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Ein mit Gebüsch bewachsener Hügel in Allmers' Garten. Gegen den Hintergrund eine steile Böschung mit Geländer; links führt ein Aufgang hinauf. Weiter Ausblick auf den tief unten liegenden Fjord. Am Geländer ein Flaggenmast mit Leine, aber ohne Flagge. Im Vordergrunde rechts eine Laube, die mit Schlingpflanzen und wildem Wein überdacht ist. Vor der Laube eine Bank. Später Sommerabend mit klarem Himmel. Zunehmendes Halbdunkel.
Asta sitzt auf der Bank, die Hände im Schoß. Sie hat die Jacke an und den Hut auf, hat ihren Sonnenschirm neben sich hingelegt und trägt ein Reisetäschchen an einem Riemen über der Schulter.
Borgheim erscheint im Hintergrunde links. Auch er hat eine Reisetasche über der Schulter. Unter dem Arm trägt er eine zusammengerollte Fahne.
Borgheim wird Asta gewahr. Hier oben also halten Sie sich auf?
Asta. Ich sitze und blicke hinaus, zum letzten Mal.
Borgheim. Dann war es gut, daß ich auch hier oben nachgesehen habe.
Asta. Haben Sie mich gesucht?
Borgheim. Allerdings. Ich wollte mich gern von Ihnen verabschieden – für diesmal. Hoffentlich nicht für immer.
Asta mit einem leisen Lächeln. Hören Sie – Sie sind standhaft.
Borgheim. Das muß ein Wegebahner sein.
Asta. Haben Sie Alfred gesehen? Oder Rita?
Borgheim. Alle beide habe ich sie gesehen.
Asta. Beisammen?
Borgheim. Nein. Jedes hielt sich allein.
Asta. Was wollen Sie mit der Flagge?
Borgheim. Frau Rita hat mich gebeten, sie zu hissen.
Asta. Hissen? Jetzt?
Borgheim. Auf Halbmast. Tag und Nacht soll sie wehen, sagte Rita.
Asta seufzt. Die arme Rita. Und der arme Alfred.
Borgheim mit der Flagge beschäftigt. Bringen Sie es übers Herz, sie zu verlassen? Ja, ich frage. Denn ich sehe, Sie sind reisefertig.
Asta mit leiser Stimme. Ich muß fort.
Borgheim. Ja, wenn Sie müssen, so –
Asta. Und Sie reisen doch auch heut nacht.
Borgheim. Ich muß ebenfalls. Ich fahre mit der Bahn. Sie auch?
Asta. Nein. Mit dem Dampfschiff.
Borgheim blickt sie verstohlen an. Jedes also seinen eigenen Weg.
Asta. Ja.
Sie sieht ihm zu, während er die Flagge auf Halbmast hißt. Sobald er fertig ist, geht er zu ihr hin.
Borgheim. Fräulein Asta, – Sie können sich nicht vorstellen, wie ich um klein Eyolf traure.
Asta blickt zu ihm auf. Ja, davon bin ich überzeugt.
Borgheim. Und das ist so ein peinigendes Gefühl. Denn im Grunde ist trauern gar nicht meine Sache.
Asta richtet den Blick auf die Flagge. Das vergeht mit der Zeit, – vollständig. Alle Schmerzen.
Borgheim. Alle? Glauben Sie das?
Asta. Wie ein Regenschauer. Wenn Sie erst in weiter Ferne sind, so –
Borgheim. Das müßte schon eine sehr weite Ferne sein.
Asta. Und dann haben Sie doch auch den neuen, großen Straßenbau.
Borgheim. Aber niemand, der mir dabei hilft.
Asta. Sie werden schon jemand haben!
Borgheim schüttelt den Kopf. Niemand. Niemand, mit dem ich die Freude teilen könnte. Denn um die Freude, um die handelt es sich vor allen Dingen.
Asta. Nicht um die Mühen und Beschwerden?
Borgheim. Pah, – mit so etwas wird man schon allein fertig.
Asta. Aber die Freude, – die muß man mit jemand teilen, meinen Sie?
Borgheim. Ja, wie wäre es denn sonst ein Glück, froh zu sein?
Asta. Ach ja, – daran ist vielleicht etwas.
Borgheim. Natürlich kann man eine Weile auch herumlaufen und stillvergnügt sein. Aber auf die Dauer reicht es nicht aus. Nein, – in der Freude, da muß man zu zweit sein.
Asta. Immer nur zu zweit? Niemals in der Gesellschaft mehrerer – vieler?
Borgheim. Dann, sehen Sie, ist es nicht mehr dasselbe. – Fräulein Asta, – können Sie sich denn wirklich nicht entschließen, Glück und Freude und – Mühen und Beschwerden mit Einem zu teilen, – mit Einem allein?
Asta. Ich habe es schon versucht – früher einmal.
Borgheim. Haben Sie das?
Asta. Zur Zeit, als mein Bruder, – als Alfred und ich zusammen wohnten.
Borgheim. So! Mit Ihrem Bruder! Das ist aber doch etwas ganz anderes. Ein solches Leben kann man meines Erachtens eher zufrieden nennen als glücklich.
Asta. Herrlich war's doch.
Borgheim. Ja, sehen Sie, – schon das finden Sie herrlich. Aber wie erst, – wenn er nun nicht Ihr Bruder gewesen wäre?!
Asta will aufstehen, bleibt aber sitzen. Dann hätten wir doch nie zusammen gelebt. Denn ich war damals noch ein Kind. Und er beinah auch noch.
Borgheim nach einer kurzen Pause. War die Zeit wirklich so herrlich?
Asta Ja, das können Sie glauben, das war sie!
Borgheim. Haben Sie denn damals etwas wirklich Frohes und Glückliches erlebt?
Asta. O, so viel! So unendlich viel.
Borgheim. Erzählen Sie mir doch ein bißchen, Fräulein Asta.
Asta. Eigentlich waren es nur Kleinigkeiten.
Borgheim. Zum Beispiel? – Nun?
Asta. Zum Beispiel, als Alfred sein Examen gemacht und so gut bestanden hatte. Und da er mit der Zeit eine Anstellung bekam an irgend einer Schule. Oder wenn er an einer Abhandlung schrieb und sie mir vorlas. Und wenn sie dann in einer Zeitschrift abgedruckt wurde.
Borgheim. Ja, ich kann mir schon denken, daß das ein herrliches, zufriedenes Leben war. Geschwister, die die Freude miteinander teilen. Schüttelt den Kopf. Nun begreife ich nicht recht, wie Ihr Bruder sich von Ihnen trennen konnte, Asta!
Asta in unterdrückter Erregung. Alfred hat doch geheiratet.
Borgheim. Das war hart für Sie, nicht?
Asta. O ja, – im Anfang. Mir war, als hätte ich ihn mit einem Schlage verloren.
Borgheim. Nun, glücklicherweise war das nicht der Fall.
Asta. Nein.
Borgheim. Immerhin, – daß er das konnte. Heiraten, meine ich. Wo er Sie hätte im Hause haben können, allein bei sich!
Asta blickt vor sich hin. Er stand wohl unter dem Gesetz der Wandlung, denke ich mir.
Borgheim. Gesetz der Wandlung?
Asta. Alfred nennt es so.
Borgheim. Pah, – muß das ein dummes Gesetz sein! An das Gesetz glaube ich nicht, auch nicht so viel!
Asta erhebt sich. Mit der Zeit werden Sie vielleicht dahin kommen, daran zu glauben.
Borgheim. In meinem Leben nicht! Eindringlich. Nun aber hören Sie, Fräulein Asta! Seien Sie vernünftig – ein einziges Mal. In diesem Punkte, mein' ich.
Asta abbrechend. Aber nein, nein, – kommen Sie mir nicht wieder damit!
Borgheim wie oben. Doch, Asta, – ich kann unmöglich so leicht von Ihnen lassen. Jetzt hat doch der Bruder alles, was er sich nur wünschen konnte. Er führt ein ganz zufriedenes Leben auch ohne Sie. Er vermißt Sie gar nicht. – Und dann ein Umstand noch, – der mit einem einzigen Schlage Ihre ganze Stellung hier im Hause ändert –
Asta zusammenfahrend. Was meinen Sie damit?
Borgheim. Den Verlust des Kindes. Was sonst?
Asta faßt sich wieder. Klein Eyolf ist nicht mehr, – allerdings.
Borgheim. Und was haben Sie nun eigentlich hier noch zu tun? Für den armen kleinen Jungen haben Sie nicht mehr zu sorgen. Keine Pflichten, – keine Aufgaben irgend welcher Art –
Asta. Ach, ich bitte Sie, lieber Borgheim, – drängen Sie doch nicht so heftig in mich!
Borgheim. Doch. Ich müßte ja nicht recht gescheit sein, wenn ich nicht das Äußerste versuchte. In den nächsten Tagen verlasse ich die Stadt. Ich treffe Sie dort vielleicht nicht mehr. Bekomme Sie vielleicht auf lange, lange Zeit nicht wieder zu sehen. Und wer weiß, was inzwischen geschieht!
Asta mit einem ernsten Lächeln. Haben Sie etwa doch Furcht vor dem Gesetz der Wandlung?
Borgheim. Nein, nicht im geringsten. Lacht bitter. Und es gibt ja auch nichts umzuwandeln. Bei Ihnen, meine ich. Denn Sie machen sich nicht so viel aus mir, denke ich mir.
Asta. Sie wissen recht gut, daß dies nicht so ist.
Borgheim. Ja, aber lange nicht genug. Nicht so, wie es mir lieb wäre. Heftiger. Herrgott, Asta, – Fräulein Asta, – das ist ja doch alles so verdreht von Ihnen, wie nur möglich! Gleich hinter heute und morgen liegt am Ende das ganze Lebensglück und wartet auf uns. Und wir lassen es liegen! Werden wir das nicht eines Tages bereuen, Asta?
Asta ruhig. Ich weiß nicht. Und doch müssen wir alle heiteren Aussichten liegen lassen.
Borgheim blickt sie an, indem er sich beherrscht. Also ich muß meine Wege allein bauen?
Asta mit Wärme. Ach, könnte ich nur mit dabei sein! Ihnen die Mühe erleichtern. Die Freude mit Ihnen teilen –
Borgheim. Würden Sie das tun, – wenn Sie könnten?
Asta. Ja. Dann würde ich es tun.
Borgheim. Sie können aber nicht?
Asta schlägt die Augen nieder. Würde es Ihnen genügen, mich halb zu besitzen?
Borgheim. Nein. Ganz und ungeteilt muß ich Sie besitzen.
Asta blickt ihn an und sagt leise: Dann kann ich nicht.
Borgheim. So leben Sie wohl, Fräulein.
Er schickt sich zum Gehen an. Allmers kommt im Hintergrunde links die Anhöhe herauf. Borgheim bleibt.
Allmers, noch an dem Aufgang, deutet auf die Laube und fragt mit gedämpfter Stimme: Ist Rita drin in der Laube?
Borgheim. Nein. Fräulein Asta ist hier – sonst niemand.
Allmers kommt näher.
Asta ihm entgegen. Soll ich gehen und sie suchen? Ihr vielleicht sagen, sie soll hierher kommen?
Allmers abwehrend. Nein, nein, nein, – laß nur. Zu Borgheim. Haben Sie die Flagge da gehißt?
Borgheim. Ja. Frau Rita hat mich darum gebeten. Deshalb bin ich hergekommen.
Allmers. Und heut nacht reisen Sie?
Borgheim. Ja. Heut mache ich mit der Abreise Ernst.
Allmers mit einem Blick auf Asta. Und für gute Reisebegleitung haben Sie gesorgt, wie ich mir denken kann.
Borgheim schüttelt den Kopf. Ich reise allein.
Allmers stutzt. Allein!
Borgheim. Mutterseelenallein.
Allmers zerstreut. So – so?
Borgheim. Und bleibe auch allein.
Allmers. Es liegt etwas Grauenvolles darin, allein zu sein. Es durchfröstelt mich geradezu –
Asta. Aber Alfred, Du bist doch nicht allein!
Allmers. Auch darin kann etwas Grauenvolles liegen, Asta.
Asta beklommen. Ach, sprich doch nicht so! Laß diese Gedanken!
Allmers ohne auf sie zu hören. Wenn Du also nicht mitreisest –? Wenn Du an nichts gebunden bist? Warum willst Du dann nicht bleiben, bei mir – und bei Rita?
Asta unruhig. Weil ich das nicht kann. Ich muß notwendigerweise jetzt in die Stadt.
Allmers. Aber nur in die Stadt, Asta! Hörst Du?
Asta. Ja.
Allmers. Und Du versprichst mir, bald wiederzukommen.
Asta schnell. Nein, nein, – das kann ich Dir fürs erste nicht versprechen.
Allmers. Gut. Wie Du willst. Dann sehen wir uns also in der Stadt.
Asta bittend. Aber, lieber Alfred, Du mußt doch jetzt daheim bleiben, bei Rita!
Allmers wendet sich, ohne zu antworten, an Borgheim. Vielleicht ist es besser für Sie, noch keine Reisebegleitung zu haben.
Borgheim unwillig. Wie können Sie nur so etwas sagen!
Allmers. Ja, Sie können doch gar nicht wissen, wem Sie zufällig etwa begegnen – hernach – unterwegs.
Asta unwillkürlich. Alfred!
Allmers. Dem richtigen Reisegenossen. Wenn es zu spät ist. Zu spät.
Asta erbebend, leise. Alfred! Alfred!
Borgheim blickt die beiden abwechselnd an. Was soll das heißen? Ich verstehe nicht –
Rita erscheint im Hintergrunde links.
Rita klagend. Ihr müßt mich nicht alle verlassen!
Asta geht ihr entgegen. Du wolltest doch lieber allein sein, wie Du sagtest –
Rita. Ja, – aber ich traue mich nicht. Es wird so unheimlich dunkel. Mir ist, als blickten mich große, offene Augen an.
Asta teilnehmend, mit weicher Stimme. Und wenn es nun so wäre, Rita? Vor den Augen brauchst Du Dich nicht zu fürchten.
Rita. Wie Du nur so reden kannst! Nicht fürchten!
Allmers eindringlich. Asta, ich bitte Dich, – um alles in der Welt, – bleib hier – bei Rita!
Rita. Ja! Und bei Alfred auch! Tu es! Tu es, Asta!
Asta mit sich selber kämpfend. Ach, ich möchte so unsagbar gerne –
Rita. Ach, so tu es doch! Denn Alfred und ich, wir können nicht allein gehen durch Trauer und Verlust.
Allmers finster. Sag' lieber – durch Reue und Qual.
Rita. Nenn es wie Du willst, – wir beide können es jedenfalls nicht allein ertragen. Liebste Asta, ich flehe Dich an! Bleib da und hilf uns! Sei uns an Eyolfs Statt –
Asta weicht zurück. An Eyolfs –!
Rita. Sie darf doch, Alfred –?
Allmers. Wenn sie will und kann.
Rita. Du hast sie ja früher Deinen kleinen Eyolf genannt. Ergreift ihre Hand. Fortan sollst Du unser Eyolf sein, Asta! Eyolf, wie Du es früher warst.
Allmers in verhaltener Erregung. Bleib – und teile das Leben mit uns, Asta. Mit Rita. Mit mir. Mit mir, – Deinem Bruder!
Asta reißt entschlossen ihre Hand zurück. Nein. Ich kann nicht. Wendet sich um. Herr Borgheim, – wann geht das Dampfboot?
Borgheim. Jetzt gleich.
Asta. Dann muß ich an Bord. Wollen Sie mich begleiten?
Borgheim mit einem verhaltenen Ausbruch der Freude. Ob ich will! Ja doch, ja!
Rita langsam. Ach so. Ja, dann kannst Du nicht bei uns bleiben.
Asta umarmt sie. Hab' Dank für alles, Rita! Geht zu Allmers hin und ergreift seine Hand. Alfred, – leb' wohl – tausend-, tausendmal!
Allmers leise in Spannung. Was heißt das, Asta? Das sieht ja aus wie eine Flucht.
Asta in stiller Angst. Ja, Alfred, – es ist auch eine Flucht.
Allmers. Eine Flucht – vor mir!
Asta flüsternd. Eine Flucht vor Dir – und vor mir selbst.
Allmers weicht zurück. Ah –!
Asta eilt nach dem Hintergrund, den Aufgang hinunter. Borgheim schwenkt den Hut und folgt ihr.
Rita lehnt sich an den Eingang der Laube. Allmers geht in heftiger Gemütserregung zum Geländer hin und bleibt dort stehen, indem er hinunterstarrt. Pause.
Allmers wendet sich um und sagt mit mühsam erkämpfter Fassung: Da kommt das Dampfschiff. Sieh dahin, Rita.
Rita. Ich getraue mich nicht hinzusehen.
Allmers. Du getraust Dich nicht?
Rita. Nein. Denn es hat ein rotes Auge. Und ein grünes auch. Große, glühende Augen.
Allmers. Das sind doch nur die Laternen!
Rita. Es sind Augen. Fortan. Für mich. Sie starren und starren aus dem Dunkel hervor. Und auch ins Dunkel hinein.
Allmers. Jetzt legt das Schiff an.
Rita. Wo legt es heut an?
Allmers nähert sich. Aber wie gewöhnlich, Rita, an der Brücke –
Rita richtet sich auf. Wie kann es dort nur anlegen!
Allmers. Es muß ja doch.
Rita. Aber dort ist doch Eyolf –! Wie können nur die Leute dort anlegen?
Allmers. Ja, das Leben ist unbarmherzig, Rita.
Rita. Die Menschen sind herzlos. Sie nehmen keine Rücksicht. Weder auf die Lebenden noch auf die Toten.
Allmers. Da hast Du recht. Das Leben, das geht seinen Gang weiter. Genau so, als ob gar nichts geschehen wäre.
Rita blickt vor sich hin. Es ist ja auch nichts geschehen. Für die andern, heißt das. Nur für uns beide.
Allmers in erwachendem Schmerz. Ja, Rita, – so zwecklos war es, daß Du ihn unter Schmerzen und Qualen geboren hast. Denn nun ist er wieder dahin – ohne Spur.
Rita. Nur die Krücke wurde geborgen.
Allmers heftig. Still doch! Laß mich das Wort nicht hören!
Rita klagend. Ach, ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß wir ihn nicht mehr haben.
Allmers kalt und bitter. Du konntest recht gut ohne ihn fertig werden, als Du ihn noch hattest. Halbe Tage lang hast Du ihn ja nicht einmal angesehen.
Rita. Weil ich wußte, ich könnte ihn sehen, wann ich nur wollte.
Allmers. Auf die Art haben wir die kurze Zeit des Zusammenseins mit klein Eyolf vergeudet.
Rita lauscht angstvoll. Hörst Du, Alfred! Da läutet es wieder.
Allmers blickt hinaus. Es läutet auf dem Dampfboot. Gleich geht es ab.
Rita. Ach, die Glocke meine ich nicht. Den ganzen Tag hat es mir in den Ohren geklungen. – Da läutet es wieder!
Allmers geht zu ihr hin. Du irrst Dich, Rita.
Rita. Nein, – ich höre es ganz deutlich. Es klingt wie Totenglocken. Langsam. Langsam. Und immer dieselben Worte.
Allmers. Worte? Was für Worte?
Rita nickt den Takt dazu. »Da schwimmt-die-Krük-ke«. »Da schwimmt-die-Krük-ke.« Ach, ich meine, Du mußt es auch hören können.
Allmers schüttelt den Kopf. Ich höre nichts. Und es ist auch nichts.
Rita. Doch, doch – Du magst sagen, was Du willst. Ich höre es ganz deutlich.
Allmers blickt über das Geländer hinaus. Jetzt sind sie an Bord. Nun geht das Schiff nach der Stadt.
Rita. Daß Du es nicht hörst? »Da schwimmt-die-Krük-ke.« »Da schwimmt –«
Allmers nähert sich ihr. Du sollst nicht fortwährend nach etwas lauschen, was nicht da ist. Asta und Borgheim sind jetzt an Bord, habe ich gesagt. Sind schon unterwegs. – Asta ist fort.
Rita blickt ihn scheu an. Dann wirst Du wohl auch bald fort sein, Alfred?
Allmers schnell. Was willst Du damit sagen?
Rita. Daß Du Deiner Schwester folgst.
Allmers. Hat Asta etwas gesagt?
Rita. Nein. Du hast doch selbst gesagt, es wäre die Sorge um Asta gewesen, was – uns zwei zusammengeführt hat.
Allmers. Ja, – aber Du, Du selbst hast mich gefesselt durch das Zusammenleben.
Rita. Ach, in Deinen Augen bin ich nicht – nicht mehr so – berückend schön.
Allmers. Das Gesetz der Wandlung hält uns am Ende doch noch zusammen.
Rita nickt langsam. Eine Wandlung geht freilich mit mir vor. Ich fühle es unter Schmerzen.
Allmers. Unter Schmerzen?
Rita. Ja, denn auch das ist eine Art Geburt.
Allmers. Allerdings. Oder eine Auferstehung. Ein Übergang zu einem höheren Leben.
Rita blickt verzagt vor sich hin. Ja, – aber unter dem Verlust des ganzen, ganzen Lebensglückes.
Allmers. Der Verlust ist eben der Gewinn.
Rita heftig. Ach, Redensarten! Mein Gott, wir sind doch schließlich nur Menschen.
Allmers. Auch mit Himmel und Meer sind wir ein wenig verwandt, Rita.
Rita. Du vielleicht. Ich nicht.
Allmers. O doch. Mehr, als Du selber ahnst.
Rita einen Schritt näher. Höre, Alfred, – wäre es Dir nicht möglich, Deine Arbeit wieder aufzunehmen?
Allmers. Die Arbeit, die Dir ein Gegenstand des Hasses war?
Rita. Ich bin genügsam geworden. Ich bin bereit, Dich mit Deinem Buch zu teilen.
Allmers. Warum?
Rita. Nur um Dich bei mir zu haben. In meiner Nähe.
Allmers. Ach, – ich kann Dir so wenig helfen, Rita.
Rita. Vielleicht aber könnte ich Dir helfen.
Allmers. Bei der Arbeit, meinst Du?
Rita. Nein. Beim Leben.
Allmers schüttelt den Kopf. Mich dünkt, ich habe kein Leben mehr zu leben.
Rita. Nun, dann wenigstens dabei, das Leben zu ertragen.
Allmers finster, vor sich hin. Für beide Teile, meine ich, wäre es das beste, wenn wir auseinandergingen.
Rita sieht ihn forschend an. Wo würdest Du dann Deine Zuflucht suchen? Vielleicht doch bei Asta?
Allmers. Nein. Bei Asta nimmermehr.
Rita. Wo denn sonst?
Allmers. Oben in der Einsamkeit.
Rita. Oben zwischen den Gipfeln? Meinst Du das?
Allmers. Ja.
Rita. Aber das sind ja bloß Träumereien, Alfred! Dort oben könntest Du ja nicht leben.
Allmers. Und doch zieht es mich jetzt dort hinauf.
Allmers. Setz' Dich. Dann will ich Dir etwas erzählen.
Rita. Was Dir dort oben begegnet ist?
Allmers. Ja.
Rita. Und was Du Asta und mir verschwiegen hast?
Allmers. Ja.
Rita. Du verschließt alles immer so in Dich. Das solltest Du nicht.
Allmers. Setz' Dich her. Dann werde ich es Dir erzählen.
Rita. Ja, ja, – laß hören!
Sie setzt sich auf die Bank vor der Laube.
Allmers. Ich war allein dort oben. Mitten im Hochgebirg. Da kam ich an ein großes, ödes Bergwasser. Und über das Bergwasser, da mußte ich hinüber. Aber das konnte ich nicht. Denn es waren da weder Boot noch Menschen.
Rita. Nun? Und weiter?
Allmers. Dann ging ich aufs Geratewohl in ein Seitental hinein. Denn dort vermutete ich einen Weg zum Ziele – über die Höhen und zwischen die Felszinnen hindurch; und dann wieder hinunter nach der anderen Seite des Wassers.
Rita. Da gingst Du gewiß irre, Alfred!
Allmers. Ja. Ich verfehlte die Richtung. Denn ein Weg oder Pfad war nicht vorhanden. Und ich marschierte den ganzen Tag. Und die ganze Nacht auch noch. Und schließlich verzweifelte ich, je wieder zu Menschen zu kommen.
Rita. Nicht wieder zu uns – nach Hause? O, da bin ich doch sicher, daß Deine Gedanken hierher eilten.
Allmers. Nein, – das taten sie nicht.
Rita. Nicht?
Allmers. Nein. Merkwürdig – mir war, als ob Ihr mir weit, weit entrückt wäret, Du und Eyolf. Und Asta auch.
Rita. Aber woran hast Du denn gedacht?
Allmers. Ich habe gar nicht gedacht. Ich ging und schleppte mich vorwärts, die Abgründe entlang, – und kostete den Frieden und das Wohlbehagen der Todesempfindung.
Rita springt auf. O sprich doch von so grauenvollen Dingen nicht mit diesen Worten.
Allmers. Ich empfand es so. Von Angst keine Spur. Mir war, als schritten ich und der Tod einher wie zwei gute Reisegenossen. Die ganze Sache kam mir damals so natürlich, so einfach vor. In meiner Familie pflegen ja die Leute nicht alt zu werden –
Rita. Nun kein Wort mehr davon, Alfred! Schließlich bist Du doch mit heiler Haut davongekommen.
Allmers. Ja – mit einem Male war ich am Ziel. Auf der anderen Seite des Bergwassers.
Rita. Es ist für Dich eine Schreckensnacht gewesen, Alfred. Nur willst Du es hinterher Dir selber nicht eingestehen.
Allmers. In dieser Nacht raffte ich mich zum Entschluß auf. Und so kehrte ich denn um und ging geradenwegs nach Hause. Zu Eyolf.
Rita leise. Zu spät.
Allmers. Ja. Und als dann der – Reisegenosse daherkam und ihn holte –. Da erfaßte mich Grauen vor ihm. Grauen überhaupt. Vor alledem, – was wir doch nicht aufzugeben wagen. So erdgebunden sind wir, Rita – wir alle beide.
Rita mit einem Schimmer von Freude. Ja, nicht wahr! Du auch! Nähert sich. O so laß uns das Leben zusammen leben, solange es geht.
Allmers zuckt die Achseln. Leben, jawohl! Ohne etwas zu haben, womit man das Leben ausfüllt. Alles öd' und leer. Wohin ich blicke.
Rita angstvoll. Früher oder später wirst Du mich verlassen, Alfred! Ich fühle es! Und ich sehe es Dir auch an! Du verläßt mich!
Allmers. Mit dem Reisegenossen, meinst Du?
Rita. Nein, – ich meine Schlimmeres. Aus freien Stücken verläßt Du mich. Denn Du meinst, nur hier im Hause das zu vermissen, wofür Du leben kannst. Antworte! Das ist doch Dein Gedanke?
Allmers blickt sie fest an. Und wenn das nun mein Gedanke wäre –?
Fern vom Strande her vernimmt man Lärm und Geschrei wie von heftigen, zornigen Stimmen. Allmers geht an das Geländer.
Rita. Was ist das? Erregt. Du sollst sehen, sie haben ihn gefunden!
Allmers. Er wird nimmermehr gefunden.
Rita. Was ist es sonst?
Allmers nähert sich wieder. Bloß eine Schlägerei, – wie gewöhnlich.
Rita. Unten am Strand?
Allmers. Ja. Man sollte das ganze Stranddorf dem Boden gleichmachen. Jetzt sind die Männer nach Hause gekommen. Betrunken, wie gewöhnlich. Prügeln die Kinder. Hör' nur, wie die Jungen heulen! Die Weiber schreien um Hilfe –
Rita. Ja, wollen wir ihnen nicht jemand zu Hilfe schicken?
Allmers hart und unwirsch. Zu Hilfe? Denen? Die Eyolf nicht geholfen haben? Nein, mögen sie zugrunde gehen, – wie sie Eyolf zugrunde gehen ließen!
Rita. Ach, Du mußt nicht so reden, Alfred! Nicht so denken!
Allmers. Ich kann nicht anders denken. Die ganzen alten Kasten müßte man niederreißen.
Rita. Und was soll dann aus den vielen armen Leuten werden?
Allmers. Die müssen anderswo unterzukommen suchen.
Rita. Nun, und die Kinder?
Allmers. Das ist doch ziemlich gleichgültig, wo die zugrunde gehen.
Rita mit stillem Vorwurf. Zu dieser Härte mußt Du Dich zwingen, Alfred!
Allmers heftig. Es ist fortan mein gutes Recht, hart zu sein. Ja, meine Pflicht.
Rita. Deine Pflicht?
Allmers. Meine Pflicht Eyolf gegenüber. Er darf nicht ungerächt bleiben. Kurz und gut, Rita! Wie ich Dir sage! Überleg' Dir die Sache. Laß den ganzen Ort unten dem Erdboden gleichmachen, – wenn ich nicht mehr da bin.
Rita blickt ihn ernst an. Wenn Du nicht mehr da bist?
Allmers. Dann hast Du wenigstens etwas, womit Du Dein Leben ausfüllen kannst. Und das mußt Du haben.
Rita entschieden. Da hast Du recht. Das muß ich haben. Aber rate einmal, was ich tue, wenn Du nicht mehr da bist.
Allmers. Nun, was?
Rita langsam, entschlossen. Sobald Du weg bist, gehe ich zum Strand hinunter und hole die armen, verkommenen Kinder samt und sonders herauf ins Haus. Die ungezogenen Jungen alle –
Allmers. Was hast Du mit ihnen vor?
Rita. Ich will sie zu mir nehmen.
Allmers. Du!
Rita. Ja, das will ich! Von dem Tage an, da Du mich verläßt, sollen sie hier hausen, einer wie der andere, – als ob sie meine eigenen Kinder wären.
Allmers aufgebracht. An klein Eyolfs Statt!
Rita. Jawohl, an klein Eyolfs Statt. Sie sollen in Eyolfs Stuben wohnen. In seinen Büchern sollen sie lesen. Mit seinen Sachen spielen. Sie sollen abwechselnd auf seinem Stuhl sitzen bei Tische.
Allmers. Das hört sich ja wie der reine Wahnsinn an! Ich wüßte auf der ganzen Welt keinen Menschen, der sich zu so etwas weniger eignete als Du.
Rita. Dann muß ich mich dazu erziehen. Mich dazu heranbilden. Mich darin üben.
Allmers. Wenn das Dein voller Ernst ist, – was Du da sagst, – dann muß eine Wandlung mit Dir vorgegangen sein.
Rita. So ist es auch, Alfred. Es ist Dein Werk. Du hast einen leeren Platz in meinem Innern geschaffen. Und den muß ich auszufüllen suchen. Mit etwas, was für eine Art Liebe gelten könnte.
Allmers steht eine Weile gedankenvoll da; er blickt sie an. Im Grunde haben wir nicht viel getan für die armen Leute da unten.
Rita. Gar nichts haben wir für sie getan.
Allmers. Wir haben ihrer kaum einmal gedacht.
Rita. Niemals in Mitgefühl ihrer gedacht.
Allmers. Und hatten doch die »goldenen Berge« –
Rita. Sie fanden unsere Hände zu. Und unsere Herzen auch.
Allmers nickt. So ist es am Ende doch ganz begreiflich, daß sie ihr Leben nicht aufs Spiel gesetzt haben, um klein Eyolf zu retten.
Rita leise. Denk einmal nach, Alfred. Bist Du sicher, daß – daß wir selbst es gewagt hätten?
Allmers unruhig abwehrend. Zweifle nicht daran, Rita!
Rita. O, Du, – wir sind sterbliche Menschen.
Allmers. Was gedenkst Du denn eigentlich für die verkommenen Kinder zu tun?
Rita. Zunächst werde ich einmal versuchen müssen, ob ich ihr Lebenslos mildern – und veredeln kann.
Allmers. Gelingt Dir das, dann ist klein Eyolf nicht vergebens geboren worden.
Rita. Und auch nicht vergebens uns wieder genommen worden.
Allmers blickt sie fest an. Über eins sei Dir klar, Rita. Nicht die Liebe ist die Triebfeder dieser Deiner Handlungen.
Rita. Allerdings nicht. Wenigstens jetzt noch nicht.
Allmers. Was ist denn eigentlich der Grund?
Rita halb ausweichend. Du hast doch so oft mit Asta über die menschliche Verantwortung gesprochen –
Allmers. Über das Buch, das Du haßtest.
Rita. Ich hasse das Buch nach wie vor. Aber ich hörte aufmerksam zu, wenn Du davon erzählt hast. Und jetzt will ich selbst mir weiter zu helfen suchen. Auf meine Art.
Allmers schüttelt den Kopf. Nicht des unfertigen Buches wegen –
Rita. Nein, – ich habe noch einen anderen Grund.
Allmers. Und der ist?
Rita leise, mit einem schwermütigen Lächeln. Ich will mich einschmeicheln bei den großen, offenen Augen, weißt Du.
Allmers betroffen, blickt sie fest an. Vielleicht könnte ich da mittun? Und Dir helfen, Rita?
Rita. Das wolltest Du?
Allmers. Ja, – wüßte ich nur, ob ich könnte.
Rita zögernd. Aber dann müßtest Du ja hierbleiben.
Allmers leise. Versuchen wir, ob es geht.
Rita kaum hörbar. Versuchen wir es, Alfred.
Beide schweigen. Darauf geht Allmers zur Flaggenstange hin und hißt die Flagge hoch. Rita bleibt an der Laube stehen und sieht ihm still zu.
Allmers nähert sich wieder. Ein schwerer Arbeitstag steht uns bevor, Rita.
Rita. Du wirst sehen, – ab und zu wird Sonntagsstille über uns kommen.
Allmers stillbewegt. Da spüren wir vielleicht den Besuch der Geister.
Rita flüsternd. Der Geister?
Allmers wie oben. Ja. Dann sind sie vielleicht um uns, – die wir verloren haben.
Rita nickt langsam. Unser kleiner Eyolf. Und Dein großer Eyolf auch.
Allmers starrt vor sich hin. Kann sein, wir bekommen noch ab und zu – auf dem Lebenswege – etwas wie einen Abglanz von ihnen zu sehen.
Rita. Wohin sollen wir sehen, Alfred –?
Allmers richtet den Blick auf sie. Aufwärts.
Rita nickt beistimmend. Ja, ja – aufwärts.
Allmers. Aufwärts, – zu den Gipfeln. Zu den Sternen. Und zu der großen Stille.
Rita reicht ihm die Hand. Ich danke Dir!