Wilhelm Jensen
Hunnenblut
Wilhelm Jensen

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Südwestlich von Altenmarkt, ziemlich in der Mitte zwischen diesem und dem gegen den Schluß des zehnten Jahrhunderts auf einer Insel in einem kleinen See begründeten Kloster Seon besaß der Pfalzgraf ein Gehöft Neureit, das ihm besonders am Herzen lag. Es war eine von ihm hergestellte »neue Rodung« inmitten tiefen Waldes, auf die er einen freien, tüchtigen Landbauer, namens Piligrim, mit rüstigen Knechten gesetzt, um dem vortrefflichen Ackerboden guten Ertrag abzugewinnen. Fest aufgeführte Gebäude gaben dem Hof ein stattlicheres Ansehen, als die Mehrzahl seiner Art sonst im Chiemgau bot, die Felder umher standen mit üppigem Kornwuchs, auf den hochgrasigen Wiesengründen weidete fettgenährtes Vieh, und man sah den Tag hindurch vielhändig rege Arbeitsamkeit schaffen und bessern. Die ganze kreisförmig ausgerundete Landwirtschaftsanlage glich einer freundlichen, sonnenhellen Insel in einem ringsherum festumgürtenden düsteren Fichten- und Föhrenmeer.

Unter den Knechten befand sich einer, der auf den ersten Blick sich von allen übrigen durch sein Aussehen unterschied. Er war von kleinem Körperbau mit kurzen, nach innen gekrümmten Beinen, als ob diese gewöhnt gewesen, sich von seiner Kindheit auf um die Weichen eines Pferdes festzuklammern. In Strähnen fallendes, glanzlos schwarzes Haar umfing sein längliches, fast gelbfarbiges Gesicht, aus dem das Augenweiß, zwei schwarzgestirnte, eng zusammengezogene Pupillen umschließend, grell hervorstach. Man sah, das war nicht germanische noch bojische Art, auch kein Überbleibsel aus römischer Zeit oder Hinterlassenschaft der ehemals in den Chiemgau eingefallenen Slawen. Wildfremdes blickte aus seiner ganzen Erscheinung an.

Er hieß Putulung, der Sohn einer Hörigen des Pfalzgrafen; wer sein Vater gewesen, wußte niemand und er selbst nicht. Die Mutter hatte in ihrem Äußeren nichts Besonderes an sich gehabt, als eine etwas einfältige Dirne gegolten, in deren Kopf es nicht ganz richtig zugegangen, und die sich am liebsten, Wurzeln und Beeren suchend, in Wald und Schlucht herumgetrieben. So war sie vermutlich eines Tages auch zu der Frucht ihres Leibes gekommen, und nach ihrem frühen Tode hatte man den halbwüchsigen Buben auf Megling weitergefüttert, halb aus Barmherzigkeit, ihn nicht umkommen zu lassen, halb zur Belustigung für die jungen Grafenkinder Kuonrat und Adelhard. Die beiden Kleinen betrachteten ihn mehr wie einen großen zottigen Hund oder ein anderes Getier, als für ein Menschengeschöpf. Sie trieben mit ihm, was ihnen in den Sinn geriet und Spaß machte, warfen Holzknittel in die Alz, daß er hineinspringen und sie herausholen mußte. Dazu klatschten sie vergnügt, denn ohne es gelernt zu haben, schwamm er vom erstenmal in dem reißend schießenden Wasser wie eine Ratte oder wie eine Fischotter, dem er, mit dem triefend angeklebten schwarzen Haar auftauchend, merkwürdig gleichsah. Am liebsten spannten die Geschwister ihn mit Stricken an eine Holzschleife, auf die sie sich setzten und sich von ihm den Abhang am Flusse hinunterjagen und heraufziehen ließen; sie schwangen Weidengerten in den Händen dazu: »Ho, Putulung, hurtig! Sonst kriegt Putulung Schläge!« Er tat das Verlangte stets geduldig, ohne einen Ton des Murrens. Natürlich, dafür stillte man seinen Hunger auf der Burg.

So war er groß geworden, um Knechtsdienst leisten zu können, und seit Jahren vom Grafen dem Wirtschafter auf Neureit mit hinaufgegeben worden. Denn dazu zeigte er sich brauchbarer als viele andere; er hatte einen findigen Kopf und geschickte Hand, bei unvorgesehenen Zufällen zu raten und zu helfen, als hätt' er mancherlei Gewerk erlernt, obwohl er bei niemand in der Lehre gewesen. Ihm kam's von Anlage der Natur, und so besaß er auch allerhand Kenntnis, die den übrigen abging. Er verstand sich aufs Wetter und Himmelsanzeichen, wußte, wenn Sturm auch an heiterstillem Tag in der Luft lag. Eigenschaften von Wurzeln und Kräutern kannte er, wie die Fährten, Stimmen und Bräuche der Waldtiere und Vögel, über die er zuweilen sonderbar eine Macht übte. Gleich einer Eichkatze kletternd, hatte er aus hohem Horst einen jungen Edelfalken herabgeholt, ihn gezähmt und die Natur in ihm gebändigt, daß er jetzt zwischen den Tauben auf dem Dach des Gehöfts hauste und alles Geflügel desselben gegen das Hereinstoßen fremder Raubvögel beschützte. Niemand vermochte Fische zu ködern, wie Putulung; es war, als ziehe er sie mit dem Blick an den Hamen heran, stets kehrte er mit gefüllter Kiepe heim. Bei dem Hofbauer stand er darum, all dieser Gaben und Fähigkeiten halber, in Schätzung als der nützlichste vom Gesinde.

Vielleicht neideten die anderen Knechte ihm dies Ansehen, gewiß war's, daß sie ihn nur widerwärtig litten, sich seitwärts von ihm abhielten und, wo sich ein Anlaß bot, ihn zu beschuldigen suchten, um ihn von Neureit wegzubringen. Und ebenso die Mägde, die er, sich um keine je kümmernd, gehen und stehen ließ; auch an der saubersten ging sein Blick gleichgültig vorbei. Das mochte sie wohl erboßen, aber war's doch nicht allein, sie hätten noch weniger von ihm gewollt, ihm mit kräftigen Fäusten zurückgedroht, wenn er's gewagt, ihnen nahe zu kommen. Ein Widerwille des Germanenstamms brach aus ihnen, wie aus den Knechten gegen ihn hervor. Schon auf Megling hatte einmal eine Alte gesagt, es müsse von Vätern oder Müttern her Hunnenblut bei ihm herausgeschlagen sein, wie man es zuweilen bei Tieren, an Hunden von gutem Schlag, sehe, daß ein Wurf anders wie die Alten, häßlich, wolfsartig zur Welt komme. Danach hatten die Burgleute ihn den »Hunnensohn« benannt, und so hieß er auch hier unter den Bewohnern der Hube. Ins Gesicht sprachen sie's ihm nicht, davor scheuten sie sich; aber hinter seinem Rücken gaben sie ihm wohl noch mißächtlicher den Namen »Hunnenhund« und spieen aus bei dem Wort.

Ab und zu besuchte Graf Kuono Neureit, dort nach dem Stand der Wirtschaft zu sehen, gemeiniglich wenn er einen Ausritt auf der Straße von Altenmarkt über das gleichfalls ihm hörige Dorf Rabenden nach dem Kloster Seon machte. Das war in seiner gesicherten Insellage uralter Sitz der Kelten und Römer gewesen, später, zur Zeit Karls des Großen, kaiserliches Hofgut und von ihm einem bojoarischen Edlen, namens Adalbert, zugleich mit der Gaugrafschaft verliehen worden. So entstand eine feste, weitgeräumige Tiefburg auf dem Eiland, die sich während der Kaisermacht Ottos III. gegen das Ende des zehnten Jahrhunderts durch Vergabung des derzeitigen Besitzers, Pfalzgrafen Aribo IV., in ein Benediktinerkloster umgewandelt hatte. Der Stifter selbst ward alsbald nachher auf einer Jagd im Walde von einem Auerochsen angerannt und mit den Hörnern zu Tode durchbohrt, doch seine geistliche Gründung erhielt und erweiterte sich zum größten, reichsten und stattlichsten Mönchskloster im Chiemgau, das als Hauptstätte der Gelehrsamkeit an die Stelle des ehemaligen Herrenwörth im Chiemsee getreten war. Gegenwärtig stand der sechste seiner Äbte, namens Hartnid, ihm vor, zu dem der Pfalzgraf Kuono freundschaftliche Bezüge unterhielt.

Mit Vorliebe aber verweilte seine Tochter Adelhard dann und wann in Sommertagen auf dem Hof Neureit. Seitdem sie zur Jungfrau erwachsen, fand ihr Sinn dort Gefallen an der Stille, sie hörte gern auf den hellen Vogelschlag am Waldrand und gesellte sich auch wohl, ihren vornehmen Stand außer acht lassend, zu den Mägden, welche die Heu- oder Grummetschwaden rafften, erfreute sich an ihrem lauten Gelache und Gejauchz. Ihr Vater hatte auf ihren Wunsch, dem er zumeist bereitwillig nachgab, eine Stube im Obergeschoß des Gehöfts für sie herrichten lassen, darin sie während ihres Aufenthalts auf demselben mit ihrer Kammermagd hauste. Und so tat sie's jetzt, denn es war herrliche Junizeit und am Morgen ein Wagen, der Korn von Neureit nach Megling gebracht, dorthin zurückgekehrt. Sie hatte gebeten, mit diesem fahren zu dürfen, und ihr Vater eingewilligt; da er am nächsten Tage nach Seon zu reiten gedachte, so wollte er sie im Vorüberkommen abholen. Das grobe, mit bedächtig schreitenden Ochsen bespannte Fuhrwerk schreckte sie nicht; fröhlich zog sie auf dem schlitternden Sitz die steinicht schlechte, sonnenheiße Straße bis Rabenden entlang. Doch dann, als der Weg seitwärts in den schattenden Wald einbog, stieg sie vom Gefährt ab und ging zu Fuß auf bekannten schmalen Pfaden dem Gehöft zu. Hier und dort hielt sie ein Weilchen an, einen vertrauten Platz zu begrüßen; wie sie endlich aus dem dunklen Föhrensaum hervortrat, erkannte jeder Blick sie schon von weitem, denn so goldgleich leuchtete kein Haar wieder im Chiemgau von einer Jungfrauenstirn in die Ferne. Ehrerbietig empfing sie der Vorsteher des Hofes, und als sie in ihr Gemach hinaufkam, duftete es ihr daraus entgegen, da es dicht mit frischen Wiesenblumen geschmückt war, wie wenn man von ihrem Kommen unterrichtet gewesen und ihr aufmerksam diesen Empfang bereitet habe. Davon hatte jedoch niemand vorher wissen können, so daß sie sich darüber wunderte. Aber sie freute sich dran, denn es waren die Blumenarten, die sie selbst am liebsten draußen zu sammeln und mit sich heim zu nehmen pflegte.

In der Nacht aber, die auf den Tag folgte, begab sich Unerwartetes und Arges. Adelhard fuhr plötzlich erschreckt aus dem Schlaf, Weckrufe, lautes Getöse, Waffengeklirr hatten sie aufgestört. So scholl's draußen ums Haus, doch auch im Innern dröhnte ein Gepolter die Holztreppe aufwärts gegen ihre Stube heran. Sie warf rasch einen Mantel über ihre Nachtblöße, und im Glauben, daß ein Brand ausgebrochen sei, denn roter Schein flog durch die Gebälkfugen, öffnete sie die Tür. Da traf's ihre Augen mit Blendung, die ihr die Wimpern herabfallen ließ. Sie hatte nur noch ein paar Gestalten, Waffenknechten gleich, mit Arm- und Beinschienen und geschlossenen Eisenkappen, gesehen, dann fuhr von der Seite her ein sprühender Feuerbrand nah an ihrem Gesicht vorbei, Putulung war vor sie hingesprungen und schlug eine lodernde Kienfackel auf den Kopf des vordersten jener beiden, die Treppe heraufkommenden nieder. Was danach zunächst geschah, wußte Adelhard nicht mehr. Sie hörte ein vielstimmiges Toben und Schreien, ein abwärts über die Stufen zurückstürzen. Kurz rasselten noch Schwerthiebe und einzelne wilde Fluchworte durchdrangen den Lärm. Nun hallte draußen im tiefen Nachtdunkel absprengender Hufschlag über den Boden, dann ward alles still.

Was war es gewesen? Ein nächtlicher Überfall von Raubgesellen, um den Hof auszuplündern, den sie im Schlaf zu überrumpeln gedacht. Doch jemand hatte gewacht, die Insassen geweckt, und die Angreifer waren, da sie sich gegen die gewaffnet herzueilenden Knechte zu gering an Zahl erkannt, ablassend in den Wald zurückgewichen. Mit wem man es zu tun gehabt, wußte niemand, die Finsternis ließ nichts unterscheiden, und Fallgitter hatten überdies die Gesichter verdeckt. Nach dem Eindruck erschien's als ein niedriges Gesindel aus dem Busch, nur daß es Pferde besessen, war auffällig.

Und noch eines, wie der Verwalter des Gehöfts zum Nachdenken kam: daß der mißglückte Versuch grad' in dieser Nacht stattgefunden. Hatten die Urheber desselben etwa in Erfahrung gebracht, wer sich im Hause aufhalte, und der freche Einbruch den Zweck gehabt, sich einer besonders kostbaren, hohes Lösegeld eintragenden Beute zu bemächtigen? Der ganze Vorgang war, seitdem Adelhard aus ihrer Tür getreten, mit größter Schnelligkeit verlaufen, der verkappte Räuber, dem die Fackel über den Kopf geschlagen, gleichzeitig von einem Gefährten am Arm gepackt und zurückgerissen worden. Der Kienbrand schien von dem Hieb ausgelöscht, flackerte jedoch wieder empor und goß sein rotes Licht auf das reglos bestürzt stehengebliebene Mädchen, dessen aufgelöstes Haar gleich einem goldenen Obergewand über dem umgeworfenen Mantel bis zu den Hüften hinunterfiel. Und einen Atemzug lang blieb Putulung ebenfalls wie festgebannt stehen, starrte das junge Edelfräulein mit den schwarzgestirnten, großaufgeweiteten Augen an, und einem von der Bogensenne schnellenden Pfeil ähnlich flog ihm ein herausgestoßener Ruf: »Osila!« vom Mund. Dann stürzte er abwärts, den Fliehenden nach, und Adelhard begab sich in ihre Kammer zurück.



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