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Ein Jahr später wurde ich auf den Fundo »San Carlos« zu meinem Freunde Walter Grune eingeladen. San Carlos war ein großes Gut und lag in einer völlig anderen Landschaft.
Die weiten, mit Espinos bedeckten Ebenen, die Weiden mit den vielen Kühen, die Maisfelder, die Weinberge, die kleinen 53 Lehmhütten der Arbeiter, die von Urwaldbäumen beschatteten Schluchten, umwoben vom Schleier der tiefsten Einsamkeit und Stille . . . es war für mich wie ein Märchenreich, dessen Zauber mich jeden Tag aufs neue bestrickte.
Walter und ich waren eigentlich den ganzen Tag zu Pferd. Wir streiften durch die Felder und über die Höhen und fanden uns nur zu den Mahlzeiten im Hause ein.
Damals wurde weit oben in den Bergen ein Stauwerk gebaut, um dem Fundo auch während der trockenen Monate Wasser zu sichern. An diesem Werk waren gegen hundert Arbeiter beschäftigt, von denen manche nach einer kurzen Arbeitszeit wieder weitergingen und dann durch neue ersetzt wurden.
Regelmäßig einmal in der Woche kam ein Ingenieur aus der Stadt, prüfte die Arbeiten und gab neue Anweisungen. Außerdem ritt Don Alfredo, der Vater meines Freundes, jeden Tag einmal hinauf, um sich von dem Fortschreiten des Werkes und von der Pflichterfüllung der Leute zu überzeugen. Meist begleiteten wir ihn und blieben dann oft ein paar Stunden oben. Die kleinen Eisenwagen, die ununterbrochen beladen aus dem Steinbruch rollten und leer wieder zurückkehrten, machten uns großen Spaß.
Der Bau ging langsam seinem Ende entgegen. Jedenfalls glaubte Don Alfredo zuversichtlich, daß er vor Beginn des Winters, also vor Eintritt der Regenzeit noch fertig würde. Eines Tages aber war er mißgelaunt und sagte, es komme ihm vor, als 54 ob in den letzten vierzehn Tagen die Arbeiten im Steinbruche nicht vom Flecke rückten. Eigentlich sei ihm dies unerklärlich, denn so oft er oben erscheine, befänden sich die Leute wie immer bei der Arbeit. Nachdenklich fügte er noch hinzu, vielleicht sei es doch besser, wenn er einen von den Arbeitern als ständigen Aufseher einsetze. Er dachte dabei an einen gewissen Toledo, der ihm zuverlässig und für den Posten geeignet schien.
Der Toledo war ein junger Mann, ein Spanier, aber in Chile aufgewachsen, der jedem durch seine lebhafte und wohlgesetzte Redeweise auffiel. Er war auch ein guter Arbeiter und von Anfang an am Stauwerk tätig. Vor kurzem jedoch hatte er plötzlich einen Monat ausgesetzt. Dann war er wieder gekommen und hatte gar nicht genug von Santiago, wo er angeblich die zwei Wochen verbracht hatte, zu erzählen gewußt.
Auf dem Fundo lebte damals auch ein alter Chilene, dem Don Alfredo oft einen kleinen Vertrauensposten übertrug, weil er ihn für treu, ehrlich und bedacht hielt.
»Felecho,« sagte er darum eines Tages zu ihm, »reite ein wenig durch die Schlucht um den Steinbruch herum und sieh unauffällig, was die Leute treiben. Es kommt mir vor, als sei irgend etwas im Gange.«
Der Alte blieb bei diesen Worten einen Augenblick unbewegt vor Don Alfredo stehen und sah zu Boden. Dann erhob er den Blick und erwiderte mit einer geradezu steinernen Ruhe: »Wenn 55 der Herr so um fünf Uhr nachmittags auf die kleine Anhöhe neben dem ›Ojo verde‹ reitet, weiß er alles.«
»Was ist denn los?« fragte Don Alfredo stirnrunzelnd, aber Felecho erwiderte vorsichtig: »Es ist besser, der Herr sieht und hört es selbst.«
»Warum hast du mir nie etwas gesagt?« Don Alfredo war ärgerlich. Doch der verhutzelte Alte stand wie ein zeitloses Wesen vor ihm, verzog keine Miene in dem ledernen Gesicht und meinte: »Ich dachte, der Herr wüßte es.«
Don Alfredo begriff. Aus dem Menschen war nichts weiter herauszukriegen, und so ließ er ihn stehen. Am Nachmittag sagte er zu uns, wir sollten ihn in den Steinbruch begleiten.
In weitem Bogen umgingen wir den Stausee und erreichten so gegen fünf Uhr den mit »Ojo verde« bezeichneten Ort. Das war ein grüner Quellteich mitten in der Wildnis. Ringsum ragten riesige Cohigues empor, und auf der dem Steinbruch zugekehrten Seite erhob sich ein mit Buschwerk bestandener Hügel, von dem aus man das Wasser, den Damm und die Arbeiter übersehen konnte. Hier blieben wir hinter den Sträuchern stehen und beobachteten.
Und wirklich, Felecho hatte recht. Die Hälfte der Leute war bei der Arbeit, die übrigen hatten sich unterhalb des Hügels, auf dem wir standen, angesammelt. Mitten unter ihnen befand sich der Toledo und sprach. Offenbar hielt er eine Rede, die bei den 56 Zuhörern Anklang fand, denn er wurde andauernd mit Bravorufen unterbrochen.
Wir traten vorsichtig näher heran und konnten auf einmal ganz deutlich hören, was er sagte. Seine Stimme klang eindringlich und aufreizend: ». . . Glaubt ihr vielleicht, es müsse so sein, daß ihr da in diesem Steinbruch im Staub und in der Sonnenglut tagaus, tagein Steine karrt, während der Herr in seinem kühlen Hause sitzt, guten Wein trinkt und seine Zigarren raucht? . . . Oder meint ihr gar, es sei Gesetz, daß ihr euch für ein paar elende Centavos im Schweiße eures Angesichtes abschindet, um abends ein Stück trockenes Brot zu essen und um eure Kinder hungrig zu Bette zu schicken, während der Herr Tausende auf die Sparkasse trägt, die ihr ihm mit eurer Kraft und mit eurer Arbeit verdient? Nein, nein und nein! Das sind Ungerechtigkeiten, die wir uns in Chile nicht mehr gefallen lassen. Wir müssen zusammenhalten. Wir müssen . . .«
Es war böses und ungereimtes Zeug, was wir da zu hören bekamen und dazu aus dem Munde eines Mannes, der monatelang gut gearbeitet hatte, und dem nie etwas Unrechtes vorgeworfen werden konnte. Don Alfredo erhob sich, strich sich mit der Hand über die Stirn und sagte kopfschüttelnd: »Und den wollte ich als Aufseher einsetzen . . .«
Dann ging er langsam den Abhang hinunter und trat zu den Leuten. Man starrte ihn an, als sei er ein Geist. Er grüßte, aber 57 niemand antwortete. Unbewegt stand er einen Augenblick vor ihnen, die linke Hand am Gürtel, in der rechten die Reitpeitsche, und musterte mit prüfendem Blick die Reihen der Versammelten. 58
Dann sprach er betont und ruhig: »Arbeiter! Wer von euch glaubt, sich beklagen zu müssen, der weiß, wo ich zu sprechen bin . . . Wer aber zufrieden ist, soll unverzüglich wieder an die Arbeit gehen!«
Er wartete, und dann geschah das Merkwürdige. Alle, mit Ausnahme des Toledo, wandten sich ohne jeden Widerspruch ihrer gewohnten Beschäftigung zu.
Don Alfredo sah nachdenklich über die Leute hin. Dann wandte er sich zu Toledo, der ihn mit funkelnden Augen anstarrte, und sagte: »Ihr seid Eurer Stelle enthoben und kehrt augenblicklich mit mir zurück.«
Toledo erwiderte kein Wort, sondern ging mit verbissenem Gesicht und bösem Blick an uns vorbei auf den Weg, aber als er bei den Arbeitern vorbeikam, ballte er die Fäuste und knirschte: »Feiglinge!«
Als wir auf dem Hofe anlangten, standen dort wie hergerufen zwei Carabineros. Sie kamen fast regelmäßig wöchentlich einmal auf den Fundo, denn Don Alfredo hatte es so mit der Sicherheitsbehörde des nächsten Ortes ausgemacht, weil es ihm geraten schien, die Arbeiter von Zeit zu Zeit daran zu erinnern, daß es auch im einsamsten Erdenwinkel Hüter der Ordnung gab.
Don Alfredo erzählte ihnen, was geschehen war, bat sie, in seinem Hause eine Erfrischung einzunehmen und auf ihn zu warten. Dann ging er mit dem Toledo zum Büro. 59
Das Büro lag in der Nähe des Wohnhauses. Es war ein festgefügtes Haus mit zwei nebeneinander liegenden Räumen, einem großen, der sogenannten Schreibstube, und einem kleineren, in dem sich der Geldschrank, ein Tisch und ein Stuhl befanden, und von wo aus jeweilen am Sonnabend durch das Fenster auf den Hof die Wochenlöhne an die draußen versammelten Arbeiter bezahlt wurden.
Das große Zimmer hatte eine Tür, die auf den Hof ging, und ein fest vergittertes Fenster. Der zweite Raum besaß ein Fenster, das mit einem nur von innen verschiebbaren Eisenladen versehen war.
Vor dem Büro befand sich eine Bank, und ein paar Schritte entfernt von der Tür wölbten Maitenes, Akazien und ein uralter, hohler Peumo ihre Kronen schattend über dem kleinen Haus.
In diesem Büro wurde Toledo ausbezahlt, erhielt noch eine strenge Vermahnung, sich nicht mehr auf dem Fundo blicken zu lassen, und dann zogen die Carabineros mit ihm ab.
Dieses Vorkommnis wurde in den folgenden Tagen im Hause noch hin und her besprochen. Es war ja alles ohne jede Störung abgelaufen, doch die Vorstellung dessen, was hätte geschehen können, gab Grund genug zu ernster Vorsicht für die Zukunft.
Walter und ich aber streiften nach wie vor unbekümmert durch Wald und Feld. Unser liebster Spaziergang war und blieb der 60 Weg längs des Stausees durch den Wald in eine wunderbare Schlucht hinein.
Da gab es blühende Sträucher, die herrlichen Duft verbreiteten, riesenhafte Bäume, deren Kronen die Schlucht wie mit einem grünen Dach bedeckten, schier undurchdringliches Bambusdickicht, einen kleinen Bergbach, der hier einen Wasserfall und dort einen Teich bildete. Da wuchsen Farnkräuter, deren zarte Wedel sich wie Schirme aus seinem Spitzengewebe breiteten und unter denen es sich nach unserer Meinung wie sonst nirgends auf der Welt träumen ließ.
Und wenn wir dann so dalagen, die Füße im Wasser, den Blick in das dunkle Grün über uns versenkend, geschah es fast immer, daß wir von einem kleinen Vogel umschwirrt wurden, der hier sein Wesen trieb und scheinbar unsere Gegenwart nicht gewahrte. Nun, wir waren ja auch keine Störenfriede, sondern freuten uns still über den kleinen Waldbewohner und ließen nur unsere Augen wandern. Es war ein richtiger Picaflor, ein Kolibri, das reizendste und munterste Vögelchen des chilenischen Waldes.
Jeden Tag wiederholte sich dasselbe, und immer freuten wir uns von neuem darüber. Erst schwirrte es leise im Laube eines großen Canelos, dann schoß ein dunkles Etwas aus dem Blättergewirr heraus, flitzte über uns weg, kam wieder zurück, verschwand im Dickicht, flog plötzlich von einer ganz andern Seite wieder daher und hielt vor einer leuchtenden Blumenpracht. Es waren die 61 feuerroten Blütenbüschel des Quintrals, jener schönen chilenischen Schmarotzerpflanze, die wie Blutstropfen im Blätterdunkel hängen.
War es anfangs unmöglich, an diesem hin und her zuckenden Knäuelchen etwas zu unterscheiden, so konnten wir es nun ungestört betrachten. Das Vögelchen eilte ruckweise von einer Blüte zur andern, hielt den Körper senkrecht vor der Krone, streckte die Zunge aus dem langen Schnabel in die Blumenröhre, schwirrte mit den Flügeln, daß dieselben wie ein dunkles Wolkenfetzchen aussahen, und war dann wie eine Sternschnuppe wieder verschwunden.
Eines Tages aber war mit einem Male alles anders. Der Kolibri war nicht erschienen, aber aus dem Gebüsch neben uns klang ein merkwürdiges Piepsen, ein wenig kläglich, heiser, für uns jedenfalls ungewöhnlich.
Ich trat näher, teilte behutsam die Zweige und war überrascht: Da lag der kleine Vogel am Boden und konnte weder fliegen, noch gehen. Ich hob ihn auf. Er machte ein paar verzweifelte Anstrengungen, meiner Hand zu entkommen, ergab sich aber bald in sein Schicksal.
Es war ein vielleicht zehn Zentimeter langes Vögelchen, hatte einen langen, feinen Schnabel, dünne Beinchen, war oben braungrün und unten grauweiß gefärbt und hatte auf dem Köpfchen den herrlichsten grüngoldenen Metallglanz.
Walter hatte im Gebüsch auch das Kolibrinestchen gefunden. Es 62 war zerrissen, ließ aber noch deutlich seine ursprüngliche Form erkennen. Es war ein kleines, längliches, außen wie Seide glänzendes Beutelchen und innen mit Wolle und Fasern wunderlich ausgepolstert.
Das zerrissene Nestchen und das flügellahme Vögelchen deuteten auf irgendeinen vorangegangenen Kampf. Wir entschlossen uns sofort, den Kolibri mit nach Hause zu nehmen, um ihn gesund zu pflegen.
Behutsam hielt ich ihn in der Hand, stieg auf mein Pferd und langsam ritten wir talwärts. Die Sonne war bereits untergegangen, als wir am Büro vorbeikamen.
Auf der Bank vor dem Hause saß der Chepo, ein vierzehnjähriger Knabe, mit dem wir sehr gut auskamen. Er war auf dem Fundo angestellt, konnte reiten, lassieren, schießen und Vögel fangen wie kein zweiter.
Wir stiegen von den Pferden und zeigten ihm unsern Fund. Er warf einen kurzen Blick auf den Vogel und sagte: »Er ist am Sterben.« Das wollten wir aber nicht glauben und fragten ihn, ob er uns nicht einen kleinen Käfig für den Vogel borgen könnte. Er besaß nämlich eine ganze Kollektion von selbstverfertigten Vogelbauern und auch Vögel, die er gelegentlich im nächsten Orte verkaufte. Er lief dienstfertig davon und kehrte mit einem kleinen Gehäuse aus Weidenruten zurück.
Wir legten den Kolibri hinein, schoben ein Schälchen mit 63 Wasser neben ihn und versahen ihn mit allerlei Futter. Da sahen wir plötzlich, daß die Viehherden bereits in die Potreros getrieben wurden. Das war eine Arbeit, die wir jeden Abend mitmachten, weil sie uns außerordentlich gefiel. Wir hingen deshalb das Vogelbauer eiligst an den alten Peumo, schwangen uns auf die Pferde und jagten über die Wiesen, um den Hirten zu helfen.
In der Nacht, die diesem Tage folgte, fuhr ich plötzlich aus tiefem Schlafe auf und war wach wie am hellen Morgen. Ich zündete eine Kerze an und sah auf die Uhr. Es war nach Mitternacht. Da löschte ich das Licht wieder aus und sah zum offenen Fenster hinüber.
Mein Zimmer lag am Ende des Hauses in einem kleinen Anbau, und die Tür verband mich direkt mit dem Weg, der in die Berge führte. Nur drei Schritte von meinem Fenster begann die Wildnis, mit Büschen bestandene Abhänge und weiter oben der Wald.
Die geheimnisvolle Stille der Nacht auf dem chilenischen Lande kroch durch die Gitterstäbe von draußen herein und weckte in mir das Gefühl der tiefsten Einsamkeit. Ich dachte an die vielen Arbeiter im Steinbruch, an den Aufwiegler Toledo, und es ward mir bewußt, daß in solchen Dunkelheiten und in solcher Abgeschiedenheit leicht Gefahren drohen konnten.
Da zirpte in der Dachrinne über meinem Zimmer eine Grille. Ich horchte mit merkwürdig wachen Sinnen. Ich erinnerte mich 64 des kleinen Kolibris und wie er dort oben in der Schlucht so kläglich gepiepst hatte, fast wie die Grille hier auf dem Dach. Und dann schoß mir mit einem Male etwas wie ein kleiner Schrecken ins Herz. Wir hatten ja den Käfig samt dem kranken Vögelchen beim Büro am Peumo hängen lassen, und ich hatte ihn doch in mein Zimmer nehmen wollen.
Ich stand auf und starrte zum Fenster hinaus. Die Nacht war mild und hell vom Scheine des Vollmondes und einem wunderbaren Sternenglanz. Nah und fern war alles totenstill. Nur die Hunde streiften um das Haus, und eine Katze sprang über den Weg in die Büsche. Auf wen die wohl Jagd machte?
Ich ging wieder ins Bett, schloß die Augen und versuchte zu schlafen. Es gelang mir nicht. Wie im Fieber jagten sich in meiner Phantasie die Vorstellungen von Katzen, die auf Bäume kletterten, von Vögeln, die sie auffraßen und von scheußlichen Vogelspinnen, die den kleinen Kolibris nachstellen.
Es war unmöglich, in diesem halbwachen Zustande zu liegen. Wieder machte ich Licht, stand auf und zog mich an. Ich wollte hinunter und den kleinen Vogel holen. Schlafen konnte ich doch nicht, und gefährlich war dieser Gang auch nicht. Die Strecke vom Hause bis zum Büro betrug nicht mehr als zweihundert Meter, und zu dieser Stunde war keine Menschenseele weit und breit.
Leise ging ich hinter dem Hause die Mauer entlang, um niemand zu wecken. Dann bog ich ab und kam auf den Weg, der zum Büro 65 führte. Rechts von mir hing eine mächtige Brombeerhecke über den Zaun. Angst hatte ich keine, aber ein seltsames Gefühl von Beklommenheit ließ mich doch nach allen Richtungen hinhorchen und umherspähen.
Da, wo der Zaun aufhörte, ging der Weg über einen großen Platz, auf dem Karreten und Baumstämme herumlagen. Jenseits aber sah ich die dunklen Bäume aufragen, von denen einer der Peumo war, an dem der Käfig hing. Dahinter lag das Büro.
Das Licht des Mondes fiel hell auf die Vorderseite des Hauses. Lautlos tappte ich dahin, denn ich war barfuß. Plötzlich aber blieb ich wie gebannt stehen und starrte zu dem mondbeschienenen Hause hinüber. Was war denn das? Um Gotteswillen! . . . Die kalte Angst saß mir in der Brust.
Ein Mann stand an der Tür . . . Jetzt öffnete er sie . . . und ging hinein.
Zweierlei war mir im Augenblick klar. Der Mann dort drüben war ein Einbrecher, und im Büro war Geld, viel Geld. Don Alfredo hatte es am vorigen Tage von der Bank in der Stadt geholt, um am kommenden Morgen die Leute auszuzahlen.
Ich jagte wie gehetzt zurück, lief an das Fenster von Don Alfredos Schlafstube, trommelte wild gegen die Scheiben und rief: »Schnell, schnell, Don Alfredo! Im Büro wird eingebrochen!«
Fast im gleichen Augenblicke wurde das Fenster aufgerissen: »Was sagst du?« 66
»Schnell! Den Revolver!« schrie ich. »Sonst kommen wir zu spät.«
»Wecke den Verwalter und den Felecho!« rief er zurück. Ich rannte davon.
Als ich zurückkam, jagte Don Alfredo zum Hause hinaus, und wir liefen, so schnell wir konnten in der Richtung auf das Büro zu. Und dann waren wir da.
Die Tür stand weit offen, und in der Schreibstube war es stockdunkel, aber aus dem zweiten Raum drang schwacher Lichtschein. Dort war das Geld, und dort war der Dieb.
Don Alfredo hielt mich zurück und sprang in das Haus hinein. Ich hörte einen schreienden Befehl: »Hände hoch!« Dann fiel ein Schuß, und noch einer . . . Der Eisenladen am Fenster ratterte herunter und schnappte ein . . . Dann war es still.
Ich stand am Türpfosten und zitterte wie Laub im Winde. Don Alfredo kam heraus und sagte mit seltsam flackernder Stimme: »Gott sei Dank! Das Geld ist noch da . . . Aber der Mann ist mir entwischt.«
In diesem Augenblicke kamen auch schon der Verwalter und Felecho dahergejagt. Sie waren gut bewaffnet und bereit, irgendeinem Übeltäter auf den Leib zu rücken.
Don Alfredo war außer sich. »So ein Halunke!« wetterte er, »steht da an der offenen Kasse. Ich rufe, schieße . . . und weg ist er, zum Fenster hinaus und wie ein Geist verschwunden.« 68
»Wie ist es nur möglich, daß der Kerl überhaupt imstande war, das Haus zu öffnen? Wir haben doch die besten Sicherungen an der Tür.«
Der Verwalter konnte es gar nicht begreifen, und die Herren untersuchten die Schlösser, aber weder die Haustür, noch der Geldschrank, noch der schwere Verschluß des Eisenladens am Fenster waren mit Gewalt geöffnet worden. Es war klar, dem Einbrecher hatten richtige Schlüssel gedient.
Da meinte der Verwalter: »Es muß ein Mann gewesen sein, der sich hier genau auskennt.«
»Das will ich meinen,« erwiderte Don Alfredo bitter. »Es war der Toledo, und ich werde morgen Anzeige erstatten.«
Dann nahm er das Geld, das verstreut im Schranke lag, an sich, und wir gingen mit dem Verwalter dem Wohnhause zu, während Felecho noch zwei Angestellte wecken und bis zum Morgen Wache halten sollte.
Auf dem Rückwege fragte mich Don Alfredo plötzlich: »Jetzt aber sage mir bloß, wie du um diese außergewöhnliche Stunde hier herausgekommen bist!«
Ich fuhr zusammen. »Einen Augenblick!« rief ich. »Gleich werde ich alles erklären!« Und schon war ich auf und davon. In dem allgemeinen Durcheinander hatte ich den Kolibri wieder vergessen. Ich rannte die kleine Strecke zurück und . . . holte das Vogelbauer. 69
Als ich Don Alfredo alles erzählt hatte, meinte er, das sei doch ein wunderbarer Zufall, wenn nicht noch mehr, und er drückte mir kräftig die Hand. Schließlich gingen wir auseinander, und ein jeder begab sich wieder in seine Schlafstube.
Ich stellte den Käfig mit dem Vögelchen ans Fenster und kroch in mein Bett, wo ich müde von dem ausgestandenen Schrecken sofort in tiefen Schlaf versank.
Am andern Morgen galt mein erster Blick dem Kolibri. In dem kleinen Bauer war es aber merkwürdig still. Ich sprang aus dem Bett und trat näher heran. Der kleine Vogel rührte sich nicht mehr. Er lag wie ein Häuschen Asche in einer Ecke und war tot.
Als ich aus dem Zimmer trat, traf ich den Chepo, der im Begriffe war, Pferde zu lassieren. Ich begleitete ihn ein Stück weit auf dem Wege zum Potrero, und merkwürdigerweise fing er sofort an, von dem Vorfall der Nacht zu sprechen. Ich fragte ihn erstaunt, woher er denn das schon wüßte, und da erzählte er, er habe wegen der Hitze in der Nacht auf einer Karrete im Freien geschlafen, sei durch den Schuß im Büro geweckt worden und habe alles genau gesehen und gehört.
»Den Toledo haben sie aber nicht gefangen,« meinte er, und seine Stimme klang ein wenig triumphierend.
»Schade,« antwortete ich. »Wo der sich wohl versteckt hat?«
»Bah,« machte er, »weißt nicht, wo er war? . . . Im Peumo . . . 70 in dem hohlen Stamm vor dem Büro . . .« Er lachte. »Ich sah mit eigenen Augen, wie er hineinschlüpfte.«
Ich horchte auf und überlegte einen Augenblick: »Warum hast du es nicht gleich Don Alfredo gesagt?«
Er schwieg. Dann zuckte er mit den Schultern und erklärte: »Der Toledo ist mein Vetter und auch mit meiner Schwester verlobt.«
Wieder kam ich ins Nachdenken. Da war doch irgendwie eine Unehrlichkeit dabei. »Du,« sagte ich böse, »wenn ich das Don Alfredo erzähle, wirst du noch heute vom Fundo gejagt.«
Er sah mich erschrocken an und sagte dann bedauernd: »Ich dachte nicht, daß du mich verraten würdest. Ich habe dir das so erzählt, weil ich glaubte, wir seien Kameraden.«
Eine Weile war es still zwischen uns. Etwas bäumte sich in mir auf. Was fiel diesem Jungen ein, mich zum Vertrauten seiner Geheimnisse zu machen! Das setzte doch voraus, daß ich nicht offen und ehrlich zu Don Alfredo hielt.
»Wie lange bist du eigentlich schon hier angestellt?«
»Fünf Jahre,« antwortete er und sah mich erstaunt ob dieser unvermittelten Frage an.
Ich überlegte: Das war eine lange Zeit . . ., und wenn dieser Junge nicht doch ein zuverlässiger Mensch war, hätte ihn Don Alfredo wahrscheinlich nicht so lange um sich gehabt.
So antwortete ich denn kurz: »Ich werde dich nicht verraten.« 71 Dann aber ging ich von ihm weg, denn mir schien es auf einmal, als ob ich selber mit Spitzbuben gemeinsame Sache machte, wenn ich noch länger mit diesem Chepo ging und seine Reden anhörte.
Als wir ein wenig später beim Morgenkaffee saßen, wurde aufgeregt über alles gesprochen. Walter war, wie mir schien, fast ein bißchen eifersüchtig, weil ich so gewissermaßen im Mittelpunkt der nächtlichen Ereignisse stand. Er meinte, ich hätte ihn doch wenigstens wecken können. Aber Don Alfredo sagte: »Sei froh, Walter, daß du die ganze Geschichte verschlafen hast . . .,« und dann fügte er noch hinzu: »Es ist gar nicht auszudenken, wie mich der Verlust des Geldes getroffen hätte. Erstens habe ich dieses Mal eine außergewöhnlich hohe Summe von der Bank geholt, und dann . . . nach den vielen Fehlschlägen in diesem Jahre . . .! Der Regen, der mir einen großen Teil der Ernte verdorben hat, die Seuche, die mir die besten Milchkühe wegraffte . . . Na, reden wir nicht mehr davon! Hin ist hin . . .«
Er legte die Hand auf meine Schulter und sagte: »Jedenfalls hast du mir einen ganz ungeheuren Dienst erwiesen, mein lieber Junge.«
Ich fühlte, daß ich rot wurde, denn ich hatte doch persönlich nichts Besonderes geleistet, um ein solches Lob zu ernten. Es war einfach ein glücklicher Zufall gewesen . . ., und so meinte ich denn ablenkend: »Wenn wir die ganze Geschichte richtig überdenken, haben wir eigentlich alles nur dem kleinen Kolibri zu verdanken.« 72
»Ja, was ist denn aus dem Vögelchen geworden?« fragte man nun lebhaft von allen Seiten.
In mir wallte plötzlich so etwas wie eine kleine Traurigkeit auf, und leise antwortete ich: »Der Kolibri ist in der Nacht gestorben.«