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Nun schwand vor dem Blick Süderoog im Norden wieder zurück, doch erst nach und nach sein Bild ein wenig an Größe verringernd, denn der Wind ging leise und brachte das Fahrzeug nur langsam vorwärts. Der Unterschied gegen die Geschwindigkeit von gestern war beträchtlich, machte sich Arnold Lohmer fühlbar und ließ ihn fragen: »Kommen wir, wenn's so weiter geht, heut bis nach Neuwerk hin?« Das Mädchen gab Antwort: »Vielleicht steift der Ost zu Mittag noch wieder etwas auf, dann können wir am Abend da sein.« – »Glaubst Du, daß er's thut?« – »Das sagt er niemand voraus, ich glaub's nicht.« – »Da, scheint mir, muß es dunkle Nacht werden, eh' wir zu Haus sind.« – »Mag sein, daß es Nacht wird, aber dunkle nicht. Du vergißt, daß wir Mond haben. Wär' Dir bange, wenn's finster würde, fänd' ich den Weg nicht?« – »Ich weiß, wenn ich mit Dir bin, brauch' ich vor nichts bange zu sein, Du führst mich sicher an's Ziel.« – »Meinst Du's so, wie Du es sagst?« – »Ich meine immer, was ich sage.« – »Thust Du das immer?«
Wort und Antwort klangen leicht, in halb scherzendem Ton, wechselseitig zugeworfenen Bällen ähnlich, her und hin, die Beiden saßen sich gleicherweise gegenüber wie am Tag zuvor, doch seine Augen wichen heut' den ihrigen nicht aus, sondern blickten ihr beim Sprechen ohne Scheu grad' in's Gesicht; unumwölkter Frohsinn erhellte dazu seine Züge. Nur auf ihre letzte Frage erwiderte er nicht gleich, so daß sie nach kurzem Anhalten hinzusetzen konnte: »Mir kommt's vor, Du denkst immer, was Du sagst, aber sagst nicht immer, was Du denkst. Das darf ja auch keiner vom andern verlangen und wäre zuweilen unklug. Nur muß der, welcher etwas verschweigen will, dies nicht allein mit der Zunge, sondern auch mit den Augen können, sonst sagt er's doch.«
»Was sollt' ich – ich weiß nicht, was Du meinst.« Ein wenig befangen wieder und unsicher kam's ihm vom Mund, sie entgegnete gleichmüthig: »Nun sagst Du, was Du nicht denkst, denn Du weißt doch wohl noch, was Du gestern hier im Boot dachtest und verschwiegst.«
Einen Augenblick machte ihn die Kundgabe ihres Wissens betroffen; er hätte nicht von dem, was seine Brusttasche verborgen gehalten, zu sprechen begonnen, doch da sie's in so unvorhergesehener Weise that, überkam's ihn nochmals mit einem Drang, sich ihr selbst gegenüber völlig von jedem Druck der Verheimlichung frei zu machen, und unwillkürlich entflog ihm: »Du hast's gewußt, daß ich ein Schreiben von Deinem Großvater an Follrich Folkarts bei mir trug?«
Sie wiederholte: »Ein Schreiben? Davon hab' ich nicht gewußt, das muß Vater Hadlef Mühe gemacht haben.«
Leise Anwandlung zu einem Lächeln spielte um den Mund der Sprechenden, doch ohne Klang, ein Lachen ward nicht draus, und sie fügte drein: »Warum sie mich mit dem Korb nach der Hallig schickten, wußt' ich, seit mehr als einem Jahr steht's ihnen drauf, und daß sie's Dir gesagt hatten, konnt' mir gestern nicht Zweifel bleiben, als Du beim Lesen auslassen wolltest, was die Athene in der Nacht zur Nausikaa sprach. Du kannst wohl für das Ohr schweigen, aber bist nicht dazu angethan, vor den Augen zu verbergen, was in Dir ist und Dich bedrückt.« Arnold entflog: »So wußtest Du auch, daß mich's bedrückte?«
Sie erwiderte nur mit einem Nicken, und er fuhr schnell fort: »Dir sagen durft' ich's nicht, ich hatt' es Mutter Belke mit der Hand versprochen.«
»Was hattest Du ihr versprochen?«
»Wenn ich's könnte, bei Dir mit zu verhelfen, daß Du den Wunsch Deiner Großeltern erfülltest.«
»Du wolltest mir zureden?«
»Ja, sie hatte mich drum gebeten, es wäre am besten für Dich.«
»Aber Du hast's nicht gethan. Willst Du nicht, was für mich am besten ist?«
Kurz schwieg der Befragte, dann gab er Antwort: »Ich hatte nur versprochen, wenn ich's könnte, doch ich konnt' es nicht.«
»Warum konntest Du's nicht? Wir waren ein paarmal allein beisammen, da hättest Du's doch können.«
»Weil mir's deutlich geworden, es würde nicht das beste für Dich sein, nicht gut, vielmehr ein großes Unglück. Anlof Follrichs mag wohl ein guter Mensch sein, aber daß Du Dein Leben mit ihm verbinden solltest, dafür ist er nicht der rechte.«
»Weshalb meinst Du das?«
»Weil Du von andrer, höherer Art bist, als er. Ihm fehlt alles, was Dir nothwendig wäre, um mit ihm zu leben. Nicht bösartig ist er, doch sonst gleich den wilden Vögeln auf seiner Insel, so aufgewachsen wie sie, hat nichts gedacht und gelernt, nicht lesen noch schreiben, trägt nicht das in sich, ohne was eine Lebensgemeinschaft mit ihm für Dich sich nicht denken läßt.«
Dem Sprecher war das letzte bedachtlos vom Mund gekommen, und ihm gerieth auch nicht zum Bewußtwerden, daß sich in die Begründungsabsicht seiner Worte ein Widerspruch eingemischt habe. Doch Age Terwisga schien dies gleichfalls nicht aufzufassen, denn beistimmend versetzte sie jetzt: »Darum, meinst Du, würd' es ein großes Unglück werden? So halt' ich's auch und habe deshalb mein Halsband mit mir genommen, daß es schweres Unheil verhüten solle. Du glaubtest, als Schmuck hätt' ich's umgethan und drum gefiel's Dir nicht.«
Auch das hatte sie gestern erkannt, in einem halben Erschrecken fühlte er, ihre Augen läsen mit wunderbarem Sehvermögen ihm am Gesicht seine Gedanken und Empfindungen ab. Ein paar Athemzüge lang blieb sie jetzt stumm, doch fragte dann in heiter umgewandeltem Ton: »Willst Du nicht weiter lesen? Du kannst es heut' länger als sonst, denn mich däucht, wir werden viel Zeit haben.« Willkommen war's ihm, durch Niederbeugen des Kopfes unauffällig ihrem Blick ausweichen zu können, so folgte er schnell der Aufforderung, zog das Buch hervor und begann. Als er den Gesang zu Ende gebracht, in dem Odysseus, zum Palast des Alkinoos geführt, dort von seinem Aufenthalt auf Ortygia bei der Kalypso erzählt, las er diesmal noch den folgenden weiter, doch gerieth bei diesem in Verwirrung, da ihm zu spät einfiel, daß er drin mehrere Seiten überschlagen mußte, auf denen der blinde Sänger Demodokos zum Harfenspiel die List des Hephästos vortrug, der Ares und Aphrodite mit dem kunstvoll geschmiedeten Netz zur Hülflosigkeit fesselte. Abbrechend suchte Arnold eine ziemliche Weile lang, wo er fortfahren könne, Röthe stieg ihm in die Schläfen, denn er fürchtete eine Frage des Mädchens, auf die er nicht zu erwidern wüßte; ihm war's, sie würde wieder seinem Gesicht ablesen, wenn er Unwahres vorgäbe. Doch sie wartete ohne einen Laut, bis er auf die Auskunft verfallen, in einigen Sätzen zu berichten, daß Odysseus von der Königin Arete und den Phäaken mit herrlichen Geschenken begabt worden – im Gedächtniß lag ihm der ›prächtige Mantel und Leibrock‹, diese Worte trafen seine umsuchenden Augen an und auf's Gerathewohl fuhr er bei ihnen fort, zu lesen:
»Dann mit dem prächtigen Mantel umhüllt und dem Leibrock
Stieg er hervor aus der Wann, und schnell zu den trinkenden Männern
Ging er. Nausikaa jetzt, mit göttlicher Schöne geschmücket,
Stand dort neben der Pfoste des wohlgebühneten Saales,
Mit anstaunendem Blick den Odysseus lange betrachtend;
Und sie begann zu jenem und sprach die geflügelten Worte:
Freude dir, Gast! Doch daß du hinfort auch im Lande der Väter
Meiner gedenkst, da du mir ja zuerst dein Leben verdankest!
Ihr antwortete drauf der erfindungsreiche Odysseus:
Edle Nausikaa, du, des erhabnen Alkinoos Tochter,
Also gewähre mir Zeus, der donnernde Gatte der Hexe,
Hinzukommen nach Haus und der Heimkehr Tag zu erblicken.
Stets dann werd' ich auch dort, wie der Göttinnen Eine, dich anflehn
Jeglichen Tag, weil du das Leben mir rettetest, Jungfrau!«
Arnold Lohmer hielt nach dem letzten Vers an und sagte, den Kopf emporhebend: »Das sind die letzten Worte, die der Dichter den Odysseus und die Nausikaa miteinander sprechen läßt; weiteres berichtet er nicht. Aber man hört aus ihnen hervor, daß es so geschehen muß und Odysseus, nach Ithaka heimgelangt, jeglichen Tag an die gedenken wird, der er seine Rettung und ein neues Leben verdankt.«
»Glaubst Du, daß er es wird?« Die Augen Ages hielten sich bei der Erwiderung dem ihr gegenüber Sitzenden zugewandt, und da er gleichzeitig aufgeschaut, begegneten sich ihre Blicke. Doch kurz nur, dann, den Kopf nach links drehend, setzte das Mädchen hinzu: »Mit unsrer Rückkehr wird es nicht so rasch gehn; wir sind erst unter den Dünen und weiter bringt der Wind uns nicht.«
Der Lesende hatte nicht drauf Acht gegeben und sah's überrascht jetzt erst. Das Boot lag unbewegt, sein Segel hing völlig schlaff herab, und reglos dehnte sich die Wasserfläche umher, denn kein leisester Hauch des Windes ging mehr. Unsern zur Linken aber warf eine langgestreckte Kette weißer Sandhügel fast blendend die mittägigen Sonnenstrahlen zurück, und Arnold erkannte in ihnen die bei der Hinfahrt rechts belassenen Dünen der Halbinsel Eiderstedt wieder. Unwillkürlich kam ihm vom Mund: »So müssen wir wohl rudern? Wie lange brauchen wir dazu?«
»Vor morgen Mittag wären wir nicht da.«
»Glaubst Du nicht, daß der Wind wieder kommt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Wenn der Ostwind am Tag einschläft, wacht er nicht mehr auf. Ueber Nacht geht er wahrscheinlich nach West um; Follrich Folkarts hielt's schon gestern dafür.«
»Was können wir denn thun?«
»Warten.«
»So im Boot vielleicht bis zum Morgen hin?«
Der Antwortende blickte nach dem nahen Ufer und fügte nach: »Wär's nicht klüger, wir ruderten an's Land und warteten dort?«
»Wenn Du's meinst, aber vor dem Morgen wird der Westwind schwerlich aufstehn.«
»Da bringen wir die Nacht doch besser im Dünensand zu, als auf der Bank hier. Oder wir können nach dem Kirchthurm drüben hinübergehn dort wird ein Dorf sein.«
Age Terwisga wiederholte: »Ja, wir können nach dem Kirchthurm hinübergehn, da ist das Dorf Sanct Peter.«
Sie stand auf und machte das Segel fest, dann setzte sie sich, ein Ruder erfassend, neben ihn, und er nahm das andere. Nur kurze Fahrt brachte sie an's Ziel doch war's Zeit, um auf dem festen Strand anlegen zu können, denn sie befanden sich über einem Sand, und die Flut begann zurückzugehn. Mit kundigem Umblick machte das Mädchen die beste Stelle zur Sicherung des Bootes ausfindig und fragte danach: »Die Sonne ist über Mittag hinaus, wollen wir zusehen, was Banke Jaspers uns in den Korb gethan hat?« Der war auf Süderoog wieder mit Nahrungsvorrath für die Rückfahrt ausgerüstet worden, auch der Methkrug neu gefüllt; sie nahmen ihn mit an's Land, setzten sich dort zwischen den Sandhafer an den Dünenrand. Lautlos still und einsam lag alles um sie her, eine von den Dorfbewohnern drüben nicht aufgesuchte, leblos abgeschiedene Welt, doch nicht kalt wie Tod, vielmehr von der Sonne warm und freudig überstrahlt. Arnold nahm eine Brodschnitte und sagte: »Heute bin ich dankbar dafür, denn ich habe Hunger.« Age erwiderte: »Gestern war's ebenso späte Zeit, warum hattest Du ihn da nicht?« – »Das könnte ich Dich auch fragen; ich denke mir, die Gegend hier hat's an sich, auf der Hinfahrt nach Süderoog läßt sie nicht hungrig werden, doch dafür doppelt auf der Rückfahrt.« Heiter klang's, während sie die Mittagskost verzehrten, von Mund zu Mund weiter; an beiden zeigte sich keinerlei Mißmuth über die Verhindrung ihrer Weiterfahrt durch das launenhafte Verstummen des Windes, sie waren in fröhlichster Stimmung, und zwischen ihren Händen wechselte mehrfach der Methkrug hin und her, aus dem das Mädchen heut' unaufgefordert zuerst trank, ihn ihrem Genossen reichte und nachdem er gleichfalls getrunken, nochmals an die Lippen setzte. Sie erzählte ihm, die Dünenwand an der sie beisammen saßen, habe den sonderbaren Namen ›die Hitze‹ und auf dem weiten Sand davor, nach dem ihre Hand deutete, hätten einstmals in grauer Vorzeit die Wellen so vielen und großen Bernstein angetrieben, daß Leute zu Schiff aus fernen Südländern hierhergefahren sein sollten, um ihn zu sammeln; das möge wohl um die Zeit geschehen sein, als Odysseus nach der Phäakeninsel gekommen. Dem lag eine alte Ueberlieferung zu Grunde, daraus entsprungen, daß in der That schon vor Jahrtausenden fremde Seefahrer aus dem Mittelmeer, vermuthlich Phönizier, an der Küste Eiderstedts einen Reichthum an ›Elektron‹ entdeckt und ausgebeutet hatten; Arnold entgegnete, seine Hand neben sich auf die besonnte Düne streckend: »Heut' begreift man den heißen Namen, denn der Sand brennt beinah. Vielleicht hat die Windstille es gut mit uns im Sinn, daß wir hier einen großen Fund machen sollen; wie der Bernstein seinen alten Ruf, vor Ueblem zu behüten, noch verdient, haben wir ja erfahren.« Er blickte dabei auf die halb über die Brust niederhängende Halsschnur Ages, die zurückgab: »Wenn die Nacht kommt, wird der Sand kühl werden. Mit dem Suchen müssen wir noch ein paar Stunden warten, so lang dauert's, bis das Watt trocken liegt. Willst Du nicht lesen derweil? Du hast aufgehört, wie Odysseus sagte, daß er jeden Tag in seiner Heimath an Nausikaa gedenken werde.«
Der Rath die Wartezeit zum Weiterlesen zu benutzen, war gut, Arnold nahm die Odyssee wieder hervor und fuhr an jener Stelle fort. Nichts regte sich neben ihm, nur seine Stimme klang durch die Lautlosigkeit; als er den Gesang zu Ende gebracht und anhaltend die Stirn hob, lag Age Terwisga in der Entfernung von ein paar Armlängen ausgestreckt auf dem Dünensand. Sie hatte die Hände unter ihrem von der Sonne weggewendeten Kopf zusammengelegt, dessen Haar sich tiefdunkel vom weißen Bodengrund abhob; neben den Schläfen standen graugrüne Halme des Strandhafers in die Höh', das Gesicht halb wie mit einem Gitterwerk verdeckend, doch waren die weitaufgeschlagenen Augen deutlich unterscheidbar, denn sie sahen mit einer traumhaften Glanzfülle zum Himmel empor, leuchtend, als ob ein Stück seines Blau's sich zwischen ihre Lider heruntergesenkt habe. So lag das Mädchen, kaum ein Athmen der Brust wahrnehmen lassend, unbeweglich dem Lesen zuhörend, oder vielmehr – Arnold kam's jetzt bei seinem Anhalten zur Erkenntniß – hörte nicht zu, denn offenbar gerieth ihr seine Unterbrechung nicht zum Bewußtwerden. Wenigstens eine geraume Zeitlang nicht, während der sie ebenso verblieb; dann mußte einmal das Aufhören des Stimmenklanges etwas in ihr anrühren, sie fuhr mit einem plötzlichen Ruck zu sitzender Stellung empor, sah verwirrt um sich, ihre Augen wichen den ihr zugewandten Arnolds aus, und es dauerte noch etwas, eh' sie vom Mund brachte: »Du hast gelesen – warum liest Du nicht weiter?«
Ihn durchlief ein Gefühl, von dem er nicht wußte, was es sei, wie ein Schauer war's, der aus der heißen Sonnenstille aufwachend, ihm in's Blut fließe und sein Herz zu schnellerem Klopfen bringe. Auch zu antworten wußte er nichts, blickte sie nur stumm an, und erst nach längerem Schweigen kam ihm über die Lippen: »Willst Du etwas ausruhen? Du bist müde, glaub' ich.«
Sie saß und ihre Augen gingen westwärts über die uferlose See hinaus, an deren Himmelsrand klein ein einzelnes schattenhaftes Wölkchen nur eben für das Gesicht auffaßbar entlangzog. Darauf hielt ihr Blick sich gerichtet, ein Weilchen stumm, dann sagte sie unverständlicher Art: »Bist Du's?« Doch der Ton ihrer Stimme schien sie aus einem Zustand halber Sinnverlorenheit zu sich zu bringen, ihr Gesicht wandte sich danach gegen Arnold Lohmer und sie sprach zu ihm: »Verzeih' mir's, ich hörte nicht, was Du gelesen hast. Ich dachte – nein, ich dachte nichts – mir war's vor den Augen als fahre das Schiff mit meiner Mutter draußen über die See; dort irgendwo ist sie untergegangen und schläft, ihre Stunde war's. Einmal als Kind sah ich's deutlich, da stand sie auf dem Deck am Steuer und winkte mir mit der Hand, ich sollte nachkommen, dort, wo sie hinfahre, wär' es gut. Aber dann war es ein Wölkchen, wie das da – nein, müde bin ich nicht, meinst Du, ich möchte schon schlafen? Wir wollen erst noch Glesum suchen, wie's die fremden Leute hier einmal gethan, damals als Odysseus nach Scheria kam. Der Sand fängt an, trocken zu werden, wir können gemach dem Ebbwasser nachgehen und sehen, was die Flut uns bescheert hat.«
Sie war bei den letzten Worten aufgestanden und der Ausdruck traumhafter Sinnesabwesenheit völlig zwischen ihren Lidern weggeschwunden, ein Glanz wie von verlangendem Trieb nach einem reichen Bernsteinfund füllte ihr die Augen. »Wir lassen unsre Schuhe hier,« setzte sie hinzu, »die Möwen holen sie uns nicht weg,« und sich kurz abkehrend streifte sie eilig ihre Fußbekleidung ab; Arnold that das gleiche, dann gingen sie zum Strand hinunter, um den sich schon ein entwässerter Wattengrundstreifen, die beginnende Ebbe ankündigend, hinzog. Anfänglich nahm dieser nur langsam an Breite zu, doch allmählich wölbte der Sand sich weiter hinaus trocken gelegt auf; ›ertrunkenes Land‹ war's auch hier, das alte ›Utholm‹, die ehmalige Westküste Eiderstedts; unablässig im Wind fortwandernd, hatten die Dünen jetzt ihren Schutzwall wohl um die Breite einer Meile weiter gegen Osten verlegt. Nun stellte sich auf dem Sand auch das tausendfältig flatternde und trippelnde Leben ein, Möwen und Seeschwalben, Austernfischer, Kampfhähne und Regenpfeifer waren da, sich ihrer zappelnd zurückgelassenen Ernte zu bemächtigen, am Rand der zahlreichen tieferen und seichteren Wasserrinnen, den Prielen und Deepen, Gaaten und Leien ihre langen Spitzschnäbel nach Beute hinunterzuschnellen. Dazwischen wanderten Arnold und Age, bald nebeneinander, bald getrennt, nach dem alten Palmenharz umblickend; weit und weiter dehnte sich vor ihnen das bläulichgraue ›Haff‹, der vom abgewichenen Wasser entblößte Meerboden. Doch vom Gesuchten entdeckten sie gleicherweise nichts, als hie und da ein winziges Stückchen; der ehmals so reich gewesene Fundplatz lag verarmt, vielleicht weil sich eine Strömung in der See verändert hatte, oder es mochte nur eine Vorzeitssage sein, die vom Umfahren der Phönizier hierher berichtete. Die Beiden aber ließen in ihrem Wetteifer nicht nach, und wenn sie wieder zusammenkamen, sprach aus ihren Augen keine Enttäuschung; es regte den Eindruck, für sie liege das Schöne nicht im Finden, sondern im Suchen, wie in einem Rausch von Luft und Licht durchklangen ihre Stimmen die Einsamkeit, drin sie das einzige Menschenleben waren. So gelangten sie, seitwärts hin- und herschweifend, bis an die Grenze des alten Utholm, wo die See auch bei der Tiefebbe ihr Reich behauptete und trotz der Windstille mit dünenden weißen Kippwellen auf den Sand schlug. Arnold entflog: »So lockend ist's, man möchte hineinspringen. Wenn Du nicht bei mir wär'st –.« Stockend verstummte er, bedachtlos war's ihm vom Mund gerathen, und er stand befangen, wie ein zu schreckhafter Besinnung kommender Knabe. Doch das Mädchen entgegnete ohne Acht drauf: »Da ist's gut, daß ich bei Dir bin, sonst würdest Du heut' Nacht in nassen Kleidern schlafen und kämest wahrscheinlich obendrein wieder in die Flut, denn es wird Zeit zurück für uns, die Sonnenuhr zeigt's immer richtig.«
Wie mußten Stunden seit ihrem Fortgang von der Düne verflogen sein, erstaunt sah er's, die Sonne stand schon ziemlich schräg gen Westen hinüber. Er hätte nach ihr die Wiederkehr der Flut nicht zu bemessen gewußt, doch Age trug die tägliche Wechselzeit des Eintritts derselben mit sicherer Rechnung im Kopf; allein an dem Tag der Wandrung nach dem Scharhörner Riff hatte eine Vergeßlichkeit sie überkommen. An den erinnerte ihn sonst der heutige genau durch die ganze Umgebung, nur fehlte der damalige, sonderbar niedrig über dem Boden hinziehende Nebel, in ganzer Gestalt sichtbar schritt seine Begleiterin neben ihm nach dem Ufer zurück. Ihm kam plötzlich einmal der Wunsch, ihre Kleidung möge sich verwandeln, daß sie in ihrer Sonntagstracht dahergehe, und bei diesem Verlangen fiel vor seiner Einbildung wie durch eine Zauberwirkung der graue Friesrock von ihr ab, doch trat nicht das farbige Gewand an seine Stelle, sondern wie eine weiße Marmorgestalt bildete sich's vor seinem Blick heraus. Sein Fuß stockte und ebenso sein Athemzug, aus weitgeöffneten Lidern sah er reglos draufhin. Sie empfand's, wandte ihm den Kopf zu und fragte verwundert: »Habe ich etwas an mir, daß Du mich so merkwürdig ansiehst?« Da war das Täuschungsbild seiner Phantasie verschwunden, sie stand wieder im grauen Fries, doch ihm schlug eine hohe Röthe über's Gesicht bis zum Stirnrand hinauf. Er antwortete hastig: »Nein, Du hast nichts, bist wie immer, so wie Du sein mußt.« Das erklärte weder den seltsamen Ausdruck seiner Augen, noch war's im Sinn verständlich, und sie erwiderte: »Ich verstehe Dich nicht – wie muß ich sein?« Doch war's, als überziehe bei der Antwort ein leiser Widerschein der rothen Färbung seines Gesichtes das ihrige, sie drehte den Kopf seitwärts zurück, setzte stumm den Weg fort, und eine Zeitlang gingen beide schweigend nebeneinander. Als sie sich der Küste näherten, warf die Sonne ihre Schatten schon lang über den Sand vorauf, doch lag dieser noch völlig trocken und fein geebnet, so daß Arnold der Gedanke kam, zu fragen: »Wollen wir hier eine Schreibstunde halten? Nur fehlt uns der Griffel für die Tafel – aber da –«
Sein Blick fiel auf ein angeschwemmt halb aus dem Grund sehendes rundlängliches Rollholzstück, das er hervorzog und hinzusetzte: »Mit dem Messer läßt sich's wohl zuspitzen.« Doch Age entgegnete, den Kopf schüttelnd: »Du hättest mir gestern mit Anlof Follrichs zusammen Unterricht geben können, heute möcht' ich nicht Deine Schülerin sein, mich dünkt, hier ist's schöner, auf der Düne zu sitzen und sehen, wie die Sonne in die See hinunteisteigt. Wer kann wissen, ob sie's morgen noch so thut; man muß festhalten was noch ist, so lang sich's halten läßt.«
Auf den Sonnenuntergang bezüglich und ganz einfach gesagt, klang's doch zugleich eigen auch wie eine von reifer Erfahrung eingesammelte Weisheit aus dem jungen Munde, und der Hörer mußte ihr beistimmen, was sie anrieth, sei schöner und klüger, als das von ihm Beabsichtigte; er sprach nicht aus, daß eine Fortsetzung des Schreibunterrichts doch kein Weiterkommen bei ihr erwarten lasse. Darin hatte sie nicht unzutreffend Anlof Follrichs mit sich zusammen genannt; wie solche Belehrung bei ihm erfolglos bleiben würde, stand hier auch eine Schranke vor ihrer Aufnahmefähigkeit. Sie setzten sich wieder auf die Düne, Abend ward's, das lange Umherschweifen hatte ihnen neuen Hunger eingebracht, dem der Vorrathskorb jetzt abermals willkommen war. Die Luft regte noch kein leisester Hauch, zweifellos mußten sie die Nacht auf dem Lande zubringen, doch beiden schien aus dem Gedächtniß entfallen zu sein, daß sie am Mittag sich damit beruhigt, für solchen Fall zum Uebernachten nach dem Dorf Sanct Peter hinübergehn zu können; keiner erinnerte dran, daß es dafür Zeit werde, denn die Sonne war unter den Horizont weggeschwunden, hielt, unsichtbar geworden, ihn nur noch mit einem Lichtvorhang umspannt, doch keinem purpurfarbigen, wie gestern, sondern goldgelb hob er sich heute am Himmel auf. Nebeneinander saßen die beiden Abendgäste der einsamen Dünenwelt, manchmal ein Weilchen schweigsam, dann fröhlich rasch hin und her redend zumeist begann nach einem Verstummen das Mädchen wieder damit. Sie sprachen von dem, was die Natur um sie her ihnen eingab, von der See, den Sternen, dem Wunderbaren, daß auf der Erde Menschen mit Augen zum Himmel aufsähen; Arnold erzählte von dem ihr unbekannten Festland, der Größe und Reichthumspracht Hamburgs, dem Leben dort; sie müsse nicht nur davon hören, sondern es selbst kennen lernen, dafür werde er Anstalt treffen. Und doch sei alles nur gering und arm gegen das, was er hier und auf Neuwerk gefunden, wohin ihn der Zufall, nein, das Glück, eine Bestimmung durch die Begegnung mit Age gebracht habe, nicht allein um ihn körperlich wieder voll gesund werden zu lassen, vielmehr ihm den Geist und das Gemüth mit neuem, köstlichen Lebensblut zu erfüllen. Hörbar entfloß es aus einem innersten Dankgefühl über seine Lippen, das Mädchen saß jetzt lautlos, nichts mehr darauf entgegnend, nur leise murmelnd plätscherte die rückkehrende Flut drunten zu den Füßen der Beiden. Dann geschah's einmal überraschend, daß plötzlich ihre Schatten vor ihnen auf den Strand hinunterfielen, unvermerkt war hinter ihren Rücken der Mond über den Dünenkamm heraufgekommen, beglänzte die aufglimmernden Wellen. Ein zauberhaftes Lichtspiel war's, am westlichen Himmelsrande stand noch der goldene Schein, die Gestirne des Tages und der Nacht schienen sich leuchtende Strahlenarme entgegen zu strecken. Doch Age Terwisga sagte nun: »Das Gelb nach der Sonne hat's angezeigt, der Westwind wird mit dem Morgen aufstehn, und bevor die Ebbe den Glesumsand trocken macht, muß unser Boot von ihm los sein. Da ist's Zeit, daß wir die Augen zuthun, um uns nicht zu verschlafen; ich will Dir Dein Bett herrichten; Du verständest Dich nicht drauf, es Dir geschickt zu machen.«
Das verstand er auch mit dem Ohr nicht und fragte: »Ein Bett? Willst Du Möwendaunen dazu aus der Luft herzaubern? Aber wozu brauchen wir's auf dem weichen, warmen Sand?«
Doch aufstehend antwortete sie: »Der wird kühl während der Nacht und vom klaren Himmel fällt der Thau. Im Schlaf schlägt das Herz weniger rasch, da wird's Dich frostig anrühren.« Sie trat einige Schritte zur Seite, kniete nieder und höhlte auf einer ebnen Fläche der Düne mit den Händen eine langgestreckte Mulde von ungefähr doppelter Fußbreite in den Boden, häufte an ihrem Rande den Sand zu einem kleinen Wall auf, so gut die locker rieselnden Körner es ermöglichten, und sagte: »Das ist Deine Decke, Du brauchst sie nicht über Dich zu ziehen, das thut sie schon von selbst, wenn Du Dich zu Bett legst.« Jetzt begriff er, was sie herstellte, und erwiderte, zu ihr hintretend: »Das lernt sich nicht allzuschwer, da kommt's dem Schüler zu, für seine Lehrmeisterin das Gleiche nachzumachen.« Er kniete ebenfalls nieder und begann neben der Höhlung eine zweite von nämlicher Art auszuschürfen. Doch das Mädchen wies ihn an: »Das ist zu nah, Du mußt weiter fortrücken, sonst fällt die Wand dazwischen ein.« Eifrig weiterarbeitend aber versetzte er: »Nein, sie hält, ich gebe schon Acht.« – »Du wirst sehen, der Sand kommt in's Rollen.« – »Du wirst sehen, daß er fest bleibt.« Im nun hell auf sie niederfallenden Mondlicht setzten beide ihr Thun fort, sie ward vor ihm fertig und richtete sich empor, während er noch an seinem Werk besserte. Doch seine letzte Handanlegung fiel nicht glücklich aus, denn das von ihr Vorhergesagte trat ein, zwischen den Mulden floß die lose Scheidewand nach beiden Seiten auseinander, und Age kam vom Mund: »Wer hat recht gehabt? Da ist Deine Mühe umsonst gewesen.« – »Du hast Schuld dran, von Deinem Aufstehen kam's.« – »Das ist billig, einem Andern die Schuld zuzuschieben, wenn man etwas unrichtig angefangen und nicht auf guten Rath gehört hat.« Rechthaberisch stritten sie mit Rede und Widerrede noch weiter hin und her, jeder bestand auf seiner Behauptung. Zum erstenmal hatte sich zwischen ihnen ein Zwist entsponnen, der zu einer ernstlichen Veruneinigung auszuwachsen drohte; Arnold brach endlich zuerst ab: »Ich mag nicht mehr streiten, wenn Du noch weiter Lust dazu hast, so thu's allein.« Er ging davon, während sie ihm nachsprach: »Du bist zanksüchtig, ich habe mich nur gewehrt.« Damit wandte sie sich nach der andern Seite fort, Entzweiung ließ jeden dem andern den Rücken drehen, nicht begreifbar war's eigentlich, was sie derartig zu lauthastigem Sprechen gegeneinander aufgebracht habe. Doch wunderlich war's so geschehen, ihnen gleicherweise eine Reizbarkeit angeflogen, und sie verschwanden sich aus den Augen oder erschienen im weißen Mondglanz wechselseitig dem Blick nur als ungewisse dunklere Schatten auf der hellfarbigen Düne, die nun in tonloser Nachtruhe dalag. Die aber übte offenbar eine Beschwichtigung auf die Gemüther der Erzürnten, denn nach einer Weile standen sie, von hier und dort zurückgekommen, sich wieder gegenüber und Arnold sagte: »Ich hatte unrecht, verzeih's mir.« Das Mädchen antwortete ebenso: »Nein ich, verzeih' Du's mir«, und er fiel ein: »Mir scheint, wir haben uns um nichts ereifert, ich weiß garnicht mehr, warum.« – »Ich auch nicht, Banke Jaspers Meth war wohl stark und uns zu Kopf gestiegen.«
Bereitwillig kam sich Versöhnlichkeit von beiden Seiten entgegen, der Streit war beigelegt und niemand berührte weiter seine nichtige und närrische Entstehung, deren Anfangsursache ihnen über seiner Fortsetzung in Vergessenheit gerathen. Froh und freundlich wie vor ihm sprachen sie noch einiges hin und her, dann sagte Age: »Wir sollten schon schlafen, damit wir rechtzeitig aufwachen.« Er versetzte: »Ja, eh' die Ebbe kommt, Du sagtest's vorhin,« und um ein paar Augenblicke später lagen beide in den Höhlungen, deren bis auf ein Geringes niedergerollte Scheidewand den vergessenen Anlaß ihres Zwistes gebildet hatte. Der weiche Sand strahlte noch Sonnenwärme aus, eine Ruhstatt war's die nach keiner andern verlangen ließ, kein Ton ringsum, als das Anrauschen der steigenden Flutwellen drunten, ab und zu aus der Luft der Ruf einer vorüberziehenden Möwe, und ihre eigenen Stimmen klangen noch, nur auf Armeslänge-Entfernung, nah von Mund zu Mund. Arnold hatte von Süderoog zu sprechen begonnen: »Dort lärmen jetzt die wilden Vögel noch wie gestern, und mir schien's, Anlof Follrichs glaubt, wenn er nach Neuwerk kommt, da wird's so werden, wie er und alle es wünschen. Willst Du's denn nicht noch bedenken?«
Zurück klang's: »Du weißt's ja, warum fragst Du das?«
»Weil ich Mutter Belke versprochen hatte, Dir zuzurathen.«
»Warum hast Du das gestern nicht gethan? Dann könnt'st Du ihr sagen, Du hättest Dein Versprechen erfüllt.«
»Du weißt auch, daß ich's nicht konnte.«
»Daran hatt' ich nicht mehr gedacht. Ich bin müde. Gute Nacht, Arnold.«
»Gute Nacht, Age.«
Nun ward's still, nur leis dem Ohr vernehmbar klang der nahe Athemzug hier und dort. Eine Zeitlang, und es war, als bemühe jeder sich, kaum hörbar sacht zu athmen, um den andern nicht zu stören; das mochte Age Terwisga vorher bedacht, sie deshalb gesagt haben, er richte ihr die Lagerstatt zu dicht neben der seinigen her. Doch über dem Zank hatte sie's vergessen.
Dann kam noch einmal leis eine Frage von seinem Mund: »Schläfst Du schon?«
»Nein, doch beinah.«
»Wird's Dir schon kühl?«
Eine seiner Hände bewegte sich hinüber nach der ihrigen, sich durch das Gefühl die Frage zu beantworten. Die Hand war warm, und er legte die Finger um ihr Gelenk; nun sagte das Mädchen, wie aus einem Halbschlaf zu sich kommend: »Was willst Du?«
»Deinen Puls fühlen – nein, Dich friert's nicht, Dein Herz schlägt noch schnell.«
Durch eine Bewegung zog sie ihre Hand jetzt von der seinigen fort und sprach dabei: »Ich muß mich anders legen – Du bist ja ein Arzt, das vergaß ich – schlafe gut!«
»Thu' du's auch – es ist schön hier unter dem Himmel und dem Mond – solche Nacht war in meinem Leben noch nie –«
Als letzter Stimmenlaut erscholl's auf der Düne, über deren Einsamkeit nun stumm die Mondnacht ihren weißen Strahlenmantel hinbreitete, und ihr alter Gefährte, der Schlaf, kam und schloß die Augenlider der dicht nebeneinander Ruhenden herab. Reglos ausgestreckt lagen sie mit den Gesichtern, deren Farbe sich kaum von der des Sandes neben ihnen abhob, wie zwei in die Gewalt Ran's Gefallene, von ihr zur Tiefe niedergezogen und von den Wellen der Nordsee entseelt wieder an's Ufer heraufgetragen. Nur der Athemzug sprach vom Leben, gleichmäßig hob er hier und dort die Brust, als sei's kein verschiedener, zwiefacher, sondern einer einzigen entstammend, sich zu Einem vereinigend; nun ging er leise, dann manchmal ebenso gleichzeitig eine Dauer lang rascher, zu lauterer Vernehmbarkeit anschwellend, ein Traum mußte ihn beschleunigen, seltsamer Weise, als sei auch er nur Einer, beiden gemeinsamer. Ab und zu glitt der Schatten einer nächtlich umschwebenden großen Silbermöwe über sie hin, wie wenn sich ein Arm rege und über die abgeflachte Scheidewand fortbewege. Doch nur Täuschung eines Augenblicks war es, flüchtig schwand er vorbei, und das weiße Licht zeigte die Lage der Schlafenden unverändert.
Allmählich dagegen im Gange von Stunden wandelte sich etwas an der Beschaffenheit der Sommernacht. Der ausstrahlende Sand verlor seine zurückverbliebene Sonnenwärme und auch die Luft ward kühl; ab und zu flirrten einmal die bisher unbeweglichen Halmblätter des Strandhafers leicht hin und her, nur kurz, dann standen sie wieder ruhig, doch öfter und rascher erneuerte sich's. Langsam nahm die Glanzhelle der beinah gerundeten Mondscheibe ab, ein weißliches Luftgespinnst wob, vom westlichen Horizont heraufkommend, einen Schleier bis zu ihr empor, überzog nach und nach das dunkelblaue Aethergewölbe. Wo die Sonne untergegangen, war der letzte Rest des Goldscheins verschwunden, der Juni begann schon wieder im Osten den Himmelrand mit einem Schimmer, dem Vorboten des neuen Tag's zu umgürten. Mit stählerner Farbe stieg er eine Zeitlang aufwärts, dann vertiefte sie sich, hob an, zu erglühen, und eine feurige Morgenröthe schoß lodernde Garben gegen den Zenith in die Höh'.
Da öffneten einmal Arnold Lohmer und Age Terwisga, vom schrillen Ruf einer dicht vorbeijagenden Sturmmöwe geweckt, zugleich die Augen und sahen auf. Das Himmelsblau war zu einer einförmig grauen Decke geworden, frostig durchschauernd strich ein kalter Wind über ihre Gesichter. Die hatten sich im Schlaf einander nah zugewandt und ein bewußtloser Traum beiden die Arme bewegt, gegen das Kältegefühl bei dem andern Wärme zu suchen oder ihm solche zu verleihn. Wie er's vor dem Einschlafen ein paar Augenblicke lang gethan, um nach ihrem Pulsschlag zu fühlen, hielt seine Rechte die auf der Brust des Mädchens liegende Hand umfaßt, und die ihrige hatte sich ihm über die Schulter halb um seinen Nacken gelegt. So blieben sie nach dem Erwachen während einiger Athemzüge, ihnen fehlte noch die Besinnung, wo sie seien und welche Verwandlung seit ihren letzten Worten vorgegangen. Dann fuhr Age plötzlich, von einem jähen Ruck emporgeschnellt, auf, stand, abgewendeten Kopfes, mit schreckhaft verstörtem Ausdruck über die See blickend, und ihr flog hastig hervorgestoßen vom Mund: »Der Morgen ist da und der Westwind – die Flut fällt, wir müssen geschwind sein!« Sie lief davon, an den Strand hinunter; Arnold war noch nicht so klar zum Bewußtsein gelangt, wie sie, folgte ihr in noch halb traumhaftem Zustande nach. An das Mitnehmen des Korbes dachten beide nicht, er blieb vergessen, wie ein Gedenkzeichen, daß sich Menschen hier auf der öden Düne befunden, zurück, oder gleich einem angetriebenen, stumm von Schiffbrüchigen redenden Ueberrest. Mit fliegenden Händen machte Age Terwisga das Segel los und stieß das Boot vom Ufer ab; die Zeit drängte in der That, denn die begonnene Ebbe drohte, den Kiel vor dem Hinwegkommen über den Bernsteinsand festzulegen. Das erkannte auch Arnold jetzt und ergriff, um die Fahrt zu beschleunigen, die Ruder; das Mädchen gab scharf Acht, durch die Steuerung beim Innehalten der nächsten Richtung zur freien See dem Winde jeden möglichen Vortheil abzugewinnen. So lag's in der Sache, daß beide sich schweigend ihrem Thun hingaben, ungefähr eine halbe Stunde lang; ihr Betreiben brachte mit sich, daß ihre Gesichter gegeneinander gerichtet waren, doch sie blickten sich nicht an. Dann sagte Age einmal: »Wir sind los, Du kannst die Ruder einziehn;« der Sand lag überwunden hinter ihnen, das Boot hatte noch eben rechtzeitig das untiefenlose Wasser erreicht.
Die ersten gesprochenen Worte waren's gewesen und sie blieben für Stunden weiterhin die einzigen. Beim Einlegen der Ruder hatte Arnold sich, eigentlich ohne Nöthigung aufstehend, umgekehrt, setzte sich in der gleichen Haltung auf die Bank zurück und verblieb so. Mit dem Vorschreiten des Tag's verdunkelte er sich immer mehr, das glühende Morgenroth, das für den Kundigen zweifellos völligen Umschlag der Witterung angekündigt, war nach kurzer Pracht spurlos erloschen; auch an seine Stelle trat düstere Verhängung des Himmels, ließ Vorbereitung zum Regen erkennen. Doch als das Nothwendige und Wichtigste hatte der Westwind sich, günstig für die Fahrtrichtung, eingestellt; er kam nicht in Stößen, sondern gleichmäßig und trieb das Boot rasch vorwärts, das in wiegendem Flug über lange Dünwellen hinglitt. Luft und See befanden sich in keinem Aufruhr, nur ein unterweltlich trübes Licht regte den Eindruck, als wolle sich schon an den Morgen der Abend anschließen. Alles lag in schwerem Grau, dunklere Wolken überdrängten die vorherige bleierne Himmelsdecke, und Tropfen begannen zu fallen.
Nichts von einer Entzweiung, wie am Abend bei dem Herrichten der Lagerstätten im Sand, war zwischen den beiden Insassen des Fahrzeugs vorgegangen, kein Mißton hatte das Ohr berührt. Doch sie verhielten sich seit dem hastigen Aufbruch von der Düne gegeneinander wie zwei Fremde, die nichts zusammen theilten, keinen Grund und Antrieb zu einem Gespräch besaßen. Er und sie in gleicher Weise; es war, als habe eine Nachtmar sie im Traum bedrückt, ihnen wechselseitig eine Abneigung eingeflößt und beim Erwachen noch verstärkt hinterlassen. So auch athmeten sie, kaum wahrnehmbar, wie aus verengter Brust, reglos mit den weit offenen Augen, die sich nicht mehr begegnen konnten, gradaus in's Weite sehend. Stunden vergingen wohl, der anfänglich leichte Tropfenfall verdichtete sich nach und nach zu wirklichem Regen. Er breitete ringshin einen Vorhang um das Boot, sein Rauschen vermischte sich mit dem des von unten aufschlagenden Wassers. Nach langer Zeit machte die Schulter Arnold Lohmers ein paarmal eine kurze Bewegung, als ob er sich umwenden wolle, doch er führte die Absicht nicht aus. Wohl eine halbe Stunde verrann wieder, eh' er dazu gelangte und den Kopf nicht voll zurück, nur halb zur Seite drehend, fragte: »Kannst Du in der undurchsichtigen Luft die Richtung halten?«
Eine Befürchtung schien aus seiner Stimme zu klingen; das Mädchen erwiderte: »Ich hoffe es,« und er versetzte: »Du glaubst, daß wir heute nach Neuwerk kommen?«
»Wenn der Wind so bleibt, bis zum Nachmittag.«
Kurz schwieg er, dann brachte sein Mund noch einige Worte hervor: »Ich muß morgen nach Hamburg zurück, meine Braut wartet darauf.«
»Ja, das mußt Du wohl.«
Ihre Entgegnung verklang im Wind, und danach blieb's still im Boot wie vor der flüchtigen Wechselrede; er kehrte sein halb umgewendetes Gesicht wieder völlig ab, nur Rauschen und Brausen war rundum. Jetzt schoß der Regen, auf das Segel prasselnd, wie in Strömen herunter, es ließ sich kein trüberer Gegensatz zu der sonnigen Hinfahrt nach Süderoog mit der leuchtenden Weite umher erdenken. War das erst vorgestern gewesen? Durch den Kopf Arnolds ging ein verworrenes Treiben, er sah nur Bilder vor sich, hastig hin und her wechselnd, sich verdrängend, die Straßen von Hamburg und reich ausgestattete Räume vornehmer Häuser dort, plötzlich in endlose Wattensande mit flatternden Vogelschwärmen verwandelt, nun zu weißem, mondbeglänztem Dünenhang. Da trat Lucinde Eschenhagen in ihrer siegreichen Schönheit durch eine Thür herein, alle Blicke staunten sie an, die jungen Herren umdrängten sie mit auserlesenen Complimenten, doch zerrannen, und statt ihrer stand allein Anlof Follrichs da, ein flüchtig aufglimmender Schein lief ihm durch die wasserblauen Augen, und er sagte: »Dat harr ick mi hüt' Morgen nich dacht.« So kam's und schwand's vor dem Gesicht Arnolds, nur von der Erinnerung wie greifbar heraufgeholte Bilder, ohne Zusammenhang und ohne daß sich ihm Gedanken mit ihnen verbanden. Die Fahrt war lang und bot etwas Ungewöhnliches, denn nach manchen Stunden auf der freien See behielt Age Terwisga trotz der Ebbezeit gradaus über die breite ›Norderbank‹ die Richtung nach Süden bei; der stärker angewachsene Westwind ließ das Wasser nicht vom Sand absinken, so viel über ihm bleiben, daß dem Boot keine Gefahr, sich festzulaufen, drohte. Ohne Aufstoß gelangte es graden Wegs zur Elbmündung hinüber und diese überquerend weiter; Arnold Lohmer fiel nichts dran auf, er trug keine Zeit in sich und am wenigsten ein Denken an einen vom Regelmäßigen abweichenden Stand des Wassers wahrend der Ebbezeit. Aber dann erschrak er einmal, vor seinem Blick hob sich plötzlich aus der trüben Luft, weißlich schimmernd, etwas schon früher Gesehenes hervor; doch mußte er seine Sinne erst zusammenraffen, um den Leuchtthurm Geert Grawanders zu erkennen. Sie hatten Neuwerk erreicht und das Boot legte am Landungsplatz unterhalb des Gehöftes an; erst um weniges nach Mittag mocht' es sein, aber über der Insel lag das Tageslicht wie bei einfallender Abenddämmerung. Die beiden Heimgekehrten waren schon seit langem völlig durchnäßt, und im Haus eintreffend, stieg Arnold ohne Anhalten sogleich zu seiner Giebelkammer hinan; im Gefühl war's ihm, als seien Wochen vergangen, seitdem er den Fuß zum letztenmal auf die Stufen gesetzt. Unten hörte er das Mädchen sagen: »Das Wasser läuft heut' nicht ab bei der Ebbe,« und die Stimme des alten Hadlef antwortete: »Ich hab's auch gesehn, das Vieh muß herauf.« Oben warf der Durchnäßte rasch seine triefenden Kleider ab und legte sich in's Bett; ein Frostschauder durchrüttelte ihn, an dessen Stelle indeß bald das Gegentheil, Erwärmung, fast ein heißes Durchflutetwerden trat. Sein Mund sprach halblaut vor sich hin: »Der Sand ist noch warm von der Sonne«, denn das Bewußtsein zerging ihm zu einer Traumvorstellung. Todesmüde fiel er in reglos tiefen Schlaf, nur sein rechter Arm hob sich einmal auf, legte weitgestreckt die Hand nach der andern Seite in's Leere hinüber, und ihre Finger schlossen sich halb zusammen, als ob sie etwas umfaßt hielten.
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