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Inzwischen hatte der Archidiakonus erfahren, auf welche wunderbare Weise die Aegypterin gerettet worden war. Er wußte nicht, wie ihm war, als er diese Nachricht erhielt. Er hatte sich in ihren Tod gefügt. Er war ruhig geworden, er hatte den bitteren Kelch bis auf die Hefe geleert. Es gibt einen Grad der Verzweiflung, den das menschliche Herz nicht überschreiten kann. Wenn der Schwamm voll ist, kann das Weltmeer über ihm zusammenschlagen, ohne daß er einen Tropfen weiter faßt. Esmeralda war todt, der Schwamm voll, der Priester hatte sich mit der Erde abgefunden. Jetzt lebte sie wieder, Phöbus lebte auch, seine Qualen begannen auf's Neue.
Als er die Nachricht von ihrem Leben erhielt, schloß er sich in seine Zelle ein. Er erschien bei keinem Gottesdienst, er ließ Niemand vor sich, selbst den Bischof nicht. So blieb er mehrere Wochen eingemauert. Man hielt ihn für krank, er war es auch.
Was that er in seiner Einsamkeit? Welche düstere Gedanken umschatteten seinen Geist? Kämpfte er den letzten Kampf mit seiner furchtbaren Leidenschaft? Wollte er sie besiegen, gab er ihr neue Nahrung im Dunkel seiner Zelle? Sann er auf Rache und Tod, wollte er die Beiden, wollte er sich selbst verderben?
Johannes, sein geliebter Bruder, sein verwöhntes Kind, kam einmal an seine Thüre, pochte, beschwor ihn bei allen Heiligen, fluchte bei allen Teufeln, nannte zehnmal seinen Namen; der Priester gab keinen Laut von sich und öffnete nicht.
Er brachte ganze Tage hinter seinem Fenster zu. Von diesem Fenster sah er die Zelle Esmeralda's, sah sie selbst mit ihrer Ziege, bisweilen mit Quasimodo. Er beobachtete die sorglichen Dienste des häßlichen Zwergs, seinen Gehorsam, seine blinde Ergebenheit im Dienste der Aegypterin. Jetzt erinnerte er sich des seltsamen Blicks, den an jenem Abend der Glöckner von seinem Thurme aus auf das tanzende Zigeunermädchen geworfen hatte. Was mochte wohl den Zwerg bewogen haben, sie zu retten? Er war Zeuge von tausend kleinen Scenen zwischen der Zigeunerin und dem Tauben. Die Pantomime derselben, von ferne gesehen und von der Eifersucht commentirt, erschien ihm sehr zärtlich. Der Geschmack der Weiber ist bisweilen sonderbar, er traute nicht. Jetzt erwachte in seinem Geist eine Eifersucht, an die er niemals gedacht hatte, eine Eifersucht, über die er vor sich selbst erröthete. Phöbus, der schöne Phöbus, das war natürlich; aber dieser häßliche Zwerg!
Solche Gedanken marterten ihn Tag und Nacht. Seit er die Zigeunerin wieder lebend wußte, waren die kalten Gedanken an Grab und Tod verschwunden, und die Lust des Fleisches erwachte heftiger als je; er wußte den Gegenstand seiner Leidenschaft so nahe bei sich. Das Bild des reizenden Geschöpfes schwebte ihm wachend und träumend vor.
Der Priester kämpfte lange mit dem Versucher, aber in einer Nacht wallte sein Blut, von der Einbildungskraft erhitzt, so heftig in seinen Adern, daß er ein Oberkleid umwarf und seine Zelle verließ, die Lampe in der Hand tragend, von Leidenschaft berauscht, mit brennendem Auge. Er trug den Schlüssel zur Galerie des Thurmes bei sich.
In dieser Nacht war Esmeralda sanft eingeschlafen. Sie träumte, wie immer, von ihrem Phöbus. Plötzlich hörte sie ein Geräusch in ihrer Nähe. Sie hatte den Schlaf eines Vogels, ein fallendes Blatt weckte sie. Sie öffnete ihre Augen, die Nacht war sehr dunkel. Der Schein einer Lampe fiel in ihre Zelle, unter der Fensteröffnung erblickte sie ein Gesicht, das sie betrachtete. In diesem Augenblicke wurde das Licht ausgeblasen, aber Esmeralda hatte bereits jenes unselige Gesicht erblickt. Der Schrecken schloß ihr die Augen wieder und sie sagte mit brechender Stimme: »Oh! der Priester!«
Ihre ganze unglückliche Geschichte trat wie ein Blitz vor ihre Seele. Sie fiel erstarrt auf ihr Lager zurück. Gleich darauf fühlte sie längs ihres Körpers eine Berührung, welche sie schaudern machte. Sie fuhr wüthend in die Höhe.
Der Priester hatte sich neben ihr niedergelassen und umschlang sie mit seinen beiden Armen. Sie wollte schreien und konnte nicht.
»Fort, Ungeheuer! Fort, Mörder!« sagte sie mit zitternder, von Zorn und Schrecken erstickter Stimme.
»Gnade! Gnade!« sagte der Priester und bedeckte ihren Hals mit Küssen.
Sie zerraufte ihm die Haare, schlug ihn ins Gesicht, gab ihm durch Wort und That ihren Abscheu zu erkennen. Umsonst, die Sinnlichkeit durchtobte die Adern des Priesters, und er suchte mit Gewalt zu erringen, was ihm die Neigung versagte. Das arme Mädchen war nahe daran, zu unterliegen, da faßte ihre Hand auf dem Boden etwas Kaltes von Metall. Es war Quasimodo's Pfeife. Sie nahm sie, brachte sie an ihre Lippen und pfiff mit aller ihr noch übrigen Kraft. Die Pfeife gab einen hellen durchdringenden Ton von sich.
»Was ist das?« fragte der Priester.
Gleich darauf fühlte er sich von einer kräftigen Faust gefaßt. Die Zelle war finster, er konnte nicht genau unterscheiden, wer ihn festhielt, aber er hörte vor Wuth die Zähne knirschen, und sah in der Dunkelheit über seinem Haupte eine breite Klinge blitzen.
Der Priester glaubte die Form Quasimodo's zu erkennen. Es konnte wohl Niemand anders sein, als der Zwerg. Er erinnerte sich, daß er im Hereingehen an einen Klumpen gestoßen hatte, der quer über der Thürschwelle lag. Er hielt seinen aufgehobenen Arm zurück und schrie: »Quasimodo!« Er vergaß in seiner Angst, daß Quasimodo taub war.
In einem Nu war der Priester zu Boden geworfen und fühlte ein schweres Knie über seiner Brust. An diesem krummen Fuße erkannte er, daß es Quasimodo war. Aber was sollte er thun? Wie sollte er sich zu erkennen geben? Der Taube hörte nicht, und die Dunkelheit machte ihn blind.
Er gab sich verloren. Das Zigeunermädchen zeigte kein Mitleid und that nichts, ihn zu retten. Die Klinge über seinem Haupte senkte sich, der kritische Augenblick war da. Plötzlich zauderte sein Gegner, den Streich zu führen. »Kein Blut über sie,« murmelte er vor sich hin.
Es war wirklich Quasimodo's Stimme. Er schleifte den Priester am Fuße außerhalb der Zelle, um ihn dort zu tödten, damit Esmeralda nicht mit Blut bespritzt werde.
Glücklicherweise war kurz zuvor der Mond aufgegangen, und ein schwacher Strahl desselben fiel auf das Gesicht des Priesters. Ouasimodo erkannte seinen Herrn, zitterte und ließ ihn los.
Die Aegypterin, die auf die Schwelle ihrer Zelle getreten war, sah mit Staunen schnell die Rollen wechseln. Jetzt drohte der Priester, Quasimodo flehte. Der Priester überhäufte den Tauben mit Geberden des Vorwurfs und Zorns, und gab ihm ein Zeichen, sich zu entfernen.
Der Taube senkte das Haupt, kniete vor den Eingang der Zelle nieder und sagte mit traurig-ernster Stimme: »Herr, tödte mich, dann thue was Du willst!«
Mit diesen Worten bot er dem Priester sein langes Messer dar. Der Priester, außer sich, griff darnach, aber Esmeralda war schneller als er, sie entriß das Messer den Händen des Zwergs und rief mit entschlossenem Muthe aus: »Komm jetzt, wenn Du es wagst!«
Sie schwang das Messer über ihrem Haupte, der Priester war unschlüssig. Er zweifelte nicht, daß sie ihn niederstoßen würde.
»Ha! Du wagst es nicht, Feigling!« jubelte das Mädchen. Dann fügte sie, wohl wissend, daß sie ihn dadurch am tiefsten verletze, mit triumphirender Stimme hinzu: »Ha! Ich weiß, daß Phöbus nicht todt ist.«
Der Priester warf mit einem gewaltigen Fußtritt den Zwerg zu Boden und ging dann, Wuth im Herzen, die Treppe hinab.
Als er fort war, hob Quasimodo das Pfeifchen auf, das die Aegypterin gerettet hatte, und gab es ihr zurück. »Es wäre fast verrostet,« sagte er, und entfernte sich langsam.
Esmeralda sank erschöpft auf ihr Lager und schluchzte. Der Priester war wieder da, das verkündete ihr Unheil.