Victor Hugo
Die Elenden. Dritter Theil. Marius
Victor Hugo

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Zweites Buch. Ein Mann von altem Schrot und Korn

I.
Ein rüstiger Alter

Rue Boucherat, Rue de Normandie und Rue de Saintonge existiren noch Leute, die sich noch recht gut eines gewissen Herrn Gillenormand entsinnen und gern von ihm erzählen.

Gillenormand gehörte zu jenen Menschen, die nur wegen ihres hohen Alters und als Vertreter einer längst entschwundenen Vergangenheit merkwürdig sind. Er war der richtige Typus eines Bürgerlichen aus dem achtzehnten Jahrhundert, der auf sein Bürgerthum so stolz und eingebildet war, wie ein Marquis auf seinen Adel. Er hatte das Alter von neunzig Jahren überschritten, ging aufrecht, sprach laut, sah gut, trank herzhaft, aß tüchtig und schnarchte beim Schlafen, besaß noch seine sämmtlichen zweiunddreißig Zähne und setzte eine Brille nur zum Lesen auf. Er hatte Temperament, versicherte aber, daß er seit zehn Jahren dem Umgang mit Frauen entsagt hätte. Er könnte keine Eroberungen mehr machen, sagte aber nicht: »Weil ich zu alt bin,« sondern: »Weil ich nicht reich genug dazu bin. Wäre ich nicht ruinirt, ja dann . . .« Es war ihm in der That nur ein Jahres-Einkommen von fünfzehn Tausend Franken geblieben. Sein Fall wäre es gewesen, wenn ihm eine Erbschaft zugefallen wäre, die so eine hunderttausend Franken Zinsen eingebracht hätte; dann würde er Frauenzimmer ausgehalten haben. Er war also keiner von den gebrechlichen Greisen, die, wie Voltaire, ihr ganzes Leben hindurch im Sterben gelegen haben, keiner von den Töpfen, die am längsten halten, weil sie gesprungen sind. Er hatte sich von jeher einer kräftigen Körperkonstitution erfreut. Von Charakter war er oberflächlich und jähzornig. Er brauste um jede Kleinigkeit auf, namentlich, wenn kein vernünftiger Grund dazu vorlag. Dabei griff er gleich nach dem Stock, wenn er Widerspruch erfuhr, und schlug zu, wie es in der guter alten Zeit Sitte war. Seine damals über fünfzig Jahre alte Tochter prügelte er empfindlich, wenn er wüthend war, und fehlte nicht viel, so hätte er sie, wie ein kleines Kind, mit dem Kantschu gezüchtigt. Seine Dienstboten ohrfeigte er und überhäufte sie mit den gemeinsten Schimpfworten. Höchst eigenthümlich war die Sorglosigkeit und Gemüthsruhe, die er in manchen Fällen an den Tag legte. So ließ er sich z. B. täglich von einem Barbier rasieren, der geistesgestört gewesen und eifersüchtig auf ihn war, wegen seiner hübschen Frau, der Gillenormand den Hof gemacht hatte. Derartige Unvorsichtigkeiten hinderten den alten Herrn aber nicht, sich für einen ausnehmend gescheidten Mann zu halten. »Ich freue mich wirklich eines nicht verächtlichen Grades von Scharfsinn. So kann ich z. B., wenn ein Floh mich sticht, das Frauenzimmer angeben, von dem ich ihn habe.« Schlagwörter, die in seinen Reden häufig vorkommen, waren »ein gefühlvoller Mann« und »die Natur.« Letzteres Wort brauchte er gern zum Spott. »Damit die Kultur an Allem Theil habe,« pflegte er zu sagen, »hat hier die Natur auch Proben amüsanter Barbarei gegeben. Besitzen Asien und Afrika ihre großen Bestien, so haben wir dieselben Arten, nur in kleinerem Format. Die Katze ist ein Salontiger, die Eidechse ein Taschenkrokodil. Die Tänzerinnen vom Opernhause sind zierliche Wilde, die keine Menschen, sondern nur ihr Vermögen auffressen.«

II.
Wie der Hausherr, so die Wohnung

Er wohnte im Marais, Rue des Filles-Du-Calvaire, Nr. 6, in einem eigenen Hause. Seine Zimmer lagen im ersten Stock zwischen der Straße und dem Garten. Sie waren mit großen Gobelins tapeziert, die Schäferszenen darstellten, und die Motive der Plafonds und Panele wiederholten sich in verkleinertem Maßstabe auf den Fauteuils. Um sein Bett zog sich eine mächtige, neunblättrige, spanische Wand aus Koromandellack. Die Fenster waren geschmückt mit langen, üppigen Vorhängen, die prächtige Drapirungen bildeten. Von dem Eckfenster führte eine zwölf- bis fünfzehnstufige Treppe in den Garten hinab. Außer einem Bibliothekzimmer, das an die Schlafkammer stieß, hatte er ein sehr elegantes Boudoir, dessen prächtiger und kunstvoller Wandbehang aus feinem Stroh unter Ludwig XIV. von Galerensklaven gearbeitet worden war. Er verstand sich auf Gemälde und hatte in seinem Schlafzimmer ein sehr schönes, von Jordaens gemaltes Portrait, das mit leichten, breiten Pinselstrichen hingeworfen schien, aber eine unendliche Fülle der feinsten Details enthielt.

In Bezug auf seine Kleidung aber war er mit der Zeit etwas weiter mitgegangen und hatte sich nach der Mode gerichtet bis zur Regierung des Direktoriums, denn bis dahin hielt er sich für einen jungen Mann.

III.
Luc-Esprit

Als er sechzehn Jahr alt war, hatte er eines Abends im Opernhause die Ehre, von zwei reifen, berühmten Schönheiten, die Voltaire besungen hat, der Camargo und der Sallé lorgnettirt zu werden. So zwischen zwei Feuer genommen, trat er einen heroischen Rückzug an und flüchtete sich in die Arme einer kleinen Tänzerin, die gleichfalls sechzehn Jahr alt und unberühmt war. In der Erinnerung an diese Liebe schwelgte er gern, wie überhaupt in der Schilderung der Erfolge, die er in seiner Jugend, dank seiner hübschen, äußeren Erscheinung und seiner Toilette davongetragen. »Ich war wie ein Türke aus der Levante gekleidet,« erzählte er gern.

Die Namen der hervorragenden Politiker und Minister ärgerten ihn, weil sie ordinär und bürgerlich klangen. »Was das für Volk sein mag!« rief er aus, wenn er die Zeitung las. »Corbière, Humann, Casimir Périer! Und so was ist Minister. Da könnte ich's am Ende auch noch werden. Gillenormand! Wie sich das anhören würde! Aber ich glaube, sie sind so dumm, daß sie damit einverstanden wären.«

Er nannte alle Dinge bei ihrem – saubern oder unsaubern – Namen, ohne sich vor den Damen zu geniren, führte, wie in seiner Jugend üblich gewesen war, zotige und unflätige Reden mit der größten Seelenruhe und als verstände es sich so von selbst. Denn merkwürdiger Weise blühte am Ende des achtzehnten Jahrhunderts neben der Umschreibung in der Poesie die krasse, unverhüllte Gemeinheit in der Prosa.

Sein Pathe hatte vorausgesagt, daß Gillenormand ein Genie sein würde, und hatte ihm deshalb die bedeutsamen Vornamen Luc-Esprit gegeben.

IV.
Hundert Jahr

Als er noch in Moulins, wo er geboren war, das Gymnasium besuchte, hatte er Prämien bekommen und das eine Mal hatte ihm der Herzog von Nivernais eigenhändig einen Kranz aufgesetzt. Die Erinnerung an diese Ehre vermochte weder der Konvent, noch der Tod Ludwigs XVI., noch Napoleons Regierung, noch die Rückkehr der Bourbonen in seinem Herzen auszulöschen. Sein Herzog von Nevers, wie er ihn nannte, war der größte Mann des achtzehnten Jahrhunderts. »Wie liebenswürdig der hohe Herr war und wie hübsch er aussah mit seinem blauen Ordensband!«

Ein anderes Lieblingsthema war bei ihm das Goldelixir. Gillenormand hatte Katharina II. die Theilung Polens vergeben, weil sie Bestuschef das Geheimniß der Goldelixirbereitung abgekauft hatte. »Das Goldelixir«, Bestuschef's gelbe Tinktur, die Tropfen des Generals Lamotte, von denen der Flacon mit einem Louisdor bezahlt wurde, waren im achtzehnten Jahrhundert das unfehlbare Heilmittel gegen die Katastrophen der Liebe, gegen die von Venus gesandten Leiden. Ludwig XV. schickte dem Papst zweihundert Flacons davon. Man würde ihn beleidigt und aus dem Häuschen gebracht haben, hätte man ihm gesagt, daß sein Goldelixir nichts Anderes als ein Supereisenchlorit war.

Gillenormand war ein großer Verehrer der Bourbonen und schlecht auf die Revolution des Jahres 1789 zu sprechen. Er erzählte oft, wie viel Schlauheit er hatte aufwenden müssen, um nicht während der Schreckenszeit geköpft zu werden. Ließ es sich ein junger Mann beifallen, in seiner Gegenwart die Republik zu loben, so wurde er krebsroth vor Aerger und kam einer Ohnmacht nahe. »Hoffentlich werde ich ein Jahr wie 1793 nicht zum zweiten Mal erleben!« rief er dann aus. Dabei theilte er aber bisweilen den Leuten mit, er sei gesonnen hundert Jahr alt zu werden.

V.
Baske und Nicosette

Seine Ansichten über die Ehe gipfelten in folgender Behauptung: »Wenn ein Mann ein großer Damenfreund ist, sich aber aus seiner Frau nichts macht, weil sie häßlich, zänkisch, eifersüchtig, auf ihre ehelichen Rechte erpicht ist und ihm mit dem Strafgesetz droht, so giebt es nur ein Mittel, den häuslichen Frieden zu erhalten und seine Freiheit zu behaupten: Er muß ihr den Geldbeutel überlassen. Sie hat dann eine Beschäftigung, die ihr ganzes Denken in Anspruch nimmt, muß ihren Pächtern und Bauern auf den Dienst passen, ihrem Verwalter Instruktionen ertheilen, Rechtsanwälte zu Rathe ziehn, über Kontrakte simuliren, kaufen und verkaufen, sparen, verschwenden. Auf diese Weise hat sie auch ihr Vergnügen, und wäre es auch das, ihren Mann zu ruiniren.« Diese Theorie hatte Gillenormand auch auf sich angewendet, und zu seinem Schaden. Seine zweite Frau hatte sein Vermögen so schön verwaltet, daß ihm nach ihrem Tode nur fünfzehn Tausend Franken Einkommen blieben, so viel daß er gerade leben konnte; allerdings mußte er Alles auf Leibrenten geben. Aber solch ein Schritt flößte ihm kein Bedenken ein, da er sich um seine Erben keine Sorge machte. Außerdem hatte er während der Revolution so manches in Staatspapieren angelegte Vermögen zerrinnen, zu »Nationalgut« werden sehen und wollte von dem Stammregister der Staatsschuld nichts wissen. »Alles Schwindel!« meinte er.

Gillenormand hielt sich eine Magd und einen Diener. Den männlichen Bedienten taufte er nach der Provinz, aus der dieser stammte. So nannte er z. B. seinen letzten Diener, einen fünfundfünfzigjährigen, schwerfälligen Schnaufer, der sich keineswegs durch Schnellfüßigkeit auszeichnete, trotzdem »Baske«, weil er in Bayonne geboren war. Die Mägde hießen bei ihm sämtlich Nicolette. »Wieviel Lohn verlangen Sie monatlich?« fragte er eines Tages eine stramme Köchin, die bei ihm in Kondition treten wollte. »Dreißig Franken.« – »Wie heißen Sie?« – »Olympia.« – »Du sollst fünfzig Franken bekommen, aber Nicolette heißen.«

VI.
Die Magnon und ihre Kinder

Bei Gillenormand äußerte sich der Kummer als Zorn; es verdroß ihn, daß er solchen Gefühlen zugänglich war. Er hatte alle möglichen Vorurtheile und nahm sich alle Freiheiten heraus. Seine körperliche Rüstigkeit, auf die er sehr eitel war, brachte ihm bisweilen schnurrige Geschenke ein. So bekam er einst in einem Austernkorbe einen derben neugebornen, sorgsam in Windeln gewickelten Knaben zugeschickt, dessen Autorschaft ein sechs Monate zuvor weggejagtes Dienstmädchen ihm beimaß. Darob gewaltige Entrüstung in seiner Umgebung. Wem wollte das unverschämte Frauenzimmer weis machen, daß ein vierundachtzigjähriger, ehrwürdiger Mann so etwas begangen haben sollte! Welch eine abscheuliche Verleumdung! Gillenormand selber empfand keinen Unwillen. Er betrachtete vielmehr das Wickelkind mit der vergnügten Miene eines Manne, dem solch eine Verleumdung äußerst schmeichelhaft vorkommt, und sagte: »Nun, was habt ihr denn wieder? Was redet ihr da von Dingen, die ihr nicht versteht? Se. Hoheit der Herzog von Angoulême, Bastard Sr. Majestät Karls IX., heiratete im Alter von fünfundachtzig Jahren ein fünfzehnjähriges Gänschen; Herr Virginal, Marquis d'Alluye, Bruder des Kardinals von Sourdis, Erzbischof von Bordeaux, hatte im Alter von dreiundachtzig Jahren von einer Zofe der Frau Präsidentin Jacquin einen Sohn, ein echtes Kind der Liebe, der ein Malteser Ritter und Staatsrath wurde; einer der größten Männer dieses Jahrhunderts, den Abt Tabaraud, ist der Sohn eines siebenundachtzigjährigen Mannes. Darin liegt nichts Ungewöhnliches. Bedenkt doch, was die Bibel von manchen Patriarchen erzählt. Nun aber erkläre ich, daß der kleine Bursche nicht von mir ist. Behandelt ihn aber gut. Er hat keine Schuld.« Das war sehr gemüthlich. Ein Jahr darauf schickte ihm aber dieselbe Magd Magnon wieder einen kleinen Jungen. Dies Mal kapitulirte Gillenormand, indem er sich zu einer monatlichen Zahlung von achtzig Franken verpflichtete, unter der Bedingung, daß die Mutter ihn mit neuen Sendungen verschonen sollte. »Ich will;« fügte er hinzu, »daß die Mutter gut gegen die Bälge ist, und werde sie von Zeit zu Zeit besuchen.« Und das that er auch.

Ueberhaupt war er in Geldsachen großmüthig, also nicht wie sein verstorbener Bruder, ein Priester, der den Armen nur außer Kurs gesetztes Kupfergeld gab, um recht billig in den Himmel zu kommen. Unser Gillenormand dagegen gab gern und viel. In allen Dingen, meinte er, solle man ihm gegenüber großartig und nobel verfahren, sogar wenn man ihn betrügen wolle. Deshalb ärgerte er sich ganz besonders, als ihn einst Jemand bei einem Erbschaftsstreit auf eine plumpe, allzu augenfällige Weise übervortheilte: »Pfui, wie gemein er das angefangen hat! Heutzutage entartet Alles, sogar die Schwindler. So sollte man doch einen Mann wie mich nicht betrügen. Silvae sint consule dignae!«

VII.
Nur des Abends Besuche empfangen

In den ersten Jahren der Restauration wohnte Gillenormand, der damals noch »jung« – nämlich 1814 vierundsiebzig Jahr alt – war, in der Vorstadt Saint-Germain, Rue Servandoni, in der Nähe der Kirche Saint-Sulpice. Erst nachdem er aufgehört in Gesellschaft zu gehen, als er volle achtzig Jahre zurückgelegt hatte, war er nach dem Marais gezogen.

Seitdem hatte er sich in seine Gewohnheiten eingekapselt. Die hauptsächlichste und diejenige, von der er unter keinen Umständen abwich, war, daß er den Tag über seine Thür für Jedermann verschlossen hielt und um keinen Preis, hätte es sich auch um die allerwichtigste Angelegenheit gehandelt, irgend Jemand empfing. Er speiste um fünf Uhr und ließ sich dann sprechen. So war es Brauch im achtzehnten Jahrhundert, und Gillenormand wäre, selbst wenn der König sich bei ihm angemeldet hätte, nicht so kanaillös gewesen, ihn bei Tage zu empfangen.

VIII.
Ungleiche Schwestern

Gillenormand hatte zweimal geheiratet und von beiden Frauen wurde er mit je einer Tochter beschenkt. Diese beiden Mädchen, von denen die Eine zehn Jahre jünger war, als die Andere, hatten sich schon in der Jugend wenig geähnelt und waren, sowohl was das Gesicht, als auch den Charakter betraf, so wenig Schwestern, wie nur irgend möglich. Die Jüngste, eine idealistisch veranlagte, schwärmerische Natur, dachte nur an Blumen, Poesie, Musik, weilte beständig in höheren Regionen und träumte schon als Kind von einem Helden, der sie dermaleinst zur Gemahlin erkiesen würde. Die Aelteste hegte auch eine Chimäre in ihrer Phantasie in Gestalt eines gemüthlichen, dicken Armeelieferanten mit einem recht großen Geldsack und einem recht kleinen Verstandeskasten oder auch eines Präfekten, bei dessen offiziellen Festlichkeiten und Bällen sie sich als »Frau Präfektin« recht wichtig gebaren würde. Beide Schwestern stiegen also in das Reich des Ideals empor, aber die Eine mit Engelsfittichen, die Andere mit den Flügeln einer Gans.

Kein Ehrgeiz findet – wenigstens hienieden – völlige Befriedigung. Die jüngste Schwester heiratete wohl den Helden ihrer Jugendträume, starb aber schon im Alter von dreißig Jahren. Die Aelteste blieb unvermählt.

Zu dieser Zeit, wo sie zum ersten Mal in unserer Geschichte auftrat, war sie ein unnahbarer, alter Tugenddrache mit ungeheuer spitzer Nase und ungeheuer stumpfem Verstande. So sittig und schämig war sie, daß Einem vor ihr grauen konnte. Sie erinnerte sich z. B. stets mit Entsetzen, daß einmal ein Mann ein Strumpfband von ihr gesehen hatte.

Mit dem Alter hatte diese grimmige Schamhaftigkeit nur zugenommen. Ihr Busenschleier war nie dunkel genug und reichte nie hoch genug empor. Agraffen und Stecknadeln brachte sie massenhaft an, wo kein Mensch hinsah. Denn es ist der Zimperlichkeit eigen, daß sie um so mehr Schildwachen ausstellt, je weniger die Festung bedroht ist.

Unerklärlicher Weise war sie aber inkonsequent genug, sich ohne Mißvergnügen von einem Kavallerieoffizier, ihrem Großneffen, Namens Theodul, küssen zu lassen

Die Zimperlichkeit verbrämte sie passender Weise mit Frömmigkeit. Sie gehörte zur Genossenschaft der Mutter Gottes, trug bei gewissen Festen einen weißen Schleier, murmelte besondere Gebete, verehrte das »heilige Blut«, betete das »heilige Herz Jesu« an, hielt stundenlange Betrachtungen vor einem Rococoaltar in einer gewöhnlichen Gläubigen verschlossenen Kapelle und ließ ihre Seele unter dem marmornen Wolkenhimmel und dem blendenden Wiederschein des vergoldeten Schnitzwerks zu Gott emporsteigen.

Sie hatte eine Freundin, eine alte Jungfer wie sie selber, Namens Fräulein Vaubois, ein völlig stumpfsinniges Wesen, in Vergleich mit der sich Fräulein Gillenormand das Vergnügen gestatten durfte, sich für einen Ausbund von Klugheit zu halten. Abgesehen von Agnus dei und Ave Maria war Fräulein Vaubois gerade noch hell genug, um zu wissen, wie Früchte eingemacht werden. Wie der weiße Winterpelz des Hermelins durch keinen Flecken verunziert ist, so befleckte auch keine Spur von Verstand Fräulein Vaubois vollkommene Dummheit.

Es muß allerdings zugegeben werden, daß Fräulein Gillenormand mit zunehmendem Alter eher gewonnen, als verloren hatte, wie dies bei passiven Naturen der Fall zu sein pflegt. Sie war nie bösartig gewesen, was ja in einem gewissen Sinne als Güte gerechnet werden muß, und da die Jahre alle Ecken abnutzen, war sie mit der Zeit sanfter geworden. Auf ihrem ganzen Wesen lastete jetzt eine dumpfe Trauer, die sie selber nicht verstand, eine Art schmerzlicher Verwunderung über ihr Leben, das zu Ende ging und doch noch gar nicht angefangen hatte.

Sie führte ihrem Vater die Wirtschaft, wie das alte Fräulein Baptistine ihrem greisen Bruder, dem Bischof Bienvenu, haushielt. Welch' ein rührendes Bild, wenn zwei Schwache sich gegenseitig stützen!

Außerdem gehörte noch zur Familie ein kleiner Knabe, der beständig vor Gillenormand zitterte und ängstlich schwieg. Denn Dieser redete mit ihm nur in barschem Tone und oft gar mit dem Stock in der Hand: »Komm mal her. Du Schlingel! Antworte, Du Lümmel! Kriegt man Dich auch mal zu sehen, Taugenichts!« Dabei liebte er diesen Knaben, seinen Enkel, abgöttisch.


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