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Nach fast vierjährigem Fernsein an einem Sonntagmorgen, Anfang Februar 1923, kam ich wieder in Riga an. Als ich mein neues Heim betrat, fand ich mein Zimmer mit meinen Sachen eingerichtet, die von Freundeshand während der Zeit meiner Abwesenheit behütet waren und nun, liebevoll bereitgestellt, mich grüßten. Es war alles so unwirklich: das neue Heim, die fremden Räume mit den alten, vertrauten Sachen, das Wunder, die Heimat, die man so oft im Traum geschaut, nun mit wachen Augen wiederzusehen, die alten Freunde, die mit tiefer Bewegung mich willkommen hießen – es war, als könnte man alles gar nicht tragen. Und wie eine Glocke klang es unaufhörlich in meinem Herzen: Nie, nie wieder gehe ich fort in die Fremde.
Am Nachmittag des ersten Tages um die Kaffeestunde versammelte sich alles, was noch an alten Freunden in Riga war, bei uns und empfing mich, als ich ins Zimmer trat, mit dem Choral:
»Lobe den Herrn, o meine Seele.«
Der Kaffeetisch war mit meinen Tassen und meinem Silber gedeckt, alles war voller Blumen. Wir setzten uns, im Kamin brannte ein Feuer. Unaufhörlich ging die Glocke, immer wieder wurden Briefe, Blumen, Gebäck und sonst allerlei gebracht, fast reichten Tisch und Stühle nicht mehr für die Fülle der Gaben. Es waren nicht nur die alten Freunde, die in solcher Weise an mich dachten, auch Fernstehende hießen mich in der Heimat willkommen. Wie reich machte mich diese Freundschaft und Liebe!
Immer wieder wurde ich von diesem und jenem gefragt:
»Nicht wahr, du gehst nicht wieder fort?«
Wie hatte ich nur so lange fortbleiben können? Hierher gehörte ich, hier hatte ich die Wurzeln meines Lebens.
Am anderen Morgen weckte mich das Engelterzett aus dem »Elias« von drei schönen Stimmen gesungen: »Hebe deine Augen auf.«
Es waren Freundinnen, ehemalige Schülerinnen, die mich damit weckten. Ich lag ganz still und horchte auf das Singen und sagte mir immer wieder das eine: ich bin daheim!
Der Alltag trat nun in seine Rechte, aber es gab ja gar keinen Alltag, denn die Festtagsfreude erlosch nicht im Herzen. Immer noch kamen Bekannte, um mich wiederzusehen, frühere Schülerinnen; manche brachten mir ihre Kinder, die ich noch nicht kannte, und die mit Blumen in den kleinen Händen mich grüßten.
Auf die Straße wagte ich mich in der ersten Zeit nur ungern, denn das Straßenbild war ein anderes geworden, Riga war keine deutsche Stadt mehr, sondern eine lettische. Überall las ich lettische Aufschriften, hörte fast nur lettisch sprechen, das alles war seltsam und fremd. Aber dieser erste Eindruck verlor sich, und immer mehr kam das alte Riga für mich zum Vorschein, standen doch die alten Häuser, unsere lieben Kirchen noch, lebte doch noch überall die frühere Wärme und Hilfsbereitschaft unter uns.
Mein erster Ausgang galt dem alten Freunde Hans Schmidt, der schwer leidend war; als er meine Stimme hörte, kam er mir sofort entgegen. Kaum konnte ich meiner Bewegung Herr werden. Als ich seine bebenden Hände ergriff und ihm ins verstörte Gesicht blickte, wußte ich, daß er ein dem Tode Geweihter war.
Immer wieder dachte ich: wie schön, daß ich kam, wie gut, daß ich da sein darf, vielleicht kann ich dem Freunde, dem ich so unendlich viel zu danken habe, doch eine kleine Erleichterung, ein Stückchen Freude und Freundschaft für die letzte Zeit seines Lebens bringen. Ich saß ihm gegenüber in seinem schönen, mir so vertrauten Heim und versuchte, fröhlich und mutig mit ihm zu reden. Der Jammer um ihn zerriß mir das Herz. Sein Gesicht war merkwürdig starr, der Ausdruck seiner Augen fast hart, kein Lächeln trat auf seine Lippen. Er hatte zu viel gelitten, das fühlte ich.
»Es ist gut, daß Sie da sind,« sagte er plötzlich, »es ist wirklich gut.«
Dabei traten Tränen in seine Augen und rollten langsam die Wangen herab.
Es waren ihm noch schwere Leiden vorbehalten: sein klarer Geist wurde dunkel und sein beredter Mund stumm, aber er war nicht allein. Sein Freund, der seit Jahren sein Leben mit ihm geteilt hatte, nahm in unwandelbarer Treue und unendlicher Geduld sein Leiden mit auf sich. Er ging mit ihm, bis er seine Augen schloß.
Es war Herbst, als er starb. Er, der der Inbegriff des Lebens war, dessen ganze Natur sich gegen Sterben und Vergehen aufbäumte, er, dem vor dem Tode graute, weil er in ihm den Vernichter des Lebens fürchtete, das alles, alles half nichts – er mußte sterben.
»Also ward der Mensch eine lebendige Seele«, war der Text seiner Grabrede. Eine lebendige Seele, das war er – eine lebenspendende.
Als man seinen Sarg aus dem Hause trug, sangen wir:
»Licht nach dem Dunkel,
Ruhe nach Streit!
Sonne nach Regen,
Wonne nach Leid!«
Er ruht unter seinem Grabhügel, auf dem Blumen blühn, aber nicht dort suche ich ihn, sondern in meinem Leben.
Es war seltsam, aber ich hatte fest daran geglaubt, daß die Heimat mir völlige Genesung von meinem Nervenleiden bringen würde. An diesem Glauben hielt ich noch immer, auch als Monate vergangen waren und ich keine Besserung spürte. Es war oft eine große Unruhe in mir, denn immer wieder dachte ich, es käme nur darauf an, den richtigen Weg zu finden, um gesund zu werden. Da kam eine Autorität für derartige Erkrankungen aus Deutschland nach Riga, Freunde konsultierten ihn für mich. Nach genauester Untersuchung nahm er mir jede Hoffnung auf Genesung. Aber diese Erkenntnis, so hart sie auch war, hat mir doch allmählich ein großes Stück Ruhe gegeben und damit einen Teil meiner alten Leistungsfähigkeit. Mein ganzes Leben ist jetzt auf einen stillen Kampf gestellt, auf einen Kampf gegen Schwäche und drohende Hilflosigkeit. Es gibt ein wunderschönes Pauluswort, das von der Kraft spricht, die grade in den Schwachen mächtig ist. Dieses habe ich selbst erlebt. Manchmal ist mir's, als leistete ich jetzt sogar mehr als früher, denn ich habe zwei Berufe, von denen jeder eigentlich einen ganzen Menschen fordert: meine Gesangstunden und meinen Schriftstellerberuf. Oft fühle ich zu meinem eigenen Staunen, daß dieser Kampf nicht schwach macht, sondern stark, und daß das Leben durch ihn nicht ärmer, sondern reicher und vertiefter wird.
Ich wohne noch immer in dem Freundeshause, das mich bei meiner Heimkehr aufnahm, mit dessen Leben ich mich stets fester und tiefer verwachsen fühle. Zarte Fürsorge und feines Verstehen umgeben mich, und viele freundliche Hände sind hilfreich für mich da und lassen mich meine Krankheit nicht gar zu schwer empfinden.
Wenn ich in meinem schönen Musikzimmer am Fenster sitze, blicke ich auf eine Gruppe edler, hoher Schwarzwaldtannen. Wenn sie im Winter vom Schnee tief gebeugt dastehen, erinnern sie mich an meinen lieben Wald in Königsfeld, meine Gedanken ziehen dahin, aber ohne Sehnsucht, denn die Wanderlust in mir hebt nie mehr die Flügel.
Der Vogel hat sein Haus gefunden
Und die Schwalbe ihr Nest.
In mein Zimmer voll Sonne und Blumen kommen so manche, die vom Leben müde geworden sind, denn es lastet oft schwer auf uns Balten, namentlich auf uns baltischen Frauen. Armut, übermäßige und ungewohnte Arbeit sind schwer zu tragen für solche, die bisher in breiten und bequemen Verhältnissen gelebt; es sind oft stille Heldinnen unter ihnen. Mich macht es glücklich, wenn sie bei mir auf eine kleine Weile die Bürden ihres Lebens beiseite stellen und vergessen können.
Nun ist's eine ganze Weile, daß ich wieder daheim bin.
»Haben Sie sich auch eingelebt?« werde ich noch oft gefragt, und kann darauf nur eine Antwort geben: »Nie war ich ausgelebt aus der Heimat, in die ich gehöre, wie der Baum in sein Erdreich.«
Ich habe wieder meine alte, künstlerische Arbeit gefunden und stehe mitten drin, voller Interesse, wie einst. Die Zeiten in Königsfeld, meine Arbeit dort, erscheinen mir oft, wie auf einem anderen Stern gelebt. So schließt mein Leben jetzt sich an das alte, das ich früher gelebt habe. Es ist wie sonst: Schüler kommen und geben, und den ganzen Tag erklingt Gesang aus meinem Zimmer. Wohl ist's eine andere Welt, die mich umgibt, eine andere Jugend, zum großen Teil ein anderes Volk, das sich zu meinen Stunden findet. Aber es ist doch die alte Arbeit, die man an neuen Menschenseelen leistet; und der Geist, aus dem ich arbeite, ist der alte.
Wenn ich mein Leben überblicke, wie es mir jetzt aus diesem Buch entgegenstrahlt, so ist mir's, als müßte ich staunen über die Fülle, aus der ich schöpfen durfte, und ein Gefühl von Dankbarkeit erfüllt mich: Wie reich kann ein kleines Menschenleben sein!
Aber es ist in der Hauptsache vorüber und gelebt. Wie ein Geschenk, mit dem man nicht mehr rechnen kann, ist in meinem Alter ein jedes Jahr, in dem man noch leben und arbeiten darf.
Eine heimatliche Schriftstellerin sagt am Schlusse ihres Buches: es sei seltsam, daß man zuweilen so fühlen kann, als klängen Glück und Schmerz zusammen in einen Ton, das sei unbegreiflich, aber wunderbar schön!
An diese Worte muß ich denken, jetzt, wo ich mein Buch schließe und mein Leben überschaue.
Schmerz und Glück meines langen Lebens klingen mir zusammen aus in einem Ton, und der wird zu einem vollen, tiefen Dank für alles, was gewesen ist. Nun weiß ich es: es war trotz allem wunderbar schön zu leben; und wie es war, so war es gut.