Flammende Röte huschte einen Augenblick lang über des Burschen offenes Gesicht. Dann warf er den Kopf trotzig zurück und sagte kurz:
»Ich weiß gar nichts weiter. Was ich heute nacht gesehen habe, das habe ich gesagt, und mehr wird niemand erfahren, auch wenn man mich totschlägt.«
Alles Drängen war vergebens, man mußte sich mit Valentins bisheriger Aussage zufrieden geben.
Aber war es nicht genug? Die Herren flüsterten leise, und auf des Staatsanwalts Antlitz spiegelte sich unverkennbare Befriedigung.
Dann entließ man die Dienerschaft und verlangte die Frau des Hauses zu sprechen. Statt ihrer jedoch erschien Major Botstiber mit der Erklärung, Frau von Rittler habe infolge des Schreckens Nervenanfälle und könne nicht vernommen werden.
Außerdem wisse sie über die Tat nicht das Geringste. Wünsche man sonst irgend welche Auskünfte, so sei er selbst sehr gerne bereit, sie zu geben.
Der Major machte einen sehr guten Eindruck auf die Herren und gewann durch sein bescheidenes freimütiges und liebenswürdiges Wesen sofort alle Sympathien.
Als Freund des Ermordeten und langjähriger Hausgenosse war er in allen Stücken gut orientiert. Er wußte um die kürzlich erfolgte Werbung Dr. Sturms, die seinen Freund umsomehr in Harnisch gebracht, als man früher nicht die geringste Ahnung gehabt habe, daß der junge Mann sich mit so kühnen Absichten trage. Ob und wie weit ein Einverständnis zwischen Dr. Sturm und Fräulein Yolanthe bestehe, wisse er nicht. Nur dies, daß Frau von Rittler die Sache nie ernst genommen, sondern als ›Kinderei‹ betrachtet habe, von der man ›am klügsten gar nicht spreche‹.
»Ist es richtig,« fragte der Untersuchungsrichter, »daß die junge Dame an ihrem 24. Geburtstag nur dann ein Vermögen ausbezahlt bekommt, wenn sie vorher keine Ehe gegen ihres Vaters Willen einging?«
»Jawohl, so lautet die Testamentsbestimmung.«
»Wenn sie aber nach dessen Tode heiratet? Besteht auch dann irgend welche Beschränkung ihrer Wahlfreiheit?«
»Nein. Mein armer Freund dachte ja gar nicht an die Möglichkeit, so früh zu sterben. Er war überzeugt, seine Töchter selbst glücklich verheiraten zu können, und wollte durch jene Bestimmung hauptsächlich Mitgiftjäger von vornherein abschrecken.«
»Wissen Sie, wie hoch sich das Vermögen der jungen Damen beläuft?«
»Ich glaube auf 400 000 Kronen für jede derselben. Herrn von Rittlers erste Frau war sehr reich.«
»Konnte Dr. Sturm um jene Bestimmung wissen? Und auch, daß Herrn von Rittlers Tod dessen Töchtern freie Wahl ließ zu heiraten, wen sie wollen?«
»Dies entzieht sich meiner Beurteilung. Möglich wäre es ja, daß er Erkundigungen einzog oder einmal davon sprechen hörte. Darf ich übrigens fragen, wie die Herren auf diese Angelegenheit kommen?«
Dr. Wasmut sah ernst in das Antlitz des Fragers.
»Ehe ich darauf antworte, muß ich um strengste Diskretion bitten!«
»Selbstverständlich! Ich hoffe das Wort eines alten Soldaten wird Ihnen genügen?«
»Gewiß. Nun denn: wir haben alle Ursache anzunehmen, daß Dr. Sturm der Mordtat nicht fern steht. Er wurde um die kritische Zeit unter Herrn von Rittlers Fenster gesehen.«
»Nicht möglich!« Der Major prallte erschrocken zurück und wurde erdfahl. Dann rief er lebhaft: »Aber das muß ein Irrtum sein! Sturm?! Nein – es ist undenkbar . . . Sie müssen sich irren!«
»Wir wollen es im Interesse des jungen Mannes hoffen. Es wird alles darauf ankommen, ob und wie er seine Anwesenheit hier heute nacht wird motivieren können. Aus diesem Grunde, Herr Major, muß ich Sie nun auch bitten, uns Fräulein Yolanthe hieher zu schicken. Ich hätte der jungen Dame ja gerne das Peinliche einer solchen Einvernahme erspart, aber wie die Dinge liegen, ist es leider unmöglich.«
Der Major, der immer noch sehr erschüttert aussah, verbeugte sich.
»Yolanthe wird sogleich erscheinen.«
Im Hinausgehen murmelte er mehrmals mitleidig: »Armes Kind! Arme, arme Kleine!«