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Neuntes Kapitel.

Im Hause hatten unterdessen die Frauen und die jungen Leute um die Verletzten Sorge getragen. Nachdem Gesichter und Hände mit einem Schwamme gereinigt worden waren, sah man, daß der Schreck das Schlimmste gewesen sei. Außer versengten Augenbraunen und Haaren ließ sich kein Schaden erspähen. Die Rectorin schickte die Patienten zu Bett, die gleich den übrigen Knaben ganz verdutzt waren und kein Wort sprachen. Sie verbot ausdrücklich, den Arzt zu holen. Kaltes Wasser werde hier vollkommen genügen.

Als man sich zu Tisch setzte, stieß sie einen Seufzer über die leerbleibenden Plätze aus. Ihr Mann hatte sich eingeschlossen und wollte nichts essen, die Educationsräthin war denn doch auch fortgegangen. Der Conrector, welcher nach Art junger Schulleute zuweilen von auffallenden Grillen geplagt ward, nahm sich plötzlich eine willkürliche Eifersucht auf Hermann zu Kopfe, der an Niemand weniger dachte, als an Wilhelminen: genug aber, er war eifersüchtig und entfernte sich mit verdrießlichen Blicken, worauf Wilhelmine um die Erlaubniß bat, bei den kranken Knaben bleiben zu dürfen. So war aus einer Gesellschaft von neun Personen eine von dreien geworden, die durch weite Zwischenräume getrennt, an den beträchtlichen Tische Platz nahm. Ein großmächtiger Hecht ward aufgetragen, welcher der Rectorin neue Sorge machte, wie er von so wenigen Personen verspeiset werden solle. Dieser Bekümmerniß war indessen abzuhelfen, denn die beiden Patienten ließen durch Wilhelminen um ein Stück Fisch bitten, da sie außerordentlich hungrig seien.

Nach dem Essen blieb Hermann mit der Rectorin allein. Das Uebelste 182 wäre, wenn der einfältige Vesuv Feindschaft stiftete, sagte sie. Das darf nicht sein. Zwar ist der Educationsrath ein Narr und hat meinen Alten ungeschickt behandelt, aber das Leben währt zu kurz, um nachzutragen. Also muß ich Versöhnung stiften und dazu sollen Sie den Mittelsmann machen. Sie gehen morgen in der Frühe zum Rath, und lassen fallen, mein Mann habe die ganze Nacht vor Schmerz über die Zwistigkeit kein Auge schließen können. Dann sagen Sie dasselbige vom Rath bei meinem Alten, und ich wette, sie sind noch vor Abend wieder gute Freunde. Man kann die Menschen auseinander lügen, aber glauben Sie mir, man kann sie auch eben so leicht zusammenlügen. Das erste ist nicht meine Sache, das Zweite darf man sich schon erlauben.

Als Hermann einwenden wollte, er werde die aufgetragne Rolle nicht geschickt genug spielen, lachte ihm die Rectorin in das Gesicht. Versuchen Sie es nur immerhin, rief sie; Sie Neuling in solchen Händeln! Die Verlegenheit, welche er nach den ersten derartigen Worten der kurzangebundnen Frau in ihrer Gegenwart nicht mehr besiegen konnte, wuchs, und erreichte ihren Gipfel, als ihm jetzt ein Zettel des Rectors gebracht wurde, worin dieser ihn bat, morgen anstatt seiner mit den Primanern den Sophokles zu lesen, da er sich zu unwohl fühle, um die Lection abhalten zu können. Gott weiß es, Hermann verstand zu wenig Griechisch, um einem solchen Ansinnen gewachsen zu sein. Er reichte der Rectorin mechanisch den Zettel hin, die ihn lächelnd überlas, und dann sagte: Herr Schmidt, setzen wir uns.

Sie spielen Comödie mit uns, das ist nicht fein; Sie sind darob in Ungelegenheit gerathen, das macht mich geneigt, Ihnen zu helfen. Wozu dienen nur diese Winkelzüge? Warum kommen Sie, trotz ehrlicher Absichten, welche ich doch bei Ihnen voraussetzen muß, mit einem fremden Namen, wie der Betrüger Sinon in unser Haus. Sie sind nicht der Candidat Schmidt aus Leipzig, Sie heißen Hermann und wollen Cornelchen heirathen.

Hermann wußte vor Bestürzung nicht, wo er bleiben sollte. Ich bitte Sie wegen dieses Streichs tausendmal um Vergebung . . . Ich habe nichts Schlimmes im Sinne . . . Aber Sie irren sich . . . Es war nur dem Flämmchen zu Liebe . . . stotterte er.

Ach was Flämmchen! rief die Rectorin eifrig. Ein Feuer, welches den Herrn fünfzehn Meilen weit daher treibt, kann wohl eine Flamme 183 heißen. Aber Ihr Benehmen ist für meinen schwachen Verstand zu spitz. Das arme Kind so in Verlegenheit zu setzen, das heißt einem jungen Herzen für seine unschuldige Neigung übel lohnen.

Verlegenheit? Herz? Neigung? Liebt Cornelie mich?

Sollten Sie das nicht wissen? Sollten Sie ein Mischling sein von Schlauheit und Kindersinn, der nichts merkt? Nun ja, der Herr hat in jener Waldhütte ein Unheil angerichtet, er erschien dem armen Dinge wie ein Helfer und Heiland, und da er so ziemlich wohl gewachsen ist, ein Paar feurige Augen im Kopfe hat, und seine Worte sanft zu setzen weiß, so ward das Geschöpfchen darnach ganz still und schwermüthig, seufzte, und . . . ach es ist eine alberne Kindergeschichte, und recht thöricht von mir, daß ich das Alles Ihnen so gutmüthig hererzähle.

Fahren Sie fort, beste Frau, rief Hermann. Ich schwöre Ihnen bei Gott, ich bin aller dieser Dinge unkundig, aber Sie schenken Ihr Vertrauen keinem Bösartigen. Warum ist Cornelie hier?

Das ist ja eben das Tollste. Heut zu Tage fangen die Menschen früh an zu leben, Gott weiß, wie früh sie aufhören werden, wenn das so fortgeht. Die Kinder haben jetzt Leidenschaften, welche sich sonst erst mit dem zwanzigsten Jahre einstellten. Kurz, Ihr Vetter Ferdinand hat, ohne es zu wissen, sein Pflegeschwesterchen geliebt, als Sie, der Störenfried dazwischen traten, und nun ergriff den Jungen, den mein Alter vermuthlich noch nicht nach Secunda setzen würde, eine unbändige Eifersucht, die zu den ärgsten Dingen geführt haben muß, wiewohl Ihre Tante mir darüber nichts Näheres geschrieben hat. Aber wie ich aus abgebrochnen Reden Corneliens schließe, so hatte der Knabe einmal gegen sie ein Messer erhoben. Die Eltern sahen sich genöthigt, das Mädchen auf einige Zeit zu entfernen, bis sich weiterer Rath finden wird.

Sie haben mir Ereignisse mitgetheilt, welche ich nicht von fern ahnen konnte, sagte Hermann nach einigem Schweigen. Nur ein sonderbarer Zufall hat dieses Zusammentreffen mit Cornelien herbeigeführt. Doch warum nenne ich Zufall, was vielleicht die höchste, die heiligste Schickung meines Lebens ist?

Er berichtete ihr hierauf den Zusammenhang der Sachen, und da er die Wahrheit sprach, so mußte er Glauben finden. Die Rectorin schien sehr verdrießlich über diese Entdeckung zu sein, und kündigte ihm, offen, wie sie in Allem war, an, daß er am besten thun werde, morgenden Tages 184 abzureisen. Aber Hermann fühlte, daß für ihn zu Wichtiges auf dem Spiele stehe, um die nächsten Entscheidungen durch Empfindlichkeit zu verscherzen. Er bezwang sich, wußte der Rectorin so viel Kindlich-Schmeichelndes zu sagen, bat so dringend, ihm doch nur Zeit zu lassen, daß er sich besinnen, zu dem entschließen könne, wovon vielleicht sein ganzes Glück abhänge, daß er weniger liebenswürdiger hätte sein müssen, um eine alte Frau nicht umzustimmen. Mit einem derben Schlage auf die Schulter, ärgerlichen Worten aber freundlichen Gesichte verließ sie ihn.

Als er allein war, warf er sich in einen Lehnstuhl, und ließ seiner innern Bewegung Raum. Aus dem formlosen Gedränge wunderbarer Vorstellungen entwickelte sich endlich ein lieblich-entzückendes Bild, mit dessen Ausmalung er noch beschäftigt war, als Cornelie, das Nachtlicht in der Hand, ins Zimmer trat. Er saß in einer beschatteten Ecke, so daß sie ihn nicht bemerkte. Was er schon am Tage nach jeder Beschäftigung, sie mochte noch so reinlich sein, von ihr gesehen hatte, sie that es auch jetzt. Den Hahn des Wasserkrähnchens am Fenster aufdrehend, netzte sie ihre Finger und trocknete sie dann sorgfältig ab. Es war Hermann, als ob eine leichte Röthe ihre Augenwimpern säume, da sie zufällig das volle Antlitz nach der Seite wandte, wo er sich befand. Sie prüfte Fenster und Läden, ob sie verschlossen seien, hing die Schlüssel in das Wandschränkchen und entfernte sich.

Hermann war, wie in zwei Hälften getheilt. Die sichtliche Erscheinung hatte das Bild, womit er beschäftigt gewesen war, zerstört; sie war anders, als jenes. Er wußte unter Beiden nicht zu wählen.



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