Ricarda Huch
Der letzte Sommer
Ricarda Huch

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Jessica an Tatjana

Kremskoje, 15. Mai

Tante, Du hast mich eingeladen, huldvolle Tante! Ich küsse dankbar Deine schöne Hand. Vielleicht komme ich auch einmal, wenn Du gerade gar nicht daran denkst. Aber Liebste, weißt Du denn gar nicht, daß ich Pflichten habe? Ich kann doch nicht so ohne weiteres fort. Wir haben doch einen Haushalt, und Du weißt, daß auch die besten Dienstleute von einem höheren Wesen inspiriert werden müssen. Ich bedaure die Köchin, die bei unsrer fünffachen Wunderlichkeit gar keinen Rückhalt hätte. Papa schwärmt für gefüllte Tomaten, aber nicht für Tomaten an der Sauce, was Mama besonders liebt, während Welja eine Leidenschaft für Tomaten in Salat hat, Katja ißt sie nur roh. Katja ißt keinen süß zubereiteten Reis, Papa keinen gepfefferten, ich keinen Milchreis. Niemand von uns ißt Kohl, wir wollen aber täglich grünes Gemüse; so könnte ich noch seitenlang fortfahren. Keine Köchin behält das alles, und lesen kann unsre nicht. Wenn ich fort wäre, müßte Mama an das alles denken – denn Katja fiele 31 das nicht ein –, und das täte mir so leid. Sie geht den ganzen Tag herum und ist glücklich, ihren Mann einmal für sich und in Sicherheit zu haben; man mag ihr keine dummen Alltäglichkeiten aufbürden gerade jetzt.

Ihr denkt, ich wäre nur eine unbedeutende kleine Person! Aber sie würden es schon bemerken, wenn nicht vor jedem die Tasse Tee oder Kaffee mit gerade so viel Zucker und Milch oder Zitrone stände, wie er es haben mag, oder wenn ihm die Orangenschnitten nicht so fein geschält und entkernt auf den Teller flögen, wie er es gewohnt ist, oder wenn die Bleistifte und Scheren und Schirme, die er verliert oder verlegt, nicht gerade im richtigen Augenblick von mir wiedergefunden würden! Ja, so bin ich! Komm Du nur einmal hierher und überzeuge Dich, wie unentbehrlich ich bin.

Wenn Du nun findest, daß ich belohnt und entschädigt werden muß, Tante Tatjana, so schicke mir doch lila Batist zu einer Bluse und dazu passenden Zwischensatz und Spitzen. Ich habe nichts, was leicht genug wäre bei der Hitze. Niemand hat so viel Geschmack wie Du, darum besorge es, bitte, selbst, Holdseligste.

Deine dankbare Jessika

 

Welja an Peter

Kremskoje, 17. Mai

Lieber Peter! Ich habe mich nicht getäuscht, Lju ist im Grunde ein Revolutionär, nur daß noch etwas 32 dabei ist, was seine Ansichten himmelhoch über die durchschnittlichen erhebt. Wie soll ich Dir das begreiflich machen, süßes Megatherium? Er denkt und steht zugleich über dem, was er denkt. Er hält das, was er denkt und wünscht, nicht für das Letzte, Absolute. Darum steht er auch abseits von den Parteien, weil er über sie hinaussieht. Er sagt, der alten Generation gegenüber haben die Neuen recht, obwohl sie, an sich betrachtet, fast noch weniger recht haben als die Alten. Natürlich verstehst Du das nicht, weil Dir die Selbstironie fehlt, sowohl der Begriff wie die Qualität. Ihr habt keine Idee, wie komisch es ist, wenn Ihr Euch über die Verkommenheit der alten Kultur erhitzt und nicht von ferne ahnt, was Kultur eigentlich bedeutet. Macht nichts, brülle nicht, alter Saurier, ich bin ganz Euer. Mein Vater ist köstlich; er findet, daß Lju ein sehr angenehmer, kluger und unterhaltender Mensch ist, weiter dringt sein Scharfblick nicht. Er kommt nicht auf die Idee, daß ein Mensch in honetten Kleidern, der höflich mit ihm umgeht und ihm nicht widerspricht, sich außerhalb seines Systems bewegen könnte. Mama ist viel weniger, wie soll ich es nennen, auf ihr Selbst beschränkt. Sie sieht wenigstens deutlich ein, daß sie längst nicht Ljus ganzes Wesen erfaßt hat; sie fühlt etwas Fremdes, wenn sie dessen auch nicht habhaft werden kann. Neulich sagte sie zu ihm, seinen Talenten und Kenntnissen und seiner Leistungsfähigkeit sei eigentlich das Amt, das er in unserm Hause bekleide, nicht angemessen, 33 ebensowenig das Entgelt, er hätte es gar nicht annehmen dürfen. Lju sagte, er hätte gehofft, als Privatsekretär freie Zeit übrig zu haben, die er gebrauche, um ein philosophisches Werk zu vollenden, das sei sein nächstes Arbeitsziel. Darüber wurde Mama ordentlich rot und meinte, er sei nun gewiß enttäuscht, da ja seine ganze Person bei uns dauernd in Anspruch genommen werde. Ich glaube, Lju hatte schon ganz vergessen, daß er hier ist, um Mörder und Bomben abzufangen, während Mama denkt, er riebe sich bei dieser schwer zu definierenden Tätigkeit auf. Sie fordert ihn seitdem öfters auf, sich in sein Zimmer zurückzuziehen und zu arbeiten, und ist geneigt, es sehr anspruchsvoll von Papa zu finden, wenn er ihm mal außer der Zeit einen Brief diktieren will; er könnte sich eigentlich eine Schreibmaschine anschaffen, meinte sie. Man kann nicht behaupten, daß Mama die Leute ausbeutet.

Wir sind augenblicklich damit beschäftigt, Papa ein Automobil kaufen zu lassen; er ist auch schon nahe daran. Wir sprechen bei Tisch immer von den letzten Automobilrennen und erörtern, ob es mit Benzin oder Elektrizität billiger ist. Lju meinte, ob wir nicht lieber warten und dann gleich ein lenkbares Luftfahrzeug anschaffen wollten. Von dem Gedanken war Papa ordentlich hingerissen, und wie er die Kosten davon berechnete, kam ihm das Auto hernach schon ganz alltäglich und kleinbürgerlich vor. Lju ist gar nicht musikalisch. Er sagt, Musik wäre eine primitive Kunst, wenigstens die man bis jetzt 34 kennte. Es könnte vielleicht auch anders sein, wovon Richard Wagner gewisse Andeutungen gäbe. Das Musikalische in unsrer Familie wäre primitiv. Ich glaube, daß das ganz richtig ist, besonders bei Papa. Er spielt schön in dem Sinne, wie der Wald rauscht oder der Wind saust, es ist etwas Dämonisches. Aber das Besessensein ist kein Kulturfaktor. Lju hat aber viel übrig für das Primitive. Er findet, Jessikas Stimme klänge so, wie wenn in der fahlen Dämmerung tief im Osten die Morgenröte aufginge. Jessikas Stimme finde ich auch fein, auf mich wirkt sie wie ein Harfenton; sonst habe ich mir nie viel aus Gesang gemacht, bei der Sinfonie fängt doch die Musik eigentlich erst an. Bilde Du Dir aber ja nicht ein, Du wärest ein Übermensch, weil Du unmusikalisch bist. Bei Dir ist es ein Vakuum.

Welja

 

Katja an Tatjana

Kremskoje, 17. Mai

Liebe Tante! Jessika hat vergessen, Dich zu bitten, daß Du uns die Partitur von ›Tristan und Isolde‹ besorgst oder besorgen läßt. Papa ist dagegen, er meint, man könnte Noten auch leihen! Gibt es das überhaupt? Ach, erkundige Dich nur gar nicht, Bücher aus Leihbibliotheken beziehen ist unfein, und Noten sind auch Bücher, also. Im Grunde ärgert sich Papa nur, daß wir uns mit Wagner beschäftigen wollen, er ist nun einmal einseitig. Nicht mal 35 kennenlernen will er ihn, sondern ist von vornherein entschlossen, ihn gräßlich zu finden. Ja, hätte Wagner vor ein paar hundert Jahren gelebt und Kirchenmusik gemacht wie Palestrina – ach so, das klingt dumm, aber ich habe es nun einmal geschrieben, und Du verstehst mich auch schon. Natürlich sind Beethovens Lieder an seine ferne Geliebte schön, die Papa immer singt, aber unsre Zeit und unser Leben drückt das doch nicht aus. Jedenfalls, Tante Tatjana, Du schickst uns ›Tristan und Isolde‹, nicht wahr? Bitte recht bald, Peter kann es ja besorgen.

Deine Katja

 

Lju an Konstantin

Kremskoje, 20. Mai

Lieber Konstantin! Dein Brief hat mich zu einer Unvorsichtigkeit veranlaßt; aber der wäre ein schlechter Feldherr, der nicht einen falschen Zug wieder einbringen oder sogar verwerten könnte. Das Gerücht, daß der Studentenprozeß sofort vorgenommen würde und der Gouverneur infolgedessen sofort nach Petersburg zurückginge, muß unbegründet sein; denn er selbst würde es doch am ersten wissen und gleichzeitig auch ich. Trotzdem erwog ich gestern die Möglichkeit und bereitete mich darauf vor, schnell und plötzlich handeln zu müssen. Ich sagte mir, bei Tage würde ich nicht leicht eine Gelegenheit finden, besonders keine für mich günstige. Nachts könnte ich ihn und seine Frau, denn sie schlafen 36 zusammen, mit Äther betäuben, ihn durch einen Stich ins Herz töten und mich ungesehen wieder zu Bett legen. Kein besonderes Verdachtsmoment würde auf mich hinweisen; bei Tage hingegen könnte sich kaum jemand an den Gouverneur herandrängen, ohne daß irgendwer, namentlich ohne daß ich es bemerkte. Am Tage können unzählige unvorhergesehene Störungen dazwischenkommen; nachts liegen bestimmte, übersichtliche Umstände vor. Die Ausführbarkeit des Planes hängt wesentlich von dem mehr oder weniger leisen Schlafe des Gouverneurs und seiner Frau ab; ich beschloß, mir sofort Gewißheit über die Frage zu verschaffen. Ich warf einen Mantel über und schlich mich nach ihrem Schlafzimmer, das durch ein Ankleidezimmer mit angrenzendem Bade- und Garderoberaum von meinem getrennt ist. Kaum hatte ich den Fuß über die Schwelle gesetzt, als ich Frau von Rasimkara auf mich zustürzen sah. Ich will Dir gestehen, daß ich in diesem Augenblick fast die Besinnung verloren hätte: die Frau so merkwürdig, so schön, so anders als am Tage vor mir zu sehen, es raubte mir den Atem. In ihrem Gesicht stand zugleich der Ausdruck des Entsetzens und der unbedenklichsten Entschlossenheit, der sofort, da sie mich erkannte, dem Gefühl der Erlösung, dem Erstaunen und, ich möchte sagen, dem Gefühl für das Komische der Lage Platz machte. Ja, für die Dauer eines Augenblicks dachte und empfand ich nichts, als wie hinreißend sie war; sie zog mich rasch in das Ankleidezimmer zurück und sagte flüsternd, 37 ich hätte sie sehr erschreckt, sie hätte mich für einen Mörder gehalten, was geschehen wäre? Ob mir etwas fehlte, ob ich nachtwandelte? Ich sagte, sie möchte ganz ruhig sein, geschehen wäre nichts, ich wäre aufgewacht, hätte geglaubt, ein Geräusch zu hören, und hätte mich überzeugen wollen, ob bei ihnen alles ruhig und in Ordnung wäre; ich hätte das schon öfters getan, weil ich es als zu der von mir übernommenen Pflicht gehörig betrachtete, bisher hätte sie es aber nicht bemerkt. Ich setzte noch hinzu, sie würde vielleicht gut tun, ihrem Manne nichts von dem Vorfall zu sagen. Natürlich nicht, sagte sie, sie wäre froh, daß er nicht erwacht wäre; dann drückte sie mir die Hand, nickte mir zu und lächelte und ging in ihr Schlafzimmer zurück.

Dies war ein sehr gefährlicher Augenblick, und ich habe erst gegen Morgen wieder einschlafen können. Als sie vor mir stand und mich anlächelte, dachte ich, daß sie hinreißend sei, und gleichzeitig, daß ich sie würde töten müssen. Ich dachte es mit solcher Lebhaftigkeit, daß mir war, es schreie aus meinen Augen heraus: ich bin dein Mörder, weil ich sein Mörder bin. Du wirst immer an seiner Seite sein, dein Leib wird sich vor seinen werfen, wenn die Stunde da ist, darum mußt du mit ihm fallen. Das eigentümliche Lächeln, mit dem sie mich ansah, schien zu sagen: ich verstehe dich, es ist mein Schicksal, ich nehme es auf mich.

In gewisser Weise habe ich bei meinem unglücklichen Versuch etwas gewonnen. Ich weiß nun, daß 38 der Gouverneur tief und fest schläft. Ihr habe ich die Meinung eingeflößt, daß ich zum Schutze ihres Mannes zuweilen ihr Schlafzimmer betrete. Sähe sie mich eintreten, mich über sie beugen, sie würde bis zum letzten Augenblick keinen Verdacht schöpfen, mich nur mit großen Augen erwartungsvoll ansehen. Anderseits habe ich erfahren, daß mir diese Art der Ausführung widerstrebt. Ich würde nur im äußersten Notfall dazu schreiten. Ein andrer Weg wird sich finden lassen, der mir mehr zusagt. Sei Du jedenfalls ohne Sorge: es mag sein, daß ich unüberlegt gehandelt habe, aber ich habe auch die etwaigen schlimmen Folgen im Keim erstickt.

Lju

 

Welja an Peter

Kremskoje, 20. Mai

Lieber Peter! Heute habe ich das Gefühl, in einem Irrenhaus zu sein. Mama hat diese Nacht irgend etwas gehört, was nachher gar nichts war; aber trotzdem sich alles als Einbildung entpuppt hat, sieht sie verweint aus und fährt bei jedem Geräusch zusammen. Papa hat Furoranfälle, die wir als Nervosität respektieren sollen. Vorhin klingelte er Mariuschka her, weil sie in der Garderobe das elektrische Licht habe brennen lassen. Er machte solchen Krakeel, daß ich es im Garten hörte, und stellte sich ungefähr so an, als ob dies elektrische Flämmchen das Verderben auf unsre ganze Familie herunterziehen müßte. Nachher stellte sich heraus, daß er selbst es 39 angezündet und auszumachen vergessen hatte. Katja erhob nun ihrerseits ein Geschrei: es wäre empörend von Papa, das ganze Haus schwämme in Tränen seinetwegen, die Dienstleute könnten unmöglich Respekt vor ihm haben, wenn er sich so benähme; und dazwischen rief sie mich an, ob ich es nicht auch fände. Ich sagte: »Vater, wie du willst.« Da wendete sich plötzlich ihre Entrüstung gegen mich, worüber wir dann glücklich alle ins Lachen kamen. Papa sagte, nun müßte er sich wohl bei Mariuschka entschuldigen, weil er ihr unrecht getan hätte, und begab sich zu diesem Zweck ins Leutezimmer. Wir wollten gern mitgehen, um der Szene beizuwohnen, aber Mama verbot es als unschicklich. Ich fand die Geschichte von vornherein nur komisch und verstehe nicht, wie Katja sich ärgern kann.

 

Katja an Peter

Natürlich ärgere ich mich, Welja kann eben nichts ernst nehmen, weil er zu faul ist. Es ist doch empörend, daß ein Mann wie Papa, der sich selbst gar nicht beherrschen kann, die Universität schließt, weil die Studenten ihre Rechte verteidigen. Es ist empörend, daß ein Mann solche Macht hat, die Tatsache allein verdammt unsre Zustände. Sieh doch zu, ob sich nicht Lehrer finden, uns und allen, die teilnehmen wollen, Privatkurse zu halten. Es könnte ja bei Dir zu Hause sein, das kann man doch nicht 40 verbieten. Ich finde, daß man sich so etwas nicht gefallen lassen soll. Mir ist es ganz gleichgültig, ob ich ein paar Jahre früher oder später fertig werde, aber es soll doch wenigstens von mir abhängen. Und wenn das nicht geht, möchte ich fort, ins Ausland. Es ist mir unleidlich, in Rußland leben zu müssen. Von Welja habe ich gar nichts; er ist zu dusselig, was ich auch sage und vorschlage, ihm ist alles gleich. Natürlich, wenn man muß, muß man, aber erst versucht man doch, ob es nicht anders geht.

Katja

 

Lusinja an Tatjana

24. Mai

Du Liebe! Die Kinder haben Dir geschrieben, daß wir wieder sehr nervös sind? Wenn Du mich nicht verraten willst, will ich Dir sagen, wovon es bei mir gekommen ist. Du weißt, ich bin ängstlich und schreckhaft, und Du weißt auch, daß ich leider sehr ernsten Anlaß dazu habe. Ich gebe zu, daß ich es auch ohne das wäre, das ändert aber nichts daran, daß der Anlaß da ist. Nun also, neulich nachts wache ich auf und sehe einen Mann auf der Schwelle unsres Schlafzimmers stehen. Natürlich denke ich, daß er Jegor töten will, und stürze blindlings auf ihn zu, um Jegor zu schützen – wie, darüber nachzudenken hatte ich keine Zeit. Es war nur ein Augenblick, dann erkannte ich Lju. Ja, es war Lju. Das plötzliche Aufhören der Angst und des Schreckens wirkte so befreiend auf mich, daß ich beinahe lachen mußte; 41 ich hätte ihn umarmen können. Aber nachher, als ich wieder im Bett lag, machten sich die Folgen der heftigen Nervenerregung geltend, ich mußte nun weinen und konnte gar nicht mehr aufhören. Es kam ein Unbehagen über mich, das viel peinlicher war als die Furcht, die ich vorher gehabt hatte; es war mir nämlich so unheimlich, daß Lju nachtwandelt. Anders kann ich mir das Vorgefallene doch nicht erklären, als daß er somnambul ist. Er selbst hat mir eine andre Erklärung gegeben; er betrachte es als zu seiner Pflicht gehörig, sich zuweilen zu überzeugen, ob bei uns alles in Ordnung sei, und er sei schon öfters in unserm Schlafzimmer gewesen, besonders wenn er ein Geräusch zu hören geglaubt hätte. Das klingt ganz plausibel, und Du wirst vielleicht sagen, es müßte etwas Beruhigendes für mich haben, zu wissen, daß er so treu über uns wacht. Vorher würde ich das auch gedacht haben; aber ich sehe nun, daß die Vorstellung von einer Tatsache ganz etwas anders ist als die Tatsache selbst. Es ist mir nichts Beruhigendes, sondern etwas im höchsten Grade Unheimliches, daß ein Mensch plötzlich nachts in unserm Zimmer stehen kann, sei es nun, weil er nachtwandelt, oder aus andern Gründen. Ich kann nicht mehr schlafen, weil ich immer denke, plötzlich steht er da und sieht mich aus diesen seltsamen grauen Augen an, die alle Körper zu durchdringen scheinen. Wenn ich eben eingeschlafen bin, schrecke ich entsetzt wieder auf. Der Einfall ist mir gekommen, er könnte durch das offene Fenster hereinsteigen; Du weißt 42 doch, daß Nachtwandler überall, selbst auf der Kante des Daches gehen können. Und das zu denken, ist mir unheimlich, ich kann nicht dagegen an. Ich möchte gern das Fenster schließen, aber Jegor will es nicht; er sagt, es wäre Unsinn, und ich müßte solche krankhafte Einbildungen unterdrücken. Schlangen könnten wohl an einer glatten Hausmauer hinaufkriechen, Nachtwandler nicht. Was meinst Du? Ich habe einmal gelesen, für Nachtwandler wäre das Gesetz der Schwere aufgehoben; Gott weiß es.

Unglücklicherweise habe ich Jegor, der nicht aufgewacht war und nichts gehört hatte, alles erzählt. Er ist gut, aber meine Furchtsamkeit macht ihn ein wenig ungeduldig, weil er sie aus sich selbst nicht nachempfinden kann. Und dann allerdings machen ihn auch die Verhältnisse nervös, die eine gewisse Vorsicht vernünftigerweise doch nötig machen, die er seinem Temperament nach so ungern beobachten möchte.

Die Kinder wissen von dem Vorfall nichts, denn ich möchte nicht, daß darüber bei Tisch gesprochen wird. Es scheint mir auch rücksichtsvoller gegen Lju zu sein, dem wir so viel verdanken; wenn sich das Gerücht verbreitete, er wäre Nachtwandler, würde es ihm bei den Leuten schaden. Und daß er nachts in unser Zimmer kommt, um uns zu bewachen, soll auch nicht bekanntwerden.

Katja, mein Goldkind, ist ein unverbesserlicher kleiner Teufel. Sie schilt bei jeder Gelegenheit über die Schließung der Universität, obwohl sie weiß, daß 43 jetzt die politischen und geschäftlichen Dinge nicht berührt werden sollen, weil es Jegor aufregt. Mich wundert, ob Dein Peter einmal mit ihr fertig wird, es spricht für seinen Charakter, daß er es sich zutraut. Von Dir, Liebste, hat er nichts; er schlägt ganz Deinem Manne nach, und der hat ja sogar Dir zu imponieren verstanden, nicht wahr? Ach, meine Kleine ist noch zu kindisch, als daß ihr irgend etwas auf der Welt imponieren könnte. Ich wollte, es gelänge ihm, ihr Herz zu gewinnen, wäre es nur, damit sie Dich zur Schwiegermutter bekäme. Aber auch Dein Sohn würde ihr guttun mit seiner Stämmigkeit und Wurzelfestigkeit. Jessika blüht, die Landluft tut ihr gut, sie ist unsre Hebe mit den Rosenwangen. Mich wird das kleine nächtliche Intermezzo auch nicht lange stören, hoffe ich. Sei gegrüßt und geküßt von Deiner

Lusinja

 

Jessika an Tatjana

Kremskoje, 25. Mai

Liebste Tante! Es ist sehr gut, daß ich hiergeblieben bin. Mama hat jetzt gerade eine Zeit, wo sie sich um nichts bekümmert als um ihren Jegor, unsern Vater. Und ein Geist muß doch über dem Haushalt schweben. In ein paar Tagen kommt unser Automobil, denke Dir, Tante. Mama schlug im letzten Augenblick vor, wir wollten lieber doch keins haben, weil es gefährlich wäre, und das gab der Sache gerade den letzten kleinen Stoß, den es noch brauchte, um Papa 44 zum Entschluß zu bringen. Denn nun sagte er, auf Mamas Ängstlichkeit dürfe keine Rücksicht genommen werden; sie müßte endlich einmal erzogen werden, sonst würde sie schließlich zu alt dazu. Einen Chauffeur will Papa nicht haben, das verteuerte die Geschichte, und er möchte keine fremden Leute ins Haus nehmen; unser Iwan soll sich dazu ausbilden. Welja sagte: »Väterchen fährt ja schon mit der Kutsche in den Graben, wohin wird er erst mit dem Automobil fallen!« Papa sagte, Welja sollte nicht übertreiben, Iwan wäre auch oft ganz nüchtern. Mama sagte mit einem Seufzer, hoffentlich wäre er es gerade dann, wenn wir ausfahren wollten. Ich schlug vor, wir wollten nur selten fahren, dann träfen wir gewiß gerade mit den oftmaligen Nüchternheiten Iwans zusammen. Das leuchtete Mama sehr ein, aber Katja schmetterte los, dazu hätte man kein Automobil, sie wolle alle Tage fahren und so weiter. Zum Glück sprang Lju ein und sagt', er wäre Dilettant im Automobilfahren und wollte sich noch mehr ausbilden, dann könnte er Iwan zuweilen ersetzen. Welja sagte nachher, als Papa nicht dabei war: »Papa wird doch lieber mit Iwan fahren, weil er denkt, daß die Betrunkenen in Gottes Hand sind.« Das ist doch ein Sprichwort, weißt Du.

Von unserm Iwan muß ich Dir noch etwas erzählen. Welja sagte gestern mittag, er hätte ihn gefragt, was er von Lju hielte, eigens weil er gemerkt hätte, daß er ihn nicht leiden möchte. Iwan hätte Ausflüchte gemacht und nicht mit der Sprache herausgewollt. 45 Welja hätte gesagt, Lju wäre doch freundlich, gerecht, hilfsbereit, gescheit, geschickt, was Iwan alles zugegeben hätte. Endlich hätte Iwan dann gesagt: »Er ist mir zu gebildet.« Darauf hätte Welja gesagt, Papa wäre doch auch gebildet; da hätte Iwan ganz listige Augen gemacht und den Kopf geschüttelt und gesagt: »Das stellt sich äußerlich wohl so vor, aber im Grunde ist er nur ein guter Kerl wie unsereiner.« Wir haben alle sehr gelacht, Lju am meisten, er war geradezu begeistert über die Bemerkung und sah allen erdenklichen Tiefsinn darin. Ob jemand ihn leiden mag oder nicht, danach fragt Lju gar nicht, das finde ich groß an ihm.

Liebe Tante, ich singe Tristan, Isolde, Brangäne, König Marke und noch ein paar Heldenkräfte. Kannst Du Dir mich vorstellen? Papa hat nur einen unwilligen Seitenblick auf die Partitur geworfen, und ich singe natürlich nur, wenn er außer Hörweite ist.

Deine Jessika

 

Lju an Konstantin

Kremskoje, 27. Mai

Lieber Konstantin! Du meinst, daß ich vielleicht mittels des Automobils zum Ziele kommen könnte. Ja, wenn es sich so einrichten ließe, daß der Gouverneur das Genick bräche und ich das Handgelenk! Weißt Du, wie man das macht? Durch den Kopf gegangen ist mir der Gedanke natürlich, sowie von dem Automobil die Rede war, und ich habe im 46 Hinblick darauf die Anschaffung befürwortet, habe mich auch anerboten, zuweilen den Chauffeur zu machen, was mit Beifall aufgenommen wurde. Es hat aber außer der erwähnten Schwierigkeit das gegen sich, daß ich mit dem Einüben viel Zeit verlieren müßte, wahrscheinlich ohne Erfolg und sicher ganz ohne Vergnügen für mich. Ich bin kein Sportsmann. Zeit und Aufmerksamkeit lasse ich mir solche Dinge nicht gern in hohem Maße kosten. Für die Luftschiffahrt würde ich mich etwa interessieren; aber das ist Arbeit und Tat, nicht Sport, und hat allerlei wissenschaftliche Haupt- und Nebenzwecke. Ein wenig werde ich mich aber doch mit dem Automobil befassen; es könnte auch der Fall eintreten, daß ich es zur schleunigen Flucht benutzen müßte.

Ein andrer Einfall ist mir gekommen, von dem ich fühle, daß er ergiebig sein wird. Ich möchte womöglich bei dem Akt selbst nicht persönlich beteiligt sein; es müßte also eine Maschine meine Rolle spielen. Nun schwebt mir vor, daß dies eine Schreibmaschine sein könnte. Das Nähere sage ich Dir, wenn der Plan etwas reifer in mir ist. Dann könnte es wohl sein, daß ich Deiner verständnisvollen Mithilfe bedürfte, damit die Maschine zweckentsprechend eingerichtet wird, ohne daß der Fabrikant etwas davon erfährt.

Frau von Rasimkara ist seit jener Nacht verändert, blaß und beinahe etwas scheu, beständig in der Nähe ihres Mannes. Es ließe sich so erklären, daß mein Benehmen ihre Ängstlichkeit verdoppelt hat, weil sie 47 den Schluß daraus ziehen mußte, ich hielte ihren Mann für sehr gefährdet. Vielleicht schläft sie seitdem nicht mehr gut. Vorher hatte meine Sicherheit und Sorglosigkeit beruhigend auf sie eingewirkt. Eine gewisse Zurückhaltung, die sie mir gegenüber weniger zeigt, als wider ihren Willen verrät, könnte darin begründet sein, daß die Erinnerung an unser nächtliches Begegnen, das so seltsam, so flüchtig und doch so eindrucksvoll war und das niemand außer uns weiß, sie verlegen macht oder wenigstens in irgendeiner Hinsicht bewegt. Verdacht gegen mich hat sie nicht, dessen bin ich sicher; sie behandelt mich im Gegenteil mit vermehrter Freundlichkeit und Rücksicht. Da sie jetzt fast immer um ihren Mann ist, bin ich mehr in die Gesellschaft der Kinder gedrängt, deren Vertrauter und teuerster Freund ich geworden bin.

Du darfst Dich in der nächsten Zeit nicht von Petersburg entfernen, da ich Deiner wegen der Schreibmaschine bedürfen könnte.

Lju

 

Welja an Peter

Kremskoje, 28. Mai

Lieber Peter! Heute hätte es beinahe eine Familienkatastrophe gegeben, bei der ich natürlich nicht aktiv war. Katja fing bei Tisch von den Universitätsgeschichten an; ihr könne es ja gleichgültig sein, denn sie braucht ihren Lebensunterhalt nicht zu verdienen, für die meisten wäre es aber verhängnisvoll, daß 48 sie ihr Studium auf unbestimmte Zeit unterbrechen müßten. Papa sagte, noch verhältnismäßig ruhig und beherrscht, allerdings wäre das ein Unglück für viele; um so härter wären diejenigen zu verurteilen, die durch ihr aufrührerisches Tun mutwillig das Unglück über ihre Kollegen gebracht hätten. Jetzt aber sauste Katja los! Wie ein künstlicher Wasserfall, den man plötzlich springen läßt! Das wäre die Art ungerechter Despoten, die Opfer noch zu verleumden und die eigne Schuld auf sie abzuladen! Demodow und die andern wären Märtyrer, hinrichten und nach Sibirien schicken könnte man sie, nicht aber ihnen den Ruhm rauben, daß sie tapfer und selbstlos gehandelt hätten. Übrigens hätten fast alle ebenso wie sie gedacht, Du zum Beispiel hättest auch die Absicht gehabt, den Kosaken Widerstand zu leisten, Du wärest nur durch einen Zufall auf dem Wege zur Universität aufgehalten, sonst könnte Papa Dich auch in die Bergwerke schicken. Mama gelang es endlich, sie zu unterbrechen, indem sie sagte, das würde Papa allerdings tun, wenn er es für seine Pflicht hielte, denn daran zweifle sie doch wohl nicht, daß Papa sich von seiner Pflicht leiten ließe, folglich dürfe sie auch seine Handlungen nicht kritisieren. Ich sagte: »Mit deinem Spatzengehirn im Kopfe würde er natürlich anders handeln«, worauf sie mir einen vernichtenden Blick zuwarf. Papa war ganz bleich, und seine Augenbrauen sahen wie ein zackiger schwarzer Blitz aus, furchtbar stimmungsvoll; wenn es sich nicht um Katja gehandelt hätte, 49 wäre ein Unwetter losgebrochen, das den ganzen Tisch und alle Stühle fortgeschwemmt hätte; so hielt er einigermaßen an sich. Und dann hebt Ljus Gegenwart eigentlich jede Katastrophe auf, seine überlegene Ruhe zerstreut gewissermaßen alle angesammelte Elektrizität, oder er hat so viel Kraft, daß er sie in sich sammeln und unschädlich machen kann. Er saß kühl wie Talleyrand dabei und bewies, daß jeder recht hätte, so daß alle schweigen und zufrieden sein mußten. Er sagte, selbstverständlich schließe die Maßregel der Universitätsschließung Ungerechtigkeiten ein, deshalb könnte sie aber vollständig gerecht sein innerhalb des Systems, zu dem sie gehöre. Er billige dies System nicht durchaus, er glaube, daß es sich überlebt habe, aber solange es herrsche, müsse man mit seinen Gesetzen arbeiten. Papa sah Lju interessiert und etwas erstaunt an und fragte, wie das zu verstehen sei, daß er das System nicht billige. Keine Regierung sei fehlerlos, weil die menschliche Natur überhaupt fehlerhaft sei. Seiner Meinung nach sei es besser, dahin zu wirken, daß jeder seine Pflicht tue, anstatt die Irrtümer des Systems aufzudecken. Lju sagte, ohne den Grundsatz, daß jeder einzelne seine Pflicht zu erfüllen habe, könne kein gesellschaftliches System sich halten. Er glaube, das herrschende System habe den Fehler, das Pflichtgefühl nicht auszubilden, weil es lauter Gesetze und Vorschriften an dessen Stelle gesetzt habe. Dies sei für eine primitive Kultur berechtigt, jetzt aber sei das Volk keine Herde mehr, sondern bestehe aus 50 Individuen. Kein Kunstverständiger werde die byzantinische Malerei mit ihren starren Formen nicht bewundern; man könne vielleicht sogar glauben und wünschen, daß man einmal auf irgendwelchen Umwegen dahin zurückkehre; aber verständigerweise könne man doch nicht die Entwicklung auf jene Stufe zurückdrehen wollen.

Er sprach so liebenswürdig, galant und beinahe herzlich gegen Papa, daß er ganz angeregt wurde und lebhaft auf alles einging; ich glaube, er hatte das Gefühl, vollkommen einer Meinung mit Lju zu sein.

Bei Tisch waren also die Fugen wieder eingerenkt; aber hernach ergoß sich Katjas zurückgehaltener Zorn gegen Lju. Er hätte sich verächtlich benommen, er hätte zu ihr halten müssen, denn er dächte ebenso wie sie. Was er gesagt hätte, möchte ganz schön sein, sie hätte es nicht verstanden, wolle es auch nicht verstehen, es wäre doch nur eine Brühe gewesen, um seine wahren Ansichten zu verkleistern. Von mir erwartete sie ja nichts andres, als daß ich falsch und feig wäre, aber ihn hätte sie für stolzer gehalten. Sie war zu niedlich, wie ein kleiner Vogel, der gereizt wird und sein Federschöpfchen sträubt, mit dem Schnabel um sich pickt und in den höchsten Tönen lospiepst. Lju fand sie offenbar auch niedlich, denn er ging sehr liebevoll auf ihren Kohl ein. Ich ging mitten darin fort, weil meine Dorfschönheit auf mich wartete.

Ich habe Papa eine Auswahl von den feinsten 51 Süßigkeiten mitgebracht, die der Türke hat. Er fand sie ausgezeichnet und sagte, er hätte sich gleich gedacht, daß ich einen bestimmten Grund hätte, immer ins Dorf zu radeln. Er aß übrigens mehr davon als ich und wurde nicht einmal übel; er ist eigentlich ein großartiger Mensch, ich bin dekadent gegen ihn. Mit Lju kann er sich allerdings nicht vergleichen; er ist wie ein schöner Dolch mit kunstvollem Griff und einer mit Edelsteinen buntgeschmückten Scheide, wie sie zuweilen in Museen ausgestellt sind; Lju ist wie der schlichte Bogen des Apollo, der nie fehlende Pfeile entsendet. Schmucklos, schlank, elastisch, durch die vollendete Zweckmäßigkeit schön, ein Bild göttlicher Kraft, Treffsicherheit und Gewissenlosigkeit. Ach Gott, ich schreibe ja an ein silurisches Faultier und nicht an einen feinwitternden Griechen. Quäle Dich nicht mit der Durchdringung meiner poetischen Bilder und triumphiere nicht, wenn sie hinken sollten; ein Achilles, der hinkt, kommt immer noch eher an als ein Brontosaurus, der im Sande steckenbleibt.

Welja

 

Katja an Peter

Kremskoje, 30. Mai

Lieber Peter! Wir sind nicht verlobt, ich habe Dir sogar einmal gesagt, ich würde Dich niemals heiraten; aber ich weiß ja, daß Du noch daran denkst, darum will ich Dir etwas sagen. Ich habe jetzt den Mann kennengelernt, den ich heiraten werde, wenn 52 ich überhaupt heirate. Den einzigen, den ich lieben kann. Frage nicht, wer er ist, frage überhaupt nicht weiter. Ich hätte Dir ja nichts davon zu sagen brauchen, ich tue es nur, weil ich Dich gern habe und Dich als meinen Freund betrachte und weil Du mich seit unsrer Kindheit als Deine zukünftige Frau angesehen hast. Dafür kann ich freilich nichts. Wissen darf dies niemand außer Dir.

Katja

 

Lusinja an Tatjana

Kremskoje, 2. Juni

Meine liebe Tatjana! Auf unsern einzig schönen Sommer fällt von irgendwoher ein kleiner Schatten. Vielleicht eben weil er so schön ist, muß er das Abzeichen seiner Erdennatur tragen. Jetzt sorge ich mich besonders um Jessika; ich kann es mir nicht mehr verhehlen, daß sie den Lju liebt. Ohne daß sie es weiß, richtet sich ihr ganzes Wesen nach ihm: ich könnte sagen, sie ist eine Art Sonnenuhr, von der man immer ablesen kann, wo ihr Gestirn steht. Er hat auch etwas Sonnenhaftes; es ist, als ob eine lebenzeugende Kraft von ihm ausginge, in der freilich auch Leben verdorren kann. Auf Welja und Katja übt er einen heilsamen Einfluß aus; er regt sie zum Denken, zu gesteigerter geistiger Tätigkeit an; für meine kleine Jessika, fürchte ich, sind seine Strahlen zu heiß. Sie muß Wärme haben, darf aber nicht mitten im Feuer stehen. So erscheint es mir 53 wenigstens. Zuweilen kommt es mir so vor, als ob nicht nur in ihr ein Neigen zu ihm wäre, sondern als ob auch ihn ein leises Anziehen zu ihr hinzöge. Ob er sie liebt? Ich kann nicht umhin, mit ihr in meiner Seele aufzujubeln, wenn ich es zu bemerken glaube, denn eine Mutter fühlt jeden Schmerz und jedes Glück mit ihrem Kinde. Wäre es aber überhaupt wünschbar? Würde es ein Glück für sie sein? Ljus Ansichten und, was wichtiger ist, seine ganze Auffassung des Lebens weicht sehr von Jegors und meiner ab, das fühle ich. Auch den Kindern steht er nach Erziehung und Lebensgewohnheiten ferner, als sie selbst es ahnen. Vielleicht ist er uns gegenüber im Rechte; aber verbürgt das die Möglichkeit dauernden Zusammenlebens? Und was würde Jegor sagen? Er hat nichts gegen Lju, er ist frei von gewöhnlichen Vorurteilen; aber er möchte unsre Mädchen mit Männern verheiraten, deren Lebensführung ihm vertraut ist, mit denen wir alle zu einer Familie verwachsen können. Und dann, Liebste, daß er nachtwandelt! Das ist beinahe das Schrecklichste für mich. Ach Gott, es ist ja so töricht, aber manchmal wünsche ich, Lju wäre niemals zu uns gekommen, oder er verließe uns wieder.

 

Nachmittags

Lju ist doch ein unheimlicher Mensch! Er hat Augen, die im Herzen lesen. Ich hatte eben den Satz geschrieben, als er kam und mir sagte, er fühle sich sehr 54 wohl bei uns, er hätte auch das Gefühl, daß wir ihn gern hätten, aber er käme sich überflüssig vor und fände, daß es richtiger wäre, wenn er ginge; er möchte mit mir darüber sprechen. Er sprach so vertrauensvoll, so einfach, beinahe kindlich. Ich war ganz betroffen und sagte, meine Besorgnis um das Leben meines Mannes hätte sich allerdings allmählich gelegt; aber er wäre doch auch als Sekretär tätig, selbst schreiben könne mein Mann augenblicklich nicht – er leidet doch am Schreibkrampf –, und er würde sich nur ungern an einen andern Herrn gewöhnen, auch sicher keinen von seiner, Ljus, Bildung und seinen Kenntnissen finden. Er sagte, darüber hätte er schon nachgedacht, für meinen Mann würde gewiß das zweckmäßigste sein, wenn er sich an eine Schreibmaschine gewöhnte, dann wäre er von niemand abhängig, und er hätte doch so manche Korrespondenzen, die womöglich geheimbleiben sollten. Diesen Gedanken lobte ich sehr – ich finde ihn wirklich höchst vernünftig – und sagte, eine Schreibmaschine könnte sich ja Jegor anschaffen, es würde aber wohl eine gute Weile dauern, bis er damit umzugehen verstände, wenn er es überhaupt wollte, und auch sonst würde er dadurch doch nicht ganz ersetzt werden. Etwas andres wäre es natürlich, wenn er aus irgendeinem Grunde seinetwegen fortwollte. Darauf sagte er, wenn es im Leben auf Glücklichsein ankäme, würde er sein ganzes Streben darauf richten, immer bei uns bleiben zu können. Er hätte bei uns eine Art des Glückes kennengelernt, an 55 die er vorher nicht geglaubt hätte; er hätte unauslöschliche Eindrücke empfangen. Aber er hielte es für die Bestimmung des Menschen oder wenigstens für seine, tätig zu sein, zu wirken, an großen Zielen zu bauen. Er wäre wie ein Pferd, das, wenn es ihm noch so wohl vor seiner Krippe voll Hafer wäre, der Trompete folgen müßte, die zur Schlacht riefe; er glaubte in der Ferne den Ruf der Trompete gehört zu haben. Ich fragte: »Haben Sie etwas Bestimmtes vor? Wollen Sie uns sofort verlassen?« Nein, sagte er, so wäre es nicht gemeint. Er hätte nur von mir bestätigt hören wollen, daß er überflüssig hier wäre, und ich wäre freimütig genug, ihm das zuzugestehen. Er würde sich nun überlegen, wohin er gehen wollte. Inzwischen könnte mein Mann sich eine Schreibmaschine kommen lassen und versuchen, ob er Geschmack daran fände.

Ja, siehst Du, Tatjana, nun bin ich betrübt, daß es so gekommen ist. Meine kleine Jessika! Weißt Du, was ich glaube? Es ist Jessikas wegen, daß er fortwill. Daß sie ihn liebt, muß er bemerkt haben; entweder er erwidert das Gefühl nicht, oder er will im Bewußtsein seiner Armut und seiner unselbständigen Lage nicht um sie anhalten und hält es für seine Pflicht, sie zu meiden. Das ist edel gehandelt und besonders fein die Art und Weise, wie er es ausführt. Er hat nichts angedeutet, nichts erschwert, alles geebnet. Er ist mir nie so liebenswert erschienen, und ich empfinde Schmerz für Jessika, trotzdem ist mir leichter zumute, nun ich sehe, daß der Konflikt 56 – wenn einer vorhanden ist – sich lösen läßt. Was für ein Schreibebrief! Hast Du Geduld bis zu Ende gehabt?

Deine Schwägerin Lusinja 

 

Jessika an Tatjana

7. Juni

Geliebteste Tante! Du hast lange keine Nachricht von uns gehabt? Und ich habe das Gefühl, Dir erst gestern geschrieben zu haben, auf so leichten und schnellen Füßen laufen diese Sommertage. Und wenn man sogar noch ein Automobil davorspannt! Lju hat uns einmal spazierengefahren, aber nicht lange, weil er noch nicht sicher ist. Unser Iwan kann noch weniger als er, obwohl er täglich ein paar Stunden damit herumturnt. Papa möchte auch gern selbst lenken, Mama will es aber nicht, weil es die Nerven angreife, sie wüßte aufs bestimmteste, daß zwei Drittel aller Chauffeure durch Wahnsinn oder Selbstmord infolge von Nervenzerrüttung endeten. Papa versuchte zwar das Argument anzugreifen, aber wir schrien im Chore, er müßte sich für Staat und Familie erhalten, und einstweilen hat er nachgegeben. Er hat ja nun auch einen andern Sport, nämlich die Schreibmaschine.

Gestern abend nach dem Essen saßen wir in der Veranda. Es war so schön, wie es nirgends sonst als hier ist; über uns im Schwarz des Himmels schimmerten die feuchten Sterne und um uns her im Dunkel der Erde die bleichen Birken. Wir saßen still, 57 und jedes träumte seine eignen Träume, bis Mama Lju fragte, weil er doch alles wisse, sollte er sagen, was für Schlangen es in dieser Gegend gäbe. Er nannte augenblicklich eine Reihe lateinischer Namen und sagte, es wären alles Ottern und Vipern, harmlose, ungiftige Geschöpfe. Ich dachte bei mir, ob es diese Namen wohl überhaupt gäbe, aber Mama hielt alles für Evangelium und war sehr angenehm davon berührt. Papa hätte nämlich neulich gesagt, erzählte sie, an der glatten Mauer eines Hauses könnte niemand hinaufkriechen außer Schlangen, und seitdem könnte sie die Vorstellung nicht mehr loswerden, wie der feste, glatte, klebrige Schlangenleib sich am Hause heraufzöge, und sie könnte oft nachts nicht davor einschlafen. Welja sagte, er begriffe nicht, wie man sich vor Schlangen fürchten könnte, er fände sie schön, anmutig, schillernd, geheimnisvoll, gefährlich und würde sich in keine Frau verlieben können, die nicht etwas von einer Schlange hätte. Katja sagte: »Du Kalb!«, und Lju sagte, ich hätte etwas von einer Schlange, nämlich das lautlos Gleitende und Mystische. Dann erzählte er ein südrussisches Märchen von einer Schlange, die sehr grausig war. Ein Zaubrer liebte eine Königstochter, die in einen hohen Turm eingesperrt war. Um Mitternacht kroch er als Schlange am Turm hinauf durch das Fenster in ihr Gemach, dort nahm er wieder seine Menschengestalt an, weckte sie und blieb in Liebe bei ihr bis zum Morgen. Einmal aber schlief die Königstochter nicht und wartete auf ihn; da sah sie plötzlich mitten im 58 Fenster im weißen Mondschein den schwarzen Kopf einer Schlange, flach und dreieckig auf steilem Halse, die sie ansah. Darüber erschrak sie so sehr, daß sie ohne einen Laut ins Bett zurückfiel und starb. Gerade in diesem Augenblick klingelte es heftig an der Gartentür, wo ein alter, verrosteter Klingelzug ist, der fast nie gebraucht wird und deswegen in Vergessenheit geraten ist. Wir wunderten uns alle, daß Mama nicht auch umfiel und tot war. Papa stand auf, um an die Gartentür zu gehen und zu sehen, was es gäbe; Mama sprang auch auf und sah Lju flehend an, damit er zuerst dem Mörder die Stirn böte, wenn einer da auf Papa wartete; und weil das Aufstehen und die ersten Schritte bei Papa immer etwas mühsam sind und Lju sehr schnell laufen kann, kam er zuerst an und empfing den Paketboten, der eine Kiste trug. Er sagte, es würde eigentlich nichts mehr ausgetragen, aber der Postmeister hätte gesagt, die Kiste sei aus Petersburg und enthalte vielleicht etwas Wichtiges, und weil es der Herr Gouverneur sei, für den der Postmeister eine besondere Verehrung habe, hätte er sie ihm doch noch zustellen wollen. Na, der Bote bekam ein Trinkgeld, und in der Kiste war die Schreibmaschine. Lju packte sie gleich aus und fing an zu schreiben, Papa wollte auch, konnte aber nichts, wir probierten alle, konnten es aber ebensowenig, nur ich – ungelogen – ein bißchen, und dann sahen wir zu, wie Lju schrieb. Nach einer Weile probierte Papa noch einmal, und wie Lju sagte, er hätte Talent, war er ganz zufrieden. Mama war 59 geradezu selig und sagte, sie hätte sogar die Schlange vergessen, so hübsch wäre die Schreibmaschine. Welja sagte: »Was wollt ihr denn eigentlich mit der Scharteke?« Und Katja sagte, wenn man doch schon einmal die Finger gebrauchen müßte, könnte man geradesogut schreiben, sie sähe den Zweck davon nicht ein; sie wurde aber überstimmt.

Bist Du nun au fait, einzige Tante? Nun sage ich Dir nur noch, daß die Rosen zu blühen anfangen, die Zentifolien und die gelben Kletterrosen, die so merkwürdig riechen, und die wilden Rosen auch, und daß die Erdbeeren reifen, ferner, daß Papa in der umgänglichsten Stimmung ist und neulich sogar gefragt hat, ob denn diesen Sommer gar kein Besuch käme!

Deine Jessika

 

Lju an Konstantin

Kremskoje, 9. Juni

Lieber Konstantin! Ja, Du bist mein Freund, das empfinde ich. Du ehrst und schätzest dasjenige in mir, was wir für das Höhere halten, und kennst und liebst doch auch das andere, den Urstrom des Ahnenblutes, dessen unfaßbare Verzweigungen überall eingreifen und mich leiden machen. Daß ich leide, will ich Dir nicht verhehlen, auch hast Du es längst bemerkt. Vielleicht habe ich noch nie so gelitten, aber daß es überwunden werden wird, weiß ich auch. Ich habe alle diese Menschen vom ersten Augenblick an, da ich in ihre Mitte trat, zu beherrschen gesucht, 60 daraus folgt alles übrige; denn auch der Herrscher ist gebunden, nicht nur der Beherrschte. Was mir gelungen ist, ist ebenso verhängnisvoll für mich geworden wie das, woran ich scheiterte. Den Gouverneur kann ich vielleicht täuschen, aber ich habe keinen Einfluß auf ihn. Es kränkt ein wenig meine Eitelkeit, hauptsächlich beklage ich es aber wegen alles dessen, was daraus folgt. Der Mann übt einen Zauber aus, für den ich nicht unempfänglich bin, obwohl er von Kräften ausgeht, die ich nicht für die höchsten halte. Man sieht die Merkmale eines Geschlechtes an ihm, in welchem das Lebensfeuer stärker und schöner brannte als in den gemeinen Menschen. Er ist etwas in sich Vollendetes, wenn auch durchaus nicht vollendet überhaupt. Gerade seine Unzugänglichkeit gefällt mir; ich glaube, er ist im Kampfe des Lebens gewachsen, fester und härter geworden, aber er hat sich nicht erweitert, hat nichts Neues in sich aufgenommen. Das ist beschränkt, aber es verleiht eine gewisse Intensität. Verloren hat er auch nichts; er hat noch viel von der Torheit, von dem Eigensinn und der Innigkeit der Kindheit an sich, was der in der Regel nicht behält, der sich viel Neues und Fremdes aneignet. Sein Ich ist ganz, so saftreich und gesammelt und stolz, daß es einen schmerzt, daran zu tasten; und gerade weil es so ist, muß ich ihn zerstören. Einmal faßte ich die Hoffnung, ich könnte ihn gewinnen, könnte ihm andre Ansichten eröffnen. Ich schrieb Dir nichts davon, es lag mir allzusehr am Herzen, und ich ahnte schon, daß es vergebens sein 61 würde. Mein Gott, dieser Mann, diese heiße, blinde Sonne! Ich rolle wie ein Komet neben ihm her, und er ahnt nicht, daß der Augenblick, wo unsre Bahnen zusammenstoßen, ihn in Stücke reißen wird! Von den Kindern laß mich schweigen. Besser, viel besser wäre es gewesen, ich hätte auf den Vater so gewirkt wie auf sie. Das klingt albern; es ist ja natürlich, daß die Jugend leichter zu beeinflussen und zu beherrschen ist als das Alter; aber hätte nicht einmal, durch Zufall oder Wunder, das Umgekehrte stattfinden können? Da es nicht der Fall ist, versuche ich daran zu denken, daß ich keine Wahl habe, daß ich tun muß, was ich für notwendig erkannt habe, daß die Heilkraft der Jugend überschwenglich ist, daß es diesen spielenden Kindern vielleicht nützlich ist, vom Schicksal aufgerüttelt zu werden. Ach Gott, was heißt nützlich? Sie waren so wundervoll in ihrem Traumleben! Freilich, einmal muß es doch enden. Kinder mit Runzeln und gebeugten Rücken sind Zerrbilder, und beizeiten muß die Umbildung beginnen. Vielleicht kann sogar ich selbst ihnen bei der Veränderung hilfreich zur Seite stehen. Was ein Mensch wollen kann, ist möglich; nur zum Wollen gehört Kühnheit.

So werde ich Dir nun nicht wieder schreiben. Auch rechne ich darauf, daß Du mich nicht mißverstehst. Zweifel ist nicht in mir. Antworte mir auch nicht auf alles dies! Trösten kann mich niemand, und daß Du mich verstehst, weiß ich.

Lju62

 

Welja an Peter

Kremskoje, 11. Juni

Lieber Peter! Sei morgen oder übermorgen zu Hause, wenn Du einen historischen Augenblick erleben willst. Unser treuer Iwan ist mit dem Automobil in den Graben gefallen, was von ihm auf die Tücke des Vehikels, von uns auf die des Branntweins geschoben wird. Da er nebst Automobil mehrere Stunden im Graben gelegen hat, war er ziemlich nüchtern, als er heimkam, und die Streitfrage ist nicht mehr zu entscheiden. Das Automobil hat mehr gelitten als er, es sieht aus wie eine Schildkröte ohne Schale; laufen kann es aber. Mama war ganz zufrieden mit dem Ergebnis und fand, wir möchten es so lassen, bis Iwan ganz erprobt wäre, damit er uns nicht auch noch in den Graben führe. Papa hingegen sagte, in diesem Zustande könnte er das Automobil nicht auf die Straße lassen, auch wenn niemand als Iwan darinsäße, das würde seinem Ansehen schaden, es wäre geradeso, als ob seine Töchter mit durchlöcherten Kleidern ausgingen. Hierdurch überzeugt, beschlossen wir, daß das Automobil repariert werden müsse, und Lju hat sich erboten, das Wrack in die Stadt zu fahren und das Nötige zu veranlassen. Jessika will gern mitfahren, aber Lju will es nicht, weil es bei dem schadhaften Zustande nicht sicher wäre. Seitdem geht sie mit einem wehleidigen Gesicht herum; denn sie ist natürlich in Lju verliebt. ›Natürlich‹ sage ich, weil in einen Mann wie Lju, dessen Willenskraft jedes Atom seiner Materie 63 durchdringt, sich alle verlieben müssen. Mir ist eigentlich alles einerlei; sogar wenn ich verliebt bin, ist es mir im allertiefsten Grunde einerlei, ob ich sie habe oder nicht.

Auch das hat einen gewissen Reiz für manche Frauen; aber das wahrhaft Unwiderstehliche ist der Wille. Niemand kann dagegen an, es ist die Schwerkraft der Seele. Lju hat in bezug auf alles einen bestimmten Willen. Ich hielte eine solche Lebensweise nicht ein Jahr lang aus, und er treibt es schon achtundzwanzig Jahre so und wird wahrscheinlich sehr alt werden. Ob er sich für einzelne Frauen auf die Dauer interessieren kann, bezweifle ich; die Vielweiberei müßte für ihn eingeführt werden. Er würde sich nicht viel um sie bekümmern, aber an einem Satz, den er mal im Vorbeigehen fallen ließe, würden sie wochenlang saugen und damit zufrieden sein. Also er wird Deiner Mutter einen Besuch machen, sieh Dir ihn an!

Welja

 


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