Henrik Ibsen
John Gabriel Borkman
Henrik Ibsen

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Vierter Akt

Offener Platz vor dem Hauptgebäude des Gutshofes, das rechts liegt. Man sieht eine Ecke des Hauses mit einem Portal, zu dem eine niedrige steinerne Treppe hinaufführt. Den Hintergrund entlang, bis dicht an das Gut hin, dehnen sich schroffe, tannenbewachsene Abhänge aus. Links vereinzelt kleine Gruppen niedrigen Gehölzes. Das Schneegestöber hat aufgehört, der frischgefallene Schnee aber hat den Boden mit einer hohen Decke überzogen. Ebenso die Tannen, deren Zweige sich schwer beladen neigen. Dunkle Nacht. Treibende Wolken. Der Mond tritt hie und da schwach hervor. Nur der Schnee wirft einen matten Widerschein auf die Umgebung.

Borkman, Frau Borkman und Ella Rentheim stehen draußen auf der Treppe. Borkman lehnt sich müde und abgespannt an die Mauer. Er hat einen altmodischen Mantel über die Schultern geworfen, hält einen weichen, grauen Filzhut in der einen Hand und einen schweren Knotenstock in der andern. Ella Rentheim trägt ihren Mantel auf dem Arm. Frau Borkman ist das große Tuch über den Nacken herabgeglitten, so daß ihr Haar unbedeckt ist.

Ella hat sich Frau Borkman in den Weg gestellt. Geh ihm nicht nach, Gunhild!

Frau Borkman in angstvoller Aufregung. Laß mich durch, sag' ich! Er darf nicht von mir gehen!

Ella. Es ist ganz zwecklos, sage ich Dir! Du holst ihn doch nicht ein.

Frau Borkman. Laß mich's versuchen, Ella! Ich werde laut hinter ihm herschreien, die Landstraße hinab. Und den Schrei seiner Mutter, den muß er doch wohl hören!

Ella. Er kann Dich nicht hören. Er sitzt sicherlich schon im Schlitten –

Frau Borkmann. Nein, nein, – er kann doch noch nicht im Schlitten sitzen!

Ella. Er sitzt längst im Schlitten, verlaß Dich drauf.

Frau Borkman in Verzweiflung. Wenn er im Schlitten sitzt, – dann sitzt er da mit ihr, mit ihr, – ihr!

Borkman mit finsterem Lachen. Und da hört er gewiß den Schrei seiner Mutter nicht.

Frau Borkman. Nein, – da hört er ihn nicht. Lauscht. Still! Was ist das?

Ella ebenfalls lauschend. Es hört sich an wie Schellenklang.

Frau Borkman mit einem gedämpften Ausruf. Es ist ihr Schlitten!

Ella. Oder vielleicht ein anderer –

Frau Borkman. Nein, nein, es ist Frau Wiltons Schlitten. Ich kenne die Silberschellen! Horch! Jetzt fahren sie gerade hier vorbei – am Hügel unten!

Ella schnell. Gunhild, wenn Du hinter ihm herschreien willst, dann tu es jetzt gleich! Vielleicht wird er doch noch –!

Der Schellenklang ertönt ganz nahe im Walde.

Ella. Beeil' Dich, Gunhild! Jetzt sind sie gerade unter uns!

Frau Borkman steht einen Augenblick unschlüssig, erstarrt dann wieder zu eisiger Härte. Nein. Ich schreie nicht hinter ihm her. Erhard Borkman mag an mir vorüberfahren. Hinaus in die weite Ferne, – dem entgegen, was er jetzt das Leben nennt und das Glück.

Das Geläute verliert sich in der Ferne.

Ella nach einer Pause. Jetzt hört man das Schellengeläut nicht mehr.

Frau Borkman. Es klang mir wie ein Grabgeläut.

Borkman mit trockenem, gedämpftem Lachen. Hoho, – mir läuten sie noch nicht zu Grabe!

Frau Borkmann. Aber mir. Und ihm, der mich verlassen hat.

Ella nickt gedankenvoll. Wer weiß, ob sie ihm nicht doch das Leben und das Glück einläuten, Gunhild.

Frau Borkman auffahrend, blickt sie mit Härte an. Das Leben und das Glück, sagst Du!

Ella. Für ein kleines Weilchen wenigstens.

Frau Borkman. Würdest Du ihm das Leben und das Glück gönnen, – an ihrer Seite?

Ella warm and innig. Ja, – von ganzem Herzen und von ganzer Seele würde ich das!

Frau Borkman kalt. Dann mußt Du reicher sein an Kraft der Liebe als ich.

Ella blickt verloren vor sich hin, als sähe sie in die Ferne. Es ist vielleicht die Entbehrung der Liebe, was diese Kraft aufrecht erhält.

Frau Borkman richtet den Blick auf sie. Wenn dem so ist, – dann werde ich wohl bald ebenso reich sein wie Du, Ella.

Sie wendet sich um und geht ins Haus.

Ella steht eine Weile da und blickt Borkman besorgt an; darauf legt sie behutsam die Hand auf seine Schulter. John, jetzt komm und geh auch Du hinein.

Borkman, als ob er erwache. Ich?

Ella. Ja. Du verträgst die scharfe Winterluft nicht. Das sehe ich Dir an, John. So komm und geh mit mir hinein. Ins Haus hinein, wo's warm ist.

Borkman unwirsch. Vielleicht wieder in den Saal hinauf?

Ella. Lieber zu ihr in die Stube.

Borkman fährt heftig auf. Mein Lebtag setze ich nicht mehr den Fuß in dieses Haus.

Ella. Wo willst Du denn aber hin? So spät in der Nacht, John?

Borkman setzt den Hut auf. Vor allen Dingen will ich nach meinen verborgenen Schätzen sehen.

Ella sieht ihn ängstlich an. John, – ich verstehe Dich nicht!

Borkman mit einem hüstelnden Lachen. Ach, ich meine nicht verstecktes Diebesgut. Hab' deswegen keine Angst, Ella. Hält inne und deutet nach außen. Sieh mal den an! Wer ist denn das?

Wilhelm Foldal kommt an der Ecke des Hauses zum Vorschein. Er trägt einen alten, schneebedeckten Überrock, hat die Hutkrempe abwärts gebogen und hält einen großen Regenschirm in der Hand. Er bewegt sich mit Mühe vorwärts durch den Schnee, indem er merklich mit dem linken Fuße hinkt.

Borkman. Wilhelm! Was willst Du hier bei mir – auf einmal wieder?

Foldal blickt auf. Herrjeh, – Du stehst draußen auf der Treppe, John Gabriel? Grüßt. Und Deine Frau auch, wie ich sehe!

Borkman kurz. Es ist nicht meine Frau.

Foldal. Bitte um Entschuldigung. Ich habe nämlich meine Brille im Schnee verloren. – Aber daß Du, der sonst nie einen Schritt zur Tür hinaus tut –?

Borkman keck-lustig. Es ist hohe Zeit, daß ich wieder ein Freiluftmensch werde, verstehst Du. Fast drei Jahre in der Untersuchungshaft, fünf Jahre in der Zelle, acht Jahre da oben im Saal –

Ella besorgt. Borkman, – ich bitte Dich, –!

Foldal. Ach ja, ja, ja –

Borkman. Aber was ich fragen möchte: was willst Du denn von mir?

Foldal, der noch immer unten an der Treppe steht. Ich wollte hinauf zu Dir, John Gabriel. Mir war, als müßte ich zu Dir in den Saal hinauf. Du lieber Gott, – der Saal!

Borkman. Zu mir wolltest Du, der Dir die Tür gewiesen hat.

Foldal. Herrgott, das ist ja ganz gleichgültig.

Borkman. Was ist denn mit Deinem Fuß? Du hinkst ja?

Foldal. Ja, denk nur, Du, ich bin überfahren worden.

Ella. Überfahren!

Foldal. Jawohl, von einem Schlitten –

Borkman. Oho!

Foldal. – mit zwei Pferden davor. Sie kamen in sausender Fahrt den Hügel herunter. Ich hatte nicht Zeit, auszuweichen, und da –

Ella. – und da hat man Sie überfahren?

Foldal. Man ist gerade auf mich losgefahren, gnädige Frau – oder Fräulein. Gerade auf mich los ist man gefahren, so daß ich in den Schnee purzelte und meine Brille verlor und mir den Regenschirm zerbrach; reibt sich den Knöchel – und auch der Fuß kam ein bißchen zu Schaden.

Borkman lacht in sich hinein. Weißt Du, wer in dem Schlitten saß, Wilhelm?

Foldal. Nein, wie hätte ich das sehen können? Es war ja ein geschlossener Schlitten, und die Vorhänge waren heruntergelassen. Und der Kutscher, der hielt keinen Augenblick an, wie ich da so hinpurzelte –. Aber das ist auch einerlei, denn – erregt. O, mir ist so eigentümlich froh zumute, Du!

Borkman. Froh?

Foldal. Ja, ich wüßte nicht, wie ich es sonst nennen sollte. Froh, das wird das Richtige sein. Denn etwas ganz Merkwürdiges hat sich ereignet! Und so konnte ich nicht anders, – ich mußte her und die Freude mit Dir teilen, John Gabriel.

Borkman barsch. Na, so teile denn die Freude!

Ella. Aber erst geh mit Deinem Freund ins Haus, Borkman.

Borkman mit Härte. Ich will nicht ins Haus, habe ich schon gesagt.

Ella. Du hörst doch, daß er überfahren wurde.

Borkman. Ach, überfahren werden wir allesamt – einmal im Leben. Dann muß man eben wieder aufstehen. Und tun, als ob nichts geschehen wäre.

Foldal. Das war ein tiefsinniges Wort, John Gabriel. Ich kann es ja auch recht gut hier draußen erzählen – in aller Eile.

Borkman in sanfterem Ton. Bitte, Wilhelm.

Foldal. Jetzt hör' mal zu! Du, denk Dir – wie ich vorhin nach Hause komme von dem Besuch bei Dir, – da finde ich einen Brief. – Rat einmal, von wem?

Borkman. Vielleicht von Deiner kleinen Frida?

Foldal. Richtig! Wie Du das gleich getroffen hast! Es war ein langer – ziemlich langer Brief von Frida, weißt Du. Ein Bedienter war dagewesen und hatte ihn gebracht. Und weißt Du, warum sie schreibt?

Borkman. Möglicherweise um von den Eltern Abschied zu nehmen.

Foldal. Auf ein Haar! Merkwürdig, wie gut Du raten kannst, John Gabriel! Ja, sie schreibt, Frau Wilton hätte ein großes Interesse für sie gefaßt. Und jetzt wollte die gnädige Frau mit ihr ins Ausland reisen. Damit Frida Musik studieren könnte, schreibt sie. Und Frau Wilton hätte auch für einen tüchtigen Lehrer gesorgt, der mitreisen sollte. Um Frida zu unterrichten. Denn ihre Erziehung ist ja leider Gottes in mancher Hinsicht ein bißchen verbummelt, verstehst Du.

Borkman lacht in sich hinein, daß es ihn schüttelt. Jawohl, jawohl. Ich verstehe alles großartig gut, Wilhelm.

Foldal eifrig fortfahrend. Und denke Dir, sie hörte erst heut abend von dem Reiseplan. In der Gesellschaft, Du weißt schon, na! Und gleichwohl nahm sie sich Zeit zum Schreiben. Und wie warm der Brief geschrieben ist, und wie schön und herzlich, das kannst Du Dir nicht vorstellen. Keine Spur mehr von Geringschätzung für ihren Vater. Und dann noch der feine Zug, weißt Du, daß sie uns schriftlich Lebewohl sagen wollte – ehe sie reiste. Lacht. Aber daraus wird nun freilich nichts!

Borkman blickt ihn fragend an. Wieso?

Foldal. Sie schreibt, sie reisten morgen früh. Ganz früh.

Borkman. Sieh mal an, – morgen? Schreibt sie das?

Foldal lacht und reibt sich die Hände. Ja, aber ich bin jetzt der Schlaue, siehst Du! Nun gehe ich gleich zu Frau Wilton –

Borkman. Jetzt in der Nacht?

Foldal. Na, mein Gott, so furchtbar spät ist es doch noch gar nicht. Und sollte die Haustür schon zu sein, so klingle ich. Ohne weiteres. Denn ich will und muß Frida vor ihrer Abreise sehen. Also gute Nacht, gute Nacht!

Er schickt sich zum Gehen an.

Borkman. Hör' mal, mein armer Wilhelm, – Du kannst Dir das mühsame Stück Weges sparen.

Foldal. Ach, Du denkst an den Fuß da –

Borkman. Ja, und dann wirst Du bei Frau Wilton doch nicht ins Haus kommen.

Foldal. O freilich. Ich klingle und reiße so lange an der Glocke, bis einer kommt und mir aufmacht. Denn Frida, die will und muß ich sehen.

Ella. Ihre Tochter ist schon weg, Herr Foldal.

Foldal steht wie vom Schlag gerührt. Frida schon weg! Wissen Sie das sicher? Von wem haben Sie das?

Borkman. Wir haben es von ihrem zukünftigen Lehrer.

Foldal. So? Und wer ist denn das?

Borkman. Ein gewisser Studiosus Erhard Borkman.

Foldal freudestrahlend. Dein Sohn, John Gabriel! Der reist mit!

Borkman. Jaha –; der soll Frau Wilton dabei behilflich sein, Deine kleine Frida auszubilden.

Foldal. Na, Gott sei Lob und Dank! Dann ist ja das Kind in den besten Händen. Aber ist es auch ganz sicher, daß sie schon mit ihr fort sind?

Borkman. Sie saßen mit ihr in dem Schlitten, der Dich auf der Straße überfahren hat.

Foldal schlägt die Hände zusammen. Herrjeh, meine kleine Frida saß in dem Prachtschlitten!

Borkman nickt. Ja, ja, Wilhelm, – Deine Tochter ist weich gebettet. Und der Studiosus Borkman auch. – Na, – hast Du auch die Silberschellen bemerkt?

Foldal. I freilich. – Silberschellen, sagst Du? Du, waren das Silberschellen? Ganz echte Silberschellen?

Borkman. Da kannst Du sicher sein. Alles war echt. Außen und – innen.

Foldal stillbewegt. Es ist doch eigentümlich, wie der Mensch manchmal so Glück hat! Da hat sich mein – mein bißchen Dichtertalent bei Frida in Musik umgesetzt. Und so bin ich denn doch nicht vergebens Dichter gewesen. Denn jetzt darf sie in die große, weite Welt hinaus, nach der ich mich einst in herrlichen Träumen gesehnt hatte. Im geschlossenen Schlitten darf sich die kleine Frida auf die Reise machen. Und Silberschellen am Sattelzeug –

Borkman. – und hat ihren Vater überfahren dürfen –

Foldal fröhlich. Ach was! Das schert mich nicht viel, – wenn bloß das Kind –. Na, nun bin ich doch zu spät gekommen. Und so will ich denn wieder nach Hause und ihre Mutter trösten, die in der Küche sitzt und weint.

Borkman. Sie weint?

Foldal lächelnd. Ja, denk Dir, – sie weinte sich fast die Augen aus, als ich ging.

Borkman. Und Du lachst, Wilhelm.

Foldal. Ich, freilich ja! Doch sie, die gute Seele, die versteht es nicht besser, siehst Du. Na, adieu denn! Es ist doch gut, daß die Straßenbahn so nahe ist. Adieu, adieu, John Gabriel! Empfehle mich, Fräulein!

Er grüßt und entfernt sich hinkend in derselben Richtung, in der er gekommen ist.

Borkman steht eine Weile still da und blickt vor sich hin. Adieu, Wilhelm! Es ist nicht das erste Mal im Leben, daß Du überfahren wurdest, alter Freund.

Ella blickt ihn mit unterdrückter Angst an. Du bist so bleich, so bleich, John –

Borkman. Das kommt von der Gefängnisluft da oben.

Ella. So habe ich Dich bisher nie gesehen.

Borkman. Du hast auch wohl bisher nie einen ausgebrochenen Sträfling gesehen.

Ella. Komm doch jetzt und geh mit ins Haus, John!

Borkman. Hör' auf mit Deinen Locktönen. Ich habe Dir ja gesagt –

Ella. Wenn ich Dich aber von Herzen bitte? Um Deinetwillen –

Das Stubenmädchen erscheint auf der Treppe.

Das Stubenmädchen. Entschuldigen, – die gnädige Frau hat gesagt, ich soll jetzt das Hoftor zumachen.

Borkman leise zu Ella. Da hörst Du's, – sie wollen mich wieder einsperren!

Ella zum Stubenmädchen. Dem Herrn Direktor ist nicht ganz wohl. Er will noch ein bißchen frische Luft schöpfen.

Das Stubenmädchen. Die gnädige Frau hat aber ausdrücklich gesagt, –

Ella. Ich werde das Tor zumachen. Lassen Sie nur so lange den Schlüssel stecken –

Das Stubenmädchen. Na meinetwegen, – wie Sie wollen.

Wieder ab ins Haus.

Borkman steht einen Augenblick lauschend da; darauf geht er eilig in den Hof hinunter. Jetzt bin ich über die Mauer, Ella! Jetzt sollen sie mich nie wieder fassen!

Ella bei ihm unten. Aber Du bist ja doch auch im Haus ein freier Mann, John. Kannst kommen und gehen, ganz nach Belieben.

Borkman leise, wie von einem Schrecken erfaßt. Ins Haus zurück? Nie wieder! Hier draußen in der Nacht ist gut sein! Ginge ich jetzt in den Saal zurück – die Decke und die Wände würden zusammenstürzen. Und mich erdrücken. Mich breit quetschen wie eine Fliege –

Ella. Wo willst Du denn hin?

Borkman. Nur weit weg und immer weiter! Ich will sehen, ob ich wieder zur Freiheit gelangen kann und zum Leben und zu Menschen. Willst Du mit mir gehen, Ella?

Ella. Ich? Jetzt?

Borkman. Ja, ja, sogleich!

Ella. Und wie weit?

Borkman. So weit wie möglich.

Ella. Aber so bedenk doch. In die feuchte, kalte Winternacht –

Borkman mit rauhem Kehllaut. Oho, – Fräulein sind um ihre Gesundheit besorgt? Ja ja, – die ist allerdings etwas schwächlich.

Ella. Ich bin um Deine Gesundheit besorgt.

Borkman. Hahaha! Um die Gesundheit eines toten Mannes! Ich muß über Dich lachen, Ella!

Er geht weiter.

Ella hinter ihm her, hält ihn fest. Was sagst Du, daß Du bist?

Borkman. Ein toter Mann. Hast Du vergessen, daß Gunhild sagte, ich sollte ruhig bleiben, wo ich läge?

Ella wirft entschlossen den Mantel um. Ich gehe mit Dir, John.

Borkman. Ja, Ella! Wir zwei gehören ja doch zusammen. Geht weiter. So komm denn!

Sie sind allmählich in das Gehölz links hinübergelangt. Dies entzieht sie nach und nach den Augen der Zuschauer, so daß man schließlich nichts mehr von den beiden sieht. Das Haus und der Gutshof entschwinden dem Gesichtskreise. Die Landschaft, mit Abhängen und Höhenzügen, verändert sich fortwährend langsam und nimmt einen immer wilderen Charakter an.

Ellas Stimme aus dem Walde rechts. Wo sind wir, John? Ich kenne mich hier nicht mehr aus.

Borkmans Stimme weiter oben. Halt Dich nur an die Schneespuren hinter mir!

Ellas Stimme. Aber warum müssen wir denn so hoch steigen?

Borkmans Stimme näher. Wir müssen den krummen Steig hinauf.

Ellas Stimme. Ach, aber ich kann bald nicht mehr.

Borkman am Waldsaum rechts. Komm nur, komm! Jetzt haben wir es nicht mehr weit bis zur Fernsicht. Dort stand vor Zeiten eine Bank –

Ella erscheint zwischen den Bäumen. Daran denkst Du noch?

Borkman. Da kannst Du Dich ausruhen.

Sie sind bei einer schmalen, hochgelegenen Lichtung des Waldes angelangt. Hinter ihnen ein schroffer Abhang. Links, tief unten, dehnt sich eine weite Landschaft mit dem Fjord und hohen, fernen Bergrücken aus, immer ein Höhenzug hinter dem andern. In der Lichtung links eine abgestorbene Fichte mit einer Bank davor. Die Lichtung ist hoch mit Schnee bedeckt.

Borkman und hinter ihm Ella waten von rechts her mühsam durch den Schnee.

Borkman bleibt am Abgrund links stehen. Komm, Ella, dann sollst Du etwas sehen.

Ella bei ihm. Was willst Du mir zeigen, John?

Borkman zeigt hinaus. Sieh hin, wie frei und offen das Land vor uns daliegt – in weitem Umkreis!

Ella. Auf jener Bank haben wir früher oft gesessen – und hinausgeblickt in noch viel, viel weitere Fernen.

Borkman. In ein Traumland blickten wir damals.

Ella nickt schwermütig. Das Traumland unseres Lebens war es ja. Und nun ist das Land im Schnee begraben. – Und der alte Baum ist abgestorben.

Borkman, ohne auf sie zu hören. Kannst Du sehen, wie von den großen Dampfschiffen Rauch aufsteigt, draußen auf dem Fjord?

Ella. Nein.

Borkman. Ich sehe es. – Sie kommen und gehen. Sie verbrüdern das Leben auf dem ganzen Erdball. Sie schaffen den Seelen Licht und Wärme in aber und aber tausend Heimstätten. Das zu vollbringen, davon hat mir einst geträumt.

Ella leise. Und beim Traum, dabei ist es geblieben.

Borkman. Es ist beim Traum geblieben, ja. Horcht auf. Und drunten am Fluß – horch! Die Fabriken gehen! Meine Fabriken! Alle, die ich hätte schaffen wollen! Hör' nur, wie sie gehen. Sie haben Nachtarbeit. Tag und Nacht arbeiten sie also. Horch, horch! Die Räder wirbeln und die Walzen blitzen – immer herum, immer herum! Kannst Du es nicht hören, Ella?

Ella. Nein.

Borkman. Ich kann es hören.

Ella ängstlich. Ich glaube, Du irrst Dich, John.

Borkman gerät mehr und mehr in Feuer. Aber alle diese Dinge, weißt Du, – sind sozusagen nur die Vorposten rings um das Reich!

Ella. Um das Reich? Was für ein Reich meinst Du –?

Borkman. Mein Reich! Das Reich, von dem ich um ein Haar Besitz ergriffen hätte damals, als ich – als ich starb.

Ella erschüttert, mit leiser Stimme. Ach, John, John!

Borkman. Und da liegt es nun – schutzlos, herrenlos, – preisgegeben den Überfällen und Plünderungen der Banditen. – Ella! Siehst Du die Bergketten dort – in weiter Ferne? Eine über der anderen. Sie werden höher. Sie türmen sich. Dort ist mein tiefes, unermessenes, unerschöpfliches Reich!

Ella. Ach, John, aber ein so eisiger Hauch weht von dem Reiche her!

Borkman. Dieser Hauch wirkt auf mich wie Lebensluft. Dieser Hauch weht mich an wie ein Gruß von untertänigen Geistern. Ich wittere sie, die gefesselten Millionen; ich fühle die Erzadern, die ihre schlängelnden, astigen, verführerischen Arme nach mir ausstrecken. Ich sah sie vor mir wie lebendig gewordene Schatten, – in jener Nacht, als ich im Bankgewölbe unten stand, die Laterne in der Hand. Ich sollte Euch befreien damals! Und ich versuchte es. Aber ich vermocht' es nicht. Der Schatz sank wieder in die Tiefe. Mit vorgestreckten Händen. Aber ich will es euch zuflüstern hier, in der Stille der Nacht. Ich liebe euch, die ihr scheintot liegt in dunkler Tiefe! Ich liebe euch, ihr lebenheischenden Werte – mit eurem ganzen leuchtenden Gefolge von Macht und Herrlichkeit. Ich liebe, liebe, liebe euch!

Ella in verhaltener, wachsender Erregung. Ja, dort unten ist nach wie vor Deine Liebe, John. Sie ist immer dort gewesen. Doch hier oben im Licht des Tages, Du, – da war ein warmes, lebendiges Menschenherz, das für Dich pochte und schlug. Und dieses Herz hast Du zertreten. Ach, nicht nur das! Tausendmal Schlimmeres noch – Du hast es verkauft um – um –

Borkman erbebt, wie wenn ihn ein Schauer überliefe. Um des Reiches – und der Macht – und der Herrlichkeit willen, – meinst Du?

Ella. Ja, das meine ich. Ich hab' es Dir heut schon einmal gesagt. Du hast das Liebesleben gemordet in dem Weibe, das Dich liebte. Und das Du wieder liebtest. Soweit Du überhaupt jemand lieben konntest. Mit erhobenem Arm. Und darum weissage ich Dir, – John Gabriel Borkman, – niemals wirst Du den Preis empfangen, den Du für den Mord verlangt hast. Niemals wirst Du als Sieger einziehen in Dein kaltes, düsteres Reich.

Borkman wankt zur Bank hin und läßt sich wuchtig auf sie nieder. Fast muß ich fürchten, Du hast richtig geweissagt, Ella.

Ella geht zu ihm hin. Nicht fürchten sollst Du es, John. Dir könnte nichts Besseres widerfahren.

Borkman schreit auf und greift sich an die Brust. Ah –! Matt. Jetzt ließ sie mich los.

Ella rüttelt ihn. Was war das, John?

Borkman sinkt gegen die Lehne zurück. Eine Hand von Eis griff mir ans Herz.

Ella. John! Hast Du die Eishand nun doch gefühlt!

Borkman murmelt. Nein. – Keine Eishand – eine Hand von Erz war es.

Er gleitet ganz auf die Bank hin.

Ella reißt ihren Mantel herunter und deckt ihn damit zu. Bleib ruhig da, wo Du liegst! Ich gehe, Dir Hilfe zu holen.

Sie macht ein paar Schritte nach rechts, dann bleibt sie stehen, geht zurück und befühlt ihm lange den Puls und das Gesicht.

Ella leise und fest. Nein. Besser so, John Borkman. Für Dich besser so.

Sie hüllt ihn dichter in den Mantel ein und setzt sich vor der Bank in den Schnee nieder.

Kurze Pause.

Frau Borkman, in einen Mantel gehüllt, erscheint zwischen den Bäumen rechts. Vor ihr her geht das Stubenmädchen, mit einer brennenden Laterne.

Das Stubenmädchen leuchtet in den Schnee hinein. Doch, doch, gnädige Frau. Da sind ja ihre Fußspuren –

Frau Borkman blickt spähend umher. Ja, da sind sie! Da drüben sitzen sie auf der Bank. Ruft: Ella!

Ella steht auf. Suchst Du uns?

Frau Borkman hart. Ja, das muß ich wohl tun.

Ella zeigt auf Borkman. Sieh, da liegt er, Gunhild.

Frau Borkman. Er schläft?

Ella nickt. Einen tiefen und langen Schlaf, glaube ich.

Frau Borkman außer sich. Ella! Beherrscht sich und fragt mit gedämpfter Stimme: Hat er – freiwillig geendet?

Ella. Nein.

Frau Borkman erleichtert. Also nicht durch eigene Hand?

Ella. Nein. Es war eine eisige Hand von Erz, die ihm nach dem Herzen griff.

Frau Borkman zum Stubenmädchen. Holen Sie Hilfe. Wecken Sie die Gutsleute.

Das Stubenmädchen. Jawohl, gnädige Frau. Leise. Jessus, Jessus –

Ab durch den Wald rechts.

Frau Borkman steht hinter der Bank. Also die Nachtluft hat ihn getötet –

Ella. Es wird wohl so sein.

Frau Borkmann. – den kräftigen Mann!

Ella tritt vor die Bank hin. Willst Du ihn Dir nicht ansehen, Gunhild?

Frau Borkman abwehrend. Nein, nein, nein. Mit gedämpfter Stimme. Er war eines Bergmanns Sohn, – der Bankdirektor. Die frische Luft konnte er nicht vertragen.

Ella. Es war wohl mehr die Kälte, die ihn tötete.

Frau Borkman schüttelt den Kopf. Die Kälte, sagst Du? Die Kälte, – die hatte ihn schon längst getötet.

Ella nickt ihr zu. Ja, – und uns beide in Schatten verwandelt.

Frau Borkman. Da hast Du recht.

Ella mit schmerzlichem Lächeln. Ein Toter und zwei Schatten, – das war die Frucht der Kälte.

Frau Borkman. Ja, die Herzenskälte. – Und so können wir zwei wohl einander die Hände reichen, Ella.

Ella. Ich denke, jetzt können wir es.

Frau Borkman. Wir Zwillingsschwestern – über ihm, den wir beide geliebt haben.

Ella. Wir beiden Schatten – über dem toten Mann.

Frau Borkman, hinter der Bank, und Ella Rentheim, vor der Bank, reichen sich die Hände.

 


 


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