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In ihrem Geiste wanderten die Bilder jenes schrecklichen Tages in jagender Eile vorüber. Stundenlang lag sie da, ohnmächtig, ihrer Herr zu werden; sie sah nicht, daß sie die Schale voll Kaffee umgestoßen hatte, und achtete nicht darauf, daß eine schmale grünliche Eidechse behutsam unter einer Decke hervorschlüpfte, um sich in dem schmalen Sonnenstreif zu sonnen, der ab und zu durch den Eingang fiel, wenn ein leiser Windstoß dagegen fuhr. Sie wollte sich erheben, um hinauszugehen, aber sie fand nicht den Willen dazu.
Ihr fiel jetzt ein, wie sie dann eines Tages regungslos in dem Zelt ihres Vaters hockte und von Neuem die Klagen vernahm, daß er das schöne blanke Geld habe zurückzahlen müssen. Stumm saß sie da, als plötzlich der Vorhang beiseite geschoben wurde und Ben Aïssas Gestalt in dem Zelte erschien.
»He, Ben Aïssa! Willst sie wohl holen?« schrie ihn Sidi Mustapha an. »Bei Allah, für zwanzig Francs hast Du die Tochter einer schlechten Mutter!«
»Du hast Recht. Ich komme, um Fatthûme zu holen,« klang seine tiefe Antwort, und sie ging ihr durch Mark und Bein. »Allah hat den Schwur gehört. Hier sind zwanzig Francs.«
Wie Sidi Mustapha ihn anstarrte! Man sah es ihm an. Er grollte, daß er nicht mehr erhalten, aber ein Schwur war ein Schwur. Dann ließ Sidi Mustapha sie Beide allein. Sie wäre am liebsten zu dem armen Hirten hingestürzt und hätte sich vor ihm hingeworfen mit dem jungen, heißen Körper und hätte seine Füße geküßt vor inbrünstiger Dankbarkeit. Damals hatte sie sich nur sinnlos vor lauter Glück den Turban vom Kopf gerissen und in Einem fort gestammelt: »Allah, Allah ...«
Wieder rissen ihre Gedanken ab, und ihr Kopf sank müde hintenüber auf die Matte ...
»He, Du, Fatthûme!« rief eine Stimme draußen vor dem Zelt. Mit einem Schrei fuhr sie auf und taumelte dann zurück. Den Laut kannte sie. Das war des Scheikhs Stimme. Sie zitterte am ganzen Leibe. Was wollte er? Er hatte sie seit einem Jahr nicht angesehen, sie nicht gerufen, nie ein Wort mit Ben Aïssa gesprochen. Und nun kam er zu ihr, während Ben Aïssa fort war!! So behandelte ein Moslem nur ein schlechtes, ein ehrloses Weib! –
Regungslos blieb sie stehen und wagte kaum Athem zu schöpfen. Aber in ihren Augen irrten die Flammen der Angst, und die Hände, die schlaff herabhingen, zitterten und vermochten kaum, sich am Burnus festzuhalten.
Da sieht sie, wie eine knochige Hand sich um die Matte am Eingang legt und sie mit einem Ruck zurückstößt. Die ganze goldene Fluth des Lichtes strömt in das Zelt, mit so plötzlichem Glanze, daß sie nicht aufschauen kann. Dann fällt der Vorhang zu und leises Halbdunkel webt wieder seine matten Schleier im Innern des Zeltes. Erst jetzt vermag sie den Kopf zu heben.
Sie schreit auf.
An dem Eingange steht der Scheikh.
Wie sie seinem heißen Blicke begegnet, da überläuft es sie kalt. Als ob sie noch sein Weib war wie ehedem, steht sie ihm fassungslos und angsterfüllt gegenüber. Das Herz schlägt ihr unter dem Burnus hörbar, daß sie meint, sie müßte sich das Gewand vom Leibe reißen, um Luft schöpfen zu können.
Wie ein Blitz fuhr es ihr durch den Kopf. Ist jetzt ein Jahr um und kommt er, sie an das dritte Versprechen zu erinnern? War jetzt wirklich ein Jahr vorbei? Wie ausgehöhlt erschien ihr der eigene Kopf, denn nicht ein einziges Bild aus dem letzten Jahre drang in ihr Bewußtsein; sie sah nur sich wieder am Boden liegen und das verzerrte Gesicht des Scheikhs über sich. Sonst war jede Erinnerung verschwunden, als ob das ganze letzte Jahr wie ein Hauch vorübergegangen war, ohne Sinn, ohne Spur, ohne Ereigniß! So sehr sie auch ihr Gedächtniß anstrengte, sie sah sich nur immer am Boden liegen, und jede Zeit war ausgelöscht wie ein Regentropfen in erhitzter Luft.
»Weißt Du, Fatthûme?« hörte sie eine schreckliche Stimme sprechen, und wieder bezwang der tiefe schneidende Klang ihren ganzen Muth. Kraftlos ließ sie den Kopf auf die Brust sinken.
»Heut ist ein Jahr um! Es war der dritte Tag vor dem Ramadan!« sprach dieselbe fürchterliche Stimme wieder.
»Ah!« stieß sie hervor. Nun wußte sie, daß er Recht hatte. Drei Tage vor dem Ramadan war sie in Sidi Mustaphas Haus zurückgekehrt, und damals hatte sie ihr Vater in die Hütte der niedrigsten Sklavinnen gestoßen, wo sie alte Matten flicken mußte ... Ein Jahr war um, und nun fielen ihr seine Worte ein: »Schwöre mir, daß Du mit mir freundlich bist, als wäre ich Ben Aïssa!«
Mit schreckensbleichem Gesicht wich sie tief in das Zelt zurück. Ein triumphirendes Lachen auf den verzerrten Zügen, folgte ihr der Scheikh ein paar Schritte; als sie abwehrend die Hände ausstreckte, um seiner Berührung zu entgehen, blieb er stehen und ließ die Blicke im Zelt herumwandern.
Er fand, was er suchte. Nur ein altes Gewehr hing an der Wand und daneben ein Pulverhorn, sonst war kein Schwert und keine Lanze da. Mit einem Ruck riß er das Gewehr herab und prüfte genau, ob es ungeladen war. Dann hing er es befriedigt wieder auf und griff nach dem Pulverhorn. Er fand es gefüllt.
»Hast Du Wasser?« fragte er herrisch.
Sie wies auf eine Ecke des Zeltes, in der ein gebräunter Wasserkrug stand, ahnungslos, was er im Sinne hatte. Sie sah, wie er das Pulver in den Krug schüttete, und hörte das Gurgeln und Klatschen der nassen Kugeln.
Der Scheikh war zufrieden. Ben Aïssa konnte nur den kleinen geraden Dolch bei sich haben, denn die Hirten trugen nie eine andere Waffe, und gegen diesen schützte ihn das breite Schwert, das an seiner Seite hing, seine größere Körperkraft und seine Geschicklichkeit.
Er zog, um sich grausam an ihrer Angst zu weiden, das Schwert halb heraus. Sie schrie wieder auf.
»Warum schreist Du so? Ich thue Dir Nichts, und Ben Aïssa auch Nichts, mein Schätzchen!« lachte er und schritt auf sie zu.
»Geh, geh,« jammerte sie, und die Thränen stürzten ihr über das entsetzte Gesicht. »Wenn Ben Aïssa kommt! ...«
»Er soll kommen. Paß auf, er muß jeden Augenblick kommen. Ich erwarte ihn gerade, mein Täubchen!«
»Allah! er ist rasend, wenn Du hier bei mir bist. O Scheikh, Allah soll den Bart Deines Vaters segnen und Deine Mutter und Deine Kinder bis in's zwanzigste Glied. Nur geh, nur geh! ...«
Sie stürzte zum Eingang, aber mit einem Griff schleuderte sie der Scheikh zurück. Ihr Athem jagte, und auf der Stirn erschienen die heißen Schweißtropfen bebender Angst.
Da hörte sie draußen einen Schritt, der ihren Willen vollends lähmte. Sie wollte den Mund öffnen, aber der linke Arm des Scheikhs legte sich blitzschnell fest um ihre Brust und die breite Hand verschloß ihr die Lippe, indeß seine Rechte den Griff des Schwertes packte.
Fast ohnmächtig lag sie an seiner Schulter. Die Hand des Scheikhs preßte sich so jäh auf ihren Mund, daß sie kaum Athem erhielt und das heiße Blut ihr jagend in's Gesicht strömte.
Näher und näher kam der Schritt. Er mußte jetzt dicht vor dem Zelt sein. Da suchte sie sich mit einem gewaltigen Ruck zu befreien, aber wie Eisen lag Hameds linker Arm um ihren Leib, daß sie kein Glied bewegen konnte.
»Fatthûme!« schrie es am Eingang.
Mit einem einzigen Satz sprang eine Gestalt auf sie zu. Ein Dolch blitzte durch die Luft, und mit gellendem Schrei stürzte das Weib, durch die Brust getroffen, zur Erde. Der Scheikh sprang zur Seite und zog blitzschnell das Schwert. Ein Streich und die wüthend erhobene Rechte Ben Aïssas flog mit dem Dolch zur Erde. Noch einen Blick befriedigter Rache, und der Scheikh ließ den Verwundeten bei der Todten allein ...
*
»So war es, Sidi Mustapha!« schloß Scheikh Hamed seinen aufgeregten Bericht. Die vier Söhne des Alten schwiegen, nur ihr Vater antwortete gelassen:
»Du bist hineingegangen und wolltest Wasser?« fragte der Alte und sah ihn mit durchdringenden Blicken an.
»Nur deshalb! Ist das schlimm?« fragte er geringschätzig und hielt ruhig den Blick des Alten aus. »Nein!« antwortete er sich selbst, »sie war doch noch vor einem Jahr in meinem Zelt!«
»So geb' ich für Ben Aïssas Leben kein Durrakorn!« schrie der älteste Bruder Fatthûmes, Gorfon, und sprang auf. An der Wand hingen die Gewehre der jungen Männer, und in wenigen Minuten waren sie gewaffnet, brennend vor Durst, Blutrache für die todte Schwester zu nehmen. Mit glänzendem Auge prüfte der forschende Blick des Scheikh die Gestalten, die hoch und stark waren wie er.
»Er hat kein Pferd, der Hund!« rief Gorfon. »Wir treffen ihn noch im Zelte.«
Als sie langsam durch das Dorf schritten, im Gürtel den Dolch, an der Seite das Schwert und in der Rechten das lange Gewehr, zogen sich alle Frauen und Mädchen scheu zurück. Nur die Männer traten vor die Zelte und folgten in kurzer Entfernung mit dem Scheikh dem alten Sidi Mustapha und seinen vier Söhnen. Erwartung und Kampfeslust glühten in den Blicken Aller, und je näher sie dem Zelte Ben Aïssas kamen, desto langsamer wurden ihre Schritte. Endlich machte Sidi Mustapha Halt und mit ihm seine Söhne.
Ueber fünfzig Schritte hinter ihnen stand der Scheikh inmitten der Männer seines Stammes, denen er leise die Einzelheiten der Ermordung Fatthûmes mittheilte. Lautlos hörten sie es mit an, und manche Faust ballte sich drohend.
In tiefer Stille lag das Zelt Ben Aïssas da. Die Sonne war hinter den Palmenwald gesunken, und der Himmel schimmerte in einem tiefen Roth, das einzelne Strahlen über die Kuppel der weißen Moschee warf. Eine Schaar aufgescheuchter Tauben zog über das Zelt hinweg und verflog sich in die Zweige der Olivenbäume, und manchmal fuhr ein Pärchen aus, um erschreckt von dem Geklirr der Waffen auseinander zu stieben und Zuflucht in dem dunklen Blattgewirr zu suchen.
Kein Laut drang aus dem Zelte. Lange und schwere Minuten standen die Männer davor, endlich erhob sich Gorfon, der stärkste und ungestümste der Brüder Fatthûmes, aus seiner geduckten Haltung. Er schwang sein Gewehr wie ein dünnes Palmrohr in der Hand und schrie, daß es weithin scholl:
»Ben Aïssa, Du Hundesohn. Wo ist Fatthûme, meine Schwester?«
Bei den ersten Worten Gorfons durchlief ein Zittern die schweigsame Reihe der Männer. Sidi Mustapha athmete tief auf, und die Hähne von vier Gewehren knackten laut.
Da klang des greisen Ali Stimme durch die Schaar der Männer hindurch: »Allah segnet die Guten und straft die Bösen. Ohne seinen Willen stirbt kein Wurm der Welt!«
Noch einmal schrie Gorfon durch die Stille: »Hundesohn, komm' heraus! Wo ist Fatthûme, meine Schwester?«
Wieder horchte die schweigende Reihe der Männer, und alle Blicke hingen an dem Eingang des Zeltes. Aber Alles blieb still. Da flüsterte Gorfon seinem jüngsten Bruder ein paar Worte zu. Wie ein Pfeil schoß dieser in das Dorf zurück und kam mit einem flammenden Holzscheit wieder. Das Gewehr in dem linken Arm, das brennende Holz in der Rechten, kroch Gorfon dem Zelte zu. Bewegungslos harrte die Masse hinten auf den Augenblick, in dem die trockenen Palmzweige der Hütte Feuer fangen würden.
In Eilsätzen flog Gorfon von dem Zelte fort und zurück zu seinen Brüdern. Kaum hatte er das Gewehr wieder in die Rechte genommen, als eine mächtige Flamme kerzengerade emporstieg. Die Hände zitterten ihm vor Erregung.
Endlich!
Ein Fuß schob sich durch den Eingang und stieß ihn bei Seite, dann erschien ein Kopf, und endlich stand Ben Aïssa vor dem Zelt. Mit seinem linken Arm hielt er die Todte umschlungen, daß die Füße am Boden schleiften, das Haar hing ihm wirr um das rauchgeschwärzte Gesicht, und an seinem Burnus klebte dunkelrothes Blut. Als er aufsah, erblickte er in einiger Entfernung Sidi Mustapha und seine Söhne und weit hinter ihnen die dunkle Kette seiner schweigsamen Stammesgenossen.
Da ließ er den Leichnam seines Weibes auf den Sand gleiten und streckte ihnen hilflos den blutenden Armstumpf entgegen ...
Rollend zischten vier Kugeln durch die Luft, und in's Herz getroffen fiel Ben Aïssa vornüber auf sein todtes Weib.
Gleich einer Habichtschaar schossen die Männer auf die Beiden zu, und schwatzend und gesticulirend, mit glühenden Augen, umstanden sie die Todten. Als der Scheikh herantrat, machten sie ihm ehrerbietig Platz.
In seinen Augen funkelte es seltsam. Er hatte erreicht, was er wollte: Er hatte jetzt erst seine Rache voll gekostet, nur war Ben Aïssa das Werkzeug gewesen, derselbe Ben Aïssa, um dessenwillen ihn Fatthûme verrathen! Wer wollte ihn anklagen? War er nicht ein kluger Scheikh?
Er wandte sich um, sein Zelt aufzusuchen; dann sah er den alten Ali vor sich stehen mit bleichem Gesicht.
»Also Du warst bei ihr, Scheikh?« stotterte er mit zitternder Stimme.
»Ja!« antwortete er erstaunt und mit hochmüthigem Blick.
»Allah weiß und sieht Alles, Scheikh!« erwiderte der Alte und sah ihm starr in die Augen. »Wenn Du am Tage des jüngsten Gerichts über die Brücke der Gläubigen gehst, ich sage Dir, Scheikh, bei Allah und dem heiligen Propheten, fallen wirst Du in den Rachen der Hölle, in den Rachen der Hölle wirst Du fallen!«
Der Scheikh zuckte die Achseln, sah ihn von oben herab an und ging mit langsamen Schritten in das Dorf zurück. Er war sehr befriedigt! Wo gab es, wie ihn, einen so klugen Scheikh?
Sommer 1894.