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Der Detektiv kannte nun Frau Gottschalks Geheimnis, die Ursache des Kummers. Aber er mußte noch mehr wissen, noch vieles in Erfahrung bringen . . .
Unzählige Fragen tauchten auf. Sobald sich Frau Gottschalk etwas beruhigt hatte, legte er sie ihr zur Beantwortung vor.
»Es wurde also im Verlauf der Zeit nicht anders? Ihr Gatte verurteilte Ulrichs Handlungsweise nach wie vor mit der gleichen Härte?«
»Ja. Er konnte es ihm nie verzeihen, daß er deswegen seine angesehene Stellung und das reizvolle Leben in der Hauptstadt aufgeben und sich in die ›Einöde‹, wie er sagte, zurückziehen mußte.«
»Aber es war doch schließlich sein eigener Sohn! Hatte Ulrich nicht genug für einen von der väterlichen Familie ererbten Charakterfehler gebüßt? Konnte Ihr Gatte dem Erstgeborenen nicht zu einer anderen Zukunft verhelfen, die ihn nicht so gänzlich von Heim und Familie abschnitt?«
»Gerade weil es der Erstgeborene war, den mein Mann voller Stolz geliebt und auf den er so viele Hoffnungen gesetzt hatte, konnte er ihm nie verzeihen. Er dachte nur noch im Groll an ihn. Wenn ich in späteren Jahren zaghaft von Nachforschungen zu sprechen begann, die man nun endlich anstellen sollte, dann fuhr er mir erregt dazwischen: »Laß dir genügen an Vera und Ronny – das sind unsere Kinder, und das dritte ist tot!«
»Ich begreife, weshalb Sie alleine nicht wagen durften, Nachforschungen anzustellen. – Und Ronny und Vera – wissen sie gar nichts darüber?«
»Nein! Sie waren ja damals noch klein: Ronny kaum sechs, und Vera zwei Jahre alt. Es wurde nie wieder von ihrem Bruder gesprochen, und so vergaßen sie, wer der Junge gewesen war, den sie einmal daheim gesehen hatten. Wir übersiedelten dann nach Tannroda, das bis dahin verpachtet gewesen war, und nahmen von den Angestellten nur Paul mit, auf dessen Schweigen wir uns verlassen konnten.«
»Und Ulrich ging wirklich nach Amerika?«
»Ja, nach Südamerika. Der Anwalt meines Mannes, der damit beauftragt war, ihm eine größere Geldsumme auszuhändigen, teilte uns mit, daß dies geschehen sei, und daß er Ulrich eine Schiffskarte nach Montevideo besorgt habe.«
»Und reiste er tatsächlich dorthin?«
»Das weiß ich nicht.«
»Hat Ihr Anwalt keine Nachricht darüber erhalten?«
»Ich glaube kaum. Es war ihm ja verboten, Nachricht zu geben.«
»So wissen Sie nicht einmal, ob er lebt?«
»Nein, nicht einmal das. Ich habe in den letzten Jahren wiederholt Auseinandersetzungen mit Onkel Gottfried gehabt, weil ich Nachforschungen anstellen lassen wollte, und er sich stets widersetzte. Er sagte, es sei gegen den Willen meines verstorbenen Mannes. Vielleicht, wenn ich es über mich gebracht hätte, nach Wien zu fahren, – aber davor schreckte ich zu sehr zurück. Und Onkel Gottfried . . .« Sie machte eine müde Geste mit der Rechten.
Hempel erhob sich und ging auf und ab. Nach einem Weilchen fragte er:
»Und der Revers, den Ulrich damals unterschreiben mußte? Ist er noch vorhanden?«
»Natürlich. Mein Mann und Gottfried Kluge legten großes Gewicht darauf, daß dieses Dokument gut verwahrt würde. Es sichert ja Rolands Erbrecht gegen etwaige Ansprüche von Seiten Ulrichs oder seiner Nachkommen. Onkel Gottfried nahm ihn damals sogleich an sich und bewahrte ihn im Archiv auf, wo unsere wichtigsten Papiere liegen.«
»Und da ist er noch?«
»Gewiß.«
»Kann ich ihn sehen?«
»Gern – wenn Ihnen das etwas nützt. Wir können gleich hinübergehen, wenn Sie wollen.«
*
Frau Gottschalk trat im Archiv vor den eisernen Eckschrank und öffnete ihn. Gemeinsam blickten sie hinein.
»Es ist alles in feste Aktenmappen eingeordnet. Auf jeder Mappe steht die Jahreszahl – halt, hier . . . nein . . .«
Sie wandten sich dem Tisch zu. Dort lag die Mappe. Frau Gottschalk hob sie auf und sagte:
»Merkwürdig, daß ich nicht gleich daran dachte! An dieser Mappe hatte Onkel Gottfried ja am Tage seines Todes gearbeitet, denn als ich am Nachmittag hierherkam, um ihn etwas zu fragen, sah ich die Papiere dieser Mappe über den ganzen Tisch verstreut.«
Während sie es sagte, blätterte sie die in der Mappe liegenden Akten durch.
Hempel beobachtete sie aufmerksam. Es war ihm fast zur Gewißheit geworden, daß sie vergeblich suchen würde.
Frau Leonie blickte auf.
»Warum stehen Sie denn so schweigend da?« Sie blätterte in den Papieren weiter.
Nun kam wieder Leben in Hempels Gestalt. Obwohl er überzeugt war, daß alles Suchen vergeblich sei, machte er sich an eine sachliche Ordnung der Dokumente. Er sichtete sie und legte sie in die Mappe zurück, zu der sie der Jahreszahl nach gehörten. Als kein einziger Brief, kein Aktenstück mehr auf dem Schreibtisch lag, legte er sie wieder auf den Tisch und band sie zu.
Frau Leonie sah ihn ernst an.
»Er ist nicht da! Was sagen Sie dazu?«
Mit gemachter Gleichgültigkeit erklärt er:
»Dann wird er wohl in einer andern Mappe sein. Wir werden die Mappen im Eckschrank durchsuchen müssen.«
Und schon hatte er einen Stoß Aktenmappen herbeigeschleppt und auf den Tisch gelegt. Der Reihe nach durchblätterten sie die Papiere.
»Es ist doch unmöglich, daß der Revers in einer andern Mappe liegt«, stieß sie nervös hervor. »Onkel Gottfried war die Ordnung in Person. Und außerdem sah ich das Dokument ja noch mit eigenen Augen . . .«
»Wann?« fragte Hermann Hempel.
»Am Nachmittag von Onkel Gottfrieds Tod – ich sagte es doch schon«.
Hempel wagte es noch nicht, ihr seinen Verdacht mitzuteilen. Als sie auch die letzten Mappen geprüft hatten, erhob sich Frau Gottschalk.
Verstört sah sie Hempel zu, der eine Mappe nach der andern im Eckschrank einordnete. Er wußte noch nicht, was er sagen sollte. Durfte er aussprechen, was er dachte?
Nur ein Mensch konnte ein Interesse an dem Dokument haben. Und dieser war in Südamerika. Das ›silberne Auto‹, das den rätselhaften Mann aufnahm, kurz nachdem ein Mord geschehen war, stammte von dort . . .
Hatte es den Mörder nach Tannroda gebracht?
Der alte Mann, der hier an diesem Tisch ermordet wurde, war ein unerbittlicher Gegner des ältesten Sohnes gewesen. Sein Einfluß hatte dazu beigetragen, daß er nicht mehr zurückkehren durfte . . .
Vielleicht hatte sich ein Haß ohnegleichen in Ulrich Gottschalk angesammelt? Ein Haß gegen den alten Mann, der hier ermordet worden war?
Der Vater war tot. Aber Gottfried Kluge lebte und sorgte dafür, daß der Wille des Verstorbenen durchgeführt wurde.
Wenn es gelänge, den Schein zu vernichten und sein Vorhandensein abzustreiten, so nützte das doch nichts. Der alte Mann war da.
Nur der Tod konnte den gefährlichen Zeugen unschädlich machen. Wenn Gottfried Kluge nicht mehr lebte, war alles leicht und die Bahn frei . . .
Die andern Zeugen – falls sie überhaupt noch am Leben waren – würden einfach eine Versöhnung annehmen. Eine Versöhnung zwischen Mutter und Sohn. Denn die Mutter würde ja nicht als Anklägerin gegen den eigenen Sohn auftreten. Oder doch?
Lag hier der strittige Punkt, der sich nicht ins Bild fügen wollte? Die Schüsse auf Frau Gottschalk?
War es denkbar, daß ein gutgearteter Mensch und das sollte Ulrich ja gewesen sein, nicht nur nach Aussage der Mutter, sondern auch nach dem Bericht Doktor Sorels –, daß solch ein Sohn im Laufe der Jahre so tief sinken konnte, um der eigenen Mutter nach dem Leben zu trachten?
Hempel schüttelte den Kopf.
Dann stiegen neue Einwände auf. Ulrich mochte drüben Furchtbares durchgemacht haben, Not und Elend. Vielleicht reifte in ihm der Entschluß, sich über alle Hindernisse hinwegzusetzen, um das rechtmäßige Erbe zurückzuerlangen.
Aber die Schüsse auf Frau Gottschalk blieben etwas Unbegreifliches.
Alles andere ließ sich erklären.
Gewiß, so mußte es sein. Nur der Mordversuch an der eigenen Mutter stimmte nicht in das Bild.
Hempel sah vorsichtig zu Frau Gottschalk hinüber. Sie saß zusammengesunken da und spielte mit den Schlüsseln in ihrer Hand. Im Dämmerlicht konnte er ihre Züge nicht erkennen.
Er wagte es nicht, sie durch eine Frage zu stören.
Beiden war es wie eine Erlösung, als der Gong zum Abendessen rief und das bedrückende Schweigen zerriß.