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Jenes Gespräch zwischen ihrem kranken Gatten und dem Geheimrat, bei dem ihre Anwesenheit so wenig erwünscht war, hatte Frau Ellinor sehr zu denken gegeben. Oder vielleicht war das nicht einmal der richtige Ausdruck für den verworrenen und von tausend Kreuz- und Querfäden durchzogenen Gedankengang der schönen Frau.
Jetzt, wo sie auch in ihrer eigenen Familie so gut wie niemand hatte, der ihr ein wenig Trost und Fassung gab, kam sie sich immer wie ein gehetztes Wild vor, dessen ganzes Sinnen und Trachten auf einen Ausweg gerichtet ist, um den Gefahren zu entfliehen, die immer wilder und drohender sich vor ihr auftürmten. Sie war überzeugt davon, das ihr Mann auch seinem Bruder nunmehr Mitteilung gemacht hatte von ihren verbrecherischen Taten. Und so wenig fand ihr kranker Geist sich in den Herzen und Gesinnungen ihrer nächster Verwandten zurecht, daß sie glauben konnte, auch von dieser Seite müsse sie mit der Möglichkeit einer Anzeige rechnen.
Zu Hause litt es sie nun garnicht mehr. Sie war fortwährend unterwegs, hielt sich hier und dort kurze Zeit auf oder fuhr in ihrer Ratlosigkeit und inneren Unruhe von einem Geschäft ins andere, wagte aber jetzt doch nicht, die Hand nach irgend einem Gegenstande auszustrecken.
Eines Tages war nun auch ihr Geld bis auf wenige Mark verausgabt, sodaß sie ratlos hin und her sann, wie sie sich neues verschaffen könnte. Waren doch diese peinlichen Geldverlegenheiten für sie mit die Ursache, daß sie ihre Hand nach den verführerischen und ihr in den Geschäften so bereitwillig vorgelegten Spitzen und Geweben ausstreckte
Hundert Pläne gingen ihr durch den Kopf. Sie dachte daran, wieder einmal in die Provinz zu fahren, um dort eine kleine Gastrolle zugeben, war fünf Minuten lang sogar fest entschlossen, einem der großen Geschäfte in Berlin selbst ihren Besuch abzustatten, natürlich auch nur, um ohne Vorwissen der Verkäufer Waren zu entnehmen, und verfiel schließlich, von einer nicht zu bannenden Mutlosigkeit umklammert, doch nur auf die Idee, eines ihrer letzten Besitztümer an echten Spitzen zur alten Margutta hinzutragen, um so wieder Geld in die Hände zu bekommen.
Ein instinktives Gefühl warnte die schöne Frau vor diesem Besuch. Auch hatte sie den ganzen Morgen bereits mit der furchtbaren Gier nach jenem Gifte gekämpft, ohne das ihr Leben jeden Halt verlor. Bis jetzt war sie Siegerin geblieben in diesem ungleichen Kampf. Aber als sie nun fertig angekleidet war, überfiel sie ein so schreckliches Zittern, und dann, nachdem die Erschütterung der Seele sich gegeben hatte, stellte sich wie immer eine vollständige Lähmung der Willenskraft ein.
Sie konnte nicht anders, sie ging zurück in ihr Schlafzimmer, verschloß die Tür hinter sich und griff zum Morphium, das sie sich längst wieder verschafft hatte.
Schnell war die zierliche Spritze gefüllt und die Injektion an der durch kleine Narben bereits kenntlichen Stelle unterhalb des rechten Knies ausgeführt.
Ein paar kurze Augenblicke, dann sank Frau Ellinor auf das Ruhebett zurück und begann tief und regelmäßig zu atmen. Sofort fühlte sie sich glücklich in ihrer süßen Betäubung. Dieser Zustand währte mehrere Minuten, dann begann jenes Rieseln in all ihren Adern. Es war, wie wenn ein Kraftstrom den ganzen Körper durchbrauste. Ellinor erhob sich mit blitzenden Augen und gespannten Muskeln, fähig zu allem, was sie sich vornehmen würde.
Als sie die Treppe ihres Hauses hinabging, wunderte sie sich, daß niemand ihrer Angehörigen sie zurückhielt oder ihr wenigstens eine Begleitung mitgab. Der Gedanke lag so nahe, daß sie selbst sicherlich darauf verfallen wäre. Aber der Grund dieser Unterlassung konnte ihr ja nicht verborgen bleiben: er war zweifellos in der noch keineswegs behobenen Krankheit ihres Gatten zu suchen und in der ängstlichen Scheu, mehr Personen, als irgendwie nötig, in die böse Sache hineinblicken zu lassen. Allerdings hätte in ihrem jetzigen Zustande es auch niemand so leicht fertig gebracht, Frau Ellinor von ihrem Vorhaben abzubringen.
Im Gefühl einer Heiterkeit, die ihr in der letzten Gewißheit durchdrungen, daß ihr nichts geschehen könne, ging sie, schön und stolz wie immer, die Straße hinauf bis zum nächsten Droschkenstand und setzte sich dort in einen Wagen. Sie nannte dem Kutscher ein beliebiges Ziel und paßte auf, bis sie an einem Halteplatz für Automobile vorüberkamen, um dann in einem solchen schnell weiter zu fahren.
An der Ecke der Kaiser Wilhelmstraße ließ sie das Auto halten, um sich in die Rosenstraße zu begeben.
Und auf einmal, mitten in ihre Zuversicht hinein, kam ihr wieder der Gedanke, daß sie einer Gefahr, einer unbekannten und doch vielleicht ganz nahen Möglichkeit des Verderbens entgegengehe.
Sie blieb stehen und ging zurück bis an die Ecke.
Dann aber lächelte sie über dieses »Gespenstersehen«, wie sie es selbst innerlich nannte, und schritt abermals vorwärts.
Wie immer bei solchen Gängen, paßte sie genau auf alles, was um sie vorging, auf, und so entging es ihr nicht, daß drüben auf der andern Seite eine Frau im Schaufenster eines Geschäftes stand und zwischen den alten Uniformen, die dort feilgeboten wurden, zu ihr herüberwinkte.
Nur einen Augenblick war Frau Ellinor im Zweifel, ob dies Winken ihr galt, dann ging sie schnell über die Straße in den Laden. In der Tür trat ihr die Person schon entgegen mit den Worten: »Nun, was is? Ich hab' Sie doch nich gerufen!« Gleichzeitig steckte jedoch die schmutzige Hand des Weibes einen Papierstreifen in den Handschuh der Dame und ebenso schnell auch schon zwängte die Händlerin die Eingetretene wieder zur Tür hinaus.
Frau Ellinor empfand, daß sie hier in einer wahrscheinlich sehr gefährlichen Lage war. Aber ihre Geistesgegenwart und Selbstbeherrschung mußte man bewundern, sie dachte gar nicht daran, schneller zu gehen oder ein Zeichen der Angst, des Mißtrauens zu geben, das von jemand hätte bemerkt werden können.
Mit langsamen Schritten überquerte sie die Straße und noch ehe sie den jenseitigen Fußweg erreichte, hatte sie auch den Inhalt des Papierstückchens überflogen, auf dem nichts weiter als das eine Wort stand: »Polente«.
Ellinor kannte diesen Rotwelsch-Ausdruck nicht, aber sie war trotzdem keinen Augenblick im Zweifel, daß darin eine Warnung vor der Polizei enthalten war, die ihr auflauerte. Doch auch jetzt blieb sie vollkommen ruhig.
Ja, sie ging sogar auf dem jenseitigen Fußweg noch einige Schritte weiter.
Da sah sie, wie ihr zwei Männer, die auch der Laie als Kriminalpolizisten erkennen konnte, in einer Entfernung von vielleicht hundertfünfzig Schritt entgegenkamen.
Die Straße war sonst ziemlich menschenleer.
Frau Ellinor drehte sich rasch um, und trotzdem sie wohl bemerkte, daß die beiden Männer zu laufen anfingen, ging sie selbst nur in beschleunigtem Tempo die wenigen Schritte bis zur Ecke und um diese herum, wo ihr Automobil wartete.
Im nächsten Augenblick saß sie darin, und der Wagen rollte puffend davon. Wohl hörte sie ein »Halt, halt!« hinter sich her rufen, und für einen Augenblick setzte ihr Herzschlag aus, dann aber atmete sie tief auf.
Der Fahrer, dem sie noch zugerufen hatte: »So schnell als möglich, ich habe große Eile!« hatte entweder jenen Ruf gar nicht vernommen oder nicht auf sich bezogen, und in wenigen Minuten war das Automobil den Blicken der Verfolger entschwunden.
Mit einem tollen, übermütigen Lachen warf sich Frau Ellinor zurück in die Kissen. O, sie war gefeit! Kein Mensch würde je imstande sein, ihr etwas anzuhaben.
Zu Hause fand sie einen Brief vor, der den Poststempel London trug. Er war von Margutta Makropolska. In einem gräßlichen Kauderwelsch schrieb die Alte, daß es ihr gelungen sei, nach England zu entfliehen und daß sie »ihr Täubchen, ihr bestes, ihr liebstes« ausdrücklich warnte, ja nicht mehr in die Rosenstraße zu gehen, wo die Kriminalpolizei ihr ganzes Warenlager aufgehoben und die Recha Wollberg, genannt »Spitzfinger«, verhaftet hätte. Die könnte aber nichts aussagen, denn sie wüßte ja den Namen Frau Ellinors gar nicht. Sie sollte also ganz unbesorgt sein und sich nur vorläufig hübsch still zu Hause verhalten. Am besten aber wäre es, sie machte auch, daß sie fortkäme, drüben in England ließen sich noch tausendmal bessere Geschäfte machen und sie, die alte Margutta, wartete nur darauf, »ihr Goldtäubchen, ihr gutes, ihr einziges« wiederzusehen und wieder die schönen, prächtigen Spitzen von ihr zu kaufen.
Nachdem die junge Frau diesen Brief gelesen und immer wieder gelesen hatte, kam es ihr vor, als sei jetzt plötzlich eine Erleuchtung über sie gekommen. Sie wußte nun, was sie wollte: Fort wollte sie! … Fort von hier, nicht für immer, aber so lange, bis alle sich beruhigt hatten, bis ihr Mann wieder ausgesöhnt war und jener Schuft im Gefängnis saß, den sie für die eigentliche Ursache ihres Unglücks hielt. Denn das nahm sie sich fest vor, diesen Anton H. Wisecky, den wollte sie erst noch ins Gefängnis bringen. Natürlich mußte sie sich die Mittel zur Reise auch erst noch verschaffen, aber das würde ihr schon glücken! Gab ihr Mann ihr das Geld nicht, so bekam sie's anderswo her.
Von all den Anstrengungen der letzten Stunden schwer ermüdet, legte sie sich gleich zu Bett und atmete wenige Minuten später in einem so festen traumlosen Schlummer, wie ihn sonst nur ein Mensch hat, dessen Herz und Gewissen frei von jeder Schuld und Sorge ist.