Ricarda Huch
Die Verteidigung Roms
Ricarda Huch

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In der Nacht des 1. Juli berieten die Abgeordneten noch über die Verfassung der gestürzten Republik, über die sie das Volk wollten abstimmen lassen, bevor die Versammlung aufgelöst würde. Etwa zwei Stunden nach Mitternacht gingen sie heim, um kurze Zeit zu schlafen. Der folgende Tag zog rein herauf und wölbte sich blitzend wie ein edler Kristall über Rom. Während die Franzosen anfingen, den Janiculus hinunter über den Tiber in die Stadt einzuziehen, begaben sich die Abgeordneten auf das Kapitol, um dem Volke, das zahllos zusammengeströmt war, die vollendete Verfassung vorzulegen. Noch wehte vom Turme des Senatorenpalastes die Trikolore, wie auch die Deputierten Schärpen in den Farben Italiens trugen. Stürmisch begrüßte das Volk die bekannten Erscheinungen: das kühne Abenteurergesicht des Fürsten Bonaparte, die würdevolle Greisengestalt Armellinis, Mazzini, dessen Schmerz der Stolz des Augenblicks noch bändigte, Cernuschi mit vornehm angedeutetem Schwung der weißen Halsbinde und unbekümmertem 338 Lächeln auf dem beredten Munde. Sie traten alle ein wenig zurück, um Platz für Aurelio Saliceti zu machen, der die Verfassung vorlesen sollte; er gehörte, wenn er auch nicht geliebt wurde, unsympathisch schon im Aeußern mit der ungraziösen Finsternis seiner gedrückten Stirne, zu den Größen des Tages, denn der blinde Tatendrang seines Hasses, der sich bei jeder Gelegenheit geltend machte, empfahl ihn in den Zeiten der Ohnmacht. Wie in einer brennenden Kirche die Schwungkraft der wachsenden Flamme das Spiel der Glocke erregt und der erhabene Wohllaut des gestimmten Erzes lebendig durch das Krachen des stürzenden Hauses dringt, so begleitete die Verkündigung ihres Gesetzes den Untergang der Republik, deren äußerster Rand schon unter dem Hufschlag des siegreichen Feindesheeres erzitterte. Saliceti verlas die Verfassung von dem ersten Satze an, der lautete: »Die Souveränität ist nach ewigem Recht beim Volke. Das Volk des römischen Staates gibt sich die Verfassung einer demokratischen Republik,« bis zum letzten, der die beiläufige Verfügung enthielt, daß die jetzigen Angestellten sämtlich der Bestätigung bedürften, unter dem Beifall der lauschenden Menge. Als er geendet hatte, zogen sich die Abgeordneten langsam in den Senatorenpalast zurück; eben wurden in der Straße von Araceli, die zum Kapitole führt, die ersten französischen Dragoner sichtbar, die nunmehr den Platz besetzten.

Da die Besitzer der großen Paläste Rom schon bei Beginn der Revolution verlassen hatten, überwogen in der Stadt die Feinde des Papstes, und öde Straßen und verschlossene Häuser empfingen die Franzosen, die zu zweifeln anfingen, ob der Anschein eines festfrohen Einzuges sich würde wahren lassen. Hastig bewegten sie sich durch die Winkel der leeren Gassen, denn es erwachte in ihnen die Erinnerung an tragische Blutgeschicke, wie sie in Italien aus Schmach und 339 Rache leicht zusammenschießen, und während sie mit prahlerischem Witz die Armseligkeit der Ewigen Stadt verlachten, schielten sie mißtrauisch nach den geschlossenen Türen, ob sie sich nicht bewegten und der Dolch des Mörders durch die Spalte zuckte. Der Zufall wollte, daß Oudinot mit seinem Gefolge zum Platze der Minerva kam, als gerade Pietro Ripari, der Leibarzt Garibaldis, vorüberritt, dem es gefiel, sich gemächlich und breitspurig zu gebärden, als ob er, was in französischer Uniform sich ausbreitete, nicht oder nicht mehr als den Staub und Dunst der heißen Gasse sähe. Da er die rote Jacke trug und ein grimmiges Gesicht machte, kam er den französischen Offizieren ziemlich diabolisch vor, und sie glaubten Garibaldi selbst vor sich zu haben; sie empfanden einen häßlichen Schrecken, der ihnen für den Augenblick Herz und Hände steif machte, so daß sie wie von einem Blitz fest in die Erde gekeilt standen. Zwar wurden sie ihres Irrtumes bald inne, und weil sich auch nichts Unnatürliches begab, erbosten sie, und Oudinot gab unter Rasseln und Schnauben Befehl, daß die dreifarbigen Rosetten, die die Mauern des Gasthauses »zur Minerva« noch schmückten, augenblicklich abgerissen würden, was aber, da sich kein römischer Arbeiter dazu fand, die französischen Soldaten selbst besorgen mußten. Unterdessen ritt Ripari, ohne sich umzusehen, seiner Wege dem Tore von San Giovanni zu, um von Garibaldi Abschied zu nehmen, der dort mit seinen Truppen die Stadt verlassen wollte.

Auf dem Platze vor der Laterankirche standen die italienische Legion und die Reiter Masinas, welche Garibaldi begleiten wollten, ohne zu wissen, wohin er zielte; auch eine Abteilung römischer Nationalgarden war anwesend, aber nur, um dem scheidenden General ihre Verehrung zu bezeugen. Sacchi und Hofstetter hielten unter dem Obelisken und besprachen das 340 Ausbleiben der Bersaglieri, deren Offiziere auf Befragen stets solche Antworten gegeben hatten, die auf ihren Anschluß rechnen lassen konnten; anstatt dessen kamen nur vereinzelte Soldaten, die, da das Regiment aufgelöst und ihres Bleibens nicht in Rom war, nichts Besseres wußten, als das ungewisse Schicksal Garibaldis zu teilen. Als Garibaldi, begleitet von Anita und Ugo Bassi, auf den Platz kam und das Ausbleiben der Erwarteten erfuhr, sagte er nur: »Sie wären gekommen, wenn Manara lebte!« und fügte hinzu, eigentlich sei ein kleines Heer für sie vorteilhaft, da die schnellen und oft wechselnden Bewegungen, die sie in ihrer Lage, zwischen aufmerksamen Verfolgern durchschlüpfend, machen müßten, nicht leicht von größeren Massen ausgeführt werden könnten. Trotz seiner ruhigen Haltung jedoch war ihm anzumerken, daß er traurig war; nur aus Anitas Augen lächelte, obwohl ihre Miene ernst war, das Glücksbewußtsein, vermutlich lange Zeit hindurch unausgesetzt an der Seite des geliebten Mannes bleiben zu können. Er fragte mehrmals nach Medici, der ihm, seit er ihn kannte, in Amerika und Europa, ohne Besinnen gefolgt war und an dessen Kommen er auch jetzt nicht gezweifelt hatte; niemand hatte ihn gesehen oder wußte etwas von ihm. Verschiedene kamen, um Abschied zu nehmen, darunter Pietro Ripari, der sich nicht darüber trösten konnte, daß Garibaldi einen Feldzug ohne ihn machte, aber seine Verwundeten nicht verlassen zu dürfen glaubte, worin Garibaldi ihn bestärkte. Er erzählte, daß bereits wieder wie feuchtlederne Schwämme die Pfaffen aufschössen und hungrig und böse nach allen Seiten schnüffelten; daß die Kranken aus Angst vor der Rache des Papstes und aus Gram über das Ende Roms kränker würden und stürben; daß Rom bald wieder sein würde, was es vordem gewesen sei: dreihundert Kirchen in einem Moraste, und daß er der 341 gottverlassenen Stadt den Rücken kehren würde, sobald die Verwundeten des republikanischen Heeres alle entweder heil oder tot sein würden. Garibaldi möge nicht vergessen, ihn zu rufen, wenn er ihn für neue Kriegswunden brauche. »Das wird ein glücklicherer Tag als dieser sein,« sagte Garibaldi, indem er ihn zum Abschied umarmte.

Zwischen sechs und sieben Uhr, als die Hitze gelinder zu werden begann, ersuchte der General einige Offiziere, den Abzug zu besorgen, und ritt mit Anita, Ugo Bassi und einer Abteilung Reiter voran, dem Tore San Giovanni zu. Dort erwarteten ihn Angelo Brunetti und seine beiden Söhne, die muntere kleine Schecken ritten; aber noch standen alle neben Lucrezia Brunetti, die bis zum Tore mitgegangen war. Da ihr Mann nicht erwarten konnte, von der päpstlichen Rache verschont zu bleiben, hatte sie nicht versucht, ihn zurückzuhalten, als er den Wunsch aussprach, Garibaldi zu begleiten, obwohl sie selbst nicht daran denken konnte, mit den kleinen Mädchen sich anzuschließen; vielleicht auch hätte sie es nicht vermocht, selbst wenn es möglich gewesen wäre, ihre Vaterstadt zu verlassen. Als sie Garibaldi kommen sahen, sprangen Brunetti und Lorenzo, der, seit die kleine Spronella am letzten Tage der Verteidigung Roms unter den Mauern gefallen war, das Leben mit trauriger Gleichgültigkeit vorbeigehen ließ, auf ihre Pferde; allein Luigi, der jüngste, warf sich noch einmal in die Arme seiner Mutter, die ihn leidenschaftlich empfing und, indem sie sich über ihn beugte, mit sich auf die Knie zog. Wie er als kleines Kind getan haben mochte, kletterte er an ihr hinauf und umschlang ihren Hals fest; in dieser Stellung sahen sie sich stumm in die tränenüberfließenden Augen. Alle sahen mitleidig auf die schöne Frau und den blonden Jungen, Garibaldi stieg ab, um ihr die Hand zu reichen und ihr ein warmes 342 Wort zu sagen. Sie ließ, als er vor ihr stand, das Kind los und nahm seine Freundlichkeit mit stiller Würde an, doch glitt kein Lächeln über ihr majestätisches Gesicht. Mittlerweile hatte sich Anita dem Kleinen genähert und mit mütterlicher Herzlichkeit zu ihm gesprochen, worauf sich alle wieder aufs Pferd setzten und der Zug nach diesem kurzen Zwischenfalle sich in Bewegung setzte. Weder die Söhne noch Brunetti warfen einen Blick zurück, Angelo und Luigi gaben sich Mühe, keinen Kummer im Gesichte merken zu lassen. Als Hofstetter, der die Nachhut besorgte, eine gute Stunde später als Allerletzter durch das Tor reiten wollte, sah er noch die Frau stehen, der er früher in ihrer daseinsseligen Laune begegnet war, und die er darum nicht gleich erkannte. Er beobachtete sie eine Weile, wie sie mit herabhängenden Armen, ohne sich zu rühren, den abmarschierenden Soldaten nachblickte, die der aufgewühlte Staub und die Dämmerung schon verschlungen hatten, und ihre erstarrte Schönheit erregte seine Bewunderung und seine Teilnahme. Aber wie er sich einige Male zurückwendete und sie immer noch unverändert stehen sah, fiel eine fremde Bangigkeit auf sein Herz; denn es war, als stände dort die Göttin Rom und beweinte den Untergang ihrer ausziehenden Söhne und Helden.

Der Deutsche hatte sich bisher nicht die Mühe genommen, darüber nachzudenken, welches Garibaldis Absichten und Aussichten sein könnten; jetzt fielen ihm die Gespräche verschiedener Offiziere ein, die nicht mitgegangen waren, wie sie ihre Zweifel andeuteten, ob der General etwas ausrichten, ja, ob er überhaupt nur entkommen könnte, und daß sie sich ausgeschlossen hatten, schien ihm auf einmal eine schreckensvolle Bedeutung zu haben. Es hatte bis jetzt den Anschein, als ob das Unternehmen gegen Neapel gerichtet wäre, doch bei Garibaldis Art, zu marschieren, ließ sich 343 daraus noch kein Schluß ziehen; wer konnte wissen, wohin es ging? Das Bild der Heimat kam ihm in den Sinn; die grün und gelb gemusterten Hügel, die weiten Täler und wilden Höhen der Rauhen Alb, dazwischen die guten kleinen Städte, altertümlich und traulich, mit spitzen Türmen und einem träumerischen Himmel darüber. Das indessen lag zu weit fort, als daß er sich danach hätte sehnen können; es erschien ihm wie etwa ein bleicher Stern in müden Abendwolken, der ein namenloses und unerklärliches Heimweh erregt. Die heroischen Abenteuer der letzten Vergangenheit, die herrlichen Freundesgestalten, die aufgetaucht und schnell entschwunden waren, schienen sich von seiner Seele losgerissen zu haben, und er starrte sie traurig an, während er neben den langen Reihen der gleichmäßig trabenden Soldaten herritt. Der Vollmond ging auf und füllte den Raum mit milchigem Lichte; die grenzenlose Steppe verbrannten Grases darunter glich einem hohen Meere, aus dem die heidnischen Grabmäler und hier und da eine Pinie wie dunkle Klippen aufragten; es kam ihm öde und grauenvoll gigantisch vor. In der Beklemmung seiner Brust zog es ihn zu Garibaldi; er gab seinem Pferde die Sporen und jagte vorwärts, bis er den Schimmel des Generals erkannt hatte, dessen begrüßendes Lächeln sogleich den Druck von seinem Gemüte löste.

Die ganze Nacht durch wurde eilig geritten und kein Wort gesprochen außer den notwendigsten Befehlen, die geflüstert die Reihen entlang liefen. Am Morgen war das Gebirge erreicht, und es wurde in Tivoli gerastet. Während die Bewohner der Ortschaft Wein, Wasser und Brot brachten und die Portionen unter die Soldaten verteilt wurden, ritt Garibaldi auf eine Höhe, um die Gegend zu überblicken, wie er zu tun pflegte, von Ugo Bassi, Angelo Brunetti und seiner Frau begleitet. Von den schäumenden Stürzen 344 des silbernen Anio, von dem grauen Schein heiliger Trümmer durch Olivenhaine und vom entfesselten Ueberfluß grüner Gärten weg blickten alle nach Westen, wo Rom war. Wie einer, der sterben will und sich die Schärfe des Dolches einmal, zweimal, dreimal fest ins Herz bohrt, gruben Brunettis heiße Augen das geliebte Bild in sein Gedächtnis; indessen als Garibaldi sich seiner Umgebung wieder zuwandte, lag eine siegreiche Ruhe auf seiner Stirn, als hätte er einen Schwur getan und ein Zeugnis erhalten, daß, was er geschworen, in den Willen der Gottheit eingesunken wäre.

*

Am Tage nach seinem Einzuge verkündete Oudinot, daß alle Fremden ohne Verzug Rom verlassen müßten, nämlich nicht nur die Polen, Deutsche oder andre Ausländer, sondern die Lombarden, Genuesen, Neapolitaner und Sizilianer, die im Dienste der Republik gestanden hatten, bis auf die Aerzte, mit denen der französische Sanitätskörper ein Abkommen traf, wonach sie, solange sie noch Kranke in den Spitälern hätten, bleiben durften. Dessenungeachtet wurde Pietro Ripari, von dem bekannt war, daß er das Priesterregiment haßte, und dem man nachsagte, daß er sich unter Garibaldi mehrere Male tätlich am Kampfe beteiligt hätte, gefangengenommen und brachte sieben Jahre in den päpstlichen Kerkern zu. Nachdem die meisten schon abgereist waren, fand der, der am meisten zu fürchten hatte, Mazzini, das Herz nicht, sich von Rom zu trennen, und irrte, ewig Abschied nehmend, durch die Gassen, die er liebte. Auch wohnte er in diesen Tagen geheimen Versammlungen der Republikaner bei, die ihn als Meister anerkannten und mit denen er ein neues Programm für die Revolutionierung Italiens vorbereitete; denn trotz der hoffnungslosen Zeit wollte er das Feuer der großen 345 Verschwörung nicht erlöschen lassen. Die opferwilligsten und liebendsten seiner Freunde, Aurelio Saffi, Scipione Pietrucci, Pisacane und Maurizio Quadrio, hatten beschlossen, den gefährlichen Boden nicht ohne ihn zu verlassen, aber er mied sie jetzt, deren Gesellschaft ihn sonst beglückte, und suchte die Einsamkeit, um Zwiesprache mit Rom zu halten. Oft folgten sie ihm von weitem, um zu seinem Schutze in der Nähe zu sein; was für ein Fang wäre dem Gegner der Volkstribun gewesen, der Europa entzündete! Doch niemand tastete ihn an oder hielt ihn auf.

Eines Abends saßen Gustavo Modena und Julia mit Giacomo Medici in ihrem Wohnzimmer am leeren Kamin und warteten besorgt auf die Heimkunft des Irrfahrers. Er glaube nicht, sagte Modena, daß ihm etwas geschähe, die Geschichte halte ihre Hand über ihren Erkorenen, und er erinnerte an manchen gefährlichen Augenblick in vergangener Zeit, wo er den Verfolgern scheinbar mehr durch Wunder als Mühe entronnen war. Julia sprach von der Angst, die seine Mutter litte; man müsse ihn durchaus bewegen, Rom zu verlassen und sich in Sicherheit zu bringen, sein Bleiben fruchte nichts mehr und verlängere ihm nur seine Qual. Medici, der im letzten Augenblicke sich nicht hatte entschließen können, Garibaldi ins Ungewisse zu folgen, und nun verdrossen und müde seine Abreise von einem Tage zum andern verschob, sagte: »Sowohl Mazzini wie Garibaldi verstehen sich mit den öden Zeiten, wo man nichts tun kann als warten, nicht abzufinden. Die Tat wird vom Menschen mit der Stunde erzeugt, kommt die rechte nicht, so ist Stillhalten und Kräftesammeln besser als eigenwilliges Suchen und Zwingen.« – »Das Warten muß freilich dem am schwersten fallen,« entgegnete Modena, »dem die Kraft der Tat in Kopf und Herzen rege ist; doch glaube auch ich, daß Mazzini jetzt das Höchste leistete, wenn er in irgendein 346 Mauseloch kröche und den Speck in der Falle unberochen ließe.« Was ihn betreffe, fuhr Medici nach einer Pause fort, so wolle er versuchen, in Genua zu bleiben und dort ein kaufmännisches Geschäft zu betreiben, um sofort zur Stelle zu sein, wenn Italien seiner wieder bedürfe. Am liebsten würde er schlafen, bis der Kampf wieder aufgenommen werden könnte; da das unmöglich sei, wolle er arbeiten und vergessen. Dann versank er wieder in unmutiges Schweigen.

Spät in der Nacht kam Mazzini, bleich und erschöpft. Julia Modena suchte ihn mit Speise und Trank zu erquicken, und nachdem das geschehen war, setzte sie sich vor ihn hin und schilderte ihm die Liebe und Sorge seiner Mutter, deren Liebling er sei und der er schuldig sei, an seine Erhaltung zu denken. Sie begann ihre Rede mit einer ernsten, beinahe strafenden Miene, bis zum Schlusse indessen hatte ihr weiches Gesicht seine natürliche Lieblichkeit wieder angenommen und lächelte ihn rosig an wie das Leben selbst, das ein verlorenes Kind zurückruft. »Könnte ich zu meiner Mutter,« sagte Mazzini, »wäre ich schon nicht mehr hier; aber in die Verbannung geht man mit widerwilligen und langsamen Schritten.« Es fehle ihm in der Schweiz und in England nicht an Freunden, sagte Julia, viele begleiteten ihn von Rom, andre erwarteten ihn dort, und wer könne wissen, wie bald die Ereignisse ihn wieder nach Italien riefen; sie betrachtete mit zärtlichem Erbarmen sein schmalgewordenes Gesicht mit den großen Augen, das dem eines zu früh gealterten Kindes glich. Auch Gustavo Modena redete in seiner Weise auf ihn ein: »Was würdest du sagen, Pippo, wenn ich, nachdem ich auf der Bühne das letzte große Seufzen und Brüllen meiner Rolle ausgestoßen hätte, das die haushälterische Weisheit des Dichters mir gönnte, nicht abgehen wollte, sondern auf eigne Hand 347 weiterraste oder gar, anstatt mit einer vorgeschriebenen erhabenen Gebärde zu enden, mir aus zügelloser Begierde eines pathetischen Abgangs einen Dolch in die Brust stieße? Es ist anzunehmen, daß der beleidigte Dichter mich umbringen und das Tribunal der literarischen Nachwelt ihn freisprechen würde. Siehst du denn nicht, Pippo, daß schon eine neue Truppe vor der Türe steht, die schöne Schaustücke und Ballette aufführen will, mit denen sie weit mehr Ehre beim Publikum einlegen wird als ihr mit den alten Römertragödien? Der große Dichter oben berücksichtigt jeden Geschmack und sorgt für Abwechslung mit Abkürzung des Ernsthaften und Ehrbaren, welches die ermüdendste Gattung ist. Also tritt ab, Pippo, ziehe dich zurück und studiere deine Rolle, bis es Zeit ist, wieder aufzutreten, gleiche du nicht jenen Uebereifrigen, die unter Schweiß und Drangsal gestikulieren, wenn die Damen schon hinter dem Fächer gähnen und das Parterre leer wird. Begreife doch, daß, wie tugendhafte Szenen du auch spielst und wie trefflich du deine Sache machst, das Publikum sich nie ein Beispiel daran nehmen und sich bessern wird, sondern Erholung und Belustigung sucht und desto vergnügter zu Nacht speisen wird, je blutiger es sich während der Vorstellung aufgeregt hat. Reize denn nicht unnütz den Zorn der neuen Truppe, indem du dich noch auf der Bühne breitmachst, wo sie jetzt agieren wollen. O, wie gern verkrieche ich mich, wenn ich meine Fratzen geschnitten habe, in eine Rebenlaube, wo meine Julia mir Polenta auftischt und niemand mir Beifall klatschen oder mich auszischen kann!«

»Ich habe keine Julia,« sagte Mazzini lächelnd, »und ich kann nicht glauben, daß das Stück aus ist. Es ist der große Vorhang nicht, der gefallen ist! Es ist das Ende nicht, nur eine Pause!« – »Aber sie 348 wird lang genug sein,« fügte Modena hinzu, »daß wir inzwischen eine Reise machen können.«

Am folgenden Tage verließ Mazzini Rom. Gelassen und unverstellt ging er durch die auflauernden Feinde von den Hügeln, die die Welt krönen, hinunter ans Meer, wo er sich einschiffte, um, von allen italienischen Staaten geächtet, als Flüchtling in die Fremde zu ziehen.

*

Nach Tivoli schlug Garibaldi eine nördliche Richtung ein. Das Tempo seiner Märsche wurde so geschwinde und die Ruhestunden wurden so kurz und spärlich, daß nicht wenig Soldaten zurückblieben, zum Teil durch die Anstrengungen abgeschreckt, aber auch willige, die Krankheit oder Erschöpfung am Weitergehen verhinderten. Die Ausrüstung dieser Truppen war niemals musterhaft gewesen; vollends jetzt, da das Verbrauchte nie ersetzt worden war, fehlte es oft am Notwendigsten; viele gingen auf durchlöcherten Schuhsohlen. Niemand wagte Garibaldi zu erinnern, daß er den Soldaten zuviel zumute; da sein eigner Wille mit jeder Schwäche und Widerspenstigkeit des Körpers fertig wurde, glaubte er nicht leicht, daß andre unterliegen könnten; auch wußten Offiziere wie Gemeine, daß seine Vorschriften nicht willkürlich waren und daß die Eile notwendig war, um dem Feinde zu entgehen. Auf toskanischem Gebiete wurde die Lage noch schwieriger, als sie in den römischen Provinzen gewesen war, wo die Franzosen die Verfolgung nicht mit aller Macht betrieben hatten; zwar wurden die Garibaldiner in den freundlichen Ortschaften Toskanas gut aufgenommen und bewirtet, doch an nachdrückliche Unterstützung dachte niemand, und oft wirkte die Furcht vor den Oesterreichern der wohlwollenden Gesinnung entgegen.

Man war etwa zwei Tagereisen von Orvieto 349 entfernt, als eines Morgens die ausgesandten Kundschafter berichteten, daß sie auf der ein schönes Flußtal durchziehenden Straße österreichische Vorposten gesehen hätten und infolgedessen der beabsichtigte Weg nicht genommen werden könne; doch hatte Garibaldi bereits bemerkt, daß es einen Seitenweg gab, der zwar, den Berg hinaufsteigend, für das Gepäck und die Kanonen schwer zu passieren war, auf dem man aber hoffen konnte, den Feind zu umgehen. Auf Anordnung des Generals blieb die Reiterei auf dem Lagerplatze zurück, während die große Masse des Heeres den beschwerlichen Weg still, jedes Geräusch vermeidend, antrat. Nach einigen Stunden war die Höhe erreicht, von der aus man die Stellung des Feindes im Felsental erkennen konnte; schweigend blickten alle hinunter, ohne anzuhalten. Obwohl nicht wahrscheinlich, war es doch unsicher, ob der eingeschlagene Weg nicht umstellt war, und die Soldaten schlichen flüchtig wie Schmuggler, beim Schreien der Maultiere zusammenschreckend, durch die dunkle Nacht. Gegen Morgen wurde an einer Quelle kurze Zeit gerastet; von hier aus zweigte Sacchi mit einer kleinen Abteilung der Legion auf kaum sichtbaren, verwachsenen Hirtenpfaden ab, um zu rekognoszieren, während Garibaldi die übrigen dem Ziele des Weges entgegenführte, das sie um die siebente Abendstunde erreichten. Auf der Hochebene jenseits des vom Feinde besetzten Tales lag ein altes Franziskanerkloster, von dem aus die Straße weiter nach Montepulciano und Torita führte; es war ein von gewaltigen Mauern und Türmen umfangenes, burgartiges Gebäude, in dem eine Besatzung sich leicht hätte verschanzen und lange Zeit verteidigen können. Die aufs äußerste erschöpften und verschmachteten Soldaten jubelten beim Anblick des fetten Ruheplatzes; allein die Mönche hatten, als sie die Garibaldiner herankommen sahen, eilig die 350 Tore verrammelt und beantworteten die erst höflich, dann zorniger klingende Bitte um Einlaß durch höhnisches Schweigen. Schon schlugen die erbosten Soldaten mit ihren Gewehrkolben an die Pforte und drohten Mord und Brand, als Garibaldi erschien, auf dessen Ruf: »Hier steht Garibaldi! Macht auf, gute Freunde, in Gottes Namen, den Soldaten Italiens!« nach kurzem Säumen die sperrenden Riegel zurückgeschoben wurden. Garibaldi ritt, höflich grüßend, in den Hof ein, und als er sich von einer hinreichenden Anzahl die Furcht hinter einem verbissenen Lächeln verbergenden Mönchsgesichter umgeben sah, hielt er an, um ihnen folgendes zu sagen: »Schämt euch, daß ihr, die ihr euch Diener des allerhöchsten Gottes nennt, armen müden Soldaten, euern Brüdern, die notwendige Speisung und Unterkunft verweigert. Euch wie jene hat eine fruchtbare und schöne Erde mütterlich getragen; jene düngen sie mit ihrem Blut, ihr mästet euern Bauch mit dem, was sie hervorbringt. Doch auch den ungleichen Bruder schonen wir; was wir euch mit Waffengewalt entreißen könnten, erbitten wir von eurer Vaterlandsliebe oder, wenn ihr die nicht kennt, von eurer Menschlichkeit. Solltet ihr euch aber auch darauf nicht verstehen, so zwingt ihr uns zu einer nachdrücklicheren Sprache.« Dann, da er beim Reden die Kutten scharf ins Auge gefaßt und unter ihnen einen Jüngling von tadelloser Schönheit bemerkt hatte, wendete er sich plötzlich zu diesem mit den Worten: »Knabe, nach deiner Gestalt und deinen Zügen mußt du ein Abkömmling jener Heldenstämme sein, die in der Vorzeit diese Felsen besiedelten und aus deren Mitte die Adler aufflogen, die unsern Erdball beschatteten. Wüßtest du wie sie ein Pferd zu bändigen und ein Schwert zu schwingen, könntest du ein Held werden, anstatt daß du nun ein Bettler und Faulenzer bist. 351 Armseliger, verbrennt dich die Scham nicht, wenn der heilige Krieg über dein Grab reitet?«

Die Mönche hörten dies alles mit niedergeschlagenen Augen und steifem Lächeln an und begannen, langsam einige Fässer voll Wein aus dem Keller zu schaffen, wobei die Soldaten, mutwillig lärmend, unerbetene Hilfe leisteten. Inzwischen war bereits die Spitze der von Sacchi geführten Abteilung sichtbar geworden, die in stetiger Bewegung an der Felswand hinaufrückte, und Offiziere und Soldaten, die ihr Näherkommen beobachteten, mutmaßten über die Bedeutung eines Zuges von Eseln und Maultieren, die nicht zum Heere gehörten. Mehrere Neugierige liefen den Erwarteten entgegen, und es stellte sich heraus, daß es ein Transportzug war, der den Franzosen Proviant, nämlich Geflügel und Eier, nach Orvieto hätte bringen sollen und den die Garibaldiner als Kriegsbeute betrachtet und mitgeführt hatten. Die ausgehungerten Soldaten, die fast vierzehn Tage lang nur Brot und Käse oder an grünen Stecken geröstetes Rindfleisch ohne Salz gegessen hatten, frohlockten, die Klosterküche füllte sich, und leckere Gerüche strömten durch die gewölbten Gänge. Allmählich dehnte sich an den emsig flackernden Feuern und angesichts der Fülle, die auch in ihre Tiegel floß, die Seele der Mönche aus, und sie setzten sich, gesellig scherzend, bald zu dieser, bald zu jener Gruppe, vorzüglich aber Garibaldi umschwärmend, damit sie sich später eines kühn bestandenen Gesprächs mit dem Antichristen rühmen könnten. Für Anita war gleich nach ihrer Ankunft an den Außenmauern des Klosters ein Zelt aufgeschlagen worden, wo sie sich schlafen gelegt hatte; inzwischen hatte sie sich erholt und lagerte sich mit ihrem Mann und seinen Gästen im Freien, wo der Blick toskanisches und römisches Land weithin umfassen konnte. Die Sonne war untergegangen, und 352 die Täler füllten sich mit weichen Schatten, aus denen wie purpurne Inseln die Höhen tauchten. Als schon allerorts gespeist wurde, kam vollzählig und in bester Verfassung die Reiterei an, die am Tage vorher zurückgeblieben war; Garibaldi rief Hofstetter, der sie geführt hatte, zu sich, dankte ihm und lud ihn ein, an seiner Mahlzeit teilzunehmen.

Garibaldi war in froher Stimmung, nicht nur über das gelungene Wagnis, sondern weil er durch Briefschaften, die man bei dem Führer des erbeuteten Transportes gefunden hatte, über Stellungen und Absichten des Feindes unterrichtet war, während zugleich daraus hervorging, daß Franzosen und Oesterreicher die Stärke seiner Kolonne beträchtlich überschätzten. Zum ersten Male ließ er sich über die Möglichkeiten des Feldzuges aus: er habe eingesehen, sagte er, daß augenblicklich die Revolution nicht wieder angefacht werden könne, die Verwahrlosung der römischen Provinzen mache ihre Bewohner gleichgültig; in Toskana komme ihm wohl die Bevölkerung herzlich entgegen, aber Opfer wolle niemand bringen; sie bedauerten und bewunderten das mutige Häufchen und atmeten auf, wenn sie weitergegangen wären. Nur Venedig rage noch frei, dort wehe die Trikolore noch, wenn es gelänge, über den Apennin ans Meer zu dringen, wolle er dorthin; nachdem so viel Unwahrscheinliches getan sei, werde auch das letzte glücken und die Adria erreicht werden. Der Richtung nach, die Garibaldi verfolgte, hatte man in seiner Umgebung bereits vermutet, daß Venedig sein Ziel sei; seine bestätigenden Worte und das Bewußtsein, daß ein Ende der Gefahr und Mühsal abzusehen sei, wenn auch nach Ueberwindung ungemeiner Schwierigkeiten, erregte überall Freude. Man erzählte sich Geschichten von den beherzten Männern, die Venedig regierten und verteidigten: von Enrico Cosenz und Sirtori, 353 dem ehemaligen Priester und selbstquälerischen Grübler, und besprach die einzige Lage der Meeresfestung und ihre Vorteile und Nachteile bei der Belagerung. Garibaldi wünschte vor allem jenen Cesare Rossaroll kennen zu lernen, der, aus stolzem sizilianischen Blute, von seinen Vätern das Vermächtnis unversöhnlichen Hasses der Tyrannen von Neapel empfangen hatte, verbannt, zum Tode verurteilt, gefangen und gemartert war, in Griechenland und Italien gekämpft und schließlich sein italienisches Herz und seine unbeugsame Soldatenkraft Venedig dargebracht hatte; denn es war Garibaldi nicht bekannt geworden, daß der trotzige Mann schon vor dem Falle Roms auf der Batterie, die er verteidigte, von einer österreichischen Kugel getroffen worden und gestorben war.

Inzwischen war der letzte Widerschein des Lichtes erloschen, aber noch nicht Nacht; es war die blasse Stunde, wo die Elemente entschleiert aus den Wogen der gelösten Dinge tauchen. Aus dem Kloster scholl Gelächter und Gläserklingen, Mönche und Soldaten tranken Brüderschaft und küßten sich; nur der schöne Jüngling, den Garibaldi so hart angelassen hatte, saß abseits von den Zechenden an einem alten Ziehbrunnen zwischen Weingärten in ruhelosen Gedanken. Garibaldi erzählte ein Abenteuer aus Amerika: seine Frau war einmal während eines Scharmützels von ihm getrennt und in Gefangenschaft geraten, es glückte ihr aber, sich zu befreien und mitsamt ihrem treuen Pferde zu entkommen. Sie ritt zwei Tage und zwei Nächte, ihn suchend, fast ohne Nahrung, durch die labyrinthischen Urwälder, um endlich in einer Hütte seinen blutbefleckten Mantel zu finden, welcher Umstand, verbunden mit den Aeußerungen einiger Leute, die sie ausfragte, sie glauben machte, er sei in dem Gefechte getötet worden. Trotzdem ritt sie weiter durch Wald und Steppe, eine seltsam schöne Vision, 354 der man kopfschüttelnd nachblickte, bis sie ihn endlich fand, der ebenso an ihrem wie sie an seinem Leben verzweifelt war. Wie er ihr, als er die Erzählung geendet hatte, die Hand reichte, und sie einander, von Erinnerungen hingerissen, in die verhüllten Augen sahen, schienen sie allein zwischen dem hohen Zuge der Wolken und der dunkel umfluteten Erde zu sein. Die Offiziere betrachteten die zarte Frau mit ehrfürchtigem Mitleiden, die in zurückliegender Zeit Proben außergewöhnlicher männlicher Kraft gegeben hatte und der es jetzt oft anzusehen war, daß sie sich nur mit Anstrengung auf dem Pferde halten konnte. Unter ihren großen, von schweren Lidern gedeckten Augen, in denen oft die Süßigkeit innigster Ermüdung lag, zogen sich graugrüne Schatten hin, und es kam vor, daß sie einschlief, während ihr Mann sie vom Pferde hob und zu dem Lagerplatze trug, bei dem man angelangt war. Wie im Herbst, wenn die Blätter fallen und die Blumen abgeblüht sind, eine Luft, leicht wie Schaumwein, die Landschaft durchdringt und verzaubert, lag ihre Schönheit nur noch in ihrem Lächeln und in der Leidenschaft ihres Blickes; sonst sah sie welk und alt aus. Garibaldi schrieb die auffallende Erschöpfung ihrer Schwangerschaft zu, worin sie ihn bestärkte; denn sie fürchtete, er würde sie, damit sie bessere Pflege erhielte, nach Hause schicken, und verheimlichte deshalb, wie schwach sie sich fühlte. Wenn er bei ihr war, strahlte auf ihrem Gesicht immer ein Lächeln, das die grenzenlose Unterwürfigkeit und Beseligung ihrer Liebe ausdrückte und ihn des Reichtums sicher machte, den er sich gewöhnt hatte als eine notwendige Zubehör des Lebens zu betrachten. Doch wachte sie manchmal bei Nacht, wenn die größte Müdigkeit gestillt war, vor Schmerzen auf, und wenn sie dann, um ihren Mann nicht zu stören, unbeweglich neben ihm lag, stieg eine bitterliche 355 Traurigkeit in ihr auf, und an ihre Kinder denkend, die sie verlassen hatte, und an das, das traumspielend sich in ihr regte, weinte sie lautlos und hoffnungslos.

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Von Arezzo an, wo sich die Kolonne, den Apennin überschreitend, dem Adriatischen Meere zuwandte, drängte der Feind näher an den Weg, so daß es immer schwieriger ward, auszubiegen. Es fielen Geplänkel vor, bei denen sich die Offiziere nicht mehr so zuverlässig wie sonst erwiesen; täglich desertierten Soldaten, aber auch jener Amerikaner, namens Bueno, dem Garibaldi viel vertraut hatte, entwich heimlich mit mehreren Reitern und vielen Pferden, die er zu verkaufen gedachte. In einem Gefecht bei San Sepolcro mit den Oesterreichern, die dem Heere den Aufstieg zum Monte Luna verwehren wollten, fiel Lorenzo Brunetti. Als der Vater davon unterrichtet war, ritt er, ungeachtet der Gefahr und Aussichtslosigkeit des Versuches, zurück zu dem Platze, wo gekämpft worden war und den die Oesterreicher besetzt hatten, suchte und fand, ohne den Feind zu beachten und von ihm unbelästigt, den leblosen Körper, begrub ihn aber nicht, sondern nahm ihn zu sich auf sein Pferd und ritt mit ihm der Truppe nach.

Im Lichte der Nachmittagssonne zog sich die Heersäule die breiten Schleifen des Weges am Monte Luna hinauf unter schönblättrigen Kastanien, die ein kristallener Bergwind säuselnd bewegte. Wie eine Prozession bei alten Götterfesten schwoll es feierlich prangend über die Felsenstufen; die roten Uniformen und weißen Mäntel der italienischen Legion, die wehenden Federn und Fahnen, die beladenen Maulesel, vom Schrei der Führer getrieben, denen mit majestätischem Gange die Rinder der Campagna folgten, kenntlich an den breitausladenden Hörnern und der marmorgrauen Haut. Aber die Reiter auf den glänzenden Bologneser Pferden 356 führte Masina nicht mehr, bei den wenigen Bersaglieri, die barfuß oder in zerfetzten Schuhen den munteren Schritt ihrer Truppe vergebens auszuführen versuchten, war keiner ihrer Offiziere. Unter den letzten ritt Angelo Brunetti, sein totes Kind vor sich auf dem Pferde, Luigi an seiner Seite. Seit dem Abzuge von Rom hatte niemand mehr das triumphierende Gelächter des »Königs von Rom« gehört; doch hatte er immer Heiterkeit und Zuversicht bewahrt, scherzte auch mit dem Jüngsten und erwies ihm viele kleine Zärtlichkeiten, damit er die Sorgfalt seiner Mutter nicht vermisse. Luigi war Tag und Nacht munter und beglückt über das Gedeihen seines Geschäftes, das besonders durch den Handel mit Früchten und frischem Quellwasser einen bedeutenden Aufschwung genommen hatte. Er war ungeduldig wie keiner, nach Venedig zu kommen, wo er es mit Hilfe der dort aufgestapelten Schätze noch weiter zu bringen und den blühendsten Handel der Welt zu überbieten hoffte. Jetzt jedoch ritt er gesenkten Kopfes und verstohlen schluchzend neben seinem Vater.

Auf der Spitze des Berges wendeten sich alle sogleich nach Osten, wo jenseits der waldigen Ausläufer des Apennin das Adriatische Meer lag; es blinkte matt am grauen Horizonte. Garibaldi streckte den Arm in der Richtung aus, wo eine vorspringende Bucht Venedig verdeckte, und sagte zu Anita: »Dort steht vielleicht die Wiege unsers Kindes«; sie erwiderte sein liebkosendes Lächeln mit einem glücklichen Blick in seine Augen. Dann sagte der General halblaut zu Sacchi, der in seiner Nähe hielt: »Es ist Zeit, daß wir zum Ziele kommen. Dies unglückliche Heer hat die Tracht und Bewegung des Lebens, aber es ist nur sein Widerschein in einem umgehenden Gespenste, das sich auflöst, wenn man es anrührt. Was der Tod nicht genommen hat, ist von Strapazen entkräftet, 357 denn unser Volk hat gelernt sich um seine Leckerbissen bücken und schicken, nicht mit einem Trunk Wasser und hartem Brot für seine Ehre zu stehen. Dennoch, läge Rom vor uns, möchte ich mich noch großer Hoffnungen vermessen, wir wären in unserm Frühling wie die Erde, die sich der Sonne entgegendreht; aber wir scheiden weg von ihr und sinken jeden Tag tiefer in Nacht und Kälte.«

Man schickte sich schon zum Abstiege an, denn ein längeres Rasten auf dem Berge war nicht vorgesehen; als Garibaldi den unglücklichen Brunetti mit dem toten Lorenzo bemerkte, untersuchte er den leblosen Körper nach seinen Wunden und sagte: »Dein Sohn ist als ein tapferer Römer gegen unsern Todfeind kämpfend gefallen. Laß uns ihn hier begraben und ihm einen Grabhügel errichten, der als ein Denkmal unsers Waffenzuges durch das geknechtete Italien in dieser hohen Einöde stehen mag.« Es wurde von mehreren Soldaten eilig ein Grab gegraben und, nachdem der Leichnam hineingelegt und mit Erde bedeckt worden war, eine ungeregelte Pyramide aus Steinblöcken darüber aufgetürmt; es lagen nämlich viele behauene Trümmer umher, von denen man annahm, daß sie Reste uralter, von Völkern, die vor den latinischen Stämmen Italien besiedelt hätten, erbauter Tempel wären. Nachdem die Stelle durch ein Gebet Ugo Bassis eingesegnet worden war, wurde zum Abmarsch geblasen, und der Zug senkte sich in die umbüschte, bereits nächtlich dunkle Schlucht des denkwürdigen Metaurus hinunter. Die Zurückblickenden sahen noch eine Zeitlang die Spitze des steinernen Grabmals über dem einsamen Wehen des Grases aufragen.

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Jenseits des Monte Luna wurde die Verfolgung seitens des Feindes so bedrohlich, daß Garibaldi es angemessen fand, die Straße zu verlassen und die letzten 358 Hänge des Apennin hinuntereilend, auf das neutrale Gebiet der kleinen Republik San Marino überzugehen, die zu edelmütig war, um dem gehetzten italienischen Heere die Aufnahme zu verweigern. Nachdem die Soldaten die Waffen niedergelegt hatten, versammelte Garibaldi sie um sich und entließ sie aus ihrer Pflicht, für seine Person jedoch und diejenigen, die sich ihm anschließen wollten, die Kapitulation mit den gehaßten Oesterreichern verschmähend. Mit etwa hundert Mann, die teils ihn nicht verlassen wollten, teils nicht glaubten, daß die österreichische Regierung den Vertrag, den Garibaldi unter Vermittlung der Republik zum Schutze seiner Anhänger abgeschlossen hatte, anerkennen oder dann einhalten würde, verließ er beim Anbruch der Nacht durch das Tor von Rimini die Stadt. Am Fuße des Felsens, auf dem San Marino liegt, warteten sie in einem Gehölze, ob sich noch andre zu ihnen einfinden würden; als aber nach einer Stunde niemand gekommen war, brachen sie auf, um die Dunkelheit zu benutzen. Der Weg führte schmal über unebenen Boden durch Wald. Garibaldi, der an der Spitze ritt, ließ die Pferde einen raschen Trab nehmen, dachte aber nach kurzer Zeit daran, welche Mühe es den Fußgängern, die folgten, machen müßte, einen so scharfen Schritt einzuhalten, und trug Hofstetter auf, zurückzureiten und sie zu vertrösten, daß nur, bis man aus dem Bereich der Oesterreicher wäre, so weitergegangen werden sollte. Zu diesem Zwecke mußte der Deutsche die ganze Kolonne entlang reiten, die, da einer hinter dem andern gehen mußte, eine lange Strecke bedeckte, und als er endlich sein Geschäft beendet hatte, fand er, daß die vorderen unterdessen einen großen Vorsprung gewonnen hatten und nichts mehr von ihnen zu erblicken war. Nur zwei Reiter waren vor Müdigkeit nach mehreren durchwachten Nächten auf ihren Pferden eingeschlafen und 359 infolgedessen zurückgeblieben, wußten aber so wenig wie er, wohin sie sich wenden sollten. Garibaldi pflegte, um Verfolgende irrezuführen, wenn es möglich war, bald diesen, bald jenen Weg einzuschlagen, und da nun viele kleine Pfade durch das Gehölz liefen, war es nicht leicht, ihm nachzugehen; doch glaubte Hofstetter, es müsse möglich sein, die frische Spur der Pferde wiederzufinden, und machte sich mit den andern, die von der Spitze abgetrennt waren, ans Werk. Zwar drang der Schein des Mondes hinlänglich durch die luftigen Baumgruppen, trotzdem war auf den wenig begangenen, stellenweise hoch mit Gras und Kraut überwachsenen Wegen kein Zeichen von Hufschlägen zu entdecken, und man mußte schließlich die Hoffnung aufgeben, Garibaldi, außer durch Zufall, wieder zu erreichen. Die Zurückgebliebenen waren ungefähr achtzig Mann, ein Häufchen ohne Führer, ohne Kenntnis des Landes, zu schwach, um sich gegen Angriffe des Feindes schützen zu können, zu zahlreich, um unbemerkt zu bleiben, deswegen machte Hofstetter den Vorschlag, daß sie sich trennten und ein jeder seinem Sterne folge, womit alle einverstanden waren. Sie waren zusammen gehend bis an den Fluß Usu gekommen, der im Altertum Rubikon hieß, und gingen hier stillschweigend auseinander; Hofstetter wählte mit seinem Burschen das steinige, fast ganz ausgetrocknete Flußbett zum Wege, bis er im Zwielicht des Morgens durch die Büsche des Ufers hindurch Getreidefelder und einzelne Gehöfte dazwischen liegen sah, wo er Unterkunft zu finden hoffte. Indessen wurde er beim ersten Hause, wo er anklopfte, unter Schreckensbezeigungen abgewiesen, denn es war bekannt, daß die Oesterreicher jeden niederschossen, der einem Garibaldiner, als welchen man ihn sofort erkannte, bei sich Aufnahme gewährte. Er entschloß sich deswegen, in einer verlassenen Scheune, an der er vorbeikam, seine Uniform mit einem 360 gewöhnlichen Anzug, den er im Gepäck mit sich führte, zu vertauschen und sie dort liegen zu lassen bis auf die rote Jacke, von der er sich nicht trennen mochte. Inzwischen war seine Anwesenheit zur Kenntnis einiger Bauern gekommen, die sich sein Unglück zunutze zu machen dachten; er war etwa eine halbe Stunde gegangen, als ein Mann ihm nachgelaufen kam, der ihn durch Zeichen ermunterte, stehen zu bleiben, und, da jener ihn erwartete, ihm ein Angebot auf seine Pferde machte in der Voraussicht, daß der geächtete Offizier froh sein müsse, die Tiere loszuwerden, die ihm hinderlich sein mußten, wo es galt, sich unauffällig durchzuschleichen. Hofstetter grollte über die geringe Summe, die der schlaue Bauer zahlen wollte, bedachte aber die Natur der Menschen und seine Lage und nahm den Vorschlag an, nur bat er sich aus, daß der Mann aus seinem nahegelegenen Hofe ein paar Säcke mit Hafer herbeischaffe, damit die ausgehungerten Tiere vor seinen Augen gefüttert würden. Hierauf ging der Bauer ein und entfernte sich, um das Futter zu holen, während der Deutsche seine Pferde zu einem Brunnen führte, den er, wenige Schritte entfernt, zwischen ein paar Eichenbäumen bemerkt hatte. Traurig betrachtete er die Trinkenden; das eine, das er Moretto genannt hatte, war bis auf einige weiße Haare an den Schenkeln ganz und gar glänzend schwarz, er hatte es bei Palestrina und Velletri geritten; das andre, hellbraun mit weißen Flecken an den Ohren und auf der Stirne, war von Masina auf Manara und dann auf ihn gekommen, es war am 3. Juni, als es Masina trug, durch einen Schuß verwundet worden. Die Vorstellung, daß die edeln Geschöpfe, nun vor Pflug und Karren gespannt, unter der Peitsche Lasten schleppen würden, schnitt ihm ins Herz; es schien ihm auf einmal, als verkaufe er Freunde in die Sklaverei, und als handle er getreuer, wenn er sie durch einen 361 Revolverschuß tötete. Langsam schnallte er das Gepäck ab und legte es auf die Erde, aber noch ehe er eine Pistole hervorgezogen hatte, gab er es wieder auf; er besaß keinen Heller Geld mehr und bedurfte der Summe, die ihm für die beiden Pferde zugesagt war, wenn er überhaupt an Rettung denken wollte. Er schlang die Arme um Morettos Hals und blieb, das Gesicht in seine Mähne gedrückt, müde so stehen, bis der Bauer zurückkam. Nachdem die Pferde gefüttert und fortgeführt waren, setzte er sich auf den Rand des Brunnens, zählte das Geld, das er bekommen hatte, teilte es mit seinem Burschen und schickte sich an, seine Waffen, die ihn verraten konnten, in die Erde zu graben. Mit Hilfe seines Burschen machte er eine tiefe Grube, hieß ihn Umschau halten, ob niemand käme, und packte dann die Waffen aus, die er noch bei sich hatte: eine feine Toledanerklinge, die Manara gehört und die Emilio Dandolo ihm als Andenken gegeben hatte, einen Revolver, den ein Soldat einem französischen Offizier abgenommen und ihm gebracht hatte, und eine Pistole mit kunstreichen silbernen Beschlägen, die Morosinis Großvater als Andenken von dem Polenhelden Kosciuszko erhalten hatte und die nach seinem Tode in den Besitz des Enkels übergegangen war; er wickelte sie sorgfältig in seine rote Bluse, begrub alles zusammen und versuchte die Spuren seiner Arbeit so gut wie möglich zu verwischen. Die stille Luft des Hochsommers glühte über den endlosen Feldern, weit und breit war niemand zu sehen. Bevor er ging, sah sich Hofstetter noch einmal aufmerksam die Stelle an, den runden Steinbrunnen und die Eichen mit dicken, zerrissenen Stämmen, von denen einer, vom Blitze gespalten, mit scharfer Zacke durch die reiche Krone starrte; denn er dachte, er könnte in glücklicheren Tagen wiederkommen und seine Waffen ausgraben. 362

Als es dunkel wurde, fand er in einem Bauernhause dicht vor der Stadt Cesena Aufnahme, Nahrung und ein Bett. Er schlief eine Stunde lang wie ein Toter, dann schüttelte die Erinnerung seine gebundene Seele. Einmal fuhr er auf, weil er die Stimme Garibaldis gehört zu haben glaubte, die ihn riefe, und horchte noch eine Weile in die Nacht. Am Morgen fühlte er sich matt wie ein Fieberkranker, setzte aber dennoch seine Reise fort und gelangte, überall von Patrioten gefördert, über Bologna in die Lombardei, wo er sich einige Tage aufhielt, und in die Schweiz.

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In der Nähe von Cesenatico erreichte Garibaldi mit denen, die noch bei ihm waren, das Meer, und da sie in einer Bucht dreizehn Boote fanden, bemächtigten sie sich derselben und zwangen die Fischer, denen sie gehörten, sie zu fahren. Anita, die sich eine Nacht und einen Tag durch fast ohne Unterbrechung auf dem Pferde gehalten hatte, trotzdem das Fieber an ihr zehrte und krampfartige Schmerzen sie quälten, verlor das Bewußtsein, sowie sie im Boote war. Garibaldi kühlte ihre Schläfen mit Wasser und bettete sie, als sie wieder zu sich gekommen war, so gut es gehen wollte, auf seinen Mantel, wo sie bald, von der Bewegung des Meeres geschaukelt, in Schlummer fiel. In dem Boote befanden sich außer Garibaldi und seiner Frau Angelo Brunetti mit Luigi und Ugo Bassi. Dieser hatte unterwegs an Fiebern gelitten und einmal sogar bei wohlmeinenden Leuten, die ihn pflegten, einige Tage zurückbleiben müssen; er sah hager, gelb und alt aus. Meist war er schweigsam neben Brunetti geritten oder hatte dem kleinen Luigi vaterländische Geschichten erzählt und ihn Verse von Dante und Tasso gelehrt. Doch überkam auch ihn wie die andern ein Gefühl von Himmelsruhe, als die 363 erkämpften Schiffe auf dem Wasser waren. Garibaldi erschreckte zwar der Zustand seiner Frau, die er nie ohnmächtig oder irgendeiner Schwäche verfallen gesehen hatte, aber die Lust, aus dem Meere zu sein, stimmte ihn zuversichtlich; unter der Spitze des Bootes, wohin er trat, um aufrechtstehend mit dem Ruder zu steuern, wölbte es sich empor wie ein gebändigtes Raubtier, das sich aufrichtet, um die Hand seines Herrn zu lecken; der Wind flog herzu, als bannte ihn die unvergeßliche Stimme, deren Befehle hell durch das Rauschen des Wassers klangen, und trieb die kleine Flotte mit gewogenem Hauch gegen Norden. Halblaut, damit Anita nicht geweckt würde, berechnete er die Zeit, wann sie bei andauernd günstigem Wetter in Venedig sein würden. Er könne es nicht erwarten, daß er seine Frau erquicken und ihr die Pflege, deren sie bedürfe, verschaffen könne; eine Nacht festen Schlafes werde ihr die frühere Kraft zurückgeben, meinte er hoffnungsvoll. Sie waren etwa eine Stunde gefahren, als der Mond aufging und die ebene Fläche mit unaufhaltsamem Licht überschwemmte. Ein Laut des Entzückens kam von Luigis Munde, der noch nie auf dem Meere gewesen war; die Männer hingegen hatten eine widerwärtige Empfindung, als wäre eine verbergende Decke von ihnen weggezogen und sie wären schutzlos den scharfen Augen der Verfolgung ausgesetzt.

In der Tat war es unter den österreichischen Strandwachen schnell bekannt geworden, daß der gefürchtete Mann, der ihnen zu Lande entkommen war, sich eingeschifft habe, und Signale verkündeten längs der Küste die Richtung seiner Flucht. Doch zeigte sich kein Hindernis, bis, als Mitternacht schon vorüber war, die österreichische Flotte, die vor Venedig kreuzte, auf der beleuchteten Fläche das fliegende Geschwader bemerkte. Mehr noch als die Garibaldiner erschraken 364 die Fischer, die nur gezwungen das Wagnis unternommen hatten und nun für ihr Leben und ebenso für ihre Boote zitterten, die die Oesterreicher ihrer Meinung nach zusammenschießen würden, so daß einige die Ruder hinwarfen und sich weigerten, weiterzurudern. In diesem Entsetzen blieb Garibaldi besonnen; er befahl, um dem Feinde die Verfolgung zu erschweren, daß die Schiffe sich zerstreuen und jedes für sich Venedig zu erreichen suchen sollte, vor allen Dingen, daß mit äußerster Schnelligkeit ausgegriffen würde; aber die Angst der Schiffsleute war nicht zu überwinden. Weder Vorwurf noch Drohung vermochte die Feigen anzufeuern, so griffen auch Ugo Bassi und Brunetti zu den Rudern, freilich, da sie ganz ungeübt waren, ohne erheblich zum Vorwärtskommen beitragen zu können. Aber Garibaldis unbesiegbarer Geist riß das Fahrzeug durch die Flut; während die meisten der flüchtigen Boote von den Oesterreichern eingeholt und gefangen wurden, entschwand das seine, einer Möwe gleich, die wie der Zickzack des Blitzes durch Wogen und Wolken stürzt, ihrer Aufmerksamkeit und landete bei den schilfigen Lagunen im Gebiete von Ravenna.

Anita war bei dem Wortwechsel mit den Schiffern aufgewacht; sie begriff nicht ganz, was vorging, fragte aber nicht, sondern lag bewegungslos und starrte mit wüsten Augen über sich in den Himmel. Garibaldi hob sie aus dem Schiffe und trug sie durch den Schlamm watend, bis fester Boden erreicht war, wo man sich niedersetzen konnte. Jetzt erst, nachdem die höchste Anspannung der Fahrt vorüber war, betrachtete er mit erwachender Sorge seine Frau und sah sogleich die entscheidende Veränderung, die in ihren Zügen vorgegangen war. Ugo Bassi und Brunetti hatten unterwegs schon geglaubt, sie stürbe, aber dort, wo die letzten Augenblicke aller gekommen schienen, war es ihnen überflüssig vorgekommen, davon zu reden. Traurig betrachteten 365 sie Garibaldi, der, stumm über das entfärbte Gesicht der armen Frau gebeugt, seine Seele an die unbarmherzige Tatsache zu gewöhnen suchte. Ihre Lider standen halb offen, ihre Augen hatten keinen Blick mehr; wenn sie auf sein Gesicht trafen, blieben sie daran haften, aber ohne daß sich unterscheiden ließ, ob sie ihn erkennte, so wie man im Spätherbst etwa tote Schmetterlinge an den letzten Blumen hängen sieht. Eine lange Weile sprach niemand, dann richtete Garibaldi sich auf und sagte, er halte dafür, daß sie sich trennen müßten, weil jeder einzelne sich leichter retten könnte als alle zusammen; was ihn anginge, so müsse er eine Unterkunft für die Kranke finden, die andern sollten so schnell wie möglich Ravenna oder Bologna zu erreichen suchen, vielleicht fänden sie Gutgesinnte, die ihnen behilflich wären. Ugo Bassi und Brunetti bejahten stillschweigend; der Junge war, sowie sie sich auf den Boden geworfen hatten, an seinen Vater gelehnt eingeschlafen. Die Sonne stieg gerade aus dem Meere: über die schwärzliche, blanke Haut des Wassers liefen gelbe Lichter, und nach Westen hin fing die unabsehbare Ebene langsam an zu ergrünen.

Obwohl die Gefahr zu einem schnellen Entschlusse drängte, zögerten die Männer noch an ihrem Platze, Ugo Bassi still betend, daß Gott ihn als Opfer annehmen und der Weg, den Garibaldi gehen würde, ein Weg des Lebens sein möge. Als Brunetti sich anschickte, den schlafenden Luigi auf den Arm zu nehmen, wachte der auf und erklärte trotz augenscheinlicher Schläfrigkeit, munter zu sein und zu Fuß nach Venedig gehen zu können. Inzwischen hatte Garibaldi Umschau gehalten; er warf noch einen ernsten Blick auf die beiden Männer und den Knaben und entfernte sich, Anita auf dem Arme, in nördlicher Richtung längs des Meeres. Die andern gingen auf verschiedenen Wegen ins Land hinein und fielen nach kurzer Zeit 366 in die Hände der Oesterreicher: Ugo Bassi wurde in Bologna, Brunetti mit seinem Sohne an der Stelle erschossen, wo sie gefangen worden waren.

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Nach und nach begaben sich die Landleute an ihre tägliche Arbeit, und so kam es, daß Garibaldi, nachdem er etwa eine Stunde gegangen war, einem italienischen Bauern begegnete, zu dem er sagte, er sei ein Soldat aus Rom und mit seiner kranken Frau auf der Flucht vor den Oesterreichern; er, der Bauer, möge ihn zur nächsten Hütte führen, wo die Verschmachtete ausruhen und sich erquicken könne. Der Bauer antwortete, die nächste Hütte sei noch weit entfernt, er wolle ihm einen hundert Schritt weit entfernten Brunnen zeigen, damit er der Frau sogleich könne zu trinken geben. Indem sie nebeneinander weitergingen, musterte der Bauer den angeblichen Soldaten, der ihm nicht übel gefiel, und da er, obwohl nicht ungutmütig, doch womöglich nichts umsonst tat, fragte er zutunlich, mit einem Auge listig blinzelnd, ob seine Tasche ebenso leer wie sein Magen wäre, worauf Garibaldi mit einem hellen Lächeln erwiderte: »Ebenso. Ich habe meinen Rock mit all meinem Gelde den Fischern gelassen, die mich hergefahren haben: du mußt es um Gottes und um des Vaterlands willen tun.« Es leuchtete dem Manne ein, daß dem erschöpften Manne und der sterbenskranken Frau auf alle Fälle geholfen werden müsse, und er hätte sich vielleicht entschlossen, etwas daran zu wagen; aber der feste Blick, den der Fremde bei seinen Worten auf ihm hatte ruhen lassen, hatte ihn wunderlich berührt, so nämlich, daß er empfand, er könne keinen gewöhnlichen Soldaten, sondern müsse einen Seltenen und Großen vor sich haben, und eine Reihe von Vorstellungen lief ihm blitzschnell durch den Kopf. Plötzlich blieb er stehen, fuhr sich mit beiden Händen in die 367 Haare, schrie laut auf: »Garibaldi! Garibaldi!« und lief, ohne sich noch einmal umzusehen, querfeldein in die Felder. Garibaldi ging zunächst weiter bis an den Brunnen und blieb dort eine Weile unschlüssig, was er tun sollte. Es schien ihm besser, die Hütte des Bauern, die er schon liegen sah, nicht aufzusuchen, da seine blinde Furcht ihn verraten könne, wenn er es nicht absichtlich täte, sondern auf gut Glück eine andre Richtung einzuschlagen. Das frische Wasser und die zunehmende Wärme hatten Anita noch einmal belebt, so daß sie sich ihrer Lage bewußt wurde und ihren Mann erkannte und versuchte, ihn anzulächeln. Sie war, seit sie ihn kannte, seine starke und furchtlose Gefährtin gewesen, die seine wilden Abenteuer mit ihm bestand und, wenn sie auch bei der Geburt ihrer Kinder und bei den Krankheiten derselben vieles litt, stets so viel Kraft behielt, um ihn nichts merken zu lassen, so daß er, so zärtlich und hilfsbereit er war, kaum je Gelegenheit gefunden hatte, sie zu schonen und zu pflegen. Da sie nun sterbend sich ergeben hatte, keine Kraft mehr zu haben, und alle Schmerzen in dem aufgelösten Körper still geworden waren, hatte sie nur noch das eine Verlangen, willenlos und matt an dem geliebten Herzen zu liegen. Ihrem Gefühle nach war sie winzig klein, kleiner als ein neugeborenes Kind, nicht viel mehr, als was eine Hand füllte, und dementsprechend leicht; auch entschwand ihr zuweilen das Bewußtsein, wo sie war und wer sie war, aber nicht das Gefühl durchdringenden Genügens. Die leise schwingende blaugrüne Luft, die dicken Rebengirlanden, die zwischen den Maulbeerbäumen hingen, unzählige in endlosen Reihen, und das regelmäßige Schlagen des großmütigen Herzens, an dem sie ruhte, vereinigte sich in ihren Sinnen zu einer feierlich kreisenden Bewegung um sie her, jenseits welcher die fabelhaften Ereignisse ihres ausgelebten Lebens lagen. 368 Von Zeit zu Zeit fragte Garibaldi mit behutsam gedämpfter Stimme, ob ihr wohl sei, worauf sie mit einem schwachen Lächeln oder, den Kopf auf die Seite sinken lassend, mit einem Kuß auf seine Hand antwortete.

Unterdessen hatten die Freunde des Generals wie seine Feinde in allen Ortschaften am Meere, wohin die Kunde seiner Flucht gedrungen war, die Küste bewacht, und einer derselben, Gioacchino Bonnet, dem es hinterbracht worden war, daß unweit Magnavacca ein Boot an Land gegangen wäre, hatte sich aufgemacht, um, wenn er Garibaldi fände, ihm beizustehen und ihn mit Hilfe Gutgesinnter der Verfolgung zu entziehen. Er hatte ihn bereits in Gesellschaft des Bauern gesehen, wollte sich aber nicht zeigen, bis er sicher wäre, von diesem nicht mehr bemerkt zu werden, und erst als nichts Lebendes in der ganzen Runde wahrzunehmen war, ging er, schon von weitem Zeichen des Einverständnisses und seiner Freundesgesinnung gebend, auf Garibaldi zu. Dieser hatte den jungen Mann bei seinem Aufenthalte in Ravenna nur einmal flüchtig gesehen, erkannte ihn aber, da er mit dem linken Fuße hinkte, sofort am Gange und der ihm eigentümlichen Haltung, beschleunigte seinen Schritt, bis sie einander gegenüberstanden, und sagte, indem er ihm die Hand bot: »Ihr seid Gioacchino Bonnet, ein Patriot, Euer Bruder Gaëtano ist am 3. Juni in Rom gefallen, ich vertraue Euch. Sagt mir, wohin ich meine Frau bringen kann, damit sie Ruhe und Pflege findet.« Bonnet antwortete, er habe schon alles vorbereitet, nicht weit entfernt, am Meere, befinde sich die Meierei eines ihm befreundeten Gutsbesitzers, wo er vorläufig Aufnahme finden würde; er, Bonnet, hoffe bestimmt, daß ihm dorthin nicht nachgespürt würde, bis er sich mit andern ins Einvernehmen gesetzt hätte, die ihm zum Weiterfliehen 369 die Hand reichen könnten; er besitze glücklicherweise einen Paß seines verstorbenen Bruders Gaëtano, dessen Garibaldi sich als seines eignen bedienen könnte. Er führte Garibaldi bis ans Meer, rief einen Fischer, der nicht weit draußen still lag und angelte, schärfte ihm ein, den Mann und die Frau nach der bezeichneten Meierei zu fahren, und eilte selbst nach Comacchio, um für einen noch gesicherteren Aufenthalt zu sorgen. In dem Pächterhäuschen wurde Garibaldi von einem erschrockenen Manne und einer stattlichen Frau mit schwarzem Kraushaar und funkelnden Augen empfangen, die schon ein Lager für Anita bereitet hatte und herzhaft zugriff, daß die Kranke gut darauf gebettet würde. Es wollte auch der Zufall, daß ein Arzt anwesend war, da die Pächtersleute ein krankes Kind hatten, ein gutherziger Alter, der die Leidende untersuchen wollte, aber auf den ersten Blick sah, daß hier nicht mehr zu helfen sei. Die Frau bereitete ihr ein erquickendes Getränk aus Wasser und Zitronensaft, und Garibaldi flößte ihr ab und zu einige Tropfen davon ein, was ihr wohlzutun schien. Nach einer Stunde kam Bonnet wieder, führte den General in einen an die Wohnräume angrenzenden Stall und erzählte flüsternd, während jener etwas von einer Gurke und Trauben aß, was er ausgerichtet habe: daß in einem Hause in Ravenna eine Zuflucht für die Flüchtenden sei, wo sie einige Tage bleiben sollten, bis die Wachsamkeit der Oesterreicher ein wenig nachgelassen habe oder von dieser Gegend abgelenkt sei. Ferner berichtete er von den letzten Ereignissen in Venedig, vom Tode des Cesare Rossaroll, und wie die Cholera, mehr als der Feind, die Widerstandskraft des belagerten Heeres auflöse, so daß in höchstens einer Woche oder zweien das Ende sich vollziehen müsse. Die Republik wäre früher gefallen, sagte er, wenn nicht der erbitterte Kampfesmut einiger Heerführer und Staatsmänner 370 gewesen wäre, die das Volk fast mehr als die Oesterreicher gefürchtet hatte; dies wäre jetzt, die Armen wie die Wohlhabenden, der schweren Zeit müde und zu irgendeinem Frieden bereit. Sie waren in diesem Gespräch, als der Pächter vorsichtig hereinblickte und meldete, er habe auf der großen Straße österreichische Uniformen gesehen, die auf die Meierei zukämen, Garibaldi müsse augenblicklich mit seiner Frau fliehen, wenn er ihnen nicht in die Hände fallen wolle. Garibaldi überzeugte sich, daß Oesterreicher in Sicht waren, doch meinte er, es könne noch eine Viertelstunde dauern, bis sie da wären, er wolle nun sehen, ob seine Frau in einem Zustande wäre, daß man sie weiter transportieren könne; damit ging er in das Zimmer, wo sie lag. Die Pächtersfrau und der Arzt traten bei seinem Anblick mit verlegenem Mitleid vom Bette zurück, um ihm Platz zu machen, und gaben Bonnet Zeichen, daß es aus sei; sie lag im Sterben. Als Garibaldi das schrecklich veränderte Gesicht sah, das, obwohl ihm so nah, aus der Tiefe eines unterirdischen Abgrundes gramvoll nach ihm gewendet schien, mit den Augen noch an ihm hängend wie am himmlischen Lichte, von dem sie losgerissen nun auf immer in Finsternis versinken sollte, warf er sich laut aufschreiend über sie; aber der Pächter war ihm in höchster Furcht nachgelaufen und jammerte, die Oesterreicher wären da, Garibaldi möge Erbarmen haben und fliehen, es gehe um sein und aller Seinigen Leben. Die Frau, wenn sie ihrem Manne auch unwillkürlich einen entrüsteten Blick zuwarf, widersprach ihm doch nicht; auch ihr wurde es bange um ihre Kinder. Dieser Auftritt währte nur einen Augenblick; Garibaldi riß sich von der geliebten Brust, die noch schwach röchelte, gab dem Pächter und seiner Frau die Hand mit den Worten: »Begrabt meine Frau!« und verließ durch eine auf das Meer 371 führende Tür das Haus. Ein Boot mit drei Männern, die Bonnet gedungen hatte, lag bereit; dieser legte den Schiffern nochmals ans Herz, daß sie den Flüchtling bis Ravenna brächten, und sie beteuerten mit vielen Eiden und Selbstverfluchungen, daß sie den Auftrag, was auch geschehen möge, pünktlich ausführen würden.

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Die Männer trieben das Boot mit starken Schlägen ein Stück in das Meer hinein, bis es vom Strande aus kaum noch zu erkennen war, und fuhren dann nordwärts, tief vornübergebückt, so daß die Ruder schnell und leise durch das Wasser schossen. In dieser Weise ging die Fahrt längere Zeit ungestört, dann aber wurden Schiffe sichtbar, die augenscheinlich weder Fischerkähne noch Kauffahrer waren, und die Leute wurden unruhig; sie gaben sich Zeichen, bald nach den verdächtigen Schiffen schielend, bald mitten im scharfen Rudern Blicke wechselnd. Da schon die weichen Schatten des Pinienwaldes bei Ravenna das Ufer verdunkelten, winkte einer mit dem Kopfe seitwärts dorthin, was die übrigen sofort richtig so auslegten, daß es gut wäre, den gefährlichen Schützling dort abzusetzen. Sie gaben sich nickend und blinzelnd ihr Einverständnis über die Sache zu verstehen, ohne daß Garibaldi, der, den Kopf in die Hände vergraben, in ihrer Mitte saß, etwas davon bemerkte, und lenkten leise in einen dunkeln Kanal, wie solche die Pineta an mehreren Stellen durchschneiden. Wie sie anlegten, hob er den Kopf, und obwohl er begriff, daß sie ihn nicht dahin gebracht hatten, wo sie sollten, stieg er aus, als ob es so sein müsse, und ging geradezu in den Wald hinein, so daß sie die Erklärungen, die sie schon auf der Zunge hatten und bereit waren hervorzusprudeln, mit Achselzucken verschluckten und erleichterten Mutes davonruderten. Garibaldi ging weiter, 372 bis der Hain lichter wurde und er in einer Entfernung von ein paar hundert Schritten die Landstraße liegen sah, worauf er unter die Bäume zurücktrat und sich müde in eine Senkung des wildbewachsenen Erdreichs warf. Wie einer, den Räuber erschlagen und in eine Grube geworfen haben, das Gesicht auf dem Grase, damit das Blut, das ihm aus Mund und Herzen fließt, in die Erde sickert, lag er da. Er dachte an einen Tag in der Vergangenheit, als das Atlantische Meer an der Küste von Rio Grande seine Schiffe, seine Habe, alle seine Freunde aus seinen Händen gerissen und verschlungen hatte und er allein in unwirtlichen Ländern, schaudernd vor der Wut und Kälte des Ozeans, kein Herz zu leben mehr in sich fühlte; und wie er da, am Brunnen Wasser schöpfend, das Kind des Schicksals fand, das ihn mit seinem Fleisch und Blut errettete und das jetzt von ihm fern, vielleicht noch atmend, fremde Hände in unheimischer Erde verscharrten. Er wunderte sich, warum er nicht bei ihr geblieben und mit ihr gestorben war. Zuweilen verging ihm vor Müdigkeit das Bewußtsein, denn er hatte seit dem kurzen Aufenthalt in San Marino nicht mehr geschlafen, und dann war es ihm, als ginge er noch, die Kranke auf den Armen, durch die grüne Glut der unendlichen Ebene, das Herz voll von Zärtlichkeit; aber er schreckte bald wieder auf und fand sich an alles Glücks und aller Hoffnungen Ende.

Als die Sonne untergehen wollte und auf dem Waldboden und an den Stämmen kupferne Kronen und Ringe zu entbrennen schienen, fuhren drei Wagen voll österreichischer Soldaten über die Landstraße, auf deren einem der gefangene Ugo Bassi nach Bologna transportiert wurde, um dort vor ein Gericht gestellt zu werden. Garibaldi, den das Knarren der Räder aufmerksam gemacht hatte, erkannte zwischen den verhaßten Uniformen die befreundete Gestalt und sah 373 halb aufgerichtet den Karren nach, die rasch im gelben Staube der Straße verschwanden. Er mußte noch einmal an den großen Schiffbruch denken, ehe er Anita fand: so arm war er selbst damals nicht gewesen, denn er hoffte noch auf Italien; jetzt war der Kampf gekämpft und verloren. Vielleicht, dachte er, hätte sein Genius ihm damals von den Göttern noch eine Spanne Leben erfleht, und diese wäre nun verflossen; noch einmal hätte sein Herz Lust und Schmerzen überschwenglich genossen, nun sei die Zeit des Untergangs gekommen. Er stand auf und betrachtete lange durch die Bäume hindurch die grauen und lila Farben des Abendhimmels, die in unendlich vielen Tönen, sich immer wieder teilend und auflösend, in langen dunkelgelben Streifen verrannen, und ihren traurigen Widerschein in den Sümpfen vor dem Walde; dann ging er in die dunkelnde Pineta hinein. Langsam ging er unter den Bäumen hin, die, einer am andern, gerade wie das wankellose Licht aufstiegen und das göttliche Ebenmaß ihrer Zweige zu Kronen formten, die uralt herrschten; es tat ihm wohl, zu denken, daß sie Jahrhunderte nach seinen Tagen noch dastehen und die goldenen Säulen des italienischen Himmels sein würden. Allmählich entfernten sich die Stämme weiter voneinander, bis nur noch einzelne groß über Gestrüppe und Buschwerk wuchsen, und er sah das Meer vor sich als ein endloses dämmerndes Zittern, über dem die undeutliche Mondscheibe stand wie die ferne Feuersbrunst eines verlorenen Schiffes. Den Frieden der Natur schon im Herzen, grub er sich in den weichen Küstensand; aber es kam so, daß er statt des Todes, den er suchte, ja in dem er ruhte, Mut des künftigen Lebens voll gemeiner Tage und ruhmloser Kämpfe fand.

Viele glauben, daß die Bilder seiner Bedürftigen, des Vaterlandes, der geliebten Mutter, der geliebten 374 Kinder vor seiner scheidenden Seele aufgetaucht wären und sie zurückgeleitet hätten; das Volk hat eine Legende, die so erzählt: Einst habe die Göttin des Meeres das zweijährige Kind, das, am Strande spielend, von der Flut ergriffen und weggerissen worden sei, in ihren Armen aufgefangen, liebkosend an ihrer kühlen Brust gewiegt und endlich an das Ufer getragen. Seitdem habe sie die Fahrten des Jünglings und des Mannes begleitet, und oft, wenn er sich über den Rand des Schiffes hinuntergebeugt habe, Träumen nachhängend, habe ihre Schönheit durch die fließenden Wasser zu ihm aufgeleuchtet. Sie habe sich in jener Nacht an ihres Lieblings Seite gesetzt, sein Haupt in ihren Schoß gelegt, seine Augen geküßt und so zu ihm gesprochen: »O mein Held! Verlasse das zertretene Schlachtfeld nicht, weil dein Feind siegte und dein Schwert zerbrochen ist! Gib den Verführungen der Trauer nicht nach, lasse dein müdes Herz nicht vom Tode berauschen. Harre aus im Kampfe, damit du einst in himmlischer Rüstung unter den Gestirnen glänzest, die aus meinen vollen Meeren trinken, im Ozean des Aethers kreisend. Dann wirst du die Namen, um die du auf Erden strittest, nicht mehr kennen; aber dein ritterliches Bild wird unversehrbar durch den ewigen Sturz des Vergänglichen strahlen.« Sie habe ihm dann die Namen aller Sterne genannt und ihre Geschichten erzählt und ihn mit den Chören der Brandung in einen tiefen Schlaf gesungen, aus dem er in später Nacht, nach dem Untergange des Mondes, erinnerungslos aufgewacht sei. Er habe sich langsam auf das Elend seines Lebens besonnen, aber Kraft bei sich gefunden, es zu tragen, und habe in der Hut der Dunkelheit den Hof bei Ravenna aufgesucht, wohin die untreuen Schiffer ihn hätten fahren sollen und wo ihm kühne Patrioten Unterkunft und Hilfe schafften. 375

Wie ein Reich der Geister im Lande der Lebenden durchwebte damals überall ungreifbar, wenn auch wirkend und geahnt, das Netz der Verschworenen das öffentliche Getriebe, die nun das teuerste Haupt Italiens einer vom andern empfingen und in ihren Schlupfwinkeln beherbergten. So ging Garibaldi als ein Unsichtbarer, den Götter in täuschendes Gewölk hüllen, vom Adriatischen Meere über das Gebirge an die Küsten von Toskana und Genua, mitten durch die verblendeten Feinde, die ihm nachstellten. Da ihn aber der König seines Landes aus Furcht, Napoleon Bonaparte zu reizen, der ihn als den Sieger von Rom haßte, nicht in seinen Schutz aufzunehmen wagte und von seiner Liebe zu Italien verlangte, daß er Italien meide, warf er sich wieder auf das Meer und verdiente jahrelang mit Alltagsarbeit das Brot für sich und seine Kinder.

 


 


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