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Auf dem Stuhl neben Dr. Splitterichts Pult saß die alte Frau Kelle, die zur Vernehmung vorgeladen war. Sie hatte ihre beiden Krücken hinter sich an die Wand gelehnt und erzählte munter drauf los mit ihrem freundlichen, alten Gesicht, das in seinem lebhaften Mienenspiel in einem fast jugendlichen Gegensatz stand zu dem gebrechlichen Körper.
»Sehn Se,« sagte sie, »sehn Se, Herr Kommissar, ick kann ja so jut wie nischt mehr tun! – Wenn man so achtundsiebzig is, un so sein janzet Leben hintern Waschzuber jestanden hat ... da sind die Knochen müde ... un denn ewig in det kalte Wasser pantschen ... sehn Se doch!«
Sie zeigte ihre braunen, von der Gicht verkrümmten Hände.
»Ick kann ja kaum noch wat anfassen! ... De Beene, mit die is ooch alle, da hab' ick zweemal 'n Schlaganfall jehabt, erscht uff de linke, un denn uff de rechte Seite ... nu, nu humple ick an meine Krücken jeden Morjen, wenn't Wetter scheen is, uff de Straße und setz ma dahin in de Sonne un laß mir so recht scheen von ihr anwärmen!«
»Und da saßen Sie auch am 14. April vor der Tür? ... War es denn ein schöner Tag, daß Sie draußen sitzen konnten? ... Und woher wissen Sie, daß es gerade der 14. April war, an dem Sie das beobachtet haben?«
Die Alte hob die verrunzelte Hand mit dem verkrümmten Zeigefinger und lachte pfiffig.
»Der 14. April, det is vor mir een kritischer Tag erster Ordnung, Herr Kommissar! Da hab ick meinen Mann kennenjelernt! Un det olle Unjewitter. Jott hab 'n selig, wenn er ooch nich ville jedoocht hat, der sagte immer zu mir: ›Amalie!‹ sagte er – denn er jab watt uff ne feine Aussprache – ›det verjesse nie nich, det wir am 14. April zum erstenmal bei Puhlmanns jedanzt haben!‹ ... Ja, un denn is doch ooch unser Jretchen geboren am 14. April ... un wie sen mir nach Hause jebracht haben, weil er von Steenwajen jekippt is in sein Suff, un de Räder übern weg, un war mausedod uff de Stelle, det war ooch an 14., aber in September ... nich wahr, wie kann ick n' da son Datum verjessen!«
Der Kommissar nickte voller Verständnis. Er gehörte nicht zu denen, die sich jeden Einblick in das Innenleben des Befragten von vornherein dadurch verschließen, daß sie nur fragen und immer nur das wissen wollen, was sie interessiert; Dr. Splittericht wußte, daß man von den kleinen Leuten besonders dann am meisten erfährt, wenn man sie, selbst ein bißchen weitschweifig und auf Umwegen, auf dem eigenen Gedankengang zum Ziele kommen läßt. Er nickte also und fragte:
»Und als Sie da saßen? ... um welche Zeit war denn das ungefähr?«
»Det war eben zehne ... de Kirchenuhr hatte jerade jeschlagen, un denn war ick ja ooch man eben runterjekommen un vor halb komm ick doch nich wech.«
»Und da saßen Sie und sahen, wie der Milchmann aus dem Hause herauskam und ...«
»Jawoll, Herr Kommissar ... so war't ... Der Milchmann kam raus, ick jloobe, er heeßt Lehmann un is aus Marienfelde ... un denn mit ihm kam de Kruschken, wat de Portiersche is, die dut doch den janzen jeschlagenen Dag nischt anners wie rumloofen und klatschen ... un denn die Frau Adelband aus Nummer 19 ... die bei die Ermordete die Uffwartestelle jehatt hat ... der ihr Mann arbeit uff die Likörfabrik un is ooch immer blau ... un Kinner hat se keene, da nimmt sie denn sone Stelle an! ...«
»Die Portierfrau ging dann wieder zurück ... Was war nun? ... Wer kam nun?«
»Na nun kam der Herr ... der kam aus't Haus raus ...«
»Wie saßen Sie denn? ... Saßen Sie rechts vom Haustor oder links davon?«
»Nee, ick sitze immer rechts ... weil doch links der Schusterladen is ... da sitz ick denn uff mein kleenen Stuhl mit's Kissen druff und lehne mir an ... manchmal da lese ick ooch 'n bisken in de Zeitung ... aber de mehrschte Zeit kuck ick so, wat los is, denn los is ja immer wat! ...«
»Und da trat also der Herr aus der Haustür ... Wollte er nun auch nach Ihnen zu gehen? Bog er nach Ihrer Seite um?«
»Ja, zuerst ja! ... Aber wie er mir denn merkte un sah, det ick dasitze un beobachte ihm, da dreht er plötzlich wieder um und jing ab nach Borke!«
Auf des Kommissars etwas erstaunten Blick setzte sie hinzu mit einem halben Lächeln:
»Ach, det is man sone Redensart! ... Ick meene, er drehte mir 'n Rücken zu und trudelte wech ... Aber det hatte ja natürlich ja keen Zweck nich mehr! Ick hatt'n ja doch schon jesehn! Un wenn ick mal erscht eenen int Ooge jefaßt habe, der kann machen, wat er will! Den behalt ick un kenn ihm ooch wieder! ... nach Jahren noch!« Der Kommissar nickte.
»Sie würden also den Mann unweigerlich wiedererkennen ... wie sah er dann aus?«
»Na, er trug son Schwalbenschwanz ...«
»'n Frack?«
»Ach, Jott bewahre! ... Den tragen bloß die Kellners! ... Wat der trug, det war son vorne schräg abjeschnittner Rock, wie sie jetzt so modern sind ... un dazu hat er 'ne dunkle Hose anjehabt, ob se jrade janz schwarz war, det weeß ick nich ... aber er hatte 'ne Tiete in de Hand ...«
»Konnte man der Form nach etwa vermuten, was in der Tüte war?«
Die alte Frau hob ihre mageren Schultern.
»Det is schwer zu sagen ... Wissen Se, Herr Kommissar, 'ne Tiete is ne Tiete ... un wenn man nich rinkucken kann! ... Aber det hab' ick jesehn: 'ne Zuckertiete war et nich, so jroß war se un aus son leichtet knittrijet Papier ...«
»Und die Form? ... Sah sie etwa so aus, als ob ein Hut drin wäre? ... Ein Herrenhut ... ein Zylinder vielleicht?«
Die Alte wandte sich mit einem Ruck nach rechts und sah den Kommissar groß und verwundert an.
»Ja, woher wissen Sie denn det? ... Sie waren doch janich dabei! ... Jewiß! ... Ja ... det war 'ne Tiete, wie se se in der Hutjeschäfte haben ... Wie meine Enkeltochter, die Lucje sich neulich 'n Hut gekooft hatte, da war er ooch in sone Tiete! ...«
»Und auf dem Kopf trug der Mann eine Mütze?«
»Janz recht, sone graue aus jlänzenden Stoff mit kleene Karos ...«
»Und eine Brille hatte er auf?«
Mit heftiger Bewegung verneinte die alte Frau diese absichtlich so gestellte Frage:
»Aber nee, Herr Kommissar, im Jegenteil, er hatte jarnischt uff ... det hätt' ick doch sehn müssen, wenn er wat uff de Nase jehabt hätte ...«
Der Kommissar suchte im Schubfach seines Schreibtisches und holte dort ein Monokel hervor, das er ins Auge klemmte.
»Hat der Mann vielleicht solch Glas getragen?«
»So eens? ... nee ... aber ick kann's nich sagen, Herr Kommissar ... De Sonne schien so, un hat mir woll geblendet ... wer weiß ...«
Aber Lackstiefel hatte er an?«
»Ja, un son weißet Vorhemde, det blitzte ordentlich!«
»Wie sah denn das Gesicht aus? ... Haben Sie das gesehen?«
Der Kommissar wußte, daß da, bei der Schilderung der Gesichtszüge, auch die genauesten Zeugen versagen; einfach aus dem Grunde, weil es schon eines hohen Grades von Intelligenz, ja von künstlerischer Begabung bedarf, sich die Linien eines Menschenantlitzes so einzuprägen, daß man sie später noch im Geiste sieht; und weil es noch schwieriger und darum die Fähigkeit noch seltener ist, das Geschaute vor dem Hörer wieder lebendig werden zu lassen.
Die alte Frau versagte hier vollkommen. Dr. Splittericht meinte:
»Es ist eine Belohnung von 3000 Mark auf die Ergreifung des Mörders ausgesetzt. Wenn es gelingt, ihn mit Ihrer Hilfe, nach der von Ihnen gegebenen Beschreibung, meine ich, wenn auf diese Art der Mörder gefaßt wird, so muß Ihnen ein Teil der Belohnung zugesprochen werden, Frau Kelle ... Dafür werde ich sorgen ...«
Der Alten bemächtigte sich eine große Aufregung; sie fing an; mit ihren gichtigen Händen auf der blaugemusterten Schürze fahrig hin und her zu tasten, und ganz ängstlich fragte sie:
»Also, Herr Kommissar, wieviel ... wieviel würde ick denn da woll kriejen?«
Dr. Splittericht, den das Geld sowenig lockte, der deshalb auch die Geldgier, die bei hoch und niedrig gleichermaßen die Krallen reckte, am wenigsten begriff, der sah auf sein Protokoll und erwiderte gleichmütig:
»Vielleicht den dritten, vielleicht auch nur den vierten Teil der Summe, je nachdem, wieviel Leute sonst noch an der Ergreifung des Schuldigen beteiligt sind ... Polizeibeamte haben keinen Anspruch auf die Belohnung.«
»Ja, wissen Se,« die Alte lachte trocken und hüstelte verlegen, »wissen Se, Herr Kommissar, ich mecht' et so jerne vor mein Enkelchen, vor die Lucje habe, die hat nämlich eenen von de Sipo, un wenn da keen Geld nich da is, denn könn' se nich heiraten! ... Se hat ja woll jespart, aber et reicht doch nicht! ... et reicht doch nich! ...«
Der Kommissar nickte nur:
»Aber wie der Mann aussah, daran können Sie sich nicht erinnern?«
Da, unter der gewaltsamen Anstrengung ihres alten Herzens, das dem geliebten Enkelkind ein Lebensglück sichern wollte, kam es über die alte Frau wie Eingebung und Erleuchtung ... Der vertrocknete Quell ihres Gedächtnisses sprang auf, ihre Pupillen weiteten sich, ihr Blick wurde starr: und mit einem Gefühl grausiger Bewunderung sah der Kommissar in das Gesicht einer Fernseherin, deren wegmüder Geist, durch das Unwirkliche irrend, in der Vergangenheit Ort und Stunde nach den verlorenen Eindrücken abtastete ...
Die braunen Hände mit den krummen Fingern griffen krallig in die Luft, der welke Mund wollte Worte formen, und nur halb hörbar murmelte sie:
»… Sone Schatten um de Augen, wie bei'n Doten ... un der Mund so zu, janz fest zu ...« sie preßte ihren Mund in die Breite ziehend, die Lippen streng aufeinander, »un janz blaß ... janz blaß war er ...«
Die zu große Anstrengung des Mütterchens wich der Erschlaffung. Sie begann zu zittern und zu weinen.
Mit geheimem Schauder war ihr der Kommissar gefolgt ins Unsichtbare ... Es gab für ihn keinen Zweifel mehr, er irrte sich nicht! ...
So half er der Alten durch freundliche Rede und mit einem Glase Wasser sich beruhigen. Dann entließ er sie mit dem Trost, ihr werde sicher ein Teil der ausgesetzten Belohnung zufallen.
Sie lachte und weinte und wollte seine Hand nicht loslassen, als er die auf ihren Krücken Humpelnde sanft zur Tür hinausschob.