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Ein viereckiger Marktplatz, aus dessen Winkeln in höchster Regelmäßigkeit acht Straßen abzweigen, je zwei und zwei rechtwinklig gegeneinander stehend. Sie an ihren Enden umfassend und abschließend, eine dunkel-enge peripherische Gasse, da und dort ein wenig verschoben und verschieden benannt; dann fast ringsherum Wasser. Nur noch zwei oder drei sonstige Straßen; auf der Ostseite des Marktes eine Kirche mit hohem, spitzem Turm, am Nordende des Ganzen ein altes, weißes, großes und wunderliches Schloß. Meine Vaterstadt Kiel, die Altstadt derselben, wie sie in meiner Kindheit war und heut', nur in Einzelheiten geringfügig verändert, noch ebenso daliegt. Schön war sie niemals, ist sie auch nicht geworden und wird sie nie werden. Allen Straßen in ihr fehlt Licht und Luft, sie sind eng, dumpf und trübsinnig, ohne altertümlichen Reiz. Was spätere Zeit und besonders die letzten Jahrzehnte an einem Außenring von Vorstädten hinzugetan haben, ist mit wenig Ausnahmen der mütterlichen Physiognomie der Altstadt nachgeartet. Beinahe überall besitzen die Häuserreihen etwas hausbacken Frostiges oder verdrossen Trauriges; sie dienen der Notdurft des Lebens, bestenfalls mit schicklichem Aeußern und nüchternen Geschäftsmienen, aber sie lächeln nie, auch nicht im hellsten Sonnenlicht. Den zwischen ihnen Gehenden überkommt es melancholisch, doch nicht mit der elegisch-poetischen Schwermütigkeit, die wohl andere alte Städte Schleswig-Holsteins durch ihren Anblick wecken, sondern nur mit einem Gefühl, als sei das Menschendasein einzig Mühe und Arbeit, eine Werkelwoche ohne Festtag und ohne Freude.
Dennoch steht Kiel nicht unverdient in dem Rufe einer schönen Stadt. Nicht die bauende Menschenhand hat es dazu gemacht, aber die Hand der Natur. Am Rande der ostwärts ausmündenden Straßen weht uns die frische Wasserluft an, und wenige Schritte aus dem düstern Stadtinnern gen Norden führen langgestreckte alte Baumgänge, durch diese fort am Hafen entlang zu herrlichem Laubwald auf steil aneinander gewölbten Dünenhügeln der Vorzeit. Auf dem Wege dorthin verleugnet die Stadt völlig ihren sonstigen Charakter. Alles ist freundlich, freudig, schön. Als hätte die Ostsee große, hellschimmernde Perlen an den Strand geworfen, reihen sich am Ufer hin freistehende, gärtenumgebene, oft prächtige Häuser; der Sommermorgen bettet sie in eine grüne, lachende Welt. Unter ihren Fenstern ziehen weiße Segel vorbei und die mächtigen Dampfkolosse der deutschen Kriegsflotte; von Norden her zwischen den Festungsbatterien am Ausgang des Hafens blickt ein blaues Stück der offnen See herüber. Die lange Wegstrecke heißt die »Düsternbrooker Allee«, doch der Name verleitet zu einer fälschlichen Vorstellung, was einmal an Düsternis und feuchtem Bruch hier gewesen sein mag, ist längst verschwunden; lichte oder anmutig überschattete Heiterkeit herrscht ringsumher und versöhnt das Auge und den Atemzug mit der größtenteils mißmutig-dürftigen Wesensart der eigentlichen Stadt.
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Jetzt ist diese eine rastlos lärmerfüllte Betriebsstätte des hundertfältigen Trachtens der neuesten Zeit geworden; in meiner Kindheit war sie ein stilles Land- oder Hafenstädtchen mit etwa dem vierten Teil der heutigen Einwohnerzahl. Sie führte ein politisches Zwitterdasein, wußte selbst kaum, ob sie nach dieser Richtung dänisch oder deutsch sei, und noch weniger wußten es die Leute südwärts der Elbe, wie ich mich in einer großen preußischen Stadt als Student zur Aufnahme in die akademische Liste meldete, ward mir erwidert, das mache Schwierigkeiten, weil ich bis dahin in Dänemark studiert habe, und auf meinen bescheidenen Einwand dagegen verwunderte man sich über meine Kenntnislosigkeit, die nicht einmal wisse, daß Kiel eine dänische Universität sei.
Der Geist der Universität indes, wie der Stadt selbst war jedenfalls ein deutscher, ohne bis zum vierten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts in einen Gegensatz zum Dänentum getreten zu sein. Daß ein solcher begann, bildet meine früheste Knabenerinnerung, und die Universität, Lehrer wie Lernende taten sich besonders dabei hervor, vertraten ihre deutsche Zugehörigkeit kräftig in Wort und Schrift. Sonst machten die wenig zahlreichen Studenten sich nicht stark bemerklich; man führte ein fröhliches Leben mit allerhand junger Narrethei, aber ich glaube, der Hauptsache nach war man fleißig und darauf bedacht, etwas Ordentliches zu werden. Die Vorbereitung zum Universitätsstudium für die in Kiel heimische Jugend fand auf dem städtischen Gymnasium statt, oder dieses hielt wenigstens mit seiner Existenz den genannten Zweck im Auge. Es lag in der Küterstraße, deren etymologische Herstammung als »Straße der Hausschlächter« sich zu meiner Zeit nicht mehr kundgab, sondern mich mutmaßen ließ, daß der Name auf einer alten Korrumpierung beruhe, wie die meisten altstädtischen Straßen Kiels sie erlitten. Denn im Gange der Zeit ward die Kehden-Straße (vom Kehdinger Lande herrührend) in Ketten-, die Kattengasse in Katzenstraße, die Hessen- (oder Hirsch-) Straße in Haßstraße umgewandelt. Die vom Markt zum Schloß führende Schmiedestraße erschien für ihr vornehmes Richtungsziel zu gewerksmäßig benannt und wurde zur Schloßstraße; die Papengasse, ins Hochdeutsche übertragen, zur Pfaffenstraße. Wahrscheinlich leitete sich die Schusterstraße nicht von in ihr besonders zahlreich ansässigen Stiefelverfertigern ab, sondern das Wort Schuster hatte die alte zusammenfassende hansische Bedeutung der Gewerkbetreiber überhaupt; aber diese entschwand aus dem Gedächtnis der Nachlebenden, und schon das vorige Jahrhundert setzte das etwas feiner klingende Schuhmacherstraße an die Stelle. Was es so dem Ohre zu Gefallen tat, verschönerte es hinter dem Rathause einem andern Sinne zu lieb. Dort hieß die Straße »hinter dem Fleischschrangen«, und ich erinnere mich aus meiner Kindheit, daß sie besonders an feuchten Tagen diesen Namen durch einen Uebelkeit erregenden Schlachthausgeruch sofort rechtfertigte. Vermutlich ward sie deshalb eigentümlich euphemistisch in Rosenstraße umgetauft, denn ich habe nie eine Rose darin gesehen, und die Nasen standen sich nicht besser dabei.
Ihre grade Fortsetzung bildet die Küterstraße, und wenn diese unter den engen, dunklen und dumpfluftigen Altstadtstraßen sich mit um den ersten Preis bewarb, so war das Gymnasium in ihr das düsterste, verkommenste und trostloseste Gebäude. Vielleicht hatte es von seinem Ursprung an besonders zum »Kütern«, d. h. zur Hausschlächterei gedient; alle seine Räume stammten aus einer Zeit, die nicht leiseste Ahnung davon besessen, daß Licht und Luft etwas für Menschen Zuträgliches sein könnten; ich glaube, sie waren sogar künstlich dagegen verwahrt. Die Volksschule hauste mit darin, und der Atmosphäre in den Schulzimmern, auf Flur und Treppe war meistens diejenige »hinter dem Fleischschrangen« als frische Himmelsluft erheblich vorzuziehen. Doch habe ich nie bemerkt, daß die Nasen der Lehrer vom höchstgebietenden Rektor bis zum untersten Klassenherrscher etwas daran auszusetzen gefunden hätten; sie behüteten im Gegenteil sorglichst die köstliche Errungenschaft zwischen den schiefen Stubenwänden, und einige schlossen im Sommer vorsichtig die Ofenklappen, damit zwischen diesen und etwaigen Fensterritzen kein Zug entstehe. Mehr oder minder paßten sie alle als lebendige Penaten in das mürrisch-trübsinnige Gebäude hinein; sie waren zumeist besser in den Straßen Athens und Roms bewandert, als in denen Kiels. Dort hätten sie sich in dunkelster Nacht zurechtgefunden, hier stolperten sie am hellen Tag. Unser alter Konrektor wetteiferte an intimster Kenntnis der griechischen Bühneneinrichtungen mit einem Direktor der sophokleischen Zeit und teilte uns mit, es solle noch heut Theater geben, in denen Schauspiele aufgeführt und – proh pudor! ihm sei gesagt – die weiblichen Rollen von Frauenzimmern dargestellt würden. Uebrigens waren diese überlebten grotesken Perrückenhäupter die Guten; es befanden sich auch schlimme Gesellen mit andächtig weißverdrehten Augen unter den »Bildnern der Jugend«.
Man lernte vielleicht sehr viel auf dem Gymnasium, vielleicht auch sehr wenig. Es hieß: non scholae sed vitae, und ich bin gern zu dem Glauben geneigt, daß die Lehrer selbst annahmen, diesen Wahlspruch zu befolgen. Nur muß das Leben vor ihren Augen ein sonderbares Gesicht gehabt haben. Sie haben ihm seitdem, wie ein alter Chronist sich über ihre Vorgänger äußert, »den Abschied gegeben und das Zeitliche mit dem Ewigen verwechselt«, ohne sich je über das erste klarer geworden zu sein, als ihre Schüler es waren. Mit uns waren sie pueri puerilia tractantes.
Jedenfalls erfuhr ich dasjenige nicht von ihnen, wonach ich von Kleinauf ein besonderes Verlangen in mir trug. Das waren nugae et curiositates. Wenn ich auf der Schulbank mit den hundert eingeschnittenen Namen, dem Pontus Euxinus von Dintenmeeren darüber saß, hätte ich gern gewußt, wer schon vor mir hier gesessen, statt des Lehrers dort auf dem verschabten Katheder gestanden; ob alles immer ebenso gewesen sei, und wie lange schon zwischen diesen Wänden Schülerohren sehnsüchtig auf den Mittagsglockenschlag der Kirchturmuhr gewartet haben möchten. Doch als ich es einmal wagte, meinen Klassenlehrer in schicklicher Formulierung danach zu befragen, ward mir die Antwort: »Also derlei Allotria trägst du statt der dir aufgegebenen unregelmäßigen Verba im Kopf? Nach solchen Dummheiten hat mich noch keiner gefragt, aber ich will es dir sagen. An dem hiesigen Gymnasium waren immer hochgelehrte, tüchtige und gottesfürchtige Lehrer, wie heute, und immer fleißige, zufriedenstellende, aber auch unbrauchbare, Allotria betreibende Schüler, wie du. So, den Satz kannst du ins Lateinische übersetzen, ihn zwanzig Mal abschreiben und mir heut' Abend in meine Wohnung bringen.«
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Wenn man nach Beendigung der Schulstunden aus den Hadesräumen des Gymnasiums durch dem stygischen Kanal der Küterstraße an den Markt gelangte, so hatte dies allemal etwas von einem Emportauchen in die Oberwelt. Man fühlte sich den »blutlos traurigen Schatten« entronnen und unter die Lebendigen zurückgekommen, und man war lieber der Letzte auf den Quarta- oder Tertiabänken mit einem freien Mittwochnachmittag vor sich, als der göttliche Pelide mit der Anwartschaft auf die höchste Verherrlichung in den unsterblichen Gesängen Homers. Kinder sind sehr unbewandert in den Dingen und Läuften des Lebens; aber ein instinktives Gefühl, was und wozu das Leben eigentlich sei, tragen sie zumeist richtiger in sich, als die Klugheit und selbst als die Weisheit der Erwachsenen.
Der Marktplatz war nicht übermäßig freundlich anheimelnd, besaß im Großen und Ganzen auch den Anstrich eines alten verrunzelten Gesichtes ohne seelischen Ausdruck darin. Doch immerhin lag ein breites, ab und zu sogar blaues Stück Himmel über ihm, hin und wieder schien die Sonne auf die Grashalme zwischen seinem Steinpflaster herunter, und an einer Seite standen noch grüne Lindenbäume vor den Türen der Häuser und den Ueberresten ihrer Beischläge. Vermutlich trugen diese Linden, wie andere, auch nur im Sommer Blätter; allein in meiner Erinnerung stehen sie immer grünbelaubt. Gegen die ewig winterliche Oede des Gymnasiums nahm sich vielleicht ihr kahles Gezweig noch wie sommerliche Herrlichkeit aus.
Diesen heut' lang dem Schatten der homerischen Helden nachgefolgten Bäumen gegenüber auf der Ostseite des Marktes lag und liegt eine Häuserreihe, unscheinbar, gleichförmigen Bau's, alt und altersgebrechlich, im Grunde ohne irgend einen interessanten Zug in ihrer Gesamt- oder Einzelerscheinung. Sie sehen nur lebensüberdrüssig aus schmalen Fensteraugen, nicht unähnlich einer kleinen, in Reih und Glied aufgestellten Mannschaft von kümmerlichen, graugesichtigen Greisen, die noch in Parade stehen sollen, doch nicht mehr Richtung halten können und sich in ihrer Beinschwäche gegeneinander stützen, um nicht hinzufallen. Warum ich diese Häuser, aus der Schule dran vorüberkommend, als Knabe oft betrachtete, weiß ich nicht; und ebensowenig, wann und woher es mir in den Sinn geraten, sie hätten eigentlich kein Recht da zu stehen, wahrscheinlich brachte mich auf diesen Einfall die irgendwoher übernommene Vorstellung, daß die Kirche auf oder an den Markt gehöre, und die genannte Häuserreihe trennte sie vollständig von dem letzteren ab. Nur in der Mitte führte ein schmaler Durchgang unter einem der Häuser, ein dunkler »Schwiebbogen« vom Markt zur Kirche hin.
Allmählich war es eine fixe Idee in meinem Kopf, der Platz, auf dem die Nikolaikirche stand, habe ursprünglich mit dem Markt ungetrennt zusammengehangen, und mit den jetzt als Scheidewand dazwischen liegenden Häusern müsse es eine besondere Bewandtnis haben. Manche Anzeichen deuteten darauf hin; während an den drei anderen Marktseiten die Gebäude, wenn auch nicht eben vornehm-stattlich, doch ein gewisses patrizierhaftes Aussehen besaßen, enthielten allein die Häuser dieser vierten Reihe im Erdgeschoß sämtlich kleine und in jedem genau an Breite übereinstimmende Kauf- und Gewerkläden. Wie Kinder auf Einfälle kommen, ohne sich über den Zweck derselben klar zu sein, maß ich einmal in der Dämmerung mit einer Schnur die Weite des Schwiebbogendurchgangs, und zu meiner Verwunderung zeigte dieser auch genau die nämliche Breite, wie die einzelnen Läden.
Das waren gewiß nugae et curiositates der verwerflichsten Art, und ich nahm mich sorgfältig in Acht, bei ihrer Betätigung in die Sehweite eines meiner Lehrer zu geraten. Hauptsächlich wenn ich an den Häusern bei Tageshelle nach irgendwelchen Schriftzeichen oder Zahlen suchte, die einen Anhalt über die Zeit der Erbauung geben könnten. Doch nichts der Art fand sich; nur über dem Ausgange des Schwiebbogens nach der Kirche zu entdeckte ich eine im dortigen verdunkelten Licht für die Augen, wie für meine damalige Lesefähigkeit schwer entzifferbare Minuskelinschrift. Endlich brachte ich sie heraus, sie redete den Psalmspruch:
»Unser Leben währet siebenzig Jahre, und wenn es hoch kommt, so sind es achtzig Jahre, und wenn es köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen.«
Was hatte das mit der alten, bresthaften Häuserreihe zu tun? War ihr Leben für »Mühe und Arbeit« bestimmt gewesen? Jedenfalls war es schon höher gekommen, als achtzig Jahre!
Dann und wann fragte ich jemand, der nicht zu meinen Geistesbildnern gehörte, nach ihnen, aber keiner wußte mehr, als ich selbst: daß es alte kümmerliche Häuser seien. Und was den Psalmvers anging, so war ich frühzeitig von vita et schola in Kenntnis gesetzt, daß man Bibelsprüche wörtlich und schriftlich an mancherlei Stellen anbrachte, wo kein Verstand der Verständigen ihre Bedeutung fassen konnte. Um so mehr durfte ich mich dann darüber mit der Einfalt des kindlichen Gemütes beruhigen.
In einem der Häuser befand sich nach der Marktseite eine »Friseur- und Barbierstube«, in der ich mich vierteljährlich meines übermäßigen Haarwachstums entledigen ließ. Einmal befragte ich den an meinem Kopfe beschäftigten Schneidekünstler, ob er vielleicht etwas von den alten Häusern wisse. Er hielt die Schere an und antwortete: »Das kann ich dich wol sagen, mein Schunge, denn das weiß Keiner besser als ich; das sünd die Persianischen.« Doch wie ich mich weiter erkundigte, was der sonderbare Name bedeute, erhielt ich die Erwiderung: »Wozu wulltest du das wol wissen, mein Schunge? Das kann dich kein Mensch sagen. Kannst du mich sagen, warum daß ich so heiße und nich anders? Mein Schunge sagt, daß es ein Land gibt, was so heißt. Nu paß mal auf, wahrscheinlich bauen sie da ihre Häuser so.«
Die Schere klapperte wieder und häufte den blonden Ueberfluß meines Kopfes am Boden auf. In den Kopf aber war mir ein wunderliches Wort geraten, das sich für meine Aufmerksamkeit in der Schule, wie für die häuslichen Arbeiten nicht besonders einträglich erwies: »persianisch«. Hing das wirklich mit Persien zusammen? Mit Griechenland und Rom jedenfalls nicht, und eine Nachfrage vom Rektor bis zum Kollaborator herunter war deshalb höchst unratsam. Doch zweifellos auch ebenso unwirksam, denn was gingen sie, die sich täglich in Tempeln mit ionischen und korinthischen Säulen bewegten, alte, baufällige Häuser in Kiel an?
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An schulfreien Nachmittagen der guten Jahreszeit liefen wir gern nordwärts aus der Stadt durch einsame grüne Feldweiten, aus denen man fern auf die freie, blaue Ostsee hinaussah. Drei Viertelstunden brachten uns an den schleswig-holsteinischen oder Eider-Kanal, der im Kieler Hafen beginnend und westwärts in den genannten Fluß einmündend, eine Wasserstraße für kleinere Fahrzeuge zwischen Ost- und Nordsee herstellt und zugleich die Grenze zwischen Schleswig und Holstein bildete. Kurze Zeit war er auch, im Jahre 1850, nach der Beendigung des ersten schleswigholsteinischen Krieges, quasi die Scheidelinie zwischen Dänemark und Deutschland. Bis zur hohen politischen Entscheidung des Zukunftsschicksals der Herzogtümer standen drüben auf der schleswigschen Seite die dänischen Wachtposten, und wir langgewachsenen Jungen machten uns mit Vorliebe das kindliche Vergnügen, auf der holsteinischen Seite aus Leibeskräften »Schleswig-Holstein« zu singen, oder nach dem alten Wort »Holsatia non cantat«, wohl mehr zu brüllen. Dabei zogen wir bis in die Mitte der Schleusenbrücke des Kanals vor, so daß wir uns kaum auf Sprungweite von den geärgerten »tapperen Landsoldaten« befanden, deren Ingrimm sie zu unserm Jubel manchmal fortriß, mit gefälltem Bajonett auf uns loszustürmen. Aber vor der Mittellinie über dem Wasser mußten sie halt machen; wir liefen lachend auf holsteinischen Boden zurück, und sie konnten uns nur »Fordömmte Bängler!« nachrufen, eine Bezeichnung, die uns eigentlich nicht gerade unverdient traf.
Um siebenunddreißig Jahre später vollzog dort der erste Kaiser des neuen Deutschen Reiches, von allen Machtzeichen desselben umgeben, den ersten Hammerschlag zur Grundsteinlegung eines neuen, für die gewaltigsten Kriegsschiffe befahrbaren Kanals, zwischen Nord- und Ostsee. Er stand auf der schleswigschen Uferseite, und kein dänischer Posten trieb ihn mit gefälltem Bajonett fort. Die Dinge auf Erden sind der Wandlung unterworfen.
Um 110 Jahre früher aber stand der dänische König Christian VII. an der nämlichen Stelle, wie in unseren Tagen der Deutsche Kaiser, um auch das nämliche dort zu tun. Er eröffnete die damals beginnende Ausgrabung des Eiderkanals, allerdings kaum anders, als durch seine körperliche Gegenwart, denn von geistigem Vermögen hatte der ihn umschleichende Wahnsinn bereits wenig mehr übrig gelassen. Ein Granitobelisk neben der Ausmündung des Kanals in den Kieler Hafen bewahrt das Gedächtnis des fernen Tages.
Der Nordrand des Kanals, durch Hügel und Wälder gegen die scharfen Winde gedeckt, bildet ein halbes Stündchen lang etwas wie eine kleine schleswigsche Riviera, die ersten und fast die einzigen wildwachsenden Veilchen der Umgegend Kiels blühten dort in sonniger Stille und zogen mich als Knabe auch allein oft zu sich hinaus. Dann betrachtete ich zuweilen gleichfalls den Obelisken, dessen Bedeutung mir fremd blieb, bis mich einmal ein alter, unweit von ihm hausender Schiffer darüber unterrichtete. Er schloß seine Mitteilung über den Kanalbau, den er noch als kleines Kind mit angesehen:
»Da weer all mal vörher Een, en König oder Hertog oder sowat, de wull dat ok all so maken mit dat Water twischen de Ost- un Westsee. Da keem awer nix davun na, man blot de Stadt Friedrichsstadt sitgünt anne Eider schall davun blewen sin, un denn de Persianischen Hüser an'n Kieler Markt.«
»De Persianischen Hüser?« fragte ich mit dem Eifer und Interesse, wie wenn die See mir plötzlich irgend ein fremdes Meerwunder vor die Füße ausgeworfen hätte, »Wat is dat damit?«
»Ja, dat weet ik nich, min Grotvadder sin Vadder de hett noch davun wußt un hett mit daran bu't. Awer, lewer Gott, dat is ja nu all' lang her, dat kann ja keen Minsch in'n Kopp beholen.«
Zum zweitenmal klangen mir die rätselvollen »Persianischen Häuser« ins Ohr, und diesmal sollten sie in Verbindung mit einem schon früher beabsichtigt gewesenen Kanal zwischen den beiden Grenzmeeren unserer Halbinsel stehen, Aber irgendwelche Aufhellung kam mir nicht daraus, und ich gab jede Hoffnung auf, jemals etwas Weiteres in Erfahrung zu bringen. Zwar wußten meine Lehrer ganz genau auf Tag und Stunde, was sich vor mehr als zweitausend Jahren unter der Akropolis und dem tarpejischen Fels zugetragen hatte; doch soviel war mir klar geworden, was zur Zeit der Urgroßväter der heutigen Achtzigjährigen in unserer Heimat geschehen sei, das konnte kein Mensch im Kopf mehr behalten haben. Und doch hätt' ich es so gern gewußt, daß ich freiwillig darüber einen lateinischen Aufsatz verfaßt haben würde.
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Von der vormaligen Schmiede-, späteren Schloßstraße zweigt sich zum Hafen hinunter eine der wenigen nicht vom Markt ausgehenden Straßen der Altstadt Kiels ab, die Fischerstraße. Ihr Name weist fraglos auf den Hauptbetrieb ihrer ersten Bewohner hin; sie mag vielleicht den urältesten Stadtteil darstellen, die früheste Gasse einer Fischerdorfansiedelung in nächster Lage am Wasser. Doch scheint sie diesen Charakter schon ziemlich früh verloren zu haben; möglicherweise wirkte die Nähe des Schlosses darauf hin, daß sich mehrere bedeutendere Häuser mit den kleineren der ursprünglichen Gestaltung der Straße untermischten. Der heutigen Anschauung dünken freilich auch jene ersten höchst unscheinbar, mit ihrem gestaffelt überkragenden Bau bedenklich nach außen und noch verzwickter, ungemütlicher und mannigfach widersinnig, wenn man ins Innere eintritt. Allein wenn man erwägt, was das ausgehende Mittelalter nicht nur als eine erträglich-bewohnbare, sondern sogar als eine stattlich-vornehme Behausung ansah, so kann man sich jene Gebäude sehr wohl als Adelssitze, wie zur zeitweiligen Unterbringung fürstlicher Ehrengäste benutzt, vorstellen, und ins 16. Jahrhundert wird das Alter einzelner von ihnen zurückreichen. Von allen Stadtgegenden hatte in meiner Kindheit die Fischerstraße am meisten Altertümliches bewahrt und hat dies auch jetzt noch. Allerdings wenig im romantischen Sinn des Wortes, denn auf etwas Schönes und Besonderes stößt der Blick nirgendwo. Er empfindet nur, daß die schmale, ziemlich lange Straße mit ihren bald eckig vorspringenden, bald zurückflüchtenden Häusern, mit den runzlich überhängenden Stöcken derselben unter den braunen Steinhauben verschiedengestaltiger Dächer sich seit vielen Menschengeschlechtern nicht verändert hat und schon vor Jahrhunderten genau ebenso ausgesehen haben muß, wie jetzt. Nur hat es damals darin vermutlich stärker nach Seetang, Fischen, nassen Fischerwämmsern und -stiefeln gerochen, als in der mehr städtisches Kleingewerbe dort betreibenden Gegenwart.
Ich stand im vierzehnten Jahr, als ich zum erstenmal und dann häufig in eines jener alten »vornehmen« Häuser der Fischerstraße kam. Es war eine schwierige Sache, den Bewohner, den ich suchte, in seiner Studierstube aufzufinden; eine landsmännisch pausbäckige Küchenariadne half mir, sonst wäre es unmöglich gefallen. Man hörte am Schall des Fußtrittes, daß der untere Hausflur mit Fliesen belegt sein mußte; die Sehkraft nahm, trotzdem daß draußen heller Sommertag lag, nichts von ihnen gewahr. So bereitete es Ueberraschung, daß etwas befähigt war, noch dunkler zu sein; aber auf einer Treppe, die sich von Jahrhunderten ausgeschürft unter der Sohle anfühlte, hätte man auch die weißeste Mädchenhand – die meiner Führerin nicht von der Natur mitgegeben worden – nicht vor Augen gesehen. Die Bewegung sagte mir, daß ich meine Beine aufwärts hebe, sonst würde ich geglaubt haben, in die Unterwelt niederzusteigen. Dann einmal ein bleicher Zwielichtsschimmer, irgendwoher vom Rande der Welt, wie vom Schachtausgange eines Kohlenbergwerks. Doch gleich wieder um eine Ecke in einen neuen schwarzen Stollen hinein, einen engen, atembedrückenden Holzschlauch, dessen unsichtbare Wände bei jedem Schritt den Ellbogen von links oder rechts einen heimtückischen, bis in die Fingerspitzen kribbelnden Knuff versetzten, »hier geht's was herunter,« sagte die Stimme der gütigen Fee vor mir, und ich bemerkte dies gleichzeitig auch, denn ich schlug bereits drei Stufen abwärts vorüber, zum Glück mit der Nase gerade auf das weiche Nackenpolster vor mir, das mich durch einen unverkennbaren Geruch davon unterrichtete, daß »Schwarzsauer« auf dem heutigen Küchenzettel des Hauses stehe. Um spitzwinklige Ecken, rechts, links, gradaus, immer: »Puff – puff!« – »Hier geht's was herauf.« Ich zähle sechs Stufen, »Hier liegt en Balken über.« – »Wo?« wollte ich fragen, stieß aber statt dessen ein »Au!« heraus, da mein Schienbein schon die Bekanntschaft mit einer fußhoch über dem Boden aufragenden scharfen Holzkante machte. Ich erinnerte mich, daß mir in dem Augenblick die Frage durch den Kopf schoß, wie viele Leute wohl schon vor mir sich das Bein an dem Balken wundgestoßen haben und wer sie gewesen sein möchten. Der Gedanke ließ mich nicht lange auf das Weitere achten, bis ich die Stimme der Pasiphaëtochter wieder hörte: »Hier ist die Tür zum Herrn.« Damit schien sie in einer Versenkung zu verschwinden, wenigstens schlug mir gleich danach das Klappern ihrer Pantoffeln wie aus einem Abgrund herauf ans Ohr. Ich versuchte, mich umzusehen, doch ich hätte ebenso leicht einen Raben in der Nacht entdecken können, als eine Tür. Da ward indes – wieder ein paar Stufen über mir – hilfreich eine geöffnet, und der alte, liebenswürdige Herr, den ich besuchen wollte, fragte: »Wer ist da?« Wie er mich erkannte, denn nun fiel etwas Licht auf mich heraus, fügte er hinzu: »Es ist wohl ein bißchen dunkel.« – »O, ein bißchen – aber nicht sehr,« stotterte ich, mir rasch noch einmal mit der Hand über das Schienbein fahrend. – »Ja, die alten Häuser haben das so an sich, aber man gewöhnt sich bald dran und freut sich nachher, daß man nicht wirklich blind ist.«
Der Trost war gewiß gut, wie alles, was der philosophische alte Herr aus seinem Munde hervorgehen ließ, und ich habe mich in der Folge auch so daran gewöhnt, daß ich den labyrinthischen Weg nicht mehr behutsam zu durchschleichen brauchte, sondern ihn im schnellen Lauf zu durchspringen vermochte. Ueberrascht jedoch stand ich damals, von einem freundlichen hellen Licht der »Studierstube« empfangen zu werden. Sie ging nach der Rückseite des Hauses und vor dieser sogar auf grüne, im Sonnenschein liegende Bäume von Gärten hinaus, die man in der alten Steingrube der Fischerstraße so wenig vermutete, wie im Wüstensand. Es war frisches Naturleben, dessen Kommen und Gehen, Absterben und sich wieder Erneuern die alten Wände des Zimmers schon durch Jahrhunderte mit angesehen haben mochten. Sie bildeten in ihrer Winkelbeschaffenheit kein Rechteck, sondern eine Raute oder vielmehr ein merkwürdiges Trapez, und der Fußboden setzte sich damit in Uebereinstimmung, indem er in einer doppelten schiefen Ebene lag, so daß eine irgendwo auf ihn herunterfallende Kugel stets nur in der nämlichen Ecke zur Ruh' kam. Er bestand aus dicken, in der Zimmermitte augenscheinlich von einer Wandelbahn ausgetretenen Eichenbohlen; Jahrhunderte auch mußten an diesem gleichmäßigen Tropfenfall menschlicher Füße auf die Bretter gehöhlt haben. Alles Holzwerk des Raumes überzog ein grauer, melancholisch bleiernem Himmel ähnlicher Anstrich, wie in jeder der übrigen Stuben des Hauses.
In diesem ward ich bald vertraut und mit allem genau bekannt. Seit manchen Geschlechtern hatte es sich vom Vater auf den Sohn fortvererbt; sie waren seßhaft drin gewesen, wie der Bohrwurm im Gebälk um sie her, der getreulich jedem Nachfolger wieder die Lebenszeit abgetickt hatte. Man sah, daß nicht nur die Wände, sondern auch vieles zwischen und an ihnen sich aus grauen Tagen erhalten. Die wechselnden Besitzer hatten Neues hinzugetan, doch das Alte in seinem angestammten Hausrecht belassen.
Der zeitige Nutznießer dieser Ueberlieferung war ein stiller Privatgelehrter, Liebhaber von Büchern und alten Bildern, besonders Kupferstichen. Diese schauten in der Studierstube überall von den Wänden herab, wo die Repositorien eine Lücke beließen; auf einer Anzahl der rostfleckigen Stiche hatten unfraglich an der nämlichen Stelle schon langerloschene Vorväteraugen geruht. Es machte den Eindruck, daß von jeher in dem Hause eine Pietät für das Uebernommene und Ueberkommene geherrscht habe, die vor jeder noch so geringen, nicht von Zwang gebotenen Abänderung die Hand anhielt.
Ich befand mich nicht selten geraume Zeit allein in der Stube und betrachtete die alten Stiche in ihren platten, braunen, wurmfraßdurchlöcherten Rahmen. Es waren einige Schongauer, Dürer, Aldegrever darunter; die meisten jedoch stammten von Wenzel, Hollar, Radierungen aus der Mitte des 14. Jahrhunderts. Sie besaßen vielleicht weniger künstlerischen Wert, als die jener gefeierten Meister; doch sie sprachen mich am meisten an, in einem wörtlichen Sinne, denn mir war's, als redeten sie wie mit Zungen von vergangener Zeit zu mir. Noch mehr fast tat dies ein Holzschnitt von Matthäus Merian, der eine alte Stadt, ich weiß nicht mehr welche, mit Ringmauern, vielen Türmen und Zugbrücken davor darstellte.
Aber eines zog mich vor allen zu sich hin – ein Bild, nur von Fußlänge, im dunkelsten Winkel der Stube hängend, das sich unendlich lange dort an seinem Platz befinden mußte, denn der Nagel, der es trug, schien von altersbraunem Rost beinahe völlig zerfressen. Es war kein Kupferstich, sondern ein altes Pastellbildchen, wohl schon ursprünglich nur skizzenhaft entworfen und vom Licht vieler Tage gemach zu matten Farben abgeblaßt, da und dort auch von Feuchtigkeitslinien durchquert. Zweifellos stellte es ein junges, vielleicht sechzehnjähriges Mädchen in der Tracht eines früheren Jahrhunderts vor den Blick. Das Kleid des Brustbildes zeigte noch einen lichtblauen Schimmer und war am Ausschnitt des Halses und Nackens von einem breiten, halb aufstehenden, kunstreichen Spitzenkragen umfaßt. Auf diesen nieder, oder mehr in seine Umbauschung hinein, ringelten sich von den Schläfen leichte, dunkelbraune Locken; dazwischen sah ein schmales Gesicht den Beschauer mit hellen Augen an. Eigentlich nicht das einer Schönheit. Das Näschen schien an der Spitze ein wenig aufgebogen; ich weiß, daß der erste Anblick mich an eine Blaumeise erinnerte, und nicht nur wegen der Farbe des Kleides und der Augen. Aber dieser Vergleich bezeichnete auch etwas eigentümlich Reizendes und Liebliches der ganzen Erscheinung. Man sah in der leichten Gestalt die anmutige Beweglichkeit, auf den feinen Lippen den hellen Stimmenton des genannten Vögelchens, und wie ein ganzer sonniger Frühlingsmorgen voll von aufknospenden Blüten lächelte und leuchtete es aus den jungen Zügen. Allerdings ein dahingegangener; aber die verblichenen Farben ließen doch noch ahnen, wie hold er gewesen sein mußte.
Ich ward vierzehn Jahre, und ich glaube, das kleine Bild war eigentlich meine erste Liebe. Aus ihm kam mir hauptsächlich ein Verlangen, in der Stube allein zu sein, um es ungestört betrachten zu können. Kein mir lebendig begegnendes Mädchen meiner Vaterstadt hatte eine ähnliche Wirkung auf mich geübt, keines rief einen so träumerisch beglückenden und zugleich süßwehmütigen Herzschlag in mir wach. Manchmal war mir's, als komme aus dem Hintergrunde der hellen Augen trotzdem ein trauriger Schatten, leise hervorrinnend, wie der Vorbote früher Abenddämmerung, die über einen Frühlingstag fällt. Doch es lag wohl an der Beleuchtung des dunkel-schattenden Winkels; wenn ich das Bild ins Fensterlicht trug, dann lächelten die Augen und das Antlitz mich in ihrer ganzen sorglosen Jugendfreudigkeit an.
War es nur die Erfindung der Phantasie eines Malers, oder hatte wirklich ein mal ein solches Gesicht mit diesen Augen in die Welt geblickt?
Immer wieder putzte ich an der gleichfalls etwas erblindeten Glasscheibe vor dem Pastellgemälde, um zu entdecken, ob sich am Unterrande desselben nicht irgend ein schriftlicher Hinweis auf die Dargestellte finde. Aber nichts gab Auskunft, und der Besitzer des Bildes wußte ebenfalls nichts von der Bedeutung und Herkunft desselben. Es hatte immer so dagehangen, nicht allein zu seiner Kinderzeit, sondern, wie er sich in dieser gehört zu haben entsann, schon in den Jugendtagen seines Großvaters. Ein Familienporträt schien es nicht zu sein; und er war nicht vierzehn, sondern bald siebzig Jahre, und seine alten wertvollen Kupferstiche waren ihm lieber und interessanter. Doch eine leise Hindeutung auf einen sehnsüchtigen Wunsch in mir, das Bild zu besitzen, verstand er nicht, oder wollte sie, trotz seiner väterlichen Freundschaft für mich, wohl nicht verstehen. Es hatte Hausrecht an seinen Platz und mußte selbstverständlich dort bleiben. Wohin es nach dem Tode des alten kinderlosen Herrn gekommen ist, habe ich nicht erfahren können.
Doch ich sehe ihn, wie gestern, eines Tages unerwartet ins Zimmer treten, als ich, der ich auf sein längeres Ausbleiben gerechnet, eben einem in mir unwiderstehlich angewachsenen Drange nachgegeben hatte, vorsichtig die hölzerne Rückwandung des Bildes abzulösen und dies aus seinem Rahmen herauszunehmen. Mir fiel gerade ein Häufchen Bohrwurmmehl stäubend auf die Hand, als zu meiner Bestürzung der Unvermutete die Tür öffnete. Ich ward rot und sagte, den Kopf niederbückend, der Rahmen sei beim Abheben auseinander gegangen, ich hätte ihn wieder befestigen wollen. Doch seine weißen Haare ahnten den Anlaß meiner Gesichtsröte nicht, er machte, nach seiner Art, mir auch keinerlei Vorwurf über eine etwaige, zu mutmaßende Ungeschicklichkeit, sondern nickte nur gleichmütig und setzte sich an seinen Schreibtisch.
So konnte ich, gewissermaßen ermächtigt, ruhig in meinem Vorhaben fortfahren. Ich schälte das Bildchen behutsam völlig aus seiner morschen Hülle hervor. Es war auf ein altes Stück Pergament aufgetragen, wie die Pastellbehandlung solches anfänglich bevorzugt hatte; die Stiftfarben, die sich offenbar dem Künstler schwer damit verbunden gehabt, hafteten nur lose drauf; trotz meiner Vorsicht ward durch ein leichtes Anstreifen an der rechten Schulter ein Stückchen des blauen Kleides fast weggelöscht, wie der Blütenstaub vom Flügel eines Adonisfalters. Doch nicht darum flog mir ein Ausruflaut vom Munde, sondern weil mein Blick auf die Rückseite des Pergamentblattes fiel. Dort zeigte der Oberrand eine kurze Inschrift von braun verblaßter, halb ausgelaufener Tinte:
» Elsabe. Reval opp. Anno MDCXXXIII.«
Dann gleich darunter in künstlich verschnörkelten Buchstaben:
»HErrn Oelschläger, viro celeberr. in memoriam.«
Auf der Mitte der Blattes aber stand mit schwarz erhaltener Tinte von einer andern Hand zugleich fest, schön und zierlich geschrieben:
»Und darff ein frecher Kiehl sich dieses unterfangen/
Daß er die gantze Zier/ die an der Liebsten scheint/
In ein so enges Thun zu zeichnen ab vermeynt?
Wahr ist es! Dieses Haar/ die Stirne/ diese Wangen
Sind denen ähnlich gantz/ die an derselben prangen;
Die Augen seh' ich da, um die ich offt geweint/
Und diß hier ist der Mund/ der meinen nennet Freund.
Gantz diß? Das ist gantz das/ nach dem ich muß verlangen.
Die Zucht/ diß freundlich sehn/ die Sitten, diese Tracht/
Und alles steht vor mir/ was sie so trefflich macht/
Nur daß es sich nicht regt/ und nicht will Antwort geben.
Sey drüm nicht halb so stoltz/ du kühner Pinsel du/
Das schönste, das man wünscht/ gehöret noch hierzu:
Entwirffstu ihren Leib/ so mahl' auch drein sein Leben!«
»Geschrieben im vordern Eckhaus der persianischen Häuser, zu Kiel MDCXXXIX.
Diß Bildniß gantz so befunden, wie darmals vermeynt.«
Der alte Herr war auf meinen Ausruf vom Schreibtisch herangekommen, stand neben mir und blickte mit auf die Inschriften der Pergamentrückseite. Sie waren ihm interessant, als ein Ueberbleibsel aus vergangenen Zeiten, doch nicht wie mir; weiter zu deuten, als ich, wußte er sie auch nicht, es schlug nicht in die Richtung seiner Gelehrsamkeit.
Was die »persianischen Häuser« bedeuteten, die ich hier zum dritten Male und in so merkwürdiger Verbindung antraf, darüber konnte er mir gleichfalls keine Auskunft erteilen.
Aber was gingen mich in diesem Augenblick die rätselhaften persianischen Häuser an? Mit vierzehnjährigen Kinderaugen sah ich auf das liebliche Bild. Dies Gesicht war keine Erfindung eines Malers gewesen, sondern hatte wirklich gelebt – wie es schien in der esthländischen Stadt Reval – und den Namen Elsabe getragen. Ach, vor mehr als zwei Jahrhunderten! Wie lange war dies süße Antlitz zu Staub geworden, das Blatt in meiner Hand vermutlich das einzig von ihr Gebliebene!
Mir fiel, glaube ich, zum erstenmal ein aufgehendes Begreifen des Todes, der Vergänglichkeit selbst des Schönsten mit einem Anschauern in den warmen Sommertag. Und doch klopfte mein Herz auch so wundervoll, als sei ihm sein höchstes Glück geworden. Sorgfältig schrieb ich mir das auf dem Pergamentblatt Stehende ab; wer mochte das Sonett darauf geschrieben haben? Die Frage wäre etwas für scharfsinnige Konjekturen und Emendationen meiner Lehrer gewesen.
Der Gedanke, der mir aufschoß, kam mir mit dem nächsten Herzschlag wie die Entweihung von etwas heiligem vor. Um keinen Preis in der Welt hätte ich ihnen das Bild und die Schrift zu Gesicht geraten lassen, lieber ein Jahr lang tagtäglich bis Mitternacht als Strafarbeit ein Dutzend griechischer Partikeln mit ihren sämtlichen Konstruktionen auswendig gelernt.
Behutsam brachte ich das Bild wieder in seine Schutzhülle, hängte es an den Rostnagel zurück und ging.
In dem dunklen Labyrinth draußen kam's mir: War das holdselige Mädchen etwa, wie eine Blaumeise hüpfend und zwitschernd, hier einmal durch diesen alten Gang geflogen? Mir rührte ein andersartiger Schauer an die Seele, der vor dem Gewesenen. Was konnten solche Wände gesehen und gehört haben, nie etwas davon kundgeben, immer »stumm wie ein Stein«; darum hieß ja das Sprichwort ihn so. Meine Hände streiften diesmal im Gehen an den Mauern hin; vielleicht hatte die Hand Elsabes es einst so getan!
Doch wohl nicht, wie wäre sie von Reval hierher gekommen? Aber das Sonett auf dem Bilde mußte doch von jemand sein, der sie gekannt, geliebt hatte und hier gewesen war. Mich wollte es wie ein Gedicht an seine Braut bedünken.
In der Nacht träumte mir von einem großen Frühlingsgarten; der war voll Blumen, bunten Faltern und Sonnenglanz, so strahlenblendend, daß ich durch den Goldschleier nur ein himmelblaues Hin- und Wiederleuchten unterscheiden konnte. Es schaukelte sich wie das Gefieder eines Vogels am niederhängenden Gezweig einer Trauerweide; dann rief plötzlich eine Stimme aus weiter Ferne: »Elsabe, Elsabe!« – und es rauschte leis in den Blättern, und der blaue Schimmer war fort.
*
Doch die Jahre kamen, in denen sich nach ewigem Gebot im Knabenherzen ein lebendiges Mädchenbild über das tote drängte. Wie die Farben des letzteren auf dem Pergament von Jahrhunderten abgeblaßt worden, so verblich es von der Zeit in jenem. Das ist auch Gesetz der Natur, die nicht das Vergangene zurückholen, sondern Gegenwart und Zukunft schaffen will.
Ich habe wohl manchmal noch an das kleine Pastellgemälde im dunklen Zimmerwinkel gedacht; aber als ich einmal nach längerer Abwesenheit in meine Vaterstadt heimkam, da war der weißköpfige Inhaber der Studierstube schon in eine letzte enge Wohnung umgezogen, und mein Fuß hat das alte Haus nicht wieder betreten. Es steht noch, doch etwas neuzeitlich aufgeputzt und, wie ich gehört, von seinem neuen Besitzer im Innern mannigfach baulich abgeändert. Verargen könnt' ich's ihm eigentlich nicht.
Ich studierte Medizin, allein mein hauptsächliches Denken und Treiben ging auf Beschäftigung mit der Literatur hinaus. In diesem nämlichen Zwiespalt des Müssens und der Neigung hatte sich schon einmal um viele Geschlechter vor mir jemand befunden, der auch ein Jünger der Arzneiwissenschaft gewesen, doch von der Gnade Apollos zugleich schon in jungen Jahren einen ersten Rang unter den deutschen Dichtern seiner Zeit gewonnen. Sein Vorbild hatte in mancher schweren Stunde etwas Trostbringendes für mich; wo ich einzelner seiner Gedichte in Anthologien und Literaturgeschichten habhaft werden konnte, da vertiefte ich mich mit Vorliebe in sie hinein und suchte in ihnen nach den gleichen Empfindungen, von denen ich hilflos hin und wieder gezerrt wurde, dem heimlichen Ringkampf zwischen wissenschaftlichem Notberufe und der Sehnsucht nach freiem Flügelschlag der Dichtung. Diese Uebereinstimmung meiner Lebenslage und Gemütsrichtung mit dem lange vor mir Gewesenen machte mich im Innersten mit seinem Fühlen und Denken bekannt, machte ihn mir lebendig, vertraut wie einen Freund. Ich sah und hörte ihn; ein schon vergilbtes Blatt aus jener Zeit mit einigen Zeilen von meiner Hand drückt den »Wahn« aus, der mich zuweilen überkam:
Mitunter durchläuft's mich aus altem Buche
Mit seltsamem Schauer. Es tritt hervor
Aus seinen Blättern vor Aug' und Ohr
Ein Freund, den sonst ich vergeblich suche.
Ich fühl's, es pocht mir daraus entgegen
Mit meines eigenen Herzens Schlägen;
Mir ist, als ob ich endlich gefunden,
Mit warmen, lebendigen Armen umwunden
Ein Wesen, das mir im Tiefsten verwandt;
Es blickt mich an, es spricht zu mir –
Da knistert das Blatt in meiner Hand
Und ist nur ein totes Stück Papier!
Viele Jahre indes vergingen, ehe das Glück einen alten Originalband der Gedichte meines toten Freundes in meinen Besitz und meine Hand brachte. In einer fremden Stadt war's, an einem Sommernachmittag, der Trödler hatte wenige Kreuzer für den Schatz gefordert, den ich nach Hause trug; er war froh, den staubigen Plunder der Vergangenheit in ein paar Gläser Bier für seine heutig verstaubte Kehle umgesetzt zu haben. In meinem Zimmer spielten die Sonnenstrahlen über die gelben, groben Blätter des Buches »An itzo wieder Auff's Neue mit Churf. Sächs. Privilegio außgefertiget«; es war die Sonne Homers und ebenso dessen, der diese Gedichte einst gedacht und geschrieben, und sie lächelte.
Da stutzte plötzlich einmal mein Auge, das eine Anzahl mir unbekannt gewesener Sonette überflogen; denn das nächste hub unter dem Titel: »Auf Ihr Bildnüß« mit dem Verse an:
»Und darff ein frecher Kiehl sich dieses unterfangen –«!
*
Ich blieb an dem Abend durch die Dämmerung bis ins tiefe Dunkel hinein sitzen, ohne meine Lampe anzuzünden. Wie seltsam verknüpft das Leben mit tausend Fäden das Sein, die Gedanken und Empfindungen der Menschen, das Vergangene und das Gegenwärtige! Es ist doch eigentlich nichts gewesen, nichts tot, sondern alles nur ein Verschwinden, ein Vorübergleiten an dem Blick, gleich dem des Wassers in einem Strome, das nicht wirklich untergeht, nur einen Rückgang beschreibend an anderer Stelle gleichen Lauf wieder beginnt. So kehrt auch das Denken und Fühlen eines Herzens in lebendigem Kreislauf irgendwo in eine Brust zurück. Alles was lebt, rafft der Tod hinweg; doch was gelebt hat, ist auch unvergänglich, ein Teil der unsterblichen Seele der Menschheit.
Erinnerungen, Träume, Gedanken vieler Art zogen mir an jenem Abend im Dämmerlicht, im Dunkel vorüber. Ein nebelndes Gewoge war's, das undeutliche Gestalten bildete, die wieder zerrannen; nur zwei von ihnen traten hell, unveränderlich, jeden Zug an sich darbietend, hervor, als ständen sie lebend, vor meinen Augen im Zimmer da – zwei junge, schöne, liebe Menschenkinder. Sie lächelten mich an, als sprächen sie mir zu, für sie den Staub von manchem alten Buche abzublasen, damit die verrauschte Welle ihres Lebens in mir wieder zurückkehre, das frühe Gedächtnis meiner Kindheit mit ihnen verknüpfend. Ja seltsam, durch sie gelangte ich in späten Tagen zu der Aufklärung, was die »Persianischen Häuser« bedeuteten; zu der Wissenskenntnis, daß ein verschollenes Blatt der Geschichte der deutschen Dichtung auch ein Lebensblatt der Geschichte meiner Vaterstadt sei.
*
Art einem Septembernachmittage des Jahres 1633 hielt vor dem damaligen eigentümlichen Doppelbau des nach Süden gerichteten Holstentores der Stadt Kiel auf wohlgesatteltem Pferde Herr Adam Oelschläger, Bibliothekar und Hofmathematikus des durchlauchtigen Herren von Kiel, des Herzogs Friedrich III. von Holstein-Gottorp. Doch benannte kaum jemand ihn mehr mit seinem Vaternamen, denn er hatte als Gelehrter denselben nach Brauch der Zeit ins Lateinische umgewandelt und hieß sich Magister Adam Olearius; um die Wende des Jahrhunderts zu Aschersleben geboren, stand er erst im 33. Jahr, allein der Ruf seiner Gelehrsamkeit und vielseitigen Kenntnisse ging schon weit durch deutsche Lande. In diesen freilich sah es zur Zeit für Wissenschaften und Künste übel aus; seit fünfzehn Jahren warf der endlose Glaubenskrieg seine Brandfackeln und Blutströme bald hierhin, bald dorthin, hatte im Jahre 1627 auch die Stadt Kiel von einer kaiserlichen Armee unter dem Befehl Tillys und Wallensteins umlagern, rasch einnehmen und weithin die Umgebung zu einer Wüste machen lassen. Doch seit der Landung des schwedischen Königs waren die Kriegesunwetter fern vom Norden in die Mitte und den Süden Deutschlands abgesunken, Ruhe und Sicherheit, soweit die Zeit solche überhaupt kannte, an den Rand der Ostsee zurückgekehrt, und man hatte in wörtlichem und übertragenem Sinne mit der Wegräumung des Brandschuttes begonnen. Dazu verhalf besonders in den nicht unter dänischer Königshoheit stehenden Gebietsteilen Schleswigs und Holsteins die geistige Spann- und Tatkraft des noch jugendlichen Herzogs Friederich. Nach dem frühzeitigen Tode zweier älterer Brüder unerwartet an die Regierung seines kleinen, gering bevölkerten, vielfach zertrennten und zerschachtelten Landes gelangt, entwickelte er ebensoviel Eifer als Verständnis zur Wiedererhebung desselben aus seinem Verfall in den Kriegsjahren. Er war ein Fürst von außergewöhnlichem Kenntnisreichtum und Drang, diesen stets noch zu vermehren. Nicht nur die lateinische und griechische Sprache beherrschte er vollkommen, sondern er verstand auch die hebräische; physikalische und chemische Versuche bildeten Lieblingsgegenstände seiner Beschäftigung, und ein im Schloß Gottorp aufgestellter Globus war nach seinen mathematischen Berechnungen und Bestimmungen angefertigt. Ueber alle geistigen Gebiete dehnte sich sein Streben nach Förderung und Verbesserung aus; er trachtete besonders nach einem Aufschwunge der humanistischen Bildung, bereicherte stetig die Gottorper Bibliothek, suchte die Künste zu heben, legte sogar eine der größten Seltenheiten der Zeit, eine Naturaliensammlung an. In der Mitte des Dreißigjährigen Krieges erscheinen er und die Fortschritte des Friedens, der Wohlfahrt seiner Untertanen in Schleswig wie ein Wunder. Seine oberste Neigung aber wandte sich der Geographie zu; die Räume, in denen er sich zumeist aufhielt, waren mit Karten aller Länder der Erde angefüllt, soweit die neueste Kunde von denselben reichte. Vor ihnen saß Herzog Friedrich oft, in tiefe Gedanken versunken. Sein geistiger Blick ging weit über den Erdball, doch ebenso wie durch den Raum, auch durch die Zeit, in Vergangenes zurück und in Kommendes voraus. In der Stille seiner Arbeitskammer stellte er manche sonderbaren Verknüpfungen und Berechnungen an, auf die kein Sinn seiner Zeitgenossen verfiel; und im Beginn der dreißiger Jahre des Jahrhunderts hatte ein seltsam weit ausschauender Gedanke eine Keimsaat in seinen Kopf gesenkt, die sich nach und nach darin mit tausend Wurzeln unausreißbar festgrub. Der von ihm gefaßte Plan wuchs vor seinen in die Zukunft gerichteten Augen zu einer greifbar werdenden Gestaltung, bewog ihn, seinen altangestammten Sitz auf dem Schloß Gottorp an der Schlei zu verlassen und seine Residenz ganz in das Kieler Schloß zu verlegen. Und infolgedessen befand sich auch sein vertrauter Ratgeber und »fürstlicher Rat«, Herr Adam Olearius ebenfalls schon seit einem halben Jahre in der Stadt Kiel ständig anwesend.
Nun hielt derselbe in stattlicher Haltung und Tracht auf seinem Pferde vor dem Holstentor und schattete ab und zu die Augen mit der Hand gegen die Sonne, um einen prüfenden Blick nach Süden vorauszuwerfen. Dort, wo sich jetzt die größere Stadthälfte zum Kuhberggelände hinanzieht, lag noch nichts vor ihm, als eine übel gehaltene Knüppellandstraße, in freie Leere hinauslaufend. Das Ende des vergangenen Jahrhunderts hatte freilich schon begonnen, an den Seiten jener Straße ein paar Dutzend Häuser der heutigen Vorstadt und Schewenbrücke aufzurichten; allein als außerhalb der Mauer und Tore befindlich waren sie sogleich von den Brandkugeln der Tillyschen Feldschlangen in Asche gelegt und noch nicht wieder aufgebaut worden. Die Zeit gemahnte zur Vorsicht; tobte auch jetzt der Krieg weit südab, so konnte doch immer das vor fünf Jahren Geschehene sich noch wieder erneuern, und man besaß noch nicht den vertrauenden Mut, neue Mauern und Giebel aus den Schuttfeldern in die Höh' steigen zu lassen. Auch Adam Olearius hätte schwerlich dazu geraten, denn er war in den Weltläuften sehr wohl bewandert.
Seine dunkle würdige Tracht gab den Gelehrten und fürstlichen Rat kund, aber seine Gestalt und Gesichtszüge waren von ausdrucksvoller Kraft; sie hätten, wenn Brustpanzer und Schienen das Kleid bedeckt gehalten, einen Ritter oder Hauptmann in ihm vermuten lassen können, ebenso der aufrecht sichere Sitz im Sattel. Zu einem adligen Junker paßte nur der geistige Ausdruck des Kopfes und andererseits die breit toupierte Perrücke nicht, die ihn veranlaßte, seinen langbekrämpten, nach oben zuckerhutartig verschmälerten Filzhut mit schwarzer Straußfeder in der Hand zu halten. Nach dem Zeitbrauch trugen nur seine Oberlippe und das Kinn einen kleinen, kurzen Bart, eine goldene Gnadenkette mit einem Bildnis dran fiel ihm über die Brust, im hochreichenden Stulphandschuh seiner Rechten hielt er eine von diamantenem Knopf blitzende Gerte, mit der er seinem Pferde die lästig schwirrenden Fliegen von den Ohren scheuchte. Alles an ihm verkündete, daß er ein höchst wohlgestellter Herr von Bedeutung im holsteinischen Lande und sich seines Rufes über die Grenzen desselben hinaus nicht unbewußt sei.
Sichtlich erwartete er etwas, das auf der Landstraße herankommen sollte, doch nicht er allein, sondern mit ihm noch fünf andere würdig gekleidete Herren, Amtsträger und Honoratioren der Stadt. Sie waren der Syndikus derselben, Herr Hinrich von Hatten, juris utriusque doctor, und der zeitige erste Bürgermeister, Herr Rudolph Burenäus, eine Persönlichkeit von mehrfältigen Gaben und Vorzügen des Geistes, denn eine von ihm verfaßte Epitaphienschrift bezeichnete ihn als » Poeta laureatus Caesaricus Judicii provincialis regis Daniae et Ducis Holsatiae advocatus et civitatis Chiloniae consul primarius.« Chilonia war die gebräuchliche lateinische Benennung Kiels, das damals gemeiniglich noch »Tom Kiele« genannt und geschrieben wurde. Ob der Name ursprünglich einen Kiel bedeutet und von der kielförmigen Gestaltung des Hafens, oder ob er von »Chiula«, einer altsächsischen Schiffsart, herzuleiten ist, das liegt bis heut von der Vergangenheit mit Dunkel zugedeckt und wird sich schwerlich je mehr aufhellen. Das älteste Siegelwappen der Stadt im zwölften Jahrhundert zeigt eine derartige Chiula mit aufgespannten Segeln, in der ein Mann das Ruder hält; später findet sich das Fahrzeug als Kahn ohne Segel in das holsteinische Nesselblatt versetzt. Die Bezeichnung »zum Kiele« scheint darauf hinzuweisen, daß beide Ableitungen frühzeitig ineinander verschmolzen wurden. Der Kiel mag die erste Namensanregung zu dem Ort »am Kiele« gegeben haben, doch mutmaßlich ward diese Auffassung sehr bald von der andern »Zum Schiffe« verdrängt, die aus dem althochdeutschen chiol oder altnordischen kjoll, »Schiff« entsprang. Die erste Begründung der Stadt oder der Ansiedelung ist völlig unbekannt, der »kimmerische Nebel« wallt darüber. Aber wenn ihr Name vom Schiffe entstanden, so stammt das Wort bereits von dem noch vereinigten indogermanischen Volke auf den Hochebenen Asiens her, das vielleicht an den Ufern des Kaspischen Meeres und des Aralsees sich zuerst Wasserfahrzeuge gebaut und sie »Kiele« (griechisch γαυλοί) benannt hat.
Außer den erwähnten Vorstehern des ehrsamen Rates der Stadt befanden sich vor dem Holstentor noch mitversammelt Herr Magister Janus Nicostadius, Prediger an der Klosterkirche zu Kiel, bis vor kurzem Rektor der dortigen Stadtschule, und der gegenwärtige Rektor derselben, Magister Zacharius Möser, nach der Einäscherung Magdeburgs durch Tilly vor zwei Jahren dort geflüchtet und hier wiederum zu Amt und Brot gelangt; ein noch junger, mit dem Jahrhundert gehender Mann, dem es heute nicht in den Sinn kam, daß um ein halbes Säculum später sein Mund sich an den Stoßseufzer gewöhnen werde:
»Komm, ach komm, o mein Erlöser,
Hole Deinen alten Möser!«
Als letzter, doch nicht in bezug auf sein Ansehen, schloß sich den Genannten an Herr Berend Möller, der Arzneikunst Doktor und fürstlicher Leibmedikus, schon im vorgeschrittenen Alter des Anfangs seines fünften Jahrzehnts. Alle standen, die Köpfe von mehr oder minder langen Allonge-Perücken überdeckt, in schicklichem Wechselgespräch zu Fuße um Herrn Adam Olearius, der vermöge seines alleinigen Sitzens im Sattel in leiblicher Beziehung um einiges auf sie niedersah. Möglicherweise tat er das Gleiche ein wenig auch in geistiger Hinsicht; aber wenn dies der Fall war, so trat es nicht zutage, sondern verbarg sich unwahrnehmbar unter liebenswürdiger Achtleihung seines Ohres auf die Reden und Ansprachen der unter ihm Stehenden.
Diese erregten die Vermutung, daß sie etwas sehr Gewichtiges, die Ankunft einer hochgestellten Person erwarteten, von der Meldung gekommen war, daß sie im Kloster Bordesholm übernachtet habe und etwa um die fünfte Nachmittagsstunde in Kiel eintreffen werde. Die Wegeslänge von dort hierher betrug zwar nur drittehalb Meilen, allein die Wegesbeschaffenheit machte zum mindesten die doppelte Stundenanzahl und ein Ausrasten der Pferde unterwegs erforderlich. So ließ sich die Zeit der Ankunft jedenfalls nicht auf eine Viertelstunde bestimmen.
Auf etwas nicht Gewöhnliches aber mußte man in der Tat harren, daß sich eine solche Auslese der Stadt zum Empfang hier vor dem Tore eingefunden. Ihre Vereinigung bildete eine Vertretung des herzoglichen Hofes, des städtischen Rates, der Geistlichkeit, der gelehrten Bildung; und es schien, daß ingleichen die Arzneiwissenschaft und die Dichtkunst in dem kaiserlich belorbeerten Bürgermeister nicht ohne tieferen begründeten Anlaß ihre Abgeordneten hinzugesellt hatten.
Vom Turme der Nikolaikirche her kam nun ein Glockenschlag durch die stille Luft, und Adam Olearius sagte, sein »Nürnberger Ei« in großem Silbergehäuse hervorziehend und auf das Zifferblatt niederblickend, mit einem Lächeln zu dem Pastor Nicostadius gewendet:
»Es scheint, Herr Magister, daß die Zeit bei Sankt Nikolai um ein weniges derjenigen des Himmels und seiner sidera voranschreitet, so daß es tunlich sein dürfte, Euren ehrwürdigen confratrem, Herrn Magister Crüger auf diese Eilfertigkeit des ihm untergebenen Bemessers der Tageszeitläufte in unserer Stadt aufmerken zu lassen. Zwar ist es schon von Alters so hergebracht, allein darum doch nicht dienlich, daß die allen vernehmliche Turmuhr, so das Allgemeine regeln soll, sich in eine derartige Controverse mit denen in den Bürgerhäusern befindlichen versetze. Denn mich bedünkt das Alte nicht aus dem Grunde löblich, weil es von den Vätern uns überliefert worden, sondern nur in dem Betracht, daß es sich als gut und nützlich erweise.«
Das sprach hörbar bei kleinem Anlaß einen Grundsatz der Anschauungen des Herrn Olearius aus, der jetzt den Kopf drehte und auf eine eben zuvor an ihn gerichtete Anfrage Zacharius Mösers entgegnete:
»Nein, sondern er tritt nunmehr im Beginn des nächsten Oktobermonats erst in sein fünfundzwanzigstes Lebensjahr, so daß Eurem Erstaunen über seine frühe Geistesreife und hohe Ruhmesakquisition billig noch größere Begründung inne wohnt, Herr Magister –«
Offenbar bezog sich diese Richtigstellung auf das fälschlich abgeschätzte Alter des Erwarteten; in den klugen, selbstbewußt blickenden Zügen des Sprechers redete etwas Ueberraschendes, wie von einer Zärtlichkeit des Herzens für den Gegenstand seiner Aeußerung, und sein Mund schien bereit, noch weiteres zum Preise desselben beizufügen. Doch beim letzten Wort brach er kurz mit dem frohen Ausruf ab: »Da biegt er um die Ecke gegen uns heran!« Und unbekümmert um die Beine seiner Mitempfänger, setzte Adam Olearius sein Pferd in Galopp und sprengte der Holprigkeit der Straße zum Trotz eilfertig einem auftauchenden kleinen Reitertrupp entgegen.
Derselbe bestand aus drei Personen, von denen zwei nicht als Fremdlinge in Kiel eintrafen. Es waren dies der Magister Paulus Sperling, Rektor, und der Magister Georg Fabricius, Konrektor des Gymnasiums zu Bordesholm, oder vielmehr beide für diese Lehramtsstellungen vom Herzog Friedrich erst ausersehen. Um dreiundsechzig Jahre zuvor hatte der Herzog Johann der Aeltere das Mönchskloster am Bordesholmer See aufgehoben und dasselbe zu Klassenräumen für eine von ihm gestiftete fürstliche Gelehrtenschule herrichten lassen, die bis 1627 bestanden, in diesem Jahre aber von den Tillyschen Landsknechten beinahe völlig zerstört und verwüstet worden war. Nur ein paar Schüler hatten sich nach dem Abzug der Soldateska wieder eingefunden, so daß sie zwischen einigen notdürftigst hergestellten Wänden zusamt wenigen Lehrern Unterkunft zur Fortsetzung des Unterrichts zu finden vermocht. Doch jetzt schuf der Herzog Friedrich schon seit einem Jahre an der vollständigen Erneuerung und Vergrößerung des Gymnasiums, dessen Wiedereröffnung unfern bevorstand. Zur Leitung solcher Neueinrichtungen verweilten der künftig erkorene Rektor und Konrektor bereits dort, und beide gaben gegenwärtig einem Gast ihr Weggeleit, der gestern abend von Süden herkommend, gern gewährte Nachteinkehr bei ihnen gehalten.
Dieser selbst aber bildete eine zu ihren gelehrten und bedächtigen Schulmienen überaus im Gegensatz stehende Erscheinung. Er allein saß als ein Reiter fast aufreckt im Sattel eines edlen, mutig die Nüstern werfenden Pferdes, während die beiden andern mehr wie ein paar übergezwerchte schwarze Säcke ängstlich auf den Hälsen ihrer mageren Klepper hingen. Wallende weiße Straußfedern seines breitkrämpigen Hutes schwebten über ihm, wie ein glanzhelles Sommerwölkchen, doch noch höhere und freudigere Leuchtkraft ging von seinem jungen Gesicht aus. Von weitem schien er gleichfalls eine lange, ihm auf beiden Seiten über die Schultern herabwallende modische Perücke zu tragen, doch beim Näherkommen erkannte man, es sei nur eine Fälschung der Mode durch sein eignes, dunkles, weich zu lockigem Fall gewelltes Haar. Ein ebenso weicher und gleichfarbiger kleiner Bart deckte die Oberlippe des sonst freien Gesichtes, das in einer seltsamen Mischung mädchenhafter Sanftmut und kühner Mannhaftigkeit mit zugleich träumerischen und blitzenden Augen in die Welt sah; wenn je solche von Menschen, verdienten sie die Bezeichnung von Augensternen. Ein langer, zierlicher Spitzenkragen fiel über die leicht und anmutig gehaltene Kleidung. Alles sprach von angeborenem, auch an weibliche Sinnesart erinnerndem Schönheitstrieb des jungen Reiters; doch dem Beschauer blieb kein Zweifel, wenn diese Hand Anlaß fand, nach dem Schwerte an seiner Seite zu greifen, so war es sicherlich in ihr kein müßiger, nur zu wehrhaftem Anschein geführter Zierrat. – So stellt ein erhaltenes Bild ihn im zauberischen Vollglanze der Jugend dar.
Wie ein junger Fürst erschien er dem Blick, und so ward er vor dem Stadttor empfangen. Und doch waren sein Name und sein Stand nur sehr einfach bürgerliche, denn er nannte sich einfach Magister Paul Fleming, hatte auf der hohen Schule zu Leipzig Medizin studiert und erst vor kurzem die Prüfung in seiner Wissenschaft summa cum laude bestanden. Aber die sonst oft so launenvolle Glücksgöttin hatte ihm schon von seiner Wiege an beständig ihr lächelndes Antlitz zugewendet, ihm ausreichend leibliche Güter, doch noch reichere des Geistes auf seine Lebensbahn mitgegeben. Als Kind im Städtchen Hartenstein am Rande des Erzgebirges in friedlichem Pfarrhause unter der Erziehung eines hochgebildeten, trefflichen Vaters aufgewachsen, war seine Seele im ersten Erwachen von den Gefilden und Berghängen der still-schönen Natur seiner Heimatwelt mit weichem, gedankenvollen Gemüt und tiefem dichterischen Drange erfüllt worden, der auf der Fürstenschule zu Meißen immer mächtiger in ihm emporstieg. Dann war das Seltenste ihm gelungen, durch Aufwand ernsten Eifers und Fleißes die Wissenschaft der Arzneikunde mit dem in ihm drängenden poetischen Aufflug zu vereinigen, so daß er seine Studien mit rühmlichstem Erfolg beendete. Doch zuvor hatte er schon als Student in Leipzig mit zweiundzwanzig Jahren den Kranz und die Würde eines kaiserlich gekrönten Dichters auf sein Haupt gebracht, eine Auszeichnung, die allerdings wohl manchmal und vielleicht auch bei dem consul primarius civitatis Chiloniae nicht wegen allzuhoher Begeisterung durch das Wasser der Hippokrene verliehen wurde. Doch der Erhöhung des jungen Studenten der Medizin, Paul Fleming, zum Poeta laureatus Caesaricus war jubelnde Beistimmung nicht nur in seiner sächsischen Heimat, sondern in allen Gauen Deutschlands zu teil geworden, wo ein Herz Liebe und Verständnis für die höchste Himmelsgabe der Poesie in sich trug; nur die verzopfte Gelehrsamkeit mochte sich da und dort im Innern mürrisch ablehnend gegen ihn verhalten, allein selbst sie wagte ihrem Mißmut kaum mehr äußeren Ausdruck zu geben. Denn überall hoffte man mit freudiger Zuversicht von seinem frischen, mutvollen Jugendgeist ein Aufwachen der deutschen Dichtung aus dumpfer Betäubung, Befreiung derselben aus verschnörkelten Fesseln, kühne Reinigung der vaterländischen Sprache von traurigster Verwelschung, die Erfüllung neuer lebendiger Formen mit echtem Inhalt des Lebens. Von Ost- und Nordsee bis zu den Alpen klang schon der Name Paul Fleming in Fürstenschlössern und Bürgerhäusern. So ritt er an Genius, Gestaltung und Antlitz wie ein unter die Sterblichen herabgestiegener junger Apollo, mit unsichtbar über seinem dunklen Gelock schwebendem Lorbeerkranze an diesem Nachmittag in die Stadt Kiel ein. Vor dem Tore derselben aber erharrte ihn gleich einem Fürsten alles, was seinem Ansehen solchen Empfang schuldete oder in einem Bezug zu seiner jugendlichen Lebensbahn stand: der Syndikus der Stadt, die Geistlichkeit, die ihn um seines Vaters und seiner geistlichen Gedichte willen gern zu den Ihrigen zählte, die gelehrte Bildung, die Arzneiwissenschaft, der Poeta laureatus als Lorbeerkollege und vor allem sein Freund und höchster Bewunderer – Adam Olearius.
Diese Freundschaft stammte von der Leipziger Studienzeit des jungen Dichters her, den Olearius, obwohl nur kaum um ein Jahrzehnt älter, fast wie mit väterlichem Stolze als ihm durch ein Band des Blutes zugehörig betrachtete. Er war unverehelicht und besaß keine für weibliche Beeinflussung empfängliche Natur; doch um so mehr fühlte er sich durch Geistesverwandtschaft mit manchen Zeitgenossen und besonders mit Fleming verknüpft. Der unheilvoll in Ober- und Mitteldeutschland alles wissenschaftliche Streben zerschlagende Krieg hatte ihn in den Dienst des holsteinischen Fürsten gebracht, und im Beginn des Sommers war ihm aus einem Briefe Paul Flemings kund geworden, daß dieser ebenfalls sein Heimatland aus der nämlichen Ursache zu verlassen und irgendwo in der Fremde seinen ärztlichen Beruf zu üben beabsichtige. In den Worten des Schreibers sprach sich tiefe Erschütterung über den Tod Gustav Adolfs bei Lützen und volle Hoffnungslosigkeit in bezug auf eine bessere Zukunft des deutschen Reiches und Volkes aus. Eine erschreckend anwachsende Verwilderung der Gemüter, eine Abwendung auch der besseren von allem höheren Trachten des Geistes und der Empfindung erfüllten ihn mit tiefem Widerwillen gegen das ihn ringsumher Umgebende; Zorn und Trauer redeten seine dem Briefe beigefügten Gedichte: »An die jetzigen Deutschen«, und »Germania an ihre Söhne«. Da hatte Olearius ihm mit der dringenden Aufforderung geantwortet, gleichfalls nach Kiel zu kommen, wo der Friede wieder eingekehrt sei, das Land und die Schätzung geistigen Verdienstes unter der Obsorge eines hochgesinnten Fürsten gedeihe, der schon seit Geraumem einen wundervollen Plan in Erwägung genommen, bei dem sich dem jungen Dichter etwa alles das, wonach sein Begehren stehe, bieten möge. Und so leistete Paul Fleming heute solcher Herberufung durch seinen väterlich für ihn bedachten Freund Folge.
Nun kamen sie sich hurtig dicht entgegen, stiegen beide aus den Bügeln und schlossen sich in die Arme. Es waren manche Jahre vergangen, seitdem sie sich nicht mehr von Angesicht gesehen, Olearius blickte nach der ersten Bewillkommnung dem männlich schönen Jüngling staunend in's Antlitz und brach in die Frage aus: »Paule bist du dieses denn in leibhaftiger Wirklichkeit – verzeihet – ich vermeinte, ob Ihr Euch in solcher Gestalt aus dem Knaben zum juveni verwandelt haben könnet?« Doch Paul Fleming fiel sogleich ein: »Wollt Ihr mich so unliebsam empfangen, daß Ihr der Knaben nicht mehr gedenket, vielmehr ihn gleich Einem ansprecht, der nicht allein Euren Augen, sondern auch Eurem Herzen fremd geworden? Hätte ich solche Rede aus Eurem Munde voraufgehört, so wäre ich zur Stunde wohl schwerlich hier anwesend.« Nicht der schon weitgerühmte Dichter hatte er erwidert, sondern ein bescheidener Jüngling, in aufrichtiger Bekümmernis über die förmliche Redeverbesserung oder Verböserung des liebgehaltenen und hochverehrten Freundes, und Olearius versetzte schnell: »Nein, das will ich wahrlich mit nichten, vielmehr hoffen, dich nicht wieder von mir zu lassen für gar manche Zeit, wenn dein Ohr und dein Herz es also lieber zu hören begehren. Aber auch das meinige verlangt alsdann von dir das Gleiche zu vernehmen, wie es die Natur zwischen einem älteren und jüngeren Bruder mit sich führet.«
Sie umarmten sich zum andermal; die übrigen vor den Toren versammelt Gewesenen kamen jetzt auf ihren Füßen heran, und eine allseitige Begrüßung und Bekanntmachung fand statt. Man sah, daß auf Alle die anmutig natürliche Einfachheit und anspruchslose Liebenswürdigkeit Paul Flemings gleiche Wirkung übte; nichts gab an ihm ein selbstbewußtes Emporheben kund, bescheiden wie es der Jugend geziemte, hielt seine Sprache und Behagen sich gegen die älteren Herren. Da diese zu Fuß schritten, bestieg auch er sein Pferd nicht wieder, sondern ging, dasselbe am Zügel führend, als man den Weg fortsetzte, neben ihnen her.
Dann kam noch jemand herangelaufen, der sich dem kleinen Zuge in Bordesholm angeschlossen, doch kein Reittier besessen hatte und, infolge davon etwas hinter den Berittenen zurückgeblieben, jetzt erst sie ziemlich atemlos einholte. Sichtlich befand er sich in ärmlichen Umständen, seine schäbig-abgerissene, halb geistliche, halb weltliche Tracht ließ nicht Zweifel daran. Ebenso trug sein Gesicht nachlässige Bartstoppeln, sein Kopf keine Perücke, sondern nur eignes, dickes, ordnungslos unter dem Hut hervorstehendes Haar. Doch mangelte seinen Zügen neben interessanter Bildung nicht ein geistig lebendiger Ausdruck, sogar in hervorragend hohem Maße. In den kleinen Augen lag wechselnd Verschlagenes und Scharfes, die Lider konnten demütig-ergeben halb herunternicken und sich zu einem sonderbar flimmernden Blick weit auftun. Sein Alter mochte dreißig und einige Jahre betragen.
Alle kannten ihn, allein niemand wußte recht, was von ihm zu halten sei. Er nannte sich Magister Christoph Basilius Becker, war nach seiner Angabe lutherischer Prediger im Schwabenlande gewesen und von den Kaiserlichen dort um seiner Glaubensfestigkeit willen unter höchster Lebensgefahr vertrieben worden. Herzog Friedrich hatte ihn aufgenommen, indem er ihm das Konrektorat an der Schule der schleswigschen Stadt Husum verlieh; danach war er jetzt vor einem Jahr Diakonus in dem norderdithmarsischen Dorf Tellingstedt geworden. Sein dortiges Amt schien ihm wenig Einkünfte abzuwerfen, doch dafür um so mehr freie Zeit zu vergönnen. Er tauchte bald hier, bald dort im Lande auf, kehrte vorwiegend bei den Amtsbrüdern ein und nahm ihre Gastfreundschaft in Anspruch. An den Mittagsschüsseln leistete er dann Erhebliches, aber weit mehr noch an der abendlichen Trunkkanne; man sagte, diese habe überall den Grund seiner zerrütteten Verhältnisse gebildet. Dennoch war er an manchen Orten, besonders in der Einsamkeit entlegenen Kirchdörfern nicht ungern gesehen; er besaß vielerlei Weltkenntnisse und große Unterhaltungsgabe, mit beißendem, wo der Ort es verstattete, manchmal auch zynischem Witz untermischt. Geistige Bedeutsamkeit konnte niemand ihm absprechen, doch ebenso wenig Vertrauen zu ihm fassen. Man fühlte, er strebe in der Stille nach einem Ziel, aber man wußte nicht, was dies sei. In Kiel erschien er öfter, der Herzog war ihm seines mannigfachen Wissens halber gewogen und erhielt ab und zu eine bei anderen vergeblich gesuchte Auskunft durch ihn.
Dem Bordesholmer Rektor und Konrektor war seine Wegteilnahme nicht erfreulich gefallen, während Paul Fleming in mancher Beziehung sein Begleitgespräch und die ortskundigen Bemerkungen desselben lehrreich gewesen; die Kieler Herren aber legten gleich den ersteren keinerlei Freudigkeit über die Mitankunft des Magisters Tellingstedter Diakonus an den Tag. Allerdings hüteten sie sich ebenfalls, das Gegenteil kundzutun; sie begrüßten ihn ohne Unterlassung der von der Zeit geforderten Förmlichkeit des Verkehrs der höheren Bürgerstände untereinander, setzten dann aber, ohne weitere Ansprache an ihn zu wenden, den Rückweg zum Holstentore fort. Hinter diesen verabschiedete sich Fleming von ihnen unter herzlichem Danke für den ihm bereiteten unvermuteten Empfang und der gern erteilten Zusage, ihrer Einladung auf die Nacht in den Ratsweinkeller nachzukommen.
Dann bestieg er sein Pferd wieder und ritt allein mit Adam Olearius durch die Holstenstraße dem Markt zu. Aus den Fenstern unterwegs sah manch neugieriges Mädchengesicht, das Kunde von seinem Eintreffen besessen, auf den jungen Reiter hinunter, und an der Marktecke, dem Rathause gegenüber bog aus der Wohnung des Bürgermeisters die Jungfrau Agnete Burenäus, des Stadtoberhauptes Tochter, ihren hübschen, blondumlockten Kopf noch ein Weilchen am Fensterkreuz vor, um dem von ihrem Vater mitempfangenen Fremdling nachzuschauen. Ihren leiblichen Augen war er zwar ein solcher, doch ihren geistigen nicht; sie kannte und besaß seine ersten »in Druck ausgegangenen« Gedichte, denn wenn sie selbst auch keineswegs Gelüst zu einer Mitbewerbung um den Kaiserlichen Lorbeer ihres Vaters in sich trug, so mochte doch von dem Blute des letzteren ein ungewöhnliches Verständnis und eine lebendige Anteilnahme an der Dichtkunst auf sie übergegangen sein. Deshalb hatte sie schon zuvor oftmals und besonders in den letzten Tagen versucht, sich Gesicht und Gestalt des jungen Dichters in der Phantasie vorzustellen; und ihre hellblauen Augen besagten unverkennbar, daß die Wirklichkeit nicht hinter dem Erzeugnis ihrer Einbildung zurückgeblieben war.
Die beiden Reiter bewegten sich gerade über den Markt, mit dem die Nikolaikirche an der Ostseite unabgetrennt vereinigt lag, auf die Schmiedestraße zu, in deren Mitte Olearius rechts zur Fischerstraße abbog, in welcher er bald vor einem Hause anhielt. »Hier hat Seine fürstliche Gnaden mir Quartier für die Bemessung unseres Aufenthaltes zu Kiel angewiesen,« sagte er, »und ich hatte bei meinem Einzug in dasselbe wohl kaum verhofft, solch einen liebsten Gast in meine Herberge aufzunehmen.« Ein Diener trat herzu, brachte die Pferde in einen rückwärts belegenen Stall, und die Abgestiegenen traten in das Haus ein. Olearius schritt über einen unter dem Fuße hallenden Fliesenflur voran, der völlig wie schon von nächtigem Dunkel überlagert war und diente durch heiterstimmige Weisungen dem Nachfolgenden als Wegeleiter und Führer. »Hier steiget die Treppe durch eine etwas acherontische Beleuchtung zum oberen Hausgeschosse empor. Es täte für den Neuling eigentlich ein Weniges not, daß er einen hilfreichen Faden der Ariadne in seiner Hand hielte. Cave, amice! Dem Baumeister hat es an dieser Stelle gefallen, wiederum den Fuß sich über drei der Stufen abwärts bewegen zu lassen; doch er benötigt uns dafür um sieben Schritte weiter, uns abermals sechs Staffeln zu erheben. Fast möchte man zu der Konjektur verleitet werden, daß er mit alexandrinischen Versesfüßen begabt gewesen sein möge. Iterum, Paule, cave canem! Hic enim canis ligneus, ein Balken, der quer über den Boden des Ganges wegspringt und, wie ich im Beginn unterzeiten erfahren, gern ein scharfes Gebiß nach einem vorüberpassierenden Beine ausstreckt. Es hält das Menschenleben ja Mancherlei solcher Impedimenta im Dunkel verborgen, darüber die Unbedachtsamkeit schmerzlich zu Falle gerät. Zu einer Gemahnung daran mag der Erbauer diesen verwundersamen Balken hier über den Weg gelegt haben. Nun, si placet, halte deinen Schritt an, Paule! Ich werde meine Tür öffnen, die uns dem Lichte des Himmels zurückgibt. So! Dieses ist meine Studierkammer. Salve, Geliebtester, und lasse mich noch einmal dein in den Jahren also zum Manne vorgeschrittenes Angesicht beschauen!«
*
Nun erst gelangte Paul Fleming dazu, nach dem Beweggrunde zu fragen, aus dem der Freund ihn hierher nach Kiel berufen habe, und die ihm von Olearius erteilte Antwort klang allerdings als eine absonderlich nicht im voraus erratbare. Ein Gedanke war's, den ein blutiger Kriegsgott vor fünf Jahren mit Bellona unter lodernden Brautfackeln erzeugt hatte. Doch Tausenden von Lagersprößlingen der Zeit gleich, war er rasch nach seinem Auftauchen in der Welt von seinen weit fortverschlagenen Eltern verlassen worden, so aber umirrend an die Tür des Schlosses Gottorp gekommen. Und dort hatte der Herzog Friedrich mit seltsamer Bereitwilligkeit das Kind des Feindes nicht nur aufgenommen, sondern sogar an Stelle eines eigenen adoptiert, dem Kriegsentsprossenen eine Amme des Friedens zugeführt und ihn in kurzer Jahre Verlauf zu großem, kräftigem Emporwachsen gebracht.
Jener Gedanke aber war im Kopfe des kaiserlichen Generalissimus Albrecht von Wallenstein entsprungen, als er im Jahre 1628 seine fruchtlose Belagerung Stralsunds durch Erbauung einer Kriegsflotte im Hafen von Wismar zum Erfolg zu bringen suchte. Da hatte sein vielgrübelndes und weitdenkendes Gehirn den Plan erzeugt, eine Wasserverbindung zwischen der Ost- und Nordsee herzustellen, breit und tief genug, um seine Orlogsschiffe hindurchzulassen und so mit ihnen beide deutschen Meere zusamt den Küsten derselben zu beherrschen. Doch von den Würfeln des Schicksals war dem neuen Herzog von Mecklenburg und »Generalkapitän der baltischen Armada« nicht die Ausführung seines kühnen Entwurfes bestimmt gewesen, und was er für Schlachten und Eroberung ersonnen, das hatte Herzog Friedrich von Holstein-Gottorp in nicht minder beträchtlichem, ja noch erheblich weiter ausschauendem Plane zu einem solchen der Einigung und friedlicher Wohlfahrt der nordischen Völker, besonders jedoch des seinigen umgewandelt. Staunend hörte Fleming die zum Entschluß ausgereifte Absicht des Herzogs, vom Kieler Hafen einen Kanal bis in das Bett der Eider zu graben, wo diese sich westwärts wendet, und so die von Wallenstein bezweckte Wasserstraße ins Werk zu setzen. Er stand im Begriff, zu diesem Behufe gegen den Ausgang des Flusses eine neue Stadt, die seinen Namen tragen sollte, zu gründen und die Stadt Tönning an der unteren Eider zu einer starken Festung zu gestalten.
Nicht darin bestand das Ueberraschendste und Höchstliegende seiner Pläne, nicht in dem Entwurf, derartig Nord- und Ostsee, sondern vermittelst dieser den fernsten Orient mit allen Ländern des Westens, hauptsächlich mit England zu verknüpfen. Sein Gedanke war, für Holstein die Erbschaft der traurig zu Grabe getragenen Hansa anzutreten, den ganzen Handel des Morgenlandes von seinen schwierig-gefährlichen Wegen, sei es durchs rote Meer, sei es um das Kap der guten oder vielmehr recht üblen Hoffnung, abzulenken, ihn auf dem Ueberlandwege durch Rußland und von einem Ostseehafen desselben aus nach Kiel zu ziehen. Dies sollte am Eingange des neuen Kanals als großer Stapelplatz, als ein nordisches Handelsemporium aufwachsen, und zur Unterbringung der Waren Indiens lag es in der Absicht des Herzogs, am Kieler Marktplatze vor der Nikolaikirche eine Reihe von Gebäuden als Lagerhallen zu errichten. Zum Sammelplatze der morgenländischen Kostbarkeiten für jenen asiatischen Ueberlandweg hatte aber sein Nachsinnen Persien ausgewählt, und es galt vor allem, dort in gleicher Weise wie hier, mit sicherer Grundmauerlegung für das kühne Gedankengebäude zu beginnen. Zu diesem Zwecke rüstete er eine glänzende Gesellschaft nach der persischen Hauptstadt Ispahan an den neuen jungen Beherrscher des Landes Sam Mirza, der seinen Aeltervater Abbas dem Großen auf dem Thron gefolgt war und den Titel Schah Sofi angenommen hatte. Zuvor jedoch sollte eine kleinere Gesandtschaft über Reval nach Moskau an den russischen Zaren Michael Feodorowicz, den Schwager des Herzogs Friedrich, abgehen, um von ihm freien Durchlaß und freundwillige Unterstützung der nach Persien bestimmten Botschafter zu erbitten. Zum baldigen Antritt dieser letzterwähnten Reise fand sich alles schon bereitet; für beide Expeditionen indes war Adam Olearius als Gesandtschaftssekretär ausersehen und hatte seinen jungen Freund zum begleitenden Arzt derselben in Vorschlag gebracht. Dazu hatte der Herzog bereitwilligst seine Genehmigung erteilt; so vernahm Paul Fleming jetzt staunenden Ohres den Zweck seiner hiesigen Anwesenheit und das ihm für die nächsten Jahre Zugedachte.
Allein die Wirkung auf den jungen Dichter entsprach nicht der von Olearius erwarteten. Nach stummem Zuhören schüttelte er zunächst als Antwort nur einmal schweigsam den Kopf, was er suchte, war Zuflucht gegen eine innere Bedrängnis seines Gemütes vor der hoffnungslosen Zerrüttung des deutschen Vaterlandes; und daß er sein wundes Herz in die weite Fremde hinaustragen sollte, diese Aussicht winkte ihm mit keiner Heilkraft. Ihm lag im Sinne, durch seine erworbene Wissenschaft selbst zu heilen, da er der tötlichen Krankheit des Ganzen nicht zu wehren vermochte; seine Lebensaufgabe an die Wiederherstellung der Gesundheit und freudigen Glückes Einzelner zu setzen und sich so in stiller Abgeschiedenheit einer kleinen Welt innerliche Befriedigung seines Daseins zu gewinnen. Wie er nun erwiderte, dankte er dem Freunde von Herzen für die ihm zubemessene ehrenvolle und für manchen andern wohl höchlich verlockende Stellung. Doch was ihm als Ziel des Erstrebens vorschwebe, das blicke ihm nicht aus Seltsamkeiten und Abenteuern in fremden Ländern entgegen, sondern einzig von dorther, wo er das beschwichtigende Gefühl erlangen könne, in einer trostleeren Gegenwart seine Tage nicht selbstsüchtig und nutzlos für die Leiden seiner Mitlebenden zu verbringen.
Das alles klang aus einer tiefinnerlichen Schwermut der Lebensanschauung des jugendlichen Sprechers herauf und machte dem Hörer einen höchst unerwarteten, unliebsamen Strich durch seine wohl ausgesonnene, von der Freundschaft eingegebene Rechnung. Doch Adam Olearius war ein kluger, welt- und seelenkundiger Mann, der sich hütete, mit gewaltsamen Darstellungen die abgeneigte Gemütsverfassung Flemings zu bekämpfen. Vielmehr gab er dies der Zeit und von ihr mitzuführenden Bundesgenossen anheim, wenngleich er selbst auch nicht wußte, von wo dieselben ihm zur Unterstützung kommen würden, und er brachte nunmehr zunächst seinen Gast in die für ihn hergerichtete Stube. Aus dieser blickte der Eintretende ebenfalls, wie aus den Fenstern der Studierkammer des Freundes, auf noch sommergrüne Gartenbäume, die man hinter den braunen Dachhauben der Fischerstraße nicht vermutete, freundlich fiel da und dort ein rötliches Abendsonnenlicht in die Wipfel, und in heiterem Gespräch, die persische Reise nicht weiter berührend, trug Olearius für die behagliche Unterkunft des Ankömmlings Sorge.
Am Abend jedoch im Ratsweinkeller suchte er vorsichtig mancherlei Hilfsgenossenschaft für seinen Wunsch herbeizuführen, vortrefflichen Trunks, frohe Laune und die Mitwirkung der angesehenen Bürger, welche Fleming am Nachmittag den Empfang vorm Tore bereitet und ihn zu der abendlichen Zusammenkunft beim Becher geladen hatten. Noch manch' andere außer ihnen und den beiden Bordesholmer Schulrektoren waren zugegen, darunter ein Bürgerssohn der Stadt im Alter des jungen Ehrengastes, an dessen bescheiden stiller Art dieser ein besonderes Gefallen fand. Er hieß Hinrich Weghorst, war den Studien der Lehr- und Erziehungswissenschaft ergeben und erhielt sich dürftig als Hofmeister der jüngeren Knaben des Bürgermeisters Burenäus. Was er sprach, kam ihm wohlbedacht und tüchtige Kenntnisse offenbarend vom Munde; doch schien er vom Leben gewöhnt, sich stetig unterzuordnen und jeglichem in allen Dingen den Vorrang vor sich einzuräumen. Paul Fleming gegenüber aber tat er dies unverkennbar aus innerstem Drange und dem Gefühl seiner Geringfügigkeit gegen den weitberufenen jungen Dichter. Mit schüchternen Augen, in denen nur manchmal eine stummbegeisterte Freude aufglänzte, hing er an den Lippen desselben und brachte sichtlich jedem seiner Worte ein volles Verständnis entgegen. Doch darauf beschränkte sich sein Geistesvermögen und bescheiden-fügsames Trachten; er selbst war keine schöpferische Natur und erhob keinen Anspruch auf Beachtung oder auf die Erreichung irgendeines schweigsam in ihm vorhandenen Lebenswunsches und -zieles. Er war im Schatten aufgewachsen, vielleicht dann und wann von einer Entfaltung in der Sonne träumend, aber ohne je zu denken, daß sie ihm einmal zu einer Wirklichkeit werden könne; und was er so in sich tragen mochte, das barg er heimlich und entsagend in der Brust.
Auch der Magister Basilius Becker hatte sich mit eingefunden, obwohl keine Aufforderung dazu an ihn ergangen war. Er aber schien seine Teilnahme als selbstverständlich betrachtet zu haben, und jedenfalls trug er nicht am wenigsten zur Belebung der Gespräches am Tische bei. Er erschien oftmals als ein Sauerteig, der die Bedächtigkeit der langperrückten Herren umher und vorzüglich der beiden Bordesholmer in Gärung versetzte. Diese nämlich erwählte er vorwiegend zur Zielscheibe seiner behenden Zunge. Ueberschwänglich pries er das Glück der zukünftigen Schüler des bald neu zu eröffnenden Gymnasiums, von so unübertrefflichen Lehrmeistern aus den Quellen der Weisheit getränkt zu werden. Sein prophetischer Zukunftsblick sah einen neuen geistigen Aufschwung der Menschheit von Bordesholm ausgehen; doch zugleich auch, daß dies letztere zu geringfügig unter den Ortschaften der Erde sei, um sich der Namenswürde eines neuen Jerusalems und Athens wert genug zu zeigen. Das sei Kiel allein, und hierher müsse deshalb die geistige Pflanzschule künftiger veredelter Geschlechter baldmöglichst verlegt werden. Er gewahre sie vor sich, durch die Jahrhunderte zu immer höherer Vollendung aufgedeihend, wie eine zahllose Reihe der gelehrtesten und gottesfürchtigsten Männer, immer weiter auf den Schultern ihrer Vorgänger emporsteigend, zuletzt vom Himmel ein neues Paradies auf die Stadt herunterzögen, so daß sich das Kieler Gymnasium zu einer Sammelstätte aller Tugenden der Erde und zu einem Eden für seine Zöglinge verherrliche, die, schon von Kindsbeinen an von dem Apfel der Erkenntnis kostend, nach dem Sprichwort wie Gott sein würden, scientes bonum et malum. Auf diese köstliche Ernte der Zukunft, mit deren heutigen ersten Saatbestellern hier zusammen verweilen zu dürfen, ihm das unverdiente Glück zugefallen, leere er seinen Becher bis zur Nagelprobe.
Der Rektor Paulus Sperling und der Konrektor Georg Fabricius wußten nicht recht, was für Gesichter sie zu diesen Dithyramben auf ihre künftige Wirksamkeit machen sollten. Worte und Ton waren so gut gewählt, daß es unmöglich fiel, zu sagen, ob sie ernsthaft gemeint seien, oder ob sich sarkastischer Spott darunter verberge; doch nach den Mienen der beiden Gepriesenen war ihre Empfindung jedenfalls nicht die zweifelloser Dankbarkeit. Lachend fügte Basilius Becker nach: » Omne animal post diem sitiens, excepto, videtur, passere!« Das enthielt einesteils eine Anspielung auf den Namen des würdigen Rektors, andererseits jedoch unverkennbar auch eine solche auf ein bekanntes lateinisches Wort; und obwohl dieser zweite Hinweis dem Munde eines Diakonus ziemlich seltsam stand, besaß das veränderte Zitat doch, in eine Vorstellungsverbindung mit der Erscheinung des Herrn Paulus Sperling gebracht, etwas so unwiderstehlich Komisches, daß Adam Olearius und nicht minder Paul Fleming in ein fröhliches Lachen ausbrechen mußten. Der letztere fühlte überhaupt gar wohl den argen Schalk in dem Reden des Magisters Becker heraus; aber ihm selbst hatten seine Schulmeister manch köstlichen Jugendtag mit pedantischer Nörgelei und dürrer Fischblütigkeit verkümmert, und wenn er ihrer gedachte, regte sich auch in seinem frischen Blut leicht ein satirischer Aderschlag. Er hob gleichfalls seinen Becher und begegnete damit demjenigen des Tellingstedter Geistlichen, indem er ernsthaft hinzufügte: »Es ist kein höherer Schatz, den das Leben austeilt, als eine freudige Kindheit. Die gleichet der Sonne, welche noch lange Wärme hinterläßt, wenn sie selber verschwunden. Möge die Jugend dieser Stadt auf ihrem gymnasio allzeit solcher Sonne und keiner trübseligen Nebel teilhaftig werden!«
Olearius nahm gewahr, daß der junge Dichter Achtsamkeit auf Wort und Wesen Basilius Beckers verwendete, und seine Klugheit trachtete, diesen als Unterstützung für seine Bestrebungen zu nützen. Seitab tauschte er einmal Zwiesprache mit ihm und teilte alsdann zurückkehrend der Tischrunde mit, daß Fleming nicht Wunsch noch Willen hege, der Aufforderung des Herzogs zur Teilnahme an der persischen Gesandtschaft zu entsprechen. Das regte allseitige Ueberraschung, doch ebenso auch die Zunge jedes einzelnen, mit gutem Rat und anspornender Mahnung wider diesen Entschluß zu reden. Alle vereinigten sich dahin, daß er die ihm so gebotene Stellung nicht ausschlagen dürfe; nicht als Arzt, der sicherlich unter manchen Fährlichkeiten der weiten Reise großen Nutzen zu bringen berufen sei, doch minder noch als Dichter, denn seine herrliche Sangesgabe werde aus den fremden Ländern so viel neue und fruchtbare Nahrung ziehen, daß danach niemand auf dem deutschen Parnasse fernerhin mehr einen Wettbewerb mit ihm anzustellen vermöge. Besonders aber tat sich wieder Basilius Becker hervor, offenbar in lebhaftem Streben, einem ihm von Olearius ausgesprochenen Wunsche sich willfährig zu erweisen. Er rief laut durch das Gemenge der mancherlei Stimmen:
»Ihr habet Euren Becher auf die freudige Jugend ausgeleert, Herr poëta laureatus. Ich bin ein Prediger und will Euch sagen, was ein anderer Prediger vor mir von ihr geredet. Er spricht: ›So freue dich, Jüngling, in deiner Jugend, und lasse dein Herz guter Dinge sein in deiner Jugend; tue, was dein Herz gelüstet und deinen Augen gefällt.‹ Und es redet derselbige das weitere: ›Darum lobte ich die Freude, daß der Mensch nichts besseres hat unter der Sonne; oder wer will dem Menschen sagen, was nach ihm kommen wird unter der Sonne? Denn die Lebendigen wissen, daß sie sterben werden; die Toten aber wissen nichts, sie verlieren auch nichts mehr, denn ihr Gedächtnis ist vergessen, daß man sie nicht mehr liebet, noch hasset, noch neidet, und haben kein Teil mehr auf der Welt in allem, das unter der Sonne geschiehet. So gehe hin und iß dein Brot mit Freuden, trink deinen Wein mit gutem Mut, und alles, was dir vor Händen kommt, zu tun, das tue frisch; denn in der Hölle, da du hinfährst, ist weder Werk, Kunst, Vernunft noch Weisheit.‹«
Die anwesenden Lehrer der Stadt- und der gelehrten Schule waren sämtlich ursprünglich theologischen Standes. Aber sie schüttelten die Köpfe über die angeführten Sprüche, und der gewesene Rektor und jetzige Hauptpastor an der Nikolaikirche, Janus Nicostadius vermeinte: »Es gehet etwas absonderliche Weisheit aus Eurem Munde hervor, Herr Magister.«
»Nicht aus dem meinigen, domine reverende,« versetzte Basilius Becker, »vielmehr aus dem Munde desjenigen, den uns die Schrift als gemeinsamen Lehrer der Weisheit gesetzt hat, des Predigers Salomo.«
»So – hm! Nun – nun,« räusperte sich der Pastor; Paulus Sperling aber faßte sich ein Herz und schaltete mit einem deutungsfähigen Blick auf den Tellingstedter Diakonus ein:
»Es redet der Prediger Salomo mancherlei an seinem Orte, dessen man wohl nicht jeglicher Zeit zu gedenken haben mag. So entsinne ich mich wohl, daß er desgleichen spricht: ›Weil nicht bald geschiehet ein Unheil über die bösen Werke, dadurch wird das Herz des Menschen voll, Böses zu tun.‹«
»Gewißlich, denn er sagt zuvor: ›Es gehet dem Menschen wie dem Vieh; wie dies stirbt, so stirbt er auch, und haben alle einerlei Odem, und der Mensch hat nichts mehr, denn das Vieh.› Das mag gleichfalls unter Umständen wohl also sich verhalten, ohne daß ich meiner, wie Ihr sagt, dabei zu gedenken hätte. Aber Ihr schaffet mir große tröstliche Zuversicht durch Eure Belesenheit in der Schrift, Herr Magister, daß Ihr Eure Jünger in Bordesholm zu Säulenpfeilern der Kirche auferhöhen und Posaunen der Gottesgelahrheit von ihren Lippen ertönen lassen werdet.«
Es brachte nichts Erfreuliches ein, sich mit Basilius Becker in einen derartigen Wettstreit der Bibelbelesenheit zu begeben, denn er trug augenscheinlich einen reichlichen Vorrat von Belegstellen derselben im Kopf und die harmlose Art, in der er sie äußerte, ließ die beißende Anzüglichkeit ihres Inhalts nur so unfaßbar heraufschimmern, daß eine Replik darauf sich selbst getroffen hätte und nicht möglich fiel. Doch zweifellos hatte jeder Hörer empfinden müssen, daß seine Antwort die würdigen Bordesholmer Lehrmeister in einen Vergleich sehr mißliebiger Natur gezogen hatte; und ihre Mienen besaßen nicht die Geschicklichkeit, ihr Verständnis seines eigentlichen Meinungsausdruckes zu hehlen. Ein Verstummen und eine Verstimmung der Mehrzahl um den Tisch trat ein. Taktvoll indes verhalf jetzt Paul Fleming zum Hinwegkommen über die entstandene peinliche Schweigsamkeit, indem er sagte:
»Ihr habet mich, hochwürdige und hochwerte Herren, mit wohlwollenden Worten wegen meines Vorhabens getadelt, mich nicht an der Reise ins persianische Land zu beteiligen. Es weiß wohl jeglicher in seiner Brust allein, was ihm als der besonderste Grund zu seinem Handeln Anlaß gibt, und dieser läßt sich nicht so mit Worten für das Ohr anderer kundgeben. Doch verstattet Ihr mir vielleicht als eine Antwort auf eure freundwilligen Mahnungen zu sagen, was ich auf dem Ritte hierher in einem Sonett mir selbst gesprochen –«
Die Tür der Ratsweinstube ward in diesem Augenblick geöffnet, doch nur ein wenig, von einer ungewissen Hand, die sich beim Klang der hellen Stimme des Sprechers wieder zurückzog, so daß nur ein schmaler Spalt zweier Augen draußen Zugang und ihren Ohren ein Zuhören verstattete. Der junge Dichter aber fuhr mit dem Vortrag des von ihm an sich selbst gerichteten Sonettes fort:
»Sei dennoch unverzagt; gib dennoch unverloren!
Weich' keinem Glücke nicht; steh' höher als der Neid!
Vergnüge dich an dir, und acht' es für kein Leid,
Hat sich gleich wider dich Glück, Ort und Zeit verschworen.
Was dich betrübt und labt, halt' Alles für erkoren,
Nimm dein Verhängnis an! Laß Alles unbereut!
Tu', was getan sein muß, und eh' man dir's gebeut;
Was du noch hoffen kannst, das wird noch stets geboren.
Was klagt, was lobt man doch? Sein Unglück und sein Glücke
Ist ihm ein jeder selbst. Schau' alle Sachen an:
Dies Alles ist in dir! Laß deinen wilden Wahn,
Und eh' du fürder gehst, so geh' in dich zurücke!
Wer sein selbst Meister ist und sich beherrschen kann,
Dem ist die weite Welt und Alles untertan.«
»Egregie! Es neiget sich der ältere Anwohner des Berges Parnassus bereitwillig dem jüngeren, den der Gott der schöntönenden Sänger zu sich emporberufen,« äußerte sich der Bürgermeister und poeta laureatus Caesaricus Rudolph Burenäus, und sämtliche Anwesende stimmten mit Worten und Mienen zu. Basilius Becker aber rief: » Recte dixisti, philosophus es:
Vergnüge dich an dir und acht es für kein Leid,
Hat sich gleich wider dich Glück, Ort und Zeit verschworen.
und was sonsten sich noch an Neid und Hochmut hinzufindet! Hab' nur stets fein acht, dann kommt auch deine Zeit, dein Ort und dein Glück!«
Jetzt öffnete die Tür sich wiederum weiter, und über das Gesicht des jungen Hofmeisters Hinrich Weghorst stieg es mit einer plötzlichen Röte auf, daß er sich eilfertig niederbog, um einen Trunk aus seinem Becher zu tun. Ueber die Schwelle nämlich trat unerwartet ein Mägdlein herzu, die Jungfrau Agnete Burenäus, die eine Ausricht an den Vater zu besorgen erhalten. Sie stand etwas befangen in dem fremden Raum vor der Tischrunde der Männer, und auch ihre Stirn wies mehr als sonst eine rote Färbung. Aber es schien doch aus ihren Zügen zu sprechen, daß sie nicht allzu widerstrebend den Schritt vom Nachbarhause her über die Gasse getan; und während sie leisstimmig sich des Auftrags an ihren Vater erledigte, ging der Blick ihrer Augen einmal kurz an dem Angesicht Paul Flemings vorüber. Es war ein liebes junges Mädchenantlitz, das seine unschuldsvolle Seele offen zwischen den langen dunklen Wimpern trug; ihren schlanken Wuchs hob eine kleidsame Tracht, einfach, doch durch ihre Beschaffenheit die Tochter eines wohlvermöglichen Patrizierhauses kundgebend. Verstohlen schlug Hinrich Weghorst die Lider nach ihr auf, und ein leichtes Zittern kam über seine Hand, wie sie seiner ansichtig ward und ihm einmal mit freundlicher Vertraulichkeit zunickte. Auch der Blick des Magisters Basilius Becker blieb, solange sie noch zugegen war, mit einer prüfenden Betrachtnahme auf ihr haften, jedoch, wie es den Anschein hatte, weniger auf der jugendlichen Anmut ihrer Erscheinung, als auf den wertvollen Stoffen der Kleiderhülle, die sie umgab.
Es erforderte etwas noch eine Entscheidung des Stadtoberhauptes und nötigte Herrn Rudolph Burenäus, sich nach Hause zu begeben. Seine Tochter begleitend, verließ er den Ratskeller mit einer Einladung an seinen »jungen Kollegen«, andren Tags die Mittagsmahlzeit in Gesellschaft des Herrn Olearius bei ihm einzunehmen. Doch vom Nikolaiturme schlug es die zehnte Stunde. Man war ehrsam gewöhnt in den Gelehrten- und Bürgerkreisen Kiels, auch der junge Ehrengast von der Reise ermüdet, und so schloß sich alles dem Aufbruch des Bürgermeisters an. Draußen sah der dunkle hohe Kirchturm durch Sternennacht auf den Marktplatz herunter, und der Rektor der Stadtschule Zacharias Möser sprach:
»Ueber ein Kleines wird die Sonne Neues gewahren, daß Häuser hier aus dem Boden emporwachsen, Herr Pastor, und Euer Gotteshaus von dem Markte abscheiden. Möge solche Arbeit dann unter dem Schutze des Höchsten und dem Schutze Eurer Kirche den Lohn gewinnen, den sie verhoffet!«
Darauf antwortete der bereits ziemlich in Jahren aufgerückte Hauptpastor Nicostadius: »Ich mag wohl kaum meine Rechnung mehr dahinstellen, ein Erhebliches davon zu gewahren; aber für Euch, mein lieber Herr Magister, läßt sich solches etwa noch für ein halbes Säkulum verhoffen. Es ist ein Wort der Wahrheit, das Ihr von der Arbeit geredet habet, die hier bevorsteht, und nach ihm will ich morgen Seine fürstlichen Gnaden mit der Bitte angehen, er möge zum Gedächtnis für kommende Geschlechter über den Durchgangsbogen, der vom Markt zum Gotteshause führen wird, den Spruch des Psalmisten in Stein setzen lassen: ›Unser Leben währet siebenzig Jahre, und wenn es hoch kommt, so sind es achtzig Jahre, und wenn es köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen.‹ Und so Ihr dann die Worte einst leset, wo jetzo hier noch die leere Luft uns anwehet, so möget Ihr meiner dabei gedenken, bis daß Ihr mir nachkommet. Es ist mein Wunsch für die Herren, daß ein friedsamer Schlaf sie die Nacht hindurch zu gedeihlichem Werk des morgigen Tages stärke.«
Alle verabschiedeten sich mit ehrbarer Förmlichkeit untereinander, Olearius und Fleming wandten sich der nahen Fischerstraße zu. Basilius Becker gab ihnen dorthin noch das Geleit und sagte unterwegs: »Wollet Euch auch schon in die Daunen verkriechen, Herr Poeta, wie die alten Hähne, denen der Atem zu Krähen ausgeht und nur das Zipperlein noch ein Jammerlied aus den Füßen stöhnt? Ist jetzt eigentlich doch erst die rechte Stunde zu guter Zwiesprach in besserer Gesellschaft, die, wie Ihr und ich, nicht Perücken von fremdem Haar auf dem Kopfe trägt! So Ihr Lust dazu hegt, verhelfe ich Euch zu solcher Erholung, nach der Eure Jugend Begehr tragen muß.« Doch Paul Fleming war sehr von Müdigkeit bewältigt, sprach seinen Dank für das ihm sonst am anderen Tage wohlgefällige Anerbieten und begab sich mit Olearius zur Nachtruhe ins Haus. Dieser fragte nicht weiter; doch empfand er zu seinem Leidwesen in der Stille, daß der Abend ein vergeblicher gewesen und nichts an dem Entschluß seines jungen Freundes verändert habe. Aber er ließ nichts von diesem Fehlschlag seiner Hoffnung bemerken, sondern erwiderte wohlgemut auf die Frage Flemings, in welche Gesellschaft der Magister Becker ihn zu führen beabsichtigt haben möge: das wisse er nicht, doch sicherlich in keine allzu nüchterne und bedachtsame, denn von solchen sei derselbige kein sonderlicher Freund. Man tue klug, ihm nicht in allem gläubig über den Weg zu trauen, doch andrerseits auch, es nicht mit ihm zu verderben, da der Herzog mancherlei Stücke auf ihn halte und man nicht im voraus wissen könne, zu welcher Stellung und Einfluß er es noch zu bringen vermöge.
Diese Aeußerung, wie das eigene Verhalten des Sprechers gegen den Beredeten entsprach dem welterfahrenen Sinne Adam Olearius', der auf dem Flur mit Stahl und Zündschwamm eine Wachskerze entzündet hatte und seinem Gast so besser als bei Tage die Wanderung durch das Labyrinth des Hauses ermöglichte. Basilius Becker dagegen war die Fischerstraße weiter abwärts gegen den Hafen zu gegangen; wo diese vor dem nächtlich verschlossenen »Wassertor« endete, da bog er zur Rechten in die enge, peripherisch fast rund um die Stadt laufende Gasse, hier »Bei der Mauer« benannt, ab, und in eines der lichtlosen alten Häuser derselben trat der Tellingstedter Diakonus, nachdem er einen Blick vorauf und zurück durchs Dunkel geworfen hatte, ein.
*
Am anderen Tage ward Paul Fleming durch Olearius auf dem Schlosse dem Herzog Friedrich vorgestellt, der in seinem Wesen und seiner Kleidung sonder allen höfischen Prunk fast mehr den Eindruck eines Gelehrten als eines Fürsten weckte. Alles, was er sprach, bezeugte, daß sein Denken völlig und ausschließlich von dem großen persischen Plane erfüllt, und ihm höchlichst daran gelegen sei, die Gesandtschaft nach Ispahan aufs glänzendste und zweckdienlichste auszurüsten. Dafür war ihm neben der ärztlichen Tüchtigkeit besonders der literarische Ruf des kaiserlich gekrönten jungen Dichters in hohem Maße willkommen und erwünscht; aber auch ihm fiel es nicht möglich, durch Vorstellungen und reiche Verheißungen den Widerstand und die Abneigung Flemings gegen den Zug in die Fremde zu besiegen. Der Herzog barg seine Verstimmung über dies fruchtlose Ergebnis der Zusammenkunft nicht; er forderte unter vier Augen von Olearius, daß dieser jedenfalls ein Mittel für die Erreichung seines Wunsches ausfindig mache, und entließ in solcher Erwartung den Unwillfährigen unter der auszeichnenden Verleihung des Ranges und Titels eines »Hofjunkers« halb in Gnaden, halb in Ungnaden aus dem Schlosse.
Doch auch die kommenden Tage versahen Adam Olearius nicht mit einem wirksamen Beistand, eher noch drohte seinem Bemühen ein neuer Gegner oder vielmehr eine Gegnerin zu erwachsen. Fleming fand gleiches Gefallen dran, täglich im Hause des Bürgermeisters Burenäus vorzukehren, wie er von diesem mit Zuvorkommenheit und Auszeichnung aufgenommen wurde, und es fiel unschwer, zu empfinden, daß Agnete Burenäus wesentlich dazu beitrage, die Anziehungskraft des gastlichen Hauses auf ihn zu verstärken. Er hatte in den letzten Jahren wenig weiblichen Umgang genossen, zumal nicht mit Frauen, die ihm Anteilnahme und Verständnis für seine Dichtungen entgegen gebracht hätten. Dies aber fand hier in einem ihm kaum noch bekannt gewordenen Maße statt; der Bürgermeister fühlte sich vielleicht dazu hauptsächlich um seines eigenen Lorbeerkranzes willen verpflichtet, doch bei seiner Tochter kam es unfraglich aus innerstem Gemüt. Agnete hatte ihre Mutter ziemlich früh durch den Tod verloren und stand schon seit mehr als einem Jahre dem beträchtlichen Hauswesen vor. Die Umsicht und Verständigkeit, mit der sie darin ordnete und schaltete, konnte sie wie eine junge Frau erscheinen lassen, und wenn man sie so gewahrte, vermutete man nicht, in der tüchtig-bedachtsamen Hausverwalterin während der Mußestunden in der Wohnstube eine innige Anhängerin der Dichtkunst und zugleich ein jungfräulich, fast noch kindlich schüchtern-befangenes Mädchen zu finden. Jene geistige Richtung war ihr wohl unvermerkt aus dem täglichen Beisammensein mit dem Hofmeister ihrer Brüder, Hinrich Weghorst gekommen, der bei aller trockenen Berufserfüllung als innerste Empfindung die gleiche poetische Auffassung des Lebens und der Natur in sich trug. Gegen ihn verhielt sie sich auch nicht mädchenhaft ungewiß, sondern vertraulich, gleichwie gegen einen älteren Bruder, obzwar sie schon seit geraumer Zeit wohl dann und wann aus angeborenem weiblichem Gefühl Erkenntnis schöpfen mochte, daß sein Herz sie nicht mit brüderlichen Augen betrachte. Und ebenso empfand gar bald jetzt seine geheime Liebe für sie, daß sich zwischen ihren Lidern ein anderer Glanz als sonst rege, wenn sie den Schritt Paul Flemings auf der Treppe vernehme. Das zeugte wohl einen Schmerz in dem Herzen des Beobachters, doch keinen Neid und Haß gegen den Bevorzugten, dem dieses stille Leuchten der Augen galt. Es war ja selbstverständlich, daß der apollinisch schöne, weitgepriesene junge Dichter anderes in einer Mädchenbrust erweckte, als der geringfügige Hauspräzeptor; und Hinrich Weghorst war im Schatten des Lebens aufgewachsen, begehrte nichts für sich selbst, sondern einzig das Lebensglück Agnetes. Eifersuchtslos nahm seine Liebe und Verehrung für Paul Fleming von Tag zu Tage zu.
Dieser aber, obwohl er in seinen Liedern als ein Herzenskündiger für viele andere sprach, nahm von dem schweigsam freudigen Blick Agnetes nichts gewahr, oder es gebrach ihm vielmehr an der richtigen Deutung desselben, da er nicht die gleiche Empfindung in sich trug, aus der die Augen des Mädchens ihren stillen Glanz gewannen. Er glaubte, daß nur eine verwandte Seelenstimmung und gemeinsame Hingabe an Schönheit des Denkens und Dichtung sie rasch freundlich einander genähert habe; etwas Heimatliches überkam ihn im Hause aus ihrem Gruß, dem Verweilen bei ihr, ein ihm in seinem Vaterhause fremd gebliebenes Gefühl geschwisterlicher Vertraulichkeit. In der Stadt dagegen redete man nach Brauch der Leute bald anderes, sah in dem täglichen Aufenthalt Flemings im Burenäusschen Hause den Hauptbeweggrund, der ihn von der Teilnahme an der Reise nach Persien zurückhalte, und auch zu den Ohren Olearius' und des Herzogs gelangte dies Gerücht, so daß sie in Agnete Burenäus ein neu hinzugekommenes und vielleicht das wesentlichste Hindernis ihrer Bestrebungen sehen mußten. Erklärte sich daraus doch auch das Verbleiben des jungen Dichters in Kiel, obgleich er wie am ersten Tage auf seiner Weigerung bestand und sich von allen Zurüstungen der zur Abfahrt beinahe bereiten Gesandtschaft fern hielt.
Adam Olearius fiel es zwar nicht möglich, zu begreifen, wie ein ungelehrtes Weib, fast noch im Kindesalter stehend, solcherlei Einwirkung auf einen hochbedeutsamen Mann ausüben könne, daß er um ihretwillen die unschätzbare Bereicherung seiner Kenntnisse durch eine Reise in fremde Länder als gering erachte. Aber da ihm wiederholt versichert ward, er verhalte sich derartig, so konnte er sich der Vermehrung seines eigenen Wissens durch diese betrübende Erkenntnis der Schwäche menschlicher Natur auch bei einem geistig Höchstgestellten nicht wohl entziehen.
Dann begab sich einmal bald nach der Mittagsstunde ein vielköpfiger Wanderzug aus dem »Dänischen Tor« über die vor diesem befindliche Brücke des Wasserarmes, der, das Becken des »Lütjenkiel« auch an der Nordseite noch mit dem Hafen verbindend, die Stadt und auch das Schloß von dem jenseits belegenen Garten abtrennte. An der Spitze schritt an einem langen Stabe der Herzog Friedrich, für heute in reiche Adelstracht mit schwer von Federn überwalltem Hute und vielfarbigen Gewandstücken gekleidet; neben und hinter ihm scharten sich die erkorenen Mitglieder der persischen Gesandtschaft, zuvörderst der ihr als oberster Leiter bestimmte fürstliche Rat Otto Brüggemann, welcher ursprünglich dem Herzog den ersten Gedanken für seinen großen Plan angeregt und dadurch die besondere Gunst desselben erworben hatte; eine ziemlich hochfahrend unter sich blickende, nicht sonderlich Zuneigung einflößende Persönlichkeit.
Doch auch sonst noch manche vom Adel und eine erhebliche Anzahl der angesehensten Bürger Kiels hatten sich zusamt Frauen und Töchtern dem Zuge angeschlossen, der sich dem Orte zuwandte, wo am Hafen der Ausgangspunkt des Kanals zwischen Ost- und Nordsee vom Herzog festgesetzt worden war. Das nah vor dem Stadttor beginnende Dorf Brunswyk zur Linken lassend, schritten die Fußwanderer durch den baumreichen Schloßgarten und auf ländlich übelgehaltenem Wege durch Wiesenniederung weiter bis zum »düstern Brook«, dessen alte hohe Buchenwipfel sich in den ersten Herbstschimmer zu kleiden anfingen. Doch verstattete er mit seinen Hügeln und Einsenkungen keinen Durchgang, sondern nötigte zum Abbiegen an den Strand hinunter und zur Fortsetzung des Wegs durch den lockeren Ufersand mit angeschwemmtem Gestein und Muschelgekies. Das Vorwärtskommen erforderte hier etwas Mühaufwand, aber dafür war es desto lieblicher, in der hellen linden Septembersonne zu gehen. Leiser Windzug kam weich mit den kleinen heranmurmelnden Wellen aus Osten, die weite Wasserfläche dehnte sich blau und goldig schimmernd zu den grünbewaldeten Abhängen der anderen Hafenseite, und überall glitzerten die Strahlen auf flimmernden Pünktchen, weißen Kieseln und Schalen, die das Meer in den Sand hineingestreut hatte. Von dem eigentlich Poetischen in allem dem mochten nur wenige der wohl hundertköpfigen Gesellschaft angerührt werden, aber mehr oder minder regte sich doch in den meisten ein Gefühl der Annehmlichkeit, aus den engen dunklen und dumpfen Stadtgassen hierher in Luft, Licht und weite Umschau versetzt zu sein; und wo die Nachfolgenden sich außer Hörweite des Herzogs und seiner ernstperrückten und ernstredenden Begleiter fanden, da scholl besonders vom Munde der jungen Mädchen fröhlicher Zuruf, Scherz und Lachen über die lispelnd singenden Wellen hin.
Auch Agnete Burenäus befand sich unter den Nachzüglern, und neben ihr schritt geraume Zeitlang Paul Fleming. Sie schwieg zumeist und hörte nur auf das, was er sprach; doch wenn sie einmal mit halblauter Stimme etwas erwiderte, so klang daraus die Vollempfindung der Köstlichkeit um sie her, und in ihren Augen, die über die spiegelnde Hafenruhe an den blauen offnen Seerand hinausschweiften, lag ebenso der Glanz eines wonnigen Traumes. Eine große weißbrüstige Möwe schwebte mit langsam klafterndem Flügelschlage über dem Wassersaum neben den beiden, als gäbe sie ihnen das Geleit; dann fiel einmal eine blaßblaue Feder aus ihrer Schwinge, tanzte ein wenig durch die Luft und glitt vor dem Fuße Flemings in den Sand. Er hob das zierliche Gefiederstückchen auf und sagte lächelnd: »Sie hat selbige wohl für Euch zum Angebinde bestimmt, Jungfrau Agnete, nicht für mich; denn solch zarter Schmuck steht einem Mägdlein mehr an, als einem Manne. Wollet Ihr sie?«
Agnete streckte rasch die Hand nach der Feder, und kurz ging ein freudiger Aufblick ihrer Augen wie zum Danke an den seinigen vorüber. Doch nun sprach eine Stimme dicht hinter ihnen: »Solltet den Federkiel als eine Gabe des Sonnengottes für Euch behalten, Herr Poeta, ihm unsterblichen Ruhm zu leihen, daß Ihr damit Eure Gesänge zum Preise des Morgenlandes niederschriebet.«
Der so Redende war der Magister Basilius Becker, welcher schon ein Weilchen nah im Rücken der beiden gegangen, ohne daß sie im losen Sande seinen Fußtritt vernommen. Er sah besser gekleidet aus, als bei der Ankunft Flemings, denn er hatte aus eigener Augenscheinnahme von dem unfern der unteren Eider belegenen Tellingstadt aus mancherlei klug erwogenen Ratschläge für die Gründung der Stadt Friedrichsstadt dem Herzog ausgesprochen und war von diesem dafür mit schicklicher Gewandung bedacht worden. Solche Mitteilungen mochten den Zweck seiner gegenwärtigen Anwesenheit in Kiel gebildet haben; was er hinterbrachte, erwies sich in der Tat als beachtenswert nutzbar, und er stand sichtlich auf dem Schlosse in Gunst.
Agnete begab sich jetzt in bescheidener, schicklicher Weise von den beiden Männern zu einigen unweit vor ihr gehenden Freundinnen hinüber, doch barg sie zuvor unvermerkt die weiche Möwenfeder unter dem breiten Spitzenumschlag über dem modisch zu einem kleinen Stückchen nach abwärts vom Halse entblößten Oberteil ihrer Brust. Paul Fleming aber erwiderte auf die schmeichelhafte Ansprache des neben ihm fortschreitenden Diaconus:
»Es möchte alsdann, Herr Magister, die Feder wohl für immerdar ohne alle Nutzbarkeit verblieben sein, wenn sie nur in solcherlei Absicht aus den Lüften heruntergekommen wäre.«
»Habet, wie es darnach bedäucht, Euren Entschluß noch nicht gewandelt,« entgegnete Basilius Becker, »und solltet doch als ein Philosophus die dargebotene Hand des Lebens erfassen, wie die einer schönen Frau, welche Euch zufällig anlächelt, zum Reigen. Carpe diem, redet ein Weisheitsspruch, mors cito ruit, und welche Frucht wir pflücken gekonnt und sie nicht genossen, dessen überkommt uns die Reue zu spät, wenn das Alter uns bresthaft macht oder der Tod uns vorzeitig auf seine Bahre hinstreckt. Ich habe, da ich vom Schwabenlande hierher entfliehen mußte, die Landsknechte einen Reim singen hören, der, ob er auf der Gasse klang, wohl eine Mahnung auch für den Verständigen kundtat, denn es lautete der Vers:
›Ich lebe, weiß nicht wie lang,
Ich sterbe, weiß nicht wann,
Ich fahre, weiß nicht wohin –
Mich wundert's, daß ich noch so fröhlich bin!‹
Das, will mich bedünken, ist aller Lebensweisheit Alpha und Omega, des Tages, der heut ist, fröhlich zu sein und das Kleid der Fortuna nicht aus der Hand entschlüpfen zu lassen, wo man sie daran zu haschen und halten vermag. Es stehet viel Torheit geschrieben, die gläubig von den Menschen als Wahrheit verehrt wird, doch es finden sich auch Körner lehrreichen Inhaltes unter der Spreu, die der Wind vom Morgenland her seit Jahrhunderten bei uns auf der Tenne umbläst. Und mit gering anderen Worten nur, als das Verslein der Landsknechte, redet schon der Vater zu seinem Sohne, der uns die Lehrsprüche Salomonis übermacht hat: ›Nimm an Weisheit, nimm an Verstand und weiche nicht von der Rede meines Mundes. Verlaß sie nicht, so wird sie dich behalten; liebe sie, so wird sie dich behüten. Denn der Weisheit Anfang ist, wenn man sie gerne höret, und die Klugheit lieber hat, als alle Güter. Achte sie hoch, so wird sie dich erhöhen und wird dich zu Ehren machen; sie wird dein Haupt schön schmücken und wird dich zieren mit einer hübschen Krone. Ich will dich den Weg der Weisheit führen, ich will dich auf rechter Bahn leiten.‹ Also spricht schon, der zu Jerusalem am Verständigsten sein Leben zu führen und zu genießen gewußt; und wenn ich die zierende Krone, von der er redet, mir für Euch deute, Herr Fleming, so bestehet sie aus gar vielen neuen, unverwelkbaren Lorbeerblättern, mit denen die Reise gen Ispahan Euer jugendliches Haupt schmücken wird.«
Die Redeweise Basilius Beckers trug den Charakter einer eigenen pastoralen und profan-philosophischen Mischung. Er zeigte stets, daß er, seinem Stande gemäß, außerordentlich in der biblischen Schrift bewandert sei, doch seine Berufung auf dieselbe zog gemeiniglich völlig andere Sprüche an, als sie sonst aus dem Munde eines Geistlichen hervorzugehen pflegten. Merkbar aber war ihm daran gelegen und setzte er sein Bemühen fort, den jungen Dichter in seinem Vorsatz wankend zu machen und zur Beteiligung an der Gesandtschaft zu bereden. Um einige Zeit später ergab sich, daß er damit nach einem ihm vom Herzog erteilten Auftrage gehandelt hatte, denn derselbe berief ihn durch einen Wink an seine Seite und befragte ihn, welchen Erfolg er bei Fleming erzielt habe. Herzog Friedrich war ein sehr willensstarker Herr, der sich seine einmal gefaßten Pläne auch in nebensächlichen Dingen nicht durchkreuzen ließ, und sichtlich verdrossen hörte er auf den Bericht, daß die Anstrengungen des Magisters keine Aenderung zu bewirken vermocht hätten. Doch setzte Basilius Becker hinzu, er gebe die Hoffnung keineswegs auf, wenn der Herzog ihm seine Beihülfe leihe; und ein Weilchen leiser mit diesem fortredend, zeigte er durch freilich kaum wahrnehmbar zu Tage tretende Befriedigung seiner Miene, daß er ebensowohl mit Erfolg in seinem eigenen Interesse tätig gewesen sei, wie in dem des Fürsten.
Sie waren am Strand entlang unter dem Dorf Wyk hin um die Ausbuchtung bis zu der Stelle vorgeschritten, wo das von Westen kommende Flüßchen Levensau in den Hafen einmündete und hier durch seinen kurzen Lauf die Grenze zwischen den Herzogtümern Holstein und Schleswig bildete. Dies war der Platz, welchen der Herzog für den Beginn seines Kanals in Aussicht genommen; alle mit ihm hierher Gewanderten schlossen nunmehr einen Kreis um ihn, und er erläuterte den Zuhörern in eingehender, sachkundiger Auseinandersetzung den Verlauf der zukünftigen Wasserstraße, sowie alle seine sich daran knüpfenden bedeutungsvollen Pläne. Besonders hatte es in seiner Absicht gelegen, die Gesandtschaft vor ihrem Fortgang genau noch über die örtlichen Verhältnisse zu unterrichten, doch auch vor den Kieler Ratsmitgliedern und Zugehörigen des Gelehrtenstandes den Aufschwung zu entwickeln, zu welchem Stadt und Land durch das gewaltige Unternehmen gelangen würden, und sie zu möglichster Förderung desselben, wie es in ihren gemeinsamen Kräften und in denen jedes Einzelnen stehe, zu veranlassen. Nachdem der Herzog so länger als eine Stunde trefflich und überzeugend gesprochen, brach er zum Rückzug auf und entbot den Bürgermeister Burenäus an seine Seite, um, wie man annahm, mit ihm eine Ratschlagung über den Bau der persianischen Lagerhäuser zu führen.
Der Heimgang gesellte Paul Fleming und Agnete wiederum eine Zeit nebeneinander, jedoch nicht aus Zufälligkeit oder einem Bemühen des jungen Mannes, sondern merkbar hatte sich ein Trachten des Mädchens darauf gerichtet. Sie trug Unruhe in sich über das Ergebnis der Zwiesprache, die der Magister Becker zuvor mit dem jungen Dichter gepflogen, und obwohl sie keine Aeußerung darüber vom Munde kommen lassen wollte, konnte sie sich doch nicht bezwingen, daß ihr einmal die Frage entfuhr: »Nicht wahr, Ihr gehet morgen nicht mit den Gesandten fort?« Mehr aber noch als die Worte redete der Blickaufschlag, der dieselben begleitete, von einer Furchtbedrückung ihres Herzens, und das Ohr wie die Augen des Hörers hätten gleicherweise für ihre Dienste unbrauchbar sein müssen, wenn sie ihm jetzt nicht ein Verständnis des Gefühls offenbart hätten, aus dem die Frage Agnetes heraufdrang. Diese plötzliche Aufhellung rührte ihn mit einer schreckhaften und schmerzlichen Empfindung an; allein ehe er sich zu sammeln vermochte, wie er darauf entgegnen wolle und solle, ertönte die Stimme des Bürgermeisters hinter ihnen, der eine Unterredung mit seiner Tochter zu halten begehrte. Er zog sie abseits von den Uebrigen, dichter unter den steil abfallenden Uferrand des düstern Brooks und eröffnete ihr, der Magister Basilius Becker habe um ihre Hand angehalten und der Herzog soeben diese Werbung bei dem Ueberbringer derselben durchaus befürwortet. Fraglos befinde sich der Freier sehr bei Seiner Gnaden in Gunst und besitze durch diese für die Zukunft Anwartschaft auf eine bevorzugte einträgliche Stellung. Burenäus ließ durchfühlen, daß ihm die Einwilligung seiner Tochter, schon aus Rücksicht auf die fürstliche Unterstützung des Antrags, nicht unliebsam sein werde.
Agnete hatte sich jedoch blaß verfärbt und antwortete, als ihr Vater innehielt, nur kurz, daß sie den Herrn Magister kaum kenne, nicht Zuneigung für ihn in sich hege und niemals seine Frau zu werden vermöge. Das sprach sie schnell, mit einer Entschiedenheit, welche alles Weitere als fruchtlos ausschloß, fügte die dringliche Bitte nach, ihr Vater möge sich sogleich zu Becker begeben und diesem erwidern, daß sie ihm kein Gehör zu schenken imstande sei, so daß er ein für allemal von seiner aussichtslosen Werbung abstehen solle. Auch Burenäus erkannte daraus die Unabänderlichkeit dieser Abneigung und das Nutzlose weiterer Zurede, entgegnete nichts mehr, sondern verließ seine Tochter, um den Magister aufzusuchen und ihm den Bescheid zu hinterbringen. Derselbe kam Basilius Becker sichtlich nicht eben unerwartet: er antwortete gelassen mit einem Verse aus dem Hohen Liede Salomos: »Wie eine Rose unter den Dornen ist meine Freundin unter den Töchtern. Aber es gefällt ihr jetzo noch, mir den Duft ihres Kelches zu versagen und den Dorn gegen mich zu wenden, um mich mit ihm zu ritzen. Nun, es mildert vielleicht die Zeit solche jungfräuliche Herbigkeit, daß ich wieder ausgehen mag in den Weinberg und demnach mit dem König Salomo reden: ›Du hast mir das Herz genommen, meine Schwester, liebe Braut; meine Freundin ist mein, und sie hält sich auch zu mir. Denn Liebe ist stark, wie der Tod, und Eifer ist fest, wie die Hölle.‹«
Man war bis in den Schloßgarten zurückgekommen. Agnete schien danach zu trachten, noch einmal an die Seite Flemings zu gelangen; aber er ging im Gespräch mit Adam Olearius, und die Beobachtung der Schicklichkeit verstattete es ihr hier, wo die Stadt wieder begann, nicht, sich von den Frauen zu trennen und zu den beiden Herren zu gesellen. Nur als sie an der Ecke der Dänischen Straße nach ihren Wohnungen auseinanderschieden, suchten ihre Augen noch einmal aus einiger Entfernung nach ihm hinüber. Ihr Blick sprach stumm die Frage, die Erwartung aus, daß er, ehe der Tag vergehe, noch zu ihr komme, aber ihr Gesicht bedünkte ihn beinahe fremd. Es trug seit der Unterredung mit ihrem Vater die Anzeichen einer heftigen innerlichen Erregung, nur war es jetzt nicht mehr bleich, sondern von einer dunkelroten Färbung überflossen. Damit sahen ihre Augen ihn zwar nur kurz, doch ohne ihre sonstige Befangenheit, wie zuversichtliche Abrede mit ihm nehmend, an; dann wandte sie sich und ging im Geleit der Uebrigen die Dänische Straße hinab, während er unter dem Schloß hin durch die Burgstraße mit Glearius seiner Behausung zuschritt.
*
Der Tag begann sich allgemach gegen sein Ende zu neigen, und die Abendsonne vergoldete die Baumwipfel hinter dem Hause, als die beiden Freunde in die Studierstube des Adam Olearius eintraten. Hier stellte dieser noch einen letzten Versuch an, Fleming zur Anteilnahme an der für den nächsten Tag festgesetzten Reise zu bewegen, doch gab die Miene des im Zimmer zuhörend hin und wieder Schreitenden keinerlei Hoffnung auf Erfolg. Man las in ihr, daß er innerlich dieser so oft von verschiedenen Seiten wiedergekehrten Bemühungen, ihn umzustimmen, überdrüssig sei und nur aus Achtung vor dem älteren Freunde die Vorhaltungen desselben nicht unterbreche. Ab und zu blieb er betrachtend vor einigen an der Wand befindlichen Kupferstichen Albrecht Dürers und Martin Schongauers stehen; allein die Ungeduld wuchs erkennbar in seinem Gesichtsausdruck an, und er suchte augenscheinlich nach einem Anlaß umher, ein Gespräch über einen anderen Gegenstand beginnen zu können. Dann verhalf ihm in eigentümlicher Weise die Sonne dazu. Sie fiel nicht selbst in die nach Norden hinaussehende Stube herein, doch auf eine dicke, grüne Butzenscheibe der Dachkammer eines rechts hinüber belegenen Hauses, und von dorther wurden die gesammelten Strahlen durch eines der Fenster ins Zimmer zurückgeworfen und in eine dunkle Ecke, die sonst auch im hellsten Tageslichte stets nur undeutlich überdämmert blieb. Jetzt aber spielte in diesem Winkel ein goldenes Geringel über etwas Farbiges hin, das dadurch zum ersten Mal in den Blick Paul Flemings geriet; er trat darauf zu und erkannte ein kleines Pastellbild, das ein etwa sechzehnjähriges Mädchen mit dunkelbraun von den schmalen Schläfen herabfallendem Gelock und lichtblauem Kleide darstellte. Die Entdeckung kam ihm als das Erwünschte, um von dem Thema des Freundes ablenken zu können, und er fragte: »Wer ist denn dies Blaumeischen hier, und wie kommt es zu Dir in den dunklen Käfig?«
Olearius warf einen gleichgültigen Blick hinüber und versetzte: »Es stellet die Jungfer Elsabe Niehusen, Tochter eines Kaufherrn in Reval, vor. Der Vater führte sein Leben zu früheren Zeiten eine Weile hier in der Stadt und war mir befreundet, daß ich das Mägdelein wohl als Kindchen auf den Knieen geschaukelt. So hat er, da ein Maler ihr Conterfei gebildet, mir dasselbe im Sommer zum Angedenken daran herübergesendet, obzwar ich nicht sonderlich begriffen, zu welchem Behufe solches Bildnis bei mir eine Unterkunft gesucht.«
Ein lächelnder Zug ging um den Mund des jungen Dichters, wie er erwiderte: »Das nimmt man wohl an dem Staubwinkel gewahr, in welchem du es dir und dem Himmelslicht aus den Augen gerückt hast. Hätte die Sonne sich nicht mit klugem Bedacht einer Beihülfe bedient, so würde sie es sich, wie mir ingleichen, niemalen zur Schau gebracht haben. Mich bedünkt, das Bildnis siehet aus, als müsse es auch im Leben ebenso erscheinen und der Kunst des Malers ein getreuliches Zeugnis ausstellen.«
»Das mag ihm wohl etwelchen Wert leihen,« entgegnete Adam Olearius kurz in merklicher Absicht, einer so bedeutungslosen Sache, wie einem weiblichen Portraitbilde, nicht längere Beachtung zuzuwenden, »denn ich entsinne mich, es beim Erblicken meiner Erinnerung von dem Kinde ähnlich befunden zu haben.« Doch er gelangte nicht zu der beabsichtigten Wiederaufnahme seiner flüchtig unterbrochenen Vorstellungen, da ein Bote vom Herzog an der Tür pochte, um ihn sofort zu einer wichtigen Beratung aufs Schloß zu bescheiden. So folgte er eilfertig schon in der nächsten Minute dem fürstlichen Geheiß, und Paul Fleming blieb allein in der Stube zurück.
Er schritt wiederum einige Mal auf und nieder, dann hielt er abermals an der Stelle an, wo er zuletzt gestanden. Der Sonnenrückglanz schien sich nicht von dem Pastellbildchen in der Ecke trennen zu können, sondern warf noch immer sein Goldgeringel drüber hin. Täuschend ward dadurch der Eindruck erzeugt, als komme Leben in das kleine Bildnis, wie wenn die Brust unter dem blauen Kleide sich, leis atmend, hebe und senke, die leichte Gestalt sich zu anmutsvoller Beweglichkeit regen wolle. Und das Licht, das gerade in die hellen Augen hinein spielte, füllte diese mit einem sternhaften Glanz, ließ sie gleich einer leibhaftigen Wirklichkeit unter den feinen, dunklen Brauenbogen hervorleuchten. Unwillkürlich nickte der junge Beschauer dem Bilde zu und sprach laut: »Elsabe.« Und dann fügte er nach: »Ja, man schaut es, so mußt du in Wahrheit auf der Erde vorhanden sein.« Er lächelte und verbesserte: »Verzeihet, Jungfrau, ich meinte, daß Ihr wirklich in der Stadt Reval heute so zu den Lebendigen gehört.«
Es blieb ein kurzes Weilchen still in dem Zimmer, dann wiederholte die Stimme Paul Flemings noch einmal: »In der Stadt Reval!« Doch zugleich wich nun das Strahlengeflimmer aus dem Winkel ab, und graues Schattengespinnst trat an die Stelle, das Gesicht Elsabe Niehusens beinahe wie mit einem Drüberstreichen auslöschend. Den jungen Dichter überlief es aus der plötzlichen Veränderung vor seinem Blick mit einem Schauer; es hatte etwas davon gehabt, als ob Nacht und Tod die Hand jählings nach dem lieblichen Mädchenantlitz gestreckt hätten, und fast ohne zu wissen, was er tue, ergriff Fleming hastig das Bild, hob es vom Nagel und trat damit ans Fenster. Da kehrte Licht und Leben in die Züge zurück; wenn die Sonne sie auch nicht mehr vergoldete, schauten sie doch durch die leis beginnende Dämmerung wie ein blütenholder, leuchtender Frühlingsmorgen auf. Und nun blieben sie so, das grau sich verdichtende Zwielicht besaß keine Macht mehr über sie. Der einsame Inhaber der Stube hatte sich gesetzt und hielt das Bild betrachtend auf seinen Knieen. Vor dem wirklichen Blick schwand es ihm wiederum hin, aber er merkte es nicht; denn vor der geistigen Sehkraft stand es ihm unverwandt, sah ihm mit jedem Zug des Antlitzes und den sternhellen Augen aus dem mählichen Nachteinbruch, dann aus tiefstem Dunkel entgegen. Ihm kam einmal die Erinnerung, daß Agnete Burenäus heute noch sein Hinüberkommen erwarte, und ihr fremdartig erregter Gesichtsausdruck, wie er diesen zuletzt gewahrt, trat ihm ins Gedächtnis. Zugleich auch das erst am Nachmittag von ihm in ihrem Innern Erkannte, dem er nichts anderes, als die Freundschaft einer brüderlichen Zuneigung entgegenbrachte. Der Gedanke daran festigte ihm rasch den Entschluß, heut' nicht mehr zu ihr zu gehen. Ihm war's, als ob bei der stummen Trennung etwas Leidenschaftliches im Grunde ihrer Augen aufgeflackert sei, das sie zu einem besinnungslosen Tun fortreißen könne, und ihn faßte bei solcher Vorstellung jetzt noch stärker ein Schreck an, als bei seiner nachmittägigen Erkenntnis ihrer Liebe für ihn. Doch da drängte sich auch schon wieder das unsichtbar gewordene, immer noch von seiner Hand gehaltene Bild über Agnete Burenäus hin, und diese losch wesenlos darunter aus. Vor seiner lebhaften Dichterphantasie stieg eine alte, vielgetürmte und umzinnte Stadt am Meer empor – das war Reval; und durch eine Straße mit hohen, gestuften Giebelhäusern kam, noch klein und fern, im Sonnenglanz eine lichtblaue Gestalt daher. Aber sie ward größer und deutlicher, nahm nun die Züge von Elsabe Niehusen an, genau, wie der zarte Pastellstift des Malers sie wiedergegeben.
Vom Nicolaiturm her schlug es die achte und die neunte Abendstunde, ohne daß Paul Fleming des Fortschrittes der Zeit gedenk ward. Er wartete auf Olearius' Rückkunft; doch die Ratschlagung auf dem Schlosse zog sich offenbar weit in die Länge, und jener stellte sich immer noch nicht wieder ein. Dann indes fuhr der im lichtlosen Dunkel Träumende einmal zusammen, denn draußen tönte ein Schritt, und die Tür ward geöffnet. Allein nicht Adam Olearius trat ein, sondern die Hausmagd, welche einen Boten mit Licht geleitete. Dieser überbrachte einen Brief von namenloser Hand an Fleming, des Inhalts, wenn dieser etwa doch noch zu bestimmen sein möge, sich morgen mit auf das Schiff zur Fahrt nach Reval zu begeben, so sei man bereit, ihm dafür als Lohn das Schönste zu verheißen und zu gewähren, wonach er nur trachten könne. Aber die Zeit dränge sehr zur Eile, und er möge alsdann sogleich dem Boten nachfolgen, der ihn dorthin führen werde, wo man seiner zu der Beredung harre.
Dem Lesenden warf ein plötzlicher Pulsschlag das Blut ins Gesicht. Wie seltsam sah ihn von dem Blatt an, was er selbst noch nicht gedacht, oder wovon er nicht gewußt, daß es sich in ihm zu einem Gedanken, einem Wunsch und Wollen gebildet! Doch in diesem Augenblick standen sie klar, alles in seinem Innern ausgereift, vor seiner Erkenntnis; er erwiderte dem Ueberbringer des Briefes sonder Bedenken hastig: »Weiset mir den Weg, ich gehe mit Euch!« Nachdem er sodann das Pastellbild behutsam in den Winkel zurückgehängt hatte, verließ er sogleich das Haus. In seinem Kopfe drängte es sich zu sehr, als daß er eine Frage an den Führer richtete, wohin dieser ihn geleite; sie schritten durch die bereits nachtruhig liegende Fischerstraße bis gegen das Wassertor abwärts, dann bog sein Begleiter zur Rechten in die enge Gasse »Bei der Mauer« ein. Hier hieß er Fleming in ein Haus eintreten, über dessen völlig finstern Flur er denselben an eine Zimmertür brachte. Als diese geöffnet worden, sah der Ankömmling sich in einer wenig geräumigen und niedrigen, doch nicht unbehaglich ausgestatteten, mäßig von zwei kleinen, mit Wallratöl getränkten Lampen erhellten Stube. Der Führer bat Fleming, sich hier niederzulassen, einen Augenblick in Geduld zu verziehen, und begab sich fort.
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Agnete Burenäus war, nachdem sie zu Hause eingetroffen war, aus einer, ihrer Natur bisher unbekannt gewesenen Gemütserregung nicht zur Ruhe gelangt. Woher dieselbe so über sie geraten, das wußte sie selbst kaum: daß der Magister Becker um ihre Hand geworben und sie seinen Antrag abschlägig beschieden hatte, konnte doch eigentlich keine Begründung dafür enthalten. Sie fühlte auch, es sei nur zu etwas anderem, schon in ihr vorhanden Gewesenem hinzugekommen, einer Unruhe, die sich ihrer bemächtigt gehabt, daß es ihr nicht möglich gefallen, sich dagegen zu erwehren. Um sie schwebte und in ihr lag's mit einer Ahnung, als stehe ihr ein großes Glück oder ein großes Unglück bevor, und sie saß allein in der Stube und horchte mit fiebernder Spannung auf irgendeine Stimme, die künden werde, was ihr bestimmt sei. So lautlos lag das Haus um sie, ihr Vater war noch zu einer abendlichen Ratssitzung gegangen, und ihre Brüder befanden sich mit Hinrich Weghorst in der Unterrichtskammer im oberen Stockwerk; die Dämmerung, das Dunkel kamen und fielen nächtig über ihr unstätes Bangen. Sie wollte ihre Gedanken ableiten, im Hause schaffen – aber wieder auch gebrach ihr die Kraft zum Entschluß, aufzustehen; sie mußte regungslos auf das Kommende warten. Das aber lag in der Antwort auf die Frage, ob Paul Fleming heut noch zu ihr kommen werde oder nicht. Denn auf ihn wartete sie, und durch die dunkle Stille hörte sie das Klopfen ihres Herzens. Es schlug ihr in ängstlicher Hast, er gehe doch vielleicht morgen mit dem Schiffe fort, und sie sehe ihn nur noch, wenn er zu kurzer Abschiednahme in der Frühe zu ihnen vorkehre. Sie wußte, er habe am Nachmittag in ihren Augen, ihrem Herzen gelesen und nachher die Aufforderung in ihrem letzten Blick verstehen müssen. Aus dieser Erinnerung kam es jetzt mit brennender Scham über ihre Wangen. Sie hatte ja nicht anders, als durch die Augen mit ihm reden können, und doch hätte sie dies sonst auch nicht vermocht, wenn nicht die Erregung durch die Brautwerbung des Magisters so heftig in ihr gewesen wäre. Aber dunkel empfand sie, in jenem Blick habe etwas nicht mit rechter Besinnung Vereintes gelegen, das der Angeschaute vielleicht fälschlich, gar als die mädchenhafte Sittsamkeit verletzend deuten gekonnt. Kam er etwa deshalb nicht? Ein Zittern befiel sie mit dem Vorschreiten der Nacht, und ihre Augen wurden feucht. Wie konnte sie ihm den falschen Glauben wieder benehmen, an dem sie durch ein unglückliches Zusammentreffen wohl Schuld trug und der ihr doch so bitterliches Unrecht antat? Denn auch die ärgste Neiderin hätte ihr bezeugt, ein unsittiger Gedanke habe noch nie die Seele Agnetes Burenäus berührt und könnte auch keinen Herzschlag lang eine Wohnstatt darin finden.
Da tönte auf dem Flur eine Stimme, die nach der Jungfer Agnete fragte, und diese flog mit einem halb freudigen, halb schreckhaften Zusammenfahren auf und hinaus. Ein Mädchen stand draußen, das einen kleinen Briefzettel für sie in der Hand trug, und beim Scheine des Küchenlichtes las die Empfängerin ein Paar auf dem Blättchen geschriebene Zeilen:
»Wenn Jungfrau Agnete die Erfahrung gewinnen will, daß ihr Herz Liebe für Jemanden in sich bewahrt, der solcher nicht würdig ist, vielmehr sie in den Armen einer Andern verlachet, so möge sie der Ueberbringerin dieser Botschaft einer getreulich warnenden Freundin Nachfolge leisten.«
Vor den noch von eben zuvor hervorgequollenen Tränen flimmernden Augen verschwommen der Lesenden die Buchstaben auf dem Papier. Sie verstand nicht klar, was die Worte besagen, dachte nicht, von wem dieselben kommen mochten. Aber ihr Kopf bedurfte auch keiner deutlichen Erkenntnis; ein sie wie tödlich in der Brust anrührender Herzschlag kündete ihr, das sei das große Unglück, dessen Vorahnung sie in sich getragen. Und dazu schlug ihr heißer noch als zuvor die Scham aus einem tief verwundeten jungfräulichen Stolze ins Gesicht, daß die Schrift kundgab, sie habe ihr innerstes Herzensgefühl jemand offenbart, der dasselbe zwiefach verraten!
Denn wer konnte sonst davon wissen, wenn er es nicht ausgeplaudert hatte – mit einer anderen darüber lachte, stand auf dem Blatt. Nein, es war Lüge, das tat er nicht, so vermochte nicht alles an ihm zu täuschen! Das Herz Agnetes pochte, aber ihre Sinne waren verworren. Wenn es ihr Leben gälte, mußte sie wissen, sehen und hören, was an der Benachrichtigung wahr sei. Denn nun redete wieder eine Stimme in ihr: deshalb habe sie vergebens auf ihn geharrt; um einer anderen willen sei er nicht gekommen! Ohne die vom Nachmittag her höher in ihr aufgewachsene seelische Erregung wäre sie wohl davor zurückgeschreckt, mit einer Fremden allein in die Nacht der dunklen Straßen nach unbekanntem Ziele hinauszugehen. Doch die Wellen der Besinnungslosigkeit schlugen über ihr zusammen, ihr kam kein Gedanke, daß dies in Wirklichkeit ein unmädchenhaftes Tun sei. Hastig warf sie einen Mantel um und folgte ihrer Führerin, welche auf einige Fragen aus dem Munde Agnetes nur erwiderte, sie wisse von nichts, als den Weg zu zeigen. Dieser ging unter den schwarzen Massen der Nikolaikirche vorüber in die Vlämische Straße und in ihr bis gegen das dortige Wassertor abwärts. Dann bog das Mädchen zur Linken in eine enge Gasse ein, die Agnete noch niemals betreten hatte.
*
Paul Fleming hatte sich in dem fremden Gemach auf einen Sessel niedergelassen und war erst jetzt, während der Wartezeit einiger Minuten, zu einem halben Denken darüber gelangt, wer eigentlich ihn hierher beschieden haben möge und was man ihm für die Aenderung seines Entschlusses als schönsten Lohn verheiße. Worin sollte denn ein solcher bestehen? Vor wenigen Stunden noch hätte es keinen gegeben, der ihn seiner Ablehnung untreu machen konnte; mehr als der Herzog ihm bereitwillig zugesagt, konnte ja kein Anspruch begehren. Dem Nachsinnenden kam's dabei, es sei verwunderlich, daß er sich hier augenscheinlich nicht in einem Raume des Schlosses befinde, wo der Herzog mit Olearius ratschlage. Und von ihnen oder in ihrem Auftrage mußte die briefliche Botschaft doch ergangen sein!
Es verblieb ihm indes nicht weitere Muße, nach einer Aufhellung dafür zu suchen, denn nun öffnete sich eine von seitwärts her in die Stube führende Tür und gleichzeitig oder wenigstens nur um einen Atemzug später diejenige, durch die er vom Flur gekommen. Aus der ersten Tür trat eine weibliche Gestalt von schöner, wenn auch roher und seelenloser Gesichtsbildung hervor, stattlichen Wuchses, der um so deutlicher zur Wahrnehmung kam, als lockere Bekleidung die vollen Schultern unverhüllt beließ und nur das dichte Haar aufgelöst darauf herabfiel. Durch die gleich darnach aufgehende Flurtür aber ward von unsichtbar bleibender Hand Agnete Burenäus hereingedrängt. Der Uebergang aus der tiefen Finsternis draußen in die erhellte Stube legte im ersten Augenblick eine Blendung über ihr Sehvermögen, so daß sie ungewiß vor sich hinschaute.
Bei ihrem Erblicken wollte Fleming unwillkürlich vom Sessel aufspringen, doch hurtig eilte das fremde Weib auf ihn zu, hielt ihn, den Arm um seinen Nacken schlingend, auf dem Sitz zurück und flüsterte ihm ins Ohr: »Bleibt, ich lasse Euch mit Eurer Liebsten hier in meiner Stube allein und will Wacht halten, daß niemand Euch Störung bereitet.«
Agnete wußte nicht, wohin sie gebracht worden sei; aber der Anblick vor ihr konnte ihr nicht Zweifel belassen, daß sie Paul Fleming in einem zärtlichen Verweilen mit dem unbekannten, ihr tiefsten Widerwillen einflößenden Mädchen betreffe. Starr, aus blutrot übergossenem Gesicht sahen ihre Augen ihm entgegen.
Gleichzeitig jedoch befiel ihn aus der Kleidung und dem Behaben derjenigen, die ihren Arm um ihn gelegt hielt, eine jähe Erkenntnis, welcher Art das Haus sein müsse, in welchem er sich befinde. Und die Worte, die sie ihm zugeraunt, konnten ihn gleichfalls nicht mehr in Ungewißheit erhalten, von wem und in welcher Absicht er hierher verlockt worden. Niemals war ein Glaube an jungfräuliche Sittsamkeit und Unschuld falscher betörend gewesen; da er nicht mehr zu Agnete Burenäus gekommen, hatte sie mit Abstreifung jeglicher weiblicher Scheu und Scham sich der Bewohnerin dieses Hauses bedient, um eine heimliche nächtige Zusammenkunft mit ihm zu erzielen, bei der ihre zuchtlose Leidenschaft einen Sieg über ihn davonzutragen gedachte!
Diese Doppelerkenntnis ließ die beiden zu völliger Regungs- und Atemlosigkeit erstarren, doch kaum länger als bis zum gegenseitigen Erfassen der empörenden Täuschung, welcher sie sich über einander hingegeben. Denn kaum um drei oder vier Sekunden, nachdem Agnete in die Tür getreten, erhoben sich draußen auf der Gasse laute Rufe: »Hier herein ist eine Jungfrau gegangen, die als ehrbar in unserer Stadt gegolten, holt sie mit Schimpf und Schande heraus, auf daß man sie fernerhin als das ansehe, was sie ist!«
Ueber dieses plötzliche Gelärm schien die fremde Weibsperson tötlich zu erschrecken; sie stieß aus: »Ihr müßt fort!«, ergriff Paul Flemings Hand und zog ihn hastig mit sich durch dunkle Räume auf einen engen Hof und wieder durch eine niedrige Stalltür weiter. Draußen aber in der Gasse »Bei der Mauer« vermehrte sich das Getöse, und auf eine Frage gab jemand Antwort, eine Jungfrau halte sich hier in einem verrufenen Hause, in welchem sie nächtlicher Weile mit einem Liebhaber zusammengekommen sei.
Der Fragsteller war der Bürgermeister Burenäus, dem auf einem Blättchen mit namenloser Handschrift schon ins Rathaus die nämliche Mitteilung übermacht worden, seine Tochter habe bei Nacht ihre Wohnung verlassen und befinde sich in einem unehrbaren Gebäude bei der Mauer. Das hatte ihn völlig unglaublich bedünkt; doch wie er sich rasch über die Straße nach Hause begeben, war Agnete in der Tat wider jeden Brauch und Sitte nicht dort auffindbar gewesen und ihr Vater aufs schleunigste hierher geeilt. Aus den Nachbarstraßen her sammelten sich noch mehr Menschen vor dem Hause an; wer eigentlich die ersten Rufe ausgestoßen habe und um wen es sich handle, wußte indes niemand anzugeben. Burenäus hieß nun kraft seines Amtes alle zurückbleiben, trat hinein, und geriet, eine Tür öffnend, halb der Besinnung beraubt, seiner Tochter gegenüber, die, sich an einem Tisch haltend, gleichfalls wie betäubt, jedoch gegenwärtig blutlosen Angesichts allein in der Stube dastand. Auf seine Frage, wie sie hierher komme, erwiderte sie nur: »Ich weiß es nicht – ich kann es nicht sagen.« Doch der Ausdruck ihres Gesichtes bestätigte es, sprach überzeugend dazu, sie besitze in Wirklichkeit keine Ahnung davon, an welchem Orte sie sich befinde.
Es trat in diesem Augenblick noch jemand zur Stube herein, und zwar der Magister Basilius Becker, der ebenfalls von den nächtlichen Rufen herbeigezogen worden. Er sprach, ohne eine Erregung an den Tag zu legen:
»Ich teile mit Euch, Herr Bürgermeister, Eure Verwunderung über diesen nicht geziemlichen Aufenthaltsort Eures lieben Töchterleins; aber es spricht das Evangelium: Wer sich ohne Schuld fühlet, werfe den ersten Stein auf sie, und es ist mehr Freude im Himmel über eine Wiedergefundene, als über Hundert, die uns nicht mit Verlust bedroht gehabt. Es wird sich ja genugsam aufhellen, wie die Jungfrau auf diesen unbedachtsamen Weg geraten; und mag es unter den Menschen vielleicht auch solche geben, welche eine Schädigung des löblichen Rufes Eurer Tochter darin erblicken zu müssen vermeinen, so kann meine Zuneigung zu derselben dadurch doch nicht gemindert werden. Vielmehr handle ich nach der Liebespflicht eines Gottesdieners, die Erniedrigten emporzurichten und die Gefallenen aufzuheben, indem ich meine Werbung vom heutigen Nachmittage bei Euch erneuere und gewiß bin, Ihr werdet unter solcherlei Umständen meinen Antrag nach Kräften unterstützen; denn bei der Sinnesart, wie sie einmal unter den Leuten als bräuchlich besteht, dürfte sich nach diesem Vorkommnis nicht leicht mehr ein anderer Freiwerber um die Hand Eures Kindes finden. Ich aber spreche: Meine Freundin ist mein, und sie wird sich jetzt auch zu mir halten. Komm, meine Schwester, liebe Braut, wir wollen aus diesem Hause der Sündhaftigkeit von hinnen gehen, doch zuvor dein Angesicht vor dem Blick der Menschen bedecken, daß nicht ein Lichtstrahl, der darauf fiele, dich der Neubegier und der Beschimpfung kundgebe.«
Der Sprecher zog bei den letzten Worten eine am Mantel Agnetes befindliche Kapuze über ihren Kopf und dicht um ihr Gesicht zusammen. Sie ließ es willenlos geschehen, denn sie vermochte sich kaum mehr auf den Füßen zu erhalten, und das Bewußtsein drohte, sie zu verlassen. Aus den Aeußerungen des Magisters war ihr erst zu einer undeutlichen Vorstellung aufgegangen, an welchem Orte sie stehe und welcher Beschaffenheit das Mädchen gewesen, dessen Arm Paul Fleming umschlungen gehalten und ihn mit sich fortgezogen hatte. Ein tötliches Leid und schaudernder Abscheu zugleich durchzuckten ihr das Herz; der Bürgermeister war, von Rat- und Hilflosigkeit des Augenblicks überwältigt, Basilius Becker höflichst dankesvoll für dessen tatkräftigen Beistand. Er ging voraus, um draußen mit gebietendem Wort für die beiden ihm auf dem Fuß Nachfolgenden eine Bahn durch die in der engen Gasse angestauten Neugierigen frei zu machen. Der Tellingstedter Diakonus hielt Agnete umfaßt und führte sie; sie schwankte besinnungslos, die Knie brachen fast unter ihr zu Boden. Auch ohne die Ueberhüllung ihres Gesichtes indes hätte niemand sie zu erkennen vermocht, denn Nachtfinsternis lag mit schwarzem Schleier bergend über ihr.
So blieben die Leute, ihre unbestimmten Mutmaßungen austauschend, hinter ihnen zurück, und sie erreichten die Vlämische Straße. Hier kam ihnen ein vereinzelter Schritt entgegen, und eine Stimme fragte aus dem Dunkel, ohne die Ankommenden zu erkennen, doch in hörbarer Erregung, ob sie den Bürgermeister gesehen. Aus dem Ton durchfloß es wie eine plötzlich rückkehrende Kraft des Lebens und Bewußtseins die Seele und Glieder Agnetes. Sie rief aus: »Seid Ihr es, Hinrich? Gottlob!« und sich von der Hand Basilius Beckers losmachend, stieß sie diesen, wie er sie zu halten suchte, heftig zurück, klammerte sich fest an den Arm Hinrich Weghorsts und eilte jetzt, halb von ihm geführt, halb ihn vorwärts ziehend, wortlos mit ihm den anderen voraus ihrem Hause zu.
Paul Fleming aber war auf dunklen Durchgängen von seiner Führerin, ohne daß ein Blick ihn wahrgenommen, in die völlig menschenleere Fischerstraße gebracht worden. Sie hatte ihm noch im Gehen gesprochen: »Lasset Euch nicht abschrecken; ein andermal werdet Ihr bessere Ruhe mit Eurer Liebsten bei mir finden, denn ich weiß, ihr Herz brennt gar heiß, sich mit Euch zu unterhalten.« Nun stand er, verworrenen Sinnes, allein, tief bekümmert, daß ein so sittiger jungfräulicher Anschein, wie Agnete Burenäus ihn bis dahin in Wort und Behaben dargeboten, dermaßen zu trügen vermöge, doch auch von heftigstem Widerwillen gegen sie angefüllt. Fast ohne wahrzunehmen, welchen Weg er innehalte, kam er in das kaum erst vor einer Viertelstunde von ihm verlassene Zimmer zurück, wo auch Adam Olearius sich inzwischen eingefunden hatte, verwundert, den Freund dort nicht anzutreffen.
Der junge Dichter sah ihm einige Augenblicke verwirrt und antwortlos ins Gesicht; da fiel der Schein der brennenden Wachskerzen auf dem Schreibtisch in einen Winkel der Stube und zog aus dem Rahmen des dort hängenden Pastellbildes einen leisen blauen Schimmer hervor. Und plötzlich war es Paul Fleming, als habe er das Zimmer nicht verlassen, sondern nur einen kurzen, häßlichen Traum nach der Schönheit des Sonnenabends darin gehabt, aus dem er von dem Freunde aufgeweckt sei; und er erwiderte rasch, daß er noch einen Gang durch die Nacht gemacht, um den von ihm neu gefaßten Entschluß zur Teilnahme an der Reise noch einmal zu überdenken. Das versetzte Olearius in hohe Freudigkeit, der nicht weiter fragte und nicht daran zweifelte, seine letzte eindringliche Vorhaltung habe diese Willensumänderung herbeigeführt. Es galt in der Eile viel Notwendiges nun noch zu bereden; mit dem Beginn der Morgenfrühe mußte der junge Arzt eifrigste Anstalt treffen, sich mit mancherlei Erfordernissen für die Fahrt, wenigstens zunächst bis zur Erreichung Revals, auszurüsten. Kaum fand er noch zu einer Aufwartung im Schlosse Zeit, wo der Herzog ihn, sichtlich sehr erfreut, höchst gnädig empfing und ihm zu dem verliehenen Range eines Hofjunkers noch die Stellung eines Truchseß bei der Gesandtschaft übertrug. Die Einschiffung der letzteren war auf die Mittagsstunde festgesetzt, und bald nachdem diese vom Glockenschlage der Nikolaikirche verkündigt worden, wurden unter den Zurufen einer vielhundertköpfig am Hafenbollwerk vor den Wassertoren angesammelten Menge die Taue der für die Reise gerüsteten stattlichen Kogge gelöst. Unter den anwesenden Honoratioren der Stadt befand sich auch pflichtgemäß der Bürgermeister Burenäus, wenn auch etwas verschatteten Gesichts. Doch die Art, in der er sich freundlichst von Paul Fleming verabschiedete und diesen zu seinem neuerdings gefaßten Entschluß beglückwünschte, tat kund, daß er keine Ahnung von dem Zusammenhang desselben mit dem nächtlichen Auffinden seiner Tochter in dem verrufenen Hause besitze. Er entschuldigte Agnete nur mit lauter Stimme, daß sie eines Unwohlbefindens halber nicht bei der Abfahrt zugegen sein könne; das Schiff rollte in frischer Ostbrise die Segel auf und zog unter dem Schloß vorüber, vom Turm desselben mit dem breitflatternden fürstlichen Nesselblattbanner begrüßt, weiß in der Sonne strahlend, durch die Kieler Bucht hinaus.
*
»Bald sahen wir ein schönes Eiland ragen,
Landangegipfelt, felsenaufgeschürzt,
Das Meer versucht hier donnernd anzuschlagen,
Die Flut jedoch am Klippengurte stürzt
Rückprallend hin, indeß des Landes Kuppe
Mit jungen Bäumen siegreich aufwärts steigt
Und auf die rings verteilte Häusergruppe
Gleich Frühlingsbannern seine grünen Aeste neigt.«
Mit diesen Versen begrüßte ein jugendlicher Poet die dänische Insel Bornholm, wie er genau um zwei Jahrhunderte später, als Paul Fleming, an ihr vorüber dem nämlichen Ziel über die Ostsee entgegenzog. Und ebenso hob die Insel sich auch schon vor den Augen des letzteren, vom »Rytterknägten« übergipfelt, freundlich und anmutig aus dem blauen Gewässer, durch ihren Anblick nichts von den rastlosen Kämpfen kundgebend, welche die nordische Welt Jahrhunderte lang bis vor Kurzem um das kleine Eiland geführt hatte, und keine Schatten des blutigen Streites voraufwerfend, der es bald wiederum übertoben sollte. Doch Paul Fleming hat uns nicht, wie Rudolf Kulemann, in einem Gedicht den Eindruck hinterlassen, den die idyllisch freundliche Erscheinung Bornholms auf ihn geübt. Vor seinem Blick und seinem Gemüt lag noch ein Schatten darüber, mit dem der letzte Abend in Kiel ihm den freudigen Sinn für die Schönheit verdunkelt hatte. Die Erinnerung an Agnete Burenäus haftete ihm schmerzlich in der Seele; sein Herz war ihr nicht in Liebe, doch mit brüderlichem Gefühl und Vertrauen zugetan gewesen, und sie hatte ihm ein schönes und liebes Bild, das er in sich besessen, zerschlagen. Nicht ihr eignes allein; aus der Erkenntnis des Truges ihrer Erscheinung war ihm eine Trübung über seinen Glauben an die Hoheit und Reinheit des weiblichen Geschlechtes gefallen, und mit einem unsicheren Zagen wandte er die Augen in die Richtung der aufgehenden Morgensonne, dem noch fern unsichtbaren Landungsziel der Kogge zu. Wenn das Leben mit Blick und Rede so zu täuschen vermochte, wie viel leichter fiel dies noch dem Stift eines Künstlers!
Doch, wie um zwei Jahrhunderte nachher Rudolf Kulemann seinen Gesang fortsetzte:
»Mir aber ist's, als ob in Silbergleisen
Tritonen blasen auf dem Muschelhorn,
Die See erbebt, und ihre Wellen kreisen,
Geöffnet ist der ahndungsvolle Born –
Sie taucht empor,
sie ist es – Aphrodite,
Die schamhaft noch an allen Gliedern bebt,
Bis plötzlich sich die stolze, schaumumsprühte
Meergöttin dort auf deinen Blumenschild erhebt –«
so zog allgemach auch dem jungen Dichter des siebzehnten Jahrhunderts, wenn er ausblickend auf dem Vorderkastell des Schiffes stand, ein sonnenglimmerndes Wellenspiel, goldhell rinnend und rieselnd, voran, und nächtlich funkelte es rings um die Planken wie ein Heraufsprühen von bläulichen Demanten aus der Tiefe, denn der Oktoberwind hatte begonnen und ließ den Kiel im Dunkeln ständig eine glanzwimmelnde Furche durch Meergeleucht der See hinziehen. In magischer Schönheit umwogte dieser wallende Lichtmantel das hurtige Fahrzeug und mit geheimnisvollen Stimmen summte und rauschte der Nachtwind drein. Oft, wenn alle andern Mitglieder der Gesandtschaft zusammengepfercht in ihren engen Schlafkojen lagen, sah Paul Fleming auf dem Verdeck die Sterne über sich schreiten, viele Stunden lang, selbst unter ihnen hin und wieder wandernd, oder, in seinen Mantel gewickelt, auf dem Bretterboden hingestreckt, daß Wirklichkeit und über ihn kommender Traum sich ihm zu wundersamen Empfindungen und Bildern ineinander mischten. Und nach solcher Nachtrast einmal gewahrte er als der erste im aufwachenden Morgenschein am Himmelsstrich hohe graue Schatten emporsteigen, die allgemach da und dort mit goldenen Pünktchen in der Sonne zu glitzern anhuben. Das waren die Türme der alten gotischen Kirchen von Reval aus seiner stolzen Hansazeit, überragt von dem berggetragenen Dom; bald hoben sich auch die Schloßburg, die weitgestreckten Ringmauern und die Dachfirste der am Abhang emporgestaffelten Stadt nach, und unter der Insel Nargen, der Wächterin am Zugang des Hafens, dahin lief die Kogge um Mittag die wohlgesicherte Reede an. Doch regte der Anblick aus der Weite machtvolleren Eindruck, als die Nähe ihn bewahrheitete. Die Tage der gewaltigen Kraft des Hansabundes waren vorüber, kaum mehr noch als sein Name verblieben, denn sein Leben lag bereits zu Grabe getragen, und mit ihm war die frühere stolze Selbständigkeit Revals in Abhängigkeit untergegangen. Seit einem halben Jahrhundert hatte das schwedische Königreich überall an der deutschen Ostsee die Erblassung der Hansa mit Verträgen oder Gewalt an sich gebracht, vor allem die Häfen und Küsten Livlands, Kurlands und Esthlands; und so war auch die Hauptstadt des letzten, die ehemalige »teure Schwesterstadt« Lübecks, zur Beute der aufgewachsenen nordischen Seemacht geworden und in schwedischen Besitz gefallen. Wohl hatte Reval seitdem oftmals Bittschriften um seine Auslösung aus der Hand der Fremden bei Kaiser und Reich eingereicht, aber Kaiser und Reich leisteten, wie es schon in ihrer langen Gewohnheit lag, nur eine Beihülfe von schönen Verheißungen, und jetzt zumal, seit der gebietenden Machtstellung schwedischer Heerkraft bis zum äußersten Süden Deutschlands hin, konnte kein leisester Hoffnungsschimmer auf eine Wiedervereinigung der fernen Ostseelande mit dem Reich mehr aufkommen.
So war Reval eine Stätte großer Erinnerungen, doch ziemlich stiller Gegenwart geworden. Die hohen stattlichen Giebelhäuser schauten noch unverändert auf lange, wohlgehaltene Straßenzüge herab und übten, besonders für jemand, der aus Kiel zwischen sie versetzt ward, einen vornehmen Eindruck, aber die Einwohnerzahl der Stadt hatte sich stark vermindert, und noch mehr ihre Handelsbedeutung, das ehemalige rege Leben in ihr. Wenn die schwedischen Besitzer der deutschen Kaufmannschaft auch nicht die Niederlassung und Ausübung ihres Geschäftsbetriebes verweigerten, so waren doch die Inhaber der Mehrzahl der alten Hansahöfe mählich weggeschwunden und nur die Baulichkeiten ihrer früheren Wohnsitze geblieben. Indeß um so fester hielten sich die noch vorhandenen Deutschen zu einem Verbande wechselseitiger Stützung zusammengeschlossen, und die wilde Zeit mochte wenig Orte kennen, in denen ein aus dem fernen, blutig zerrissenen Vaterlande einkehrender Landsgenosse auf so freudigen Empfang und so schrankenlos bereitete Gastlichkeit zählen durfte, wie in den deutschen Häusern zu Reval.
Ein Gerücht war bereits hierhergekommen, daß von Holstein aus ein solcher Zug ins Moskowiterland beabsichtigt sei, und beim Anlanden des Schiffes verbreitete sich schleunig die Kunde von der Bewahrheitung jener Botschaft unter den deutschen Stadteinwohnern. Rasch eilten sie zur Begrüßung der Ankömmlinge an den Hafen, wo sie zu ihrem Leidwesen vernahmen, daß der Herzog Friedrich in seinem Drange, schnellmöglichst aus Moskau die erbetene Zusage zu gewinnen, der Gesandtschaft nicht länger als eines Tages Aufenthalt zu Reval verstattet habe. So mußten die Eingesessenen die kurze Frist nach Kräften zu nutzen streben; jeder, der es nach seinen Lebensumständen vermochte, erbat sich einen Gast für sein Haus und brachte ihn freudig dorthin. Als einer der angesehensten und vermögendsten unter den deutschen Kaufherren befand sich auch der Aeltermann, Herr Heinrich Niehusen bei den Empfängern der Reisenden, ohne von der Mitkunft Adam Olearius' etwas zu ahnen. Hoch und erfreulichst überrascht, nahm er diesen sogleich für seine Häuslichkeit in Beschlag, und nicht minder willkommen fiel es ihm, wie Olearius auch seinen Freund Fleming als Gast mitführen zu dürfen bat. Heinrich Niehusen zeigte sich, wenngleich er kein Gelehrter war, doch für einen Kaufmann in einem ungewöhnlichen Besitz humanistischer Bildung, den Wissenschaften und Künsten mit Interesse zugetan, hatte den Namen Paul Flemings bereits öfters als den einer neuen, besonderen Hoffnung für die deutsche Dichtkunst vernommen und empfand sichtlich ein beglückendes Stolzgefühl, auch ihm Unterkunft in seinem Hause zu bieten. An dem engen Gassengeflecht der Altstadt vorüber leitete er seine Gäste, unter dem Domberg hin, durch eine zugleich ernst-würdig und freundlich anblickende, etwas aufwärts steigende Straße fort, rasch in ein lebhaftes Gespräch mit Olearius vertieft, der seinem nach allen Richtungen ausgebreiteten Wissensdrange gemäß, sich schon auf dem Wege durch mancherlei Fragen über die staatlichen Verhältnisse und politischen gegenwärtigen Beziehungen Revals zu unterrichten strebte. Darin wußte Niehusen nicht minder kenntnisvoll und anschaulich Bescheid zu erteilen, so daß der gelehrte Gottorper Bibliothekar kaum wahrnahm, wie sie von der Straße auf den weitgeräumigen Flur eines stattlichen alten Hauses eintraten. Dieses entsprach völlig der seit Jahrhunderten in fast allen Ostsee-Hansestädten bestimmend gewesenen Bauart Lübeckischer patrizischer Häuser; von der großen, fliesenbelegten Erdgeschoßdiele hob sich eine breite Eichenholztreppe zu den Wohnstuben im oberen Stockwerk, und ganz mit einer ihm gerade von Niehusen erteilten Auskunft beschäftigt, stieg Adam Olearius, eifrig redend, jetzt die Stufen hinan. Der jüngere Begleiter der beiden hatte an ihrer politischen Unterhaltung nicht teilgenommen, sondern, um sich schauend, etwas hinter ihnen den Weg zurückgelegt. Ihm war's wie traumhaft, daß er in Reval ging, und wie Himmel und Erde umher ihn ansahen. Seine Vorstellung hatte gemeint, im Anfang des Oktober müßte hier im hohen Norden schon rauher Winter eingekehrt sein; doch statt dessen lag die nachmittägliche Sonne noch so schön und warm auf den Dächern, wie sie es zur Stunde nur irgendwo in deutschen Landen tun mochte. Und nun überraschte den ins Niehusensche Haus Eingetretenen noch ein neuer, fast sommerhaft gemahnender Anblick. Auch der war ganz anmutiger Art in vornehmen Häusern Lübecks gemäß; eine geöffnet stehende breite Rücktür des Flurs ließ über schmalem Hofraum in einen Garten mit Busch- und Baumgezweig hinaussehen. Das Laub daran trug zwar nicht sommerliche Farbe mehr, doch dafür erglänzte es, beinahe blendend, wie eitles Gold im Sonnenauffall, grüner Rasen schimmerte noch darunter, und die zartgefiederten Strahlenkelche von weißen Sternblumen nickten da und dort drüberher.
Dies unerwartete Oktober-Gartenbild, nahe schon der verrufenen Unwirtlichkeit des russischen Reiches, übte eine machtvolle Anziehungskraft auf den poetischen Sinn Paul Flemings. Von seinen beiden Weggefährten gab im Gesprächseifer keiner auf sein Nachfolgen Acht, und unwillkürlich, beinahe ohne es zu wissen, wandte er den Fuß von der dunklen Treppe ab dem goldfreudigen Glanz drüben zu. Er gedachte nur einen Blick in diese schöne Herbstwelt hineinzuwerfen, die er sich bald von Schranken umgrenzt vorstellte. Doch wie er ihren Anfang erreicht, verästelten sich mannigfache Pfade vor ihm, der Garten dehnte sich merkbar weit ins Freie an sanft aufsteigendem Gelände hinaus. An einer Stelle sah das Auge die Ringmauer der Stadt herüberragen, sie schien erst den Abschluß zu bilden; der Bodenwert zu Reval stand nicht mehr hoch im Preise, und ein wohlgestellter Kaufherr konnte sich den Aufwand eines großen Grundbesitztums verstatten.
Der junge Dichter schritt auf dem Wege der Mauer zu fort. Zum Lichte der warmen Sonne und des bunten Farbenspieles der Blätter umher gesellte sich ein leiser Duft von Reseden und spät noch blühenden Violen, der Levkojen, die schon im Mittelalter den Hausgärtchen der deutschen Frauen als würzig die Luft erfüllende Lieblingszierde gedient; hin und wieder hing noch ein von der pflückenden Hand unbeachtet gelassener, rotbäckiger Apfel am Obstbaumgezweig.
Es überkam Fleming mit süßen, träumerischen Knabenerinnerungen, wie er zu Hartenstein im väterlichen Garten so diesen schwermütig-lieblichen Herbstduft eingeatmet, die vergessenen Früchte sich mit Knittelwürfen aus den Wipfeln herabgeholt hatte und dann mit ihnen hinaus an das Gelände der Mulde gelaufen war, um sie, von stiller Höhe auf die friedliche Welt zu seinen Füßen niederschauend, fröhlich und doch seltsam auch von namenlosen Empfindungen überkommen, zu verzehren. Ebenso wie dort summten auch hier die letzten Bienen um ihn, flatterte noch ein großer Schmetterling mit buntäugigen Flügeln durch die Sonnenstrahlen. So lange nicht Eis den finnischen Meerbusen erstarrt hielt, ließ die mildernde Nähe des Wassers um Reval die letzten Blüten und die beschwingten Freunde derselben sich noch ihres spät beginnenden Sommerlebens fort erfreuen.
Da begegneten dem Auge des an einer Wegbiegung Aufblickenden zwei Farben, die er bisher noch nicht unter dem herbstlichen Hinschwinden wahrgenommen, und die auch mehr dem Mai angehörig erschienen, als dem Oktober.
Hellrot und Lichtblau, wie Frühlingsehrenpreis, waren's, das erste nicht nur dem einer Rose gleichend, sondern in Wirklichkeit von einer solchen herstammend, die am schwankenden Zweig eines Strauches noch als späte Nachzüglerin lang vergangener Schwestern eben gegen die Sonne ihren Kelch zur Blüte aufschloß. Die blaue Farbe nah daneben aber kam nicht von einer Blume, sondern vom Kleide einer weiblichen, auf niedriger Gartenbank sitzenden Gestalt her. Auf einem runden Steintische vor ihr lag ein Apfel, ihre Hand hielt ein silbernes Messerchen, im Begriff, denselben zu zerschneiden. Nun ließ das Geräusch des herankommenden Fußtrittes sie den Kopf heben, und aus dem Rahmen lang an den Schläfen niederfallenden dunkelbraunen Gelocks sahen zwei Augen wie helle Sterne auf.
Als sei er plötzlich reglos festgebannt, stand Paul Fleming. Seine Gedanken waren, seitdem er zwischen den Bäumen und Büschen gegangen, weit fort über Zeit und Raum in seiner Kindheit gewesen, hatten ihn völlig vergessen lassen, wo er in Wirklichkeit sei und was ihn hierhergebracht.
Da schwanden auf einmal die Bilder und Träume der Erinnerung um ihn ab, und er war zu Reval im Garten des Herrn Niehusen, und unweit vor ihm saß in Lebenswahrheit das Bildnis aus dem dunklen Winkel der Studierstube Adam Olearius'. Wäre er ihr in der Wüste, auf einem andern Stern des Welltalls begegnet, er hätte sie auf den ersten Blick erkannt. Nicht weil sie das nämliche lichte Gewand trug, wie auf dem Bilde, sondern er trug jeden kleinsten Zug dieses zarten Mädchenantlitzes in seinen Augen und seinem Herzen, und als erstes überkam ihn, daß der Maler alles aufs Genaueste so wiedergegeben, wie die Natur es ihm dargeboten. Nur eine unsagbare Lieblichkeit, die alle Züge des Gesichtes mit einem holdseligen Schimmer überwebte, wie der Farbenschmelz die Schwingen eines Falters, hatte die Kunst nicht dem Leben nachzuschaffen vermocht.
Ja, da stand er in Reval, wohin nur dies Bild ihn geführt, und eine wonnevolle Woge durchfloß ihn vom Herzen aus zugleich fast mit süßer Betäubung und mit dem erkennenden Gefühl, daß allein sie seines Lebens Zweck und Ziel gewesen. Aber was wollte er denn, was konnte er? Wortlos blickte er die blaue Gestalt vor sich an; was in ihm war, durfte sein Mund nicht sprechen, sie hätte ihn sonst für einen Sinnlosen oder einen Frechen halten müssen. Als ein Wildfremder stand er vor ihr, und unziemlich schon mußte es sie bedünken, daß er sich selbst außer Stande fühlte, nach artiger Pflicht den Hut zum Gruße zu lüften.
Doch da geschah Seltsames, denn was er tun gekonnt hätte, das tat sie. Sie war aufgestanden, und aus ihrer Bewegung sprach jetzt auch die leichte Anmut ihrer Gliederregung, die das Bildnis ahnen ließ. So trat sie ihm entgegen, doch ohne Kränkung oder Verwunderung über die Unhöflichkeit seines Gebahrens. Nur ein hohes Erstaunen anderer Art redete aus ihren Augen, die sich in die seinigen hineinrichteten, und sonderbar sprach sie dazu:
»Seid Ihr es?«
Das löste auch ihm die Lippen, daß er nun erwiderte:
»Verzeihet, Jungfrau – es scheint, Ihr täuschet Euch, denn ich bin Euch unbekannt.«
Doch sie schüttelte den Kopf.
»Ich kenne Euch wohl.«
»Das dürfte ich eher sprechen und sagen: Ich grüße Euch, Jungfrau Elsabe. Ja, vergebet, daß ich es unartig bis jetzt vergaß: Euer Vater hat mich zu Gast geladen, und der Zufall führte mich, noch ehe ich Euer Haus betrat, hierher in den Garten.«
Elsabe Niehusen nickte bestätigend:
»Ja, ich wußte, daß Ihr kämet.«
Das klang abermals wunderlich, gleich ihrer vorherigen Behauptung, ihn zu kennen. Der junge Dichter versetzte lächelnd:
»Wer hätte Kenntnis davon hier haben sollen, da ich selber bis vor kurzem es nicht gewußt. Ihr müßt mich mit einem andern in Vertauschung bringen, Jungfrau; sprecht, welchen Namen Ihr mir beilegt, daraus wird die Täuschung sich erhellen.«
»Den weiß ich nicht, Ihr habt ihn mir nicht gesprochen.«
»Und doch wußtet Ihr von meiner Ankunft?«
»Das sagtet Ihr mir ja. Ihr kämet wieder.«
Ein Schreck befiel den Hörer. Stimmte mit diesem beseligenden Bilde die Seele nicht überein, sondern litt unter einer Trübung, die den Mund irre Rede führen ließ? Zögernd erwiderte Fleming:
»Wenn ich, wie Ihr sprecht, verheißen, wieder zu kommen, so müßte ich freilich bereits zuvor hier gewesen sein. Doch mir ist's nicht im Gedächtnis verblieben, zu welcher Zeit.«
»Lasset mich denken, wann war's?«
Die Antwortende legte nachsinnend ihre feine Hand über die Augen, doch drunterher blieben diese auf ihn verwandt. So sprach sie weiter:
»Noch nicht zwei Wochen sind's, und an einem Sonntag muß es gewesen sein vor dem letzten, denn die Kirchenglocken gingen. Auch so sonnig war's, wie heut, und gegen den Abend, und ich saß dort auf der Bank, wie soeben. Einen rotwangigen Apfel hatte ich noch im Garten gefunden, den gedachte ich zu essen; da tratet Ihr herzu, drüben um den Rosenbusch her, und batet, ich solle mit Euch teilen. Und als ich den Apfel mit dem Messer in zwei Hälften zerschnitten, hobt Ihr die Hand danach, aber Ihr nahmet nicht eine derselben, sondern –«
Die Rede des Mädchens stockte. Der junge Dichter wußte nicht, ob er wache oder träume, so wundersam klang in dem stillen Sonnenwinkel des Gartens die Stimme, die ihm ein Märchen von dem, was er selbst getan haben solle, berichtete. Und da die Sprechende innehielt, ergänzte er, ohne dran zu gedenken, daß alles nur aus einer Wahneinbildung in ihr entstamme:
»Sondern, ich nahm Euch wohl beide Hälften statt einer, Jungfrau?«
Sie schüttelte den Kopf, so daß er die Frage nachfügte:
»Oder tat ich Euch gar eine Kränkung durch Unart an, wie eben, da ich sonder Begrüßung vor Euch hintrat?«
»Nein, Ihr kränktet mich nicht. Aber Ihr tatet etwas, ich kann's nicht sagen. Dann spracht Ihr, daß Ihr zurück kämet, und waret verschwunden. Und nun seid Ihr wieder hier.«
Ein leichtes Zucken ging durch die Wimpern Elsabes, sie glitt sich nochmals flüchtig mit der Hand über die Stirn und setzte jetzt rascher hinzu:
»Verzeihet mir, ich habe Euch Törichtes geredet. Mir kommt's nun, daß ich an jenem Tage auf der Bank die Augen vor Müdigkeit ein Weilchen zugeschlossen gehabt, und da mag es mir wohl in einem Traum so erschienen sein, als stündet Ihr neben mir.«
Auch Fleming war gemach schon der gleiche Gedanke, ihr unverstandenes Sprechen ihm mit einer Erhellung überfließend, aufgestiegen. Aber beinahe noch märchenhaft unbegreiflicher ward es dadurch, und ihm entflog nun von den Lippen:
»Solcher Art träumtet Ihr hier, Jungfrau, am Sonntage vor dem letzten, um die Nachmittagszeit, in der die Sonne hinschwand?«
»Ja, ich entsinne mich jetzt wohl; es war dunkel um mich geworden, als ich die Augen auftat.«
Mit einem sonderbaren Schauern überlief es den jungen Dichter. Das war zu der nämlichen Stunde gewesen, in welcher der Sonnenrückglanz ihm zum erstenmal im Stubenwinkel bei Olearius das kleine Pastellbild gezeigt, und in jener Stunde hatte er dasselbe herabgenommen und sich ans Fenster gesetzt, es unverwandt anschauend, bis Dämmerung und Dunkel darüber gefallen. Da war seltsam zu gleicher Zeit hier im Traum zu Elsabe Niehusen jemand herangetreten, der ihm an Aussehen geglichen haben mußte.
Paul Fleming mußte alle Kraft seiner Vernunft zusammenrufen, sich auf die Wirklichkeit zu besinnen, daß er dennoch zum erstenmal als ein Fremder vor dem Mädchen hier stehe, und danach zu handeln. Er suchte umher, ein Wort zu finden, welches dem entspreche, sein Blick ging auf den Steintisch vor der Bank nieder und er sagte:
»Euer Traum hat dennoch etwas belassen, Jungfrau, das mich aus Knabenzeit mit köstlicher Erinnerung anmutet. In ihm waret Ihr gewillt, mich mit der Hälfte dieses Apfels zu bedenken, doch ich verließ Euch töricht zu rasch, ehe ich Eure Gabe empfangen. Seid Ihr wachen Sinnes noch gleicher Weise zum Teilen mit mir bereit, so lasset diese Frucht Eures Gartens das erste sein, das ich als Gast in Eurer Heimat genieße.«
Es ließ kaum Zweifel, daß Elsabe heut im Gedächtnis an ihren Traum den Apfel gesucht und auf den Tisch gelegt. Sie nahm denselben jetzt und entgegnete, ihn mit dem Silbermesser in zwei Hälften zerteilend:
»Das klingt wohl, wie Ihr geredet, als ein Knabenverlangen, aber es bedünkt mich hübscher, als wenn Ihr zuerst andere Nahrung unter unserm Dache berührtet. Ihr sagtet, Erinnerung komme daraus über Euch; wo ist Eure Heimat, deren Ihr dabei gedenkt?«
Ein Lächeln umglitt den Mund des Befragten.
»Ich gedachte ihrer heut auf dem Schiff und sprach sie in der Ferne an:
Ach, daß ich mich einmal doch wieder sollt' erfrischen
An deiner reichen Lust, du edler Muldefluß,
Da du so sanfte gehst in bergichten Gebüschen,
Da, wo mein Hartenstein mir bot den ersten Kuß –«
Das Mädchen hielt den Blick groß fragend auf den Sprechenden gerichtet, und nun fragten auch ihre Lippen: »Seid Ihr ein Dichter?«
Doch ohne seine Erwiderung zu erharren, fügte sie gleich drein: »Heißet Hartenstein Euer Heimatsort? Da seid Ihr Herr Paul Fleming, der zu Leipzig mit dem Lorbeer des Kaisers gekrönt worden. Warum sagtet Ihr mir das nicht im Traum?«
»Ihr müßt mich wohl nicht drum befragt haben, Jungfrau, sonst hätt' ich es Euch bejahet.«
So aller Tagesgewohnheit fremd war's, wie sie zusammen redeten, die Wirklichkeit mit dem Traum ineinander mischend. Ein glückseliger Herzschlag durchpochte die Brust des jungen Dichters, daß er Elsabe Niehusen auch von Geist und Gedanken kein Fremder sei; aller Ruhm vor der Welt erschien ihm gleichgültig-nichtig gegen das eine Wort, mit dem sie es ihm bekundet. Nun sprach sie: »So nehmet, Herr Fleming, wonach Ihr Begehr tragt,« und sie bot ihm die Hälfte des durchteilten Apfels entgegen. Er mußte sich gewaltsam beherrschen, daß er nicht ihre Hand anstatt der Frucht erfaßte; hastig nahm er jetzt die letztere, und um zu bergen, was in ihm aufwogte, biß er, wie mit dem Eifer eines Kindes, in den Apfel hinein. Dazu sprach er:
»Ihr sehet, ich würdige Eure Gabe gleich einem Knaben; wollet Ihr nicht dasselbe tun? Denn in Eurem Traume hegtet Ihr doch solche Absicht.«
Doch Elsabe faßte nur ein herausgehüpftes braunes Kernchen zwischen den Fingerspitzen.
»Man soll warten, wenn so weniges auf dem Tische vorhanden ist, bis der Gast sich befriedigt hat. Das genügt für mich, daß ich damit an Eurem Mahl teilnehme.«
Ihre Hand führte den Kern an die Lippen, aber plötzlich ergriff Paul Fleming dieselbe zurückhaltend mit der seinigen. »Nein, Ihr dürft nicht!«
Sie blickte ihn unbeweglich, doch eigen an, daß er über sein vorschnelles Handeln erschreckend, nachfügte: »Wolltet Ihr das etwa auch im Traume tun und erzürnte ich Euch damit, daß meine Hand Euch in gleicher Weise davon abhielt?«
Er hatte ihre Hand losgelassen, sie wiegte verneinend den Kopf leise hin und her und gab Antwort: »Ich sprach Euch ja, daß Ihr mir nichts Uebles angetan. Aber warum hieltet Ihr mir jetzt den Arm?«
»Weil – mir kam's in den Sinn, daß die liebliche Tochter der Demeter, Persephone durch einen Apfelkern der Unterwelt verfallen gewesen –«
»Und Ihr vergönnt mir nicht, als Königin unter den Schatten zu herrschen? Ich hege zwar auch solchen Wunsch noch nicht, aber mir ist nicht Einbildungskraft eines Dichters zugefallen, und ich fürchte mich nicht, ihn zu essen.«
Lachend tat Elsabe Niehusen nach ihrer Rede, drückte ihre schimmernden Zähne auf das braune Kernchen, und dies schwand aus ihnen fort. Doch im selben Augenblick schwand auch das goldene Lichtspiel, das bisher ihr Gesicht überflossen. Ein rasch vom Wind heraufgetriebenes Gewölk war vor die Sonne getreten, und ein bleichender Schatten fiel auf des Mädchens Antlitz. Daraus faßte es den vor ihr Stehenden mit einer plötzlich ihm unheimlich aufkehrenden Erinnerung an; so auch grad' war an jenem Abend in Olearius' Zimmer jählings das Goldgeringel auf dem kleinen Bildnis erloschen, als ob Nacht und Tod die Hand danach gestreckt hätten. Elsabe hatte nicht unrichtig von der Einbildungskraft eines Dichters gesprochen, und eisig griff es Paul Fleming ins Herz mit einer Gewißheit, das höchste Glück, das ihn in dieser Stunde umschwebt, sei auch nur ein kurzer Traum und ihm keine Wirklichkeit desselben vom Leben vorbestimmt. Eine Frühlingsblüte umwebte ihn mit ihrem Glanz und Duft, allzuhold, als daß sie nicht mit dem Lenz hinschwinden müsse. Vor dem Blick des Arztes mochte Elsabe Niehusen in blühender Gesundheit erscheinen, doch der Dichter fühlte im Tiefsten durchschauert, kalt strecke der Tod seine trennende Hand zwischen sie und ihn. Und unmächtig, ihr zu erwidern, stand er.
Da tönte die Stimme Heinrich Niehusens hinter ihm: »Seid uns verloren gegangen, Herr Fleming, daß ich schon einen Finderlohn für Euch aussetzen gewollt. Es scheint, meiner Tochter wäre derselbe zugefallen, und sie hat wohl gehandelt, Euch vorerst hierher zu führen, wo die Augen eines Dichters bessere Ergötzung genießen, als sein Ohr an der politischen Wißbegierde des Herrn Olearius gefunden haben möchte. Aber nun will die Sonne für heut dem Herbste auf der Erde Ade sagen, so kommet, daß ich Euch hochwillkommen in die Gaststube bringe, die Euch gerichtet ist.«
Sie gingen ins Haus, und bald vereinigte ein großer, schön und behaglich eingerichteter Wohnraum die Gäste mit dem Wirt und dessen Zugehörigen. Adam Olearius begrüßte Elsabe freundlich mit den Worten: »Wisset Ihr noch, daß ich Euch als Mägdlein auf den Knien geschaukelt? Ihr seid um Manches größer geworden seitdem, doch ich hätte Euch nach dem Conterfei, das Euer Vater mir übersandt, wie ich glaube, wieder erkannt, denn es bedünkt mich wohl ähnlich zu sein.« Weiter indeß redete der gelehrte Gesandtschaftssekretär nichts mehr mit dem Mädchen. Er zählte zwar selbst erst dreiunddreißig Jahre, aber er hatte während des kurzen Aufenthaltes zu Reval wichtigere Dinge in Erfahrung zu bringen, als der Mund eines Frauenzimmers ihm zu berichten vermochte.
Auch Paul Fleming jedoch vermied es jetzt, mit Elsabe zu reden, wie seine Augen Scheu trugen, sich nach ihr hinzuwenden. Daß er ihr Bildnis schon in Kiel bei seinem Freunde gesehen, sprach er nicht; keiner seiner Herzschläge verließ das todesbange Gefühl, das ihn überkommen, als im Garten der plötzliche Schatten auf das Antlitz gefallen, zwischen dessen Lippen im selben Augenblick der Apfelkern verschwunden. Um nicht stumm zu sitzen, redete er mit der Mutter des Mädchens, einer Frau von noch schönen, still-freundlichen Gesichtszügen, indeß schon so vorgerückten Alters, daß es fast Wunder nahm, eine erst siebzehnjährige Tochter an ihrer Seite zu sehen. Doch war diese nicht allein gewesen, Frau Niehusen hatte schon in den ersten Jahren ihrer Ehe zwei andere Töchter besessen, die beide im blühendsten Mädchenalter von Krankheit fortgerafft worden, und erst nach dem Tode derselben war Elsabe als Spätling zur Welt gekommen. Das faßte den jungen Dichter seltsam-schwermutsvoll an, daß er sich nicht enthalten konnte, doch zu dem Mädchen gewendet, zu sprechen: »So seid Ihr gleich der Rose, Jungfrau, neben der ich Euch im Garten antraf, und die auch ihre Schwestern nicht gekannt, welche schon in frühen Sommertagen dahingegangen.« Aber aus der Erzählung der Mutter kam nun auch dem Arzt in Fleming eine Bestätigung dessen, was er zuvor nur von schreckvoller Ahnung durchbangt empfunden. Elsabe Niehusen trug den gleichen Todeskeim ihrer früh verstorbenen Schwestern in sich, und wenn sie in kurzer Zeit das Sterbealter derselben erreichen werde, so halte die Schattenhand sich bereit, sich auch nach ihrem scheinbar so blühenden Leben auszustrecken.
Dann saßen sie bei der Abendmahlzeit, und nach dieser mußten die Herren sich von den Frauen trennen, weil sie zu einer allgemeinen festlichen Zusammenkunft in der deutschen Trinkstube der Stadt erwartet wurden. Hier klang zum Becherschall mancher Spruch auf den glücklichen Erfolg der Gesandtschaft, darin sich auch heimlich wohl ein Wort der Hoffnung einflocht, daß aus der kühnen Gedankenaussaat des deutschen Fürsten noch ein anderes Wachstum aufgedeihe, durch welches Reval wieder zum Reich zurückgebracht werde. Es ward spät, ehe die Teilnehmer der landsmännischen Vereinigung ihre Schlafstätten aufsuchen konnten, und mit dem Tagbeginn sollte der Aufbruch zur Weiterreise gen Moskau stattfinden. Olearius und Fleming hatten sich deswegen schon am Abend von den Frauen im Hause ihres Gastfreundes verabschiedet.
Doch wie die Diener die Pferde der zum Fortritt Gerüsteten draußen vorführten, zeigte sich, daß Elsabe Niehusen dennoch bereits seit geraumer Weile erwacht sein und sich alsbald aus der Ruhe erhoben haben mußte, denn durch die Rücktür des Flurs tretend, kam sie schon aus dem Garten zurück, und ihre Hand hielt die letzte Rose aus demselben vom Strauche gebrochen. Damit schritt sie gegen Paul Fleming hinan und sagte:
»Ihr sprachet, sie sei einsam und habe nicht Schwestern mehr, so nehmet sie und lasset sie Euch in das fremde Land geleiten. Denn mich däucht, auf Euch hat sie geharret mit ihrem späten Erblühen, und es war ihr vorbestimmt, daß nicht der Frühling, vielmehr der Herbst Euch hierherführen, sie vor zwecklosem Hinschwinden in der Verlassenheit des Gartens zu bewahren.«
Sie bot ihm die halbaufgeschlossene Rose entgegen, und er verstand es wohl, sie selber war's, die sich ihm damit hingegeben. Was er nicht gesprochen, hatte sie in einem Gleichnis von den Lippen gebracht; es mußte geschehen, bevor sie von einander gingen, daß einer von ihnen den gleichen Schlag im Herzen Beider kundgebe. Denn jeder fühlte und wußte ihn bei dem andern, wie in sich selbst, nicht seit gestern erst, als sie sich zum ersten Mal mit leiblichen Augen gesehen. Schon vorher hatte ein geheimnisvolles Band sie aus der Ferne zusammengewoben und hielt sie unlöslich umwunden; es war eine Schicksalsbestimmung, die sie erfüllten. Und der junge Dichter empfand im Innersten, da ihm das bange Zagen den Mund verschlossen gehalten, hatte sie das Schweigen brechen, ihm sagen gemußt, daß sie sein eigen gewesen, wenn er sie bei der Rückkunft hierher nicht mehr fand. Vielleicht fühlte sie selbst schon die leisen Schwingen des Todes über ihrem Scheitel heranrauschen; so tat sie das Gleiche, was Agnete Burenäus getan, aber es glich sich nur, wie die Nacht damals mit dunstender Lampe in der engen Stube dem goldenen Frühlicht des Himmels, mit dem die Sonne hier dem neuen Tage ihren Gruß voraussandte. Aus dem, was Elsabe Niehusen gesprochen, klang kein Ton, kein Anhauch unweiblichen Tuns; kein Gedanke berührte daran, daß eine Jungfrau sich einem Manne zu eigen gab. Ein Verkünden der von Beiden erkannten Untrennbarkeit ihres Lebens in der Abschiedsstunde nur war's, und die Augen des Mädchens hafteten dabei in den seinigen gleich zwei Demanten, lichthell und rein, wie die Tauperle, die von der Nacht in den Blätterschoß der Rose gebettet, noch aus dieser die Klarheit des Himmels zurückspiegelte.
Mit leicht zitternder Hand nahm Paul Fleming die Blume, leise erwidernd: »Ich danke Euch, Jungfrau; der Duft dieser Rose wird mich geleiten, wo immer ich verweilen mag, und zu jeglicher Stund'. Möge der Himmel sie unvergänglich so erhalten, wie ich sie treulich bis zu meiner Rückkunft hierher behüten werde.«
Ein Beben seiner Lippen ließ ihn nicht weiter reden, er grüßte noch einmal mit stummem Blick in die Augen des Mädchens, dann riß er sich los. Neben Olearius ritt er die hochumgiebelte Straße zum Sammelplatz der Gesandtschaft entlang, an der Biegung sich noch einmal wendend und nach dem zurückschauend, was ihm das Teuerste, der Herrlichkeitsinhalt seines Lebens geworden. Als ein lichtblauer Schimmer noch winkte es ihm vor der Tür – zum letzten Mal – er wußte, daß er Elsabe Niehusen nicht unter den Lebenden wieder vorfinde.
Als aber unter der Ringmauer Revals dahin der deutsche Reiterzug sich gen Süden fortwandte, um über Dorpat ins Moskowiterland zu gelangen, sprach der junge Dichter, sich vereinzelt als letzter zurückhaltend, aus zugleich selig und todesbang durchzitterter Brust vor sich in die leuchtende Morgensonne hinaus:
»Ist mein Glücke gleich gesonnen,
Mich zu führen weit von Dir,
O Du Sonne meiner Wonnen,
So verbleibst Du doch in mir:
Du in mir und ich in Dir
Sind beisammen für und für.
Lebe, meines Lebens Leben,
Stirb' nicht, meines Todes Tod,
Daß wir uns uns wiedergeben,
Abgetan von aller Not!
Sei gegrüßt, bald Trost, bald Qual,
Tausend, tausend, tausendmal!«
*
In umfangreich-ausführlichstem, vortrefflichem Werke »Moskowitische und persianische Reisebeschreibung« hat Adam Olearius uns eine genaue Darstellung sowohl der ersten Gesandtschaftsfahrt nach Moskau als der darauf folgenden zweiten nach Ispahan hinterlassen. Es ist ein Buch, dem in seiner Art die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts kaum ein anderes an die Seite zu stellen vermag. Nichts von der sonstigen geziert-hochtrabenden, schwulstig-blumenreichen Rede- und Schreibweise der Zeit findet sich darin. Mit vieler Gelehrsamkeit und unterwegs angesammelter Kenntnis gibt der Verfasser doch in natürlicher Sprache einfach und kräftig wahrheitsgetreuen und dankeswertesten Bericht über den Verlauf beider Reisen und die Zustände der in jener Geschichtsperiode aus glaubwürdigen anderen Quellen wenig oder fast gar nicht bekannten fernen Länder des Ostens. Seine Auffassung ist überall so sicher eindringend, wie seine Schilderung anschaulich; er stellt uns ein Bild Rußlands und Persiens vor Augen, welches bezeugt, daß sein Urheber ein Mann von ungewöhnlicher Schärfe der Sehkraft und hoher geistiger Bedeutung gewesen. Doch nicht nur das Wichtige und Fremde, was ihm begegnet, sondern auch die kleinen täglichen Erlebnisse der Gesandtschaft spiegeln sich in seiner Niederschrift wieder. Zweifellos bildete er die eigentliche Seele derselben und der fürstliche Rat Otto Brüggemann nur ihr nach außen, an den Höfen die Vertretung führendes Oberhaupt; wir ersehen, daß Olearius nicht selten starrsinnigen Mißgriffen und Anmaßungen desselben, der dem Vertrauen des Herzogs schlimme Enttäuschungen bereiten sollte, mannhaft Widerstand entgegensetzte, sogar in Ispahan sich selbst, wie auch Fleming, mehrfach vor Gewalttätigkeiten von Seiten Brüggemann schützen mußte. Durch seine umfassenden Sprach- und Sachkenntnisse war er allein befähigt, die gewichtigsten Geschäftsverhandlungen zu leiten; seine außerordentliche Arbeitskraft ließ ihn kaum Glaubliches nach mannigfachen Richtungen bewältigen, und nicht ohne vollsten Grund legte die »Fruchtbringende Gesellschaft« zu Weimar, als sie ihn später in ihren »Palmenorden« aufnahm, ihm den Namen »Der Vielbemühte« bei. Wenn aber die erklärte Absicht jener literarischen Vereinigung sich auf den Zweck richtete, »die hochdeutsche Sprache in ihrem rechten Wesen und Stand ohne Einmischung fremder Worte aufs Möglichste und Tunlichste zu erhalten und sich sowohl der besten Aussprache im Reden, als auch der reinsten Art im Schreiben und Dichten zu befleißigen« – so verdiente sicherlich niemand zu jener Zeit bessere Aufnahme in solche, zu allen Zeiten für deutsche Lande wünschbare und notwendige Gesellschaft, als Adam Olearius.
Aus seinem großen Reisewerke erfahren wir jedoch gleichfalls viel Eingehendes über das Leben und Handeln seines Freundes Paul Fleming; daß dieser oftmals sich durch seine Tüchtigkeit als Arzt unentbehrlich erwiesen und sich im höchsten Maße die allgemeine Achtung und Liebe der weitaus meisten, nicht zu Brüggemann haltenden Gesandtschaftsmitglieder gewonnen. Andrerseits hat der Tagebuchbericht des späteren Reisebeschreibers der Nachwelt eine nicht unerhebliche Anzahl der besten Gedichte Flemings erhalten, welche voraussichtlich ohne diese Aufzeichnung nicht auf uns gekommen sein würden. Und auch das läßt die Niederschrift erkennen, daß der junge Dichter auf dem ersten Zug nach Moskau zumeist schweigsam und schwermütigen Aussehens, wie selbst an einer schweren innerlichen Erkrankung leidend, dahingeritten ist. Nur den Grund dafür wußte Adam Olearius nicht ins Licht zu stellen, denn Fleming gab nicht Auskunft darüber; und daß ein weibliches Wesen den Anlaß für tiefe Gemütsbedrückung eines Mannes zu bilden vermöge, konnte dem nicht in den Gedanken geraten, der eine besondere Würdigkeit der »Fruchtbringenden Gesellschaft« in ihrer grundsätzlichen Ausschließung aller, auch der höchstgeborenen »Frauenzimmer« aus dem Palmenorden gewahrte.
Es war eine weite, schwierige und beschwerliche Reise durch unwegsame und unwirtliche Gegenden bis nach Moskau, zumal da der Einbruch des Winters sich hinzugesellte und oft das Weitergelangen behinderte. So wurde es Frühling, ehe die Gesandtschaft in der Hauptstadt des Zaren Michael Feodorowicz eintraf, doch ohne ihn dort vorzufinden; und als er in sein Hoflager heimkehrte, hielt er die Boten seines holsteinischen Schwagers mit Beredungen und aufgestellten Anforderungen zurück, bis der Winter abermals herannahte und sie aus Erfahrung selbst von der Heimkehr durch die schneebedeckten russischen Lande abstehen ließ. Dann als das Eis von neuer Frühlingssonne zu schmelzen anhub, sicherte der Zar den Gesandten für ihre Wiederkehr den erbetenen freien Durchzug und Unterstützung zur Weiterfortsetzung ihrer Reise nach Ispahan zu, doch unter Bedingungen, welche die Einholung der Genehmigung des Herzogs nötig machten, so daß sie, ohne den Zweck ihrer ersten Sendung recht erreicht zu haben, im April nicht besonders frohgemut den Rückweg nach Esthland antraten.
Am wenigsten aber war Paul Fleming frohen Mutes, wie er es auch an keinem Tage zu Moskau gewesen. Wohl hatte manchmal die Hoffnung sich in ihm aufzuringen, das stete Wehgefühl in seiner Brust mit lieblich flüsternder Stimme zu beschwichtigen versucht, und seine gepreßt in einem Buch mitgeführte Rose blickte ihn täglich an, als ob auch sie sich mühe, ihm tröstliche Verheißung zu sprechen. Ihre Blätter waren zwar verdorrt, doch sie hatten voll die rote Farbe bewahrt, und wenn er sich über sie beugte, kam ihm noch immer wie am ersten Morgen ein süßer Duft aus ihnen entgegen. So gingen ihm die langen Tage im Wechsel des tödlichen Bangens und traumhaft ihn umschwebender Hoffnung.
Aber als nun an einem Juninachmittage die Türme von Reval sonnbeglänzt vor ihm in den Himmel stiegen, da sagten sie ihm schon aus der Ferne, daß alles Aufflackern eines Trostes in seinem Herzen nur ein trügerischer Schein gewesen sei. Er wußte, was ihn drüben erwartete, was seinem Leben bestimmt war, Elsabe Niehusen werde nicht sein Weib sein. Sich von dem Zuge trennend, ritt er nicht mit diesem zum deutschen Gildehause am Hafen hinab, sondern durch das nächste Stadttor der bekannten Straße zu. Da hielt er vor dem Niehusenschen Hause, das ihn lautlos, stumm und geisterhaft ansah; kein Gesicht blickte aus den Fenstern, kein Diener kam, dem absteigenden Reiter behülflich zu sein. Er schlang den Zügel seines Pferdes draußen fest und trat auf den Flur; ein ihm nur zu wohl bekannter Geruch von ärztlichen Heilmitteln füllte die Luft des Raumes, doch auch hier war alles leer und leblos. Nur von der Treppe her ward jetzt eine Magd sichtbar, die der Ankömmling kurz ansprach: »Ist sie tot?« Die Befragte hob verweinte Augen gegen ihn und erwiderte: »Noch nicht, Herr; aber der Arzt sagt, eh' es Abend wird!«
»So sehe ich sie noch lebend.« Fleming sprach es vor sich hin und hieß die Magd, ihn in die Krankenstube zu führen. Er hatte nicht gefragt, wer im Sterben liege, sein Herz ließ ihn nicht daran zweifeln, und er hatte es zuvor gewußt. Daß ihr letzter Atemzug noch nicht vorübergegangen, war ihm fast noch wie ein unerhofftes Glück.
Er trat in ein großgeräumiges, für den von außen Hereinkommenden zuerst fast zwielichtdunkel erscheinendes Gemach; die Fenster waren dicht verhängt, doch die schräge Sonne stand drauf und erfüllte den Raum durch die Vorhänge mit einer wie von Goldfäden leicht durchwirkten Dämmerung. Auf einer reich mit altem Schnitzwerk geschmückten Bettstatt lag geschlossenen Auges Elsabe Niehusen; ihr braunes Haar überfloß das Kissen wie mit dunklen Wellen, ihr Antlitz war den Linnen um sie gleich und ebenso die reglos hingestreckte schöne Hand. Am Bett befanden sich die Eltern und der Arzt, man sah, sie harrten auf das Ende. Die Mutter kniete, ihren Kopf gegen die Lade drückend, der Vater wandte den seinigen bei dem Aufklang der Schritte Paul Flemings. Sein Gesicht sprach keine Befremdung über das Hiereintreten desselben; wo der Tod wartend stand, hatte jede Förmlichkeit des Lebens geendet.
So reichte Heinrich Niehusen Fleming die Hand entgegen und sprach mit gedämpfter Stimme:
»Ihr trefft uns in schwerer Stunde wieder; als Ihr fortzogt, war bessere. Schon zweimal haben wir so am Bette unserer Kinder gestanden und des Letzten geharrt, nun werden wir einsam sein in unserem Alter. Aber seid mir dennoch willkommen; in der Irre ihres hitzigen Fiebers hat sie in den letzten Tagen zum öfteren Euren Namen gerufen und laut gesprochen, als ob sie mit Euch rede. Daran gemahnt mich Euer Anblick, daß es mir ist, als gehöret Ihr zu uns und seiet vom Himmel in dieser Stunde gesendet, mit uns ihres Hinscheidens gewärtig zu sein.«
Seine Stimme war leis erklungen, doch das Ohr der Mutter hatte sie dennoch vernommen; Frau Niehusen wendete ihren Kopf, nahm Paul Fleming gewahr, und mit einer plötzlichen Bewegung sich aufrichtend, stieß sie aus: »Ihr? O, Ihr seid auch ein Arzt – helft uns!«
Der anwesende Arzt indeß schüttelte den Kopf und versetzte gedämpft: »Hier vermag Menschenhülfe und die unserer Wissenschaft nichts mehr. Es ist bereits der Schlaf des Todes, der sie befallen, sie wird nicht daraus erwachen, noch ein Zeichen des Lebens mehr regen.«
Es blieb einige Augenblicke nach den Worten so lautlos still in der Stube, daß man die leisen, schnellen Atemzüge der Kranken vernahm. Da sagte plötzlich Elsabe Niehusen mit fiebernd helltöniger, doch laut verständlicher Stimme: »Nun ist es gut – nun ist mein Herzliebster gekommen.« Und mit festgeschlossenen Lidern, wie zuvor, wendete sie tiefaufatmend das Gesicht auf die Seite, als lege sie sich zu ruhigem erquickendem Schlaf.
Reglos horchten alle; ihre Brust hob sich gleichmäßiger fort, das war noch nicht der letzte Schlaf, der nicht mehr erwachen läßt. Das Leben in ihr, das schon erloschen geschienen, begann sich noch wieder, als sei ihm ein Beistand gekommen, gegen den Tod zu wehren. Ab und zu bewegte sie in ihrer Bewußtlosigkeit ganz leise die Hand, wie wenn sie etwas Unsichtbares von sich abzudrängen suche. So blieb es länger als eine Stunde, das erwartete Aufhören des Atems trat nicht ein. Der gelehrte Arzt murmelte etwas von »absonderlicher Krisis« und einer »vis vitalis juventutis, non opinione praecepta«; er kannte Paul Fleming von dem ersten Aufenthalt desselben als Kollegen und stellte halblaute wissenschaftliche Vermutungen gegen ihn auf. Dann kam ein Augenblick, in dem seine Vorhersage, daß die Kranke den Tag nicht überleben könne, sich nicht bewahrheitete. Mit unheimlichem Schauer überrann es alle, wie die Sonne, hinter ein hohes Dach im Westen tretend, fast jäh das Goldlicht in der Stube hinsterben ließ. Doch statt mit diesem auszulöschen, richtete Elsabe ein wenig die Stirn in die Höhe, schlug die Augen auf und sprach: »Warum ist es so dunkel? Weine nicht, Mutter – ich war tot – aber ich sterbe nicht. Nur die Sonne soll auch nicht sterben – sie ist so schön.« Es klang irr durcheinander, allein doch mit einem Ton, der die leise erwachte Flamme der Hoffnung noch mit einem mehrenden Anhauch traf; das letzte, halb unverständlich ihr von den Lippen Gekommene gab zu mutmaßen, daß sie sich nach Licht sehne, und Flemings Hand entfernte eilig den Vorhang am Fenster. Eine schöne, weiche Abendröte fiel nun herein auf das farblos weiße Gesicht und in die groß aus bläulich umschatteten Hohlaugen hervor schauenden Augen des Mädchens. Sie sprach nichts mehr und gewahrte Paul Fleming nicht, sondern sie tauchte dicht an ihm vorüber den Blick in das rote Geleucht des Himmelsrandes, und kaum merkbar war's, als suche ein stilles Lächeln ihr sich um die Lippen zu legen. Doch dann fielen ihre Lider kraftlos wieder zu, und mit einem Seufzer sank der Kopf aufs Kissen zurück. Ihr Geist war nicht zur Besinnung gelangt; es hatte den Eindruck gemacht, nur ihre Seele habe sich mit einem kurzen Flügelschlag in die Weite gehoben. Der alte Arzt aber sprach: »Möge meine Wissenschaft und Erfahrung mich getäuscht haben, Herr Niehusen, wie nunmehr fast die Hoffnung sich mir aufgestalten will. Ich glaube, daß ich für heute mich an andere Lagerstätten von hinnen begeben darf, wo die ärztliche Hülfe zur Stunde dringlicher benötigt wird, denn ich vermute, daß mein junger Herr Kollega sich wiederum Eurer Gastfreundschaft erfreuen mag und Ihr Euch seiner Obsorge, wo die Krankheit sie erheischte, versichert halten dürft.«
Dem stimmten die Eltern, sowie Fleming selbstverständlich aufs Bereiteste zu; es war den ersteren, als habe schon der Eintritt des jungen Arztes ins Zimmer die hoffnungsvolle Wendung in der Krankheit ihrer Tochter herbeigeführt, und sie faßten bittend nach seinen Händen, ihn zum Bleiben zu bewegen. Er wagte noch kaum einen Schimmer möglicher Besserung zu gewahren, es stand zu fest in seiner Ueberzeugung gewurzelt, daß er die Geliebte verlieren müsse; doch er ließ sich von dem Arzte eingehendsten Bericht über den Ursprung und Verlauf der schweren Erkrankung erstatten, dann setzte er sich, die Augen nicht von dem Antlitz Elsabes verwendend, an das Bett zurück. Ihr Schlaf war wieder ein oft von verworrenen Reden unterbrochener geworden, in Zwischenräumen faßte er ihre heiße Hand, nach der fieberschnellen Blutwelle des Pulsschlages zu fühlen. Hierbei nahm er gewahr, daß es daraus allemal wie mit einer Beschwichtigung ihrer inneren Unruhe über sie kam und diese erst wieder anhub, wenn seine Hand sich von der ihrigen zurückzog. So behielt er nach dieser Erkenntnis dieselbe unausgesetzt in der seinigen, und die Stunden des Abends schritten über seine Krankenwacht hin. Frau Niehusen wollte ihm einen Imbiß bringen lassen, doch obwohl er auch am Mittag heut keine Mahlzeit eingenommen hatte, lehnte er ihre Fürsorge dankend ab. Er hätte keine Speise zu berühren vermocht, sein Körper war nicht für ihn vorhanden, nur rastloses Umherdenken seines heilkundigen Wissens mischte sich mit dem bebenden Schlag seines Herzens.
Einmal allein verließ er für wenig Minuten das Bett. Olearius hatte ihn vergeblich in der Stadt gesucht und kam nun, um hier Nachfrage nach ihm zu halten. Es war bereits auf der Reise festgesetzt worden, daß eine Anzahl von Mitgliedern der Gesandtschaft die für sie unnötige Seefahrt nach Kiel nicht mit antreten, sondern die Rückkehr der dem Herzog Bericht-Ueberbringenden zu Reval erwarten solle. Paul Fleming erklärte jetzt kurz, daß seine ärztliche Pflicht ihm auferlege, sich den in der Stadt Zurückbleibenden anzuschließen, und wenn es sich auch nur um den gefährlichen Krankheitsfall eines Mädchens handelte, so betrachtete Adam Olearius ein solches doch insoweit der Menschheit zugehörig, als der Heilkunde allerdings oblag, auch die Lebenserhaltung eines Frauenzimmers zum Gegenstande ihrer wissenschaftlichen Bemühungen zu machen. So nahm er, da das Schiff gleich am nächsten Morgen unter Segel gehen sollte, für den Verlauf einiger Monate mit eilfertigen besten Wünschen von Herrn Niehusen und Fleming Abschied, und der letztere begab sich rasch an das Bett der Kranken zurück, um dasselbe bis zum Morgenanbruch für keinen Augenblick zu verlassen.
Und lange noch blieb er so ohn' Unterlaß an die Stube gebannt, denn ungewiß schwankend verliefen die Tage. Oft nahm die nachfolgende Stunde wieder die tröstliche Aussicht, die von der voraufgehenden gebracht worden; das bleiche Gespenst, das man aufatmend verscheucht gewähnt, schlich sich unvermerkt durch die Tür zurück und stand plötzlich wieder, schweigsam aufgereckt, wie wartend zu Häupten der Kranken. Diese lag fortwährend ohne Bewußtsein, erkannte, auch wenn sie einmal kurz die Augen auftat, niemand von den rastlos um sie Bemühten: es blieb auch erfolglos, daß ihre Eltern sie baten, den ihr verordneten Heiltrank zu sich zu nehmen, denn sie kam durch keine Regung der Aufforderung nach. Nur wenn Fleming sanft zu ihr sprach: »Trinket, damit Ihr gesunden mögt!« öffnete sie sogleich die blassen Lippen und nahm die Arznei wie mit ängstlicher Hast. So durfte er, dessen Stimme allein Macht über sie übte, nicht länger als für kürzeste Frist von ihrer Seite weichen; zur Nacht streckte er sich nur auf eine Ruhebank im gleichen Raum, um jederzeit im nächsten Augenblick für eine Hülfeleistung bereit zu sein, und wenn Ermattung ihm flüchtig die Lider zum Schlaf zuschloß, war dieser so leichter Art, daß die leiseste Regung von der Bettstatt her ihn verscheuchte. Inmitten einer Nacht einmal geschah's so, die Müdigkeit hatte ihn wohl etwas tiefer überwältigt, und ihm lag's im Ohr, ein Ruf habe ihn zum Erwachen gebracht. Doch wie er hastig an das Lager Elsabes trat, regte diese sich nicht; nur als er zum Prüfen des Pulsschlages nun ihre Hand faßte, bewegten die Finger derselben sich auseinander, tasteten suchend vor und flochten sich leise zwischen die seinigen hinein. Dazu kam ein unsagbar ruhvoller Atemzug von ihrer Brust her; der junge Arzt konnte seine Stellung nicht verlassen, denn sobald er seine Hand nur kaum merklich rührte, zogen die schmalen Finger sich haltend um sie zusammen. Aber dabei fühlte er, daß die Hitze aus ihnen zu schwinden begann, mählich wurden sie kühl und kühler, nach Stunden erhob sich die frühe Sommermorgendämmerung, und wie sie spielend über das Antlitz der friedlich von Schlaf Umfangenen glitt, zeigte sie zum ersten Mal auf den Wangen eine ganz leise Färbung, nur einem Hauche gleich, doch wie erstes beginnendes Morgenrot eines neuen Lebens. Und als wie ein Goldpfeil ein erster Sonnenstrahl draußen die Luft durchflog, öffnete Elsabe Niehusen weit die Augen und sah mit voller Besinnung dem vor ihr Sitzenden ins Gesicht. Nichts Staunendes sprach aus dem Blick, nur eine wundersame Freudigkeit, und als ob sie zu jeder Stunde alles gewußt, was um sie und für sie von ihm geschehen, sagte sie leisklingend, doch fieberlosen Tones: »Nun müßt Ihr schlafen, auf daß Ihr nicht krank werdet, denn nur das wäre mein Tod.«
Die Tür ging auf und die unruhvoll in der Frühe von kurzer Nachtrast emporgeflogenen Eltern des Mädchens traten herein. Ein hoher leuchtender Glanz im Antlitz Paul Flemings sprach ihnen schon über die Schwelle entgegen, daß zum ersten Mal auch in ihm die Hoffnung sich eine freudige Wohnstatt bereitet habe, und mit halb stammelnden Lippen sagte er: »Lasset uns dem Himmel danken, denn was eines Menschen Voraussicht fassen mag, spricht zu dieser Stunde, Eure Tochter wird leben.«
Das bewährte der Fortgang des Tages und immer mehr jeder, der ihm folgte; die toddrohende Kraft der Krankheit war gebrochen, langsam hatte die Genesung begonnen. Nur Schritt um Schritt gedieh sie vorwärts, es war ein weiter Weg vom Rande des offenen Grabes, an dem das Mädchen hingebettet gelegen, bis zur vollen Wiedererreichung der Gesundheit. Aufs ängstlichste hielt der junge Arzt alle Vorschriften der Heilwissenschaft zur Verhütung eines Rückfalls im Auge; doch mehr als aus dieser leiblichen Umsorge, erschien's, durchfloß seine Gegenwart, die Zwiesprache mit ihm die Entkräftete mit neuer Lebensstärkung. Beide redeten indes nie von den Worten, die ihre Lippen in der herbstlichen Abschiedsstunde gegeneinander ausgetauscht; Fleming erzählte der ausgestreckt vor ihm Ruhenden zumeist von seinen Erlebnissen und Wahrnehmungen im moskowitischen Lande, und Elsabe hörte mit stillem Ausdruck des Glückes zu. Wie ein schweigendes Einverständnis zwischen ihnen war's, nicht an der wechselseitigen Erkenntnis ihrer Herzen, die sie sich bei jener Trennung bekundet, zu rühren; nur wenn er in seine Erzählungen eines der Gedichte einschaltete, die sich ihm zu Moskau aus zugleich seliger und bangender Brust aufgerungen, da blickten ihre Augen sich mit einem geheimen Gruße entgegen. Und nur einmal fragte eines Tages die Genesende mit einem träumerischen Stimmenklang, nachdem sie eine Weile die Lider geschlossen gehalten: »Ist es schon Zeit, daß die Rose blüht?« Er eilte in den Garten hinunter und suchte, doch der Sommer hielt späte Einkehr in Reval, und er vermochte nur eine kaum eben erst sich färbende Knospe zurückzubringen. Die nahm Elsabe und lächelte: »Im Herbst blühen sie schöner, däucht mich.« Da sprang er wiederum auf, kehrte nach kurzer Frist mit einer gepreßten Rose und sprach: »Kennt Ihr sie? Ich habe sie behütet, wie der Himmel Euch, Ihr seht es an dem Rot, das ihre Blätter bewahrt, gleichwie es auf Eure Wangen zurückgekommen, Jungfrau. Nur die Tauperle, die im Kelche damals geleuchtet, ist draus geschwunden, denn sie ward zu tausend Tränen in meinen Augen.« Stumm faßte Elsabe Niehusen die verdorrte Blume, hob diese gegen ihr Gesicht und erwiderte: »Ja, sie hat Euch nach meinem Auftrag geleitet, denn sie trägt noch Duft in sich, wie zu der Stunde, da ich sie Euch gab.«
Die Lippen behielten eine gewisse Förmlichkeit der Rede zwischen ihnen inne, nur hin und wieder sprachen die Augen anders als der Mund. Dann kam ein Tag, an dem Fleming die Stube verlassen mußte, da das Mädchen sich stark genug fühlte, mit Hülfe der Mutter zum ersten Mal aus dem Bett aufzustehen und sich anzukleiden. Er war nicht mehr der Arzt, sondern fast wie ein Fremder jetzt aus dem jungfräulichen Gemach ausgeschlossen, harrte er ihres Kommens in der Wohnstube. Dann trat sie herein und hatte das blaue Gewand angelegt, in welchem er sie zuerst auf dem Bildnis und in der Wirklichkeit gesehen. Sie schien während ihrer Krankheit noch um Einiges gewachsen zu sein, so hoch und schlank stand sie vor ihm, und das Kleid deckte ihre schmalen Füße nicht mehr, daß die Mutter äußerte, sie könne dasselbe fürder nicht mehr tragen. Nun reichte sie Paul Fleming die Hand und sprach: »Habet Dank, denn ohne Euch hätte ich diesen Raum nicht wieder betreten.« Aber die Füße trugen sie noch nicht länger, und sie mußte sich niederlassen und bat: »Nun erzählet mir hier von dem, was Ihr erlebt und gesehen, bis ich noch besser zu Kräften gelangt bin, als heut.«
Dergestalt gingen etliche Wochen weiter fort, in denen die Wiederherstellung des Mädchens sichtlich von Tag zu Tage rascher vorschritt. Während dieser Zeit vernahm sie zum ersten Mal von Fleming, daß er schon zuvor in Kiel bei Olearius ihr Bildnis gewahrt und daß dieses allein ihm den Antrieb zur Teilnahme an der Botschaft nach Moskau verliehen habe, weil er von der Fahrt über Reval geführt worden. Dunkel trug Elsabe noch im Gedächtnis, wie auch sie in früher Kindheit über das große Wasser hierhergekommen und vordem eine Weile mit den Eltern in der Stadt Kiel gewohnt habe. Von derselben wußte sie jedoch nur Zweierlei mehr: daß sie einmal in einem an hellichtem Tag wie nachtschwarzen Hause gewesen und drin auf dem Flur über etwas am Boden gefallen war; da hatte Herr Olearius eine Tür geöffnet, sie weinend aufgehoben und zur Tröstung auf seinen Knien hin- und hergeschaukelt. Sodann erinnerte sie sich noch an ein ihr etwa gleichalteriges, blondhaariges Mädchen, das Agnete geheißen und mit dem sie zum öfteren auf einem Platz unter einem hohen Kirchturm gespielt. Sie befragte Fleming, ob er bei seinem Aufenthalt in Kiel etwa von einer nun erwachsenen Jungfrau dieses Namens vernommen, da sie noch ein freundliches Angedenken an dieselbe in sich trage und ihr gern einmal einen Gruß hinübersenden würde, doch sei der Geschlechtsname des Kindes ihr entfallen oder wohl nie bekannt gewesen. Das berührte den jungen Hörer seltsam und peinlich, ihm konnte kein Zweifel bleiben, daß sie von Agnete Burenäus geredet, mit der ihn das Leben gleichfalls, doch zu so häßlicher Enttäuschung verknüpft hatte. Aber davon konnte und wollte er nicht Bericht erstatten, und er leitete das Gespräch auf die erste der Erinnerungen Elsabes zurück, wie sonderbar es sich gefügt, daß Adam Olearius sie einstmals als Kind offenbar in der nämlichen Stube auf den Knien gehalten, in welcher der Gast desselben um so vieles später zuerst ihr Bildnis gefunden und betrachtet. Auf den Brettern war er gegangen, die auch ihr Fuß betreten gehabt; auf den Dingen umher, die er dort angeschaut, hatte auch ihr Blick verweilt. Sie alle hätten ihm von ihr zu reden vermocht, und dem Empfinden des jungen Dichters war's jetzt, als ob sie es auch wohl in ihrer stummen Sprache getan. Ein geheimes Weben in jenem Raum hatte ihn mit der fremden Jungfrau im fernen Reval verknüpft, und so war er, namenlos und unbekannt, zur selben Stunde auch im Traume zu ihr hingetreten. Beide fühlten's, es gab einen geheimnisvollen Willen des Lebens oder der Liebe, den der Verstand sich umsonst zu erklären versuchte.
Das Wort Liebe jedoch war noch niemals von ihren Lippen gekommen, einzig aus den Augen klang es unhörbar auf. Als sei es eine wundersame Herrlichkeit, das Wort nicht auszusprechen, saßen sie lange Stunden des Tages beisammen, über Bild und Traum und das von diesen beiden schon vor ihrer ersten Begegnung zwischen ihnen geschlungene Band miteinander redend, doch gleich Freunden oder Geschwistern, fast wie zwei große glückselige Kinder. Mit beglückten Augen sahen die Eltern des Mädchens stumm-erkennend auf die Unzertrennlichkeit und das innige Verständnis zwischen den beiden wunderbar von der Natur für einander gebildeten, mit gleicher Schönheit des Leibes und des Gemütes begabten Menschen; doch nie betraf ein Hinzukommender sie in vertraulicher Haltung, als daß sie Hand in Hand redeten, wie Bruder und Schwester es wohl gleicherweise tun gekonnt. Einmal hatte Paul Fleming, da sie wiederum über den seltsamen Traum Elsabes im Garten gesprochen, sie befragt, was er denn damals getan habe, als er nicht die ihm dargebotene Hälfte des Apfels aus ihrer Hand genommen; es müsse doch wohl Böses gewesen sein, weil sie sich geweigert, es ihm kundzugeben. Bei der Frage indes schüttelte sie wieder wie in jener Stunde den Kopf und entgegnete: »Meine Lippen fühlen sich noch nicht sicher und stark genug ins Leben zurückgekommen, um es Euch sagen zu können.« Doch ihr Mund war außer Stande, ein schelmisch-glückhaftes Lächeln bei der Antwort zu beherrschen und ihre Augensterne sprachen leuchtend: »Fragt wieder danach zur rechten Stunde, da verschweige ich es nicht mehr.«
Eines Nachmittags aber kam Fleming zur gewohnten Zeit in die gemeinsame Stube und fand diese leer. Der Platz, den das Mädchen sonst stets, auf ihn harrend, einnahm, war unbesetzt, doch ein Blättchen lag davor, drauf hatte ihre Hand geschrieben, sie fühle sich heute so gesund und stark, daß sie, ohne den Arzt drum zu befragen, ihrem Herzensverlangen nicht widerstanden habe, zum ersten Mal wieder in den Garten hinabzugehen. Mit einem geheimnisvoll-wundersamen Herzschlag durchbebte es plötzlich aus den wenigen Zeilen den Lesenden; hastig eilte auch sein Fuß die Treppe hinunter. Es war Julimitte geworden, und der nordische Himmel stand in seiner Hochzeit mit der Erde. Grünes Laub überwölbte alle Bäume und Gebüsche des großen Gartens, der Eilende schlug denselben Pfad ein, den er zum ersten Mal hier gegangen. Da hielt er wie an jenem Tag den Fuß, denn wieder grüßten ihm von der nämlichen Stelle her die beiden hellen Farben entgegen, Lichtblau und liebliches Rot. Nur war das letztere jetzt nicht klein umschränkt, sondern der ganze Rosenstrauch stand von Blüten überdeckt, und die schwanken Zweige beugten sich unter ihrer holden Last. Den blauen Schein aber verbreitete wie damals das Kleid Elsabes, das sie heut noch wieder angelegt hatte, trotzdem es ihr zu kurz geworden. So saß sie genau wie an jenem Tage in dem stillen Gartenwinkel auf der niederen Bank, und die Sommersonne füllte alles um sie mit goldenem Glanz.
Doch alles Schauen, Denken und Fühlen Paul Flemings in diesem Augenblick floß in ein Einziges zusammen. Die düstere Vorahnung seines Herzens war nicht zur Wahrheit geworden; wohl hatte sie ihm mit Recht schlimm und schwer Bevorstehendes verkündigt, aber nur tiefdunkler Schatten sich nach dem lieblichen Antlitz dort ausgestreckt, nicht die Nacht. Sie war wieder vor der Sonne entflohen, die Kraft der Sehnsucht, der Liebe stärker gewesen, als der Tod, und Elsabe Niehusen lebte.
Auch ihre vorgerichteten Augen sprachen es, jetzt wisse sie, daß sie ihres Lebens gewiß sei. Wie an einem Strahlenband zog ihr stummer Blick den Erwarteten heran, er trat auf sie zu und sagte:
»So war's, als ich Euch zuerst sah – nur ist's andre Zeit des Jahres, denn es blühen der Rosen gar viele heut, und der Apfel mangelt dafür auf dem Tisch.«
Aber wie er das letzte sprach, kam's ihm, daß er, sich neben die Sitzende auf die Bank niederlassend, beifügte: »Mich bedünkt, es wäre wohl die Stunde, Jungfrau, daß Ihr meiner Frage Bescheid gäbet, was ich in Eurem Traume Unrichtiges hier getan, als Ihr mir meine Hälfte des Apfels darbotet.«
Sie hielten sich beide die Augen, bis an die Wimpern mit Glanz gefüllt, dicht zugewendet. So erwiderte das Mädchen mit Lippen, die eine wonnige Schalkheit umspielte: »Also wisset Ihr es wirklich nicht?«
»Wie fragt' ich dann? Ihr wisset ja, ich tat's im Traume, dessen entsinnt man sich nicht mehr, wenn man wach geworden. Doch ist's mir, Ihr sagtet, ich hätte meine Hand gehoben –«
»Ja –«
So langsam entgegnete sie's, als wolle sie den Blick der ineinander gerichteten Augen, den Herzschlag der Brust noch zu einer traumhaften Unendlichkeit fortdehnen, und ebenso auch fragte Paul Fleming weiter:
»Was aber tat dann meine Hand?«
»Gar Unglaubliches.«
»War es auch gar Unlöbliches?«
»Das mochte wohl sein, doch im Traum erschien's mir nicht so.«
Märchenhaft seliges Reden und Erwidern, Aug in Auge. Nun sagte der von Glück Ueberwogte:
»Ich vermag nicht zu denken, was die Hand Arges vollbracht. Oder tat sie etwas in solcher Weise?«
Sein Arm schlang sich sanft um den Nacken Elsabes, die lächelnd antwort gab: »Man möchte glauben, Eure Hand wisse es dennoch.«
»So lehrt sie mich wohl das Rechte, da ich es nicht weiß. Und dann – was tat ich dann? Das mußt du mich lehren, meines Lebens Leben –«
Doch nun hatte der zögernd anhaltende Schritt den Vorraum der Seligkeit durchmessen, die goldenen Pforten des Himmels selbst sprangen vor den Herangenahten auf, ein Lichtstrom wie von tausend Sonnen brach aus ihnen hervor, daß Elsabe Niehusen die Augen fest zuschließen mußte und die Lippen darunter nur flüsternd erwiderten: »Dann, meines Lebens Leben, küßtest du mich auf den Mund –«.
*
Im ersten Oktoberbeginn, genau um die Zeit wie zwei Jahre zuvor, nur diesmal aus dem Hafen von Travemünde, brach die glänzend ausgerüstete Gesandtschaft des Herzogs Friedrich von Holstein-Gottorp – von einem förmlichen Heere von Pagen und Dienern, Musikern, Feldtrompetern, Feldscherern, Uhrmachern, Handwerkern aller Art, Trabanten, Lakaien, Köchen, Küchenschreibern, Schiffern, Bootsleuten und Dolmetschern begleitet – zum andernmal auf, um in jetzigem Zuge wirklich an ihr Ziel bis nach Ispahan an den Hof des jungen Schah Sofi zu gelangen. Wie sie – obwohl nach schwerer Gefährdung, da sie unterwegs auf der Ostsee Schiffbruch erlitten – in Reval eintraf, fand Adam Olearius höchlichst Unerwartetes im Hause seines Gastfreundes Niehusen, freudenvolle Eltern, eine selige Braut und glückstrahlend Paul Fleming an ihrer Seite. Der gelehrte Bibliothekar schüttelte darob wohl innerlich als über Unbegreifliches den Kopf; doch er wußte, daß der Genius des Dichters etwas mit der dementia in Verwandtschaft stehe, und allerdings fiel es ja für die erwünschte Fortdauer des Menschengeschlechtes gewissermaßen notwendig, daß nicht alle Männer in dem höheren Stande der Ehelosigkeit beharrten. So zwang Olearius sich in wohlgesetzter Sprache einen Glückwunsch zu dem Unabänderlichen ab; viel Zeit blieb ihm auch nicht, denn der Aufbruch der Botschaft zur Weiterreise war abermals schon für den nächsten Tag vorgesehen. Ebenso stand bereits seit langem zwischen Fleming, seiner Braut und den Eltern derselben festgesetzt, daß er die Gesandtschaft wiederum als Arzt ins persische Land begleite. Er hatte dem Herzog gegenüber die Pflicht auf sich genommen, doch auch für mannigfache Kenntnisbereicherung in seiner Wissenschaft wie für die Zukunftsgestaltung seines eigenen Lebens war diese Teilnahme an dem Zug nach Ispahan unfraglich höchst wünschenswert und bedeutungsvoll. Sie trug ihm zugleich mit der Gunst des Fürsten reichhaltigen Lohn, und zweifellos wuchs durch den Aufenthalt unter den sagenhaften Wundern des Morgenlandes sein ärztlicher Ruf in der Heimat, so daß er nach seiner Rückkehr sich mit sicherster Erfolgaussicht in einer größeren deutschen Stadt zur Ausübung der Heilkunde niederlassen und Elsabe bald dorthin als sein junges Weib zu sich holen konnte.
Wohl war's ein schmerzlicher Abschied beim Davonritt, doch gar andrer Art, als um zwei Jahre zuvor. Kein banger Schatten überdunkelte den Augen des Fortziehenden diesmal das Antlitz der Geliebten, keine ahnungsschwere Angst durchzitterte ihm das Herz. Leuchtend in junger Pracht der Gesundheit an Leib und Seele, stand sie bei der Trennung vor ihm, und er wußte, so finde er sie wieder. Er hatte sie gebeten, nach dem Abschied an den Steintisch im Garten zu gehen; als sie den Schritt dorthin gewandt, fand sie, mit der letzten Herbstrose des daneben stehenden Strauches bedeckt, ein Blatt, auf das er erst vor wenigen Minuten geschrieben:
»Ade, o Platz, den Göttern selbst begehret,
Der Du sie mir so vielmal hast gewähret,
Sei tausendmal, sei tausend, tausendmal
Gegrüßt! Du bleibst in Lust, ich leb' in Qual!
Ihr Bäche, Büsche, Gärten und Gefilder,
Und was ihr hegt; ihr schönen Lenzesbilder,
Du Sommerlust, Du Herbst, Du Winterzier,
Zu guter Nacht! Ich scheid': ihr bleibt bei Ihr!«
Von der Stadt dahin ritt nun der junge Dichter, diesmal auf dem Wege gen Narwa, neben Olearius entlang, der ihm von manchem berichtete, was seit dem ersten Fortgange der Gesandtschaft zu Kiel geschehen. Der Herzog hielt Tag und Nacht die Gedanken auf sein großes Unternehmen verwandt und traf bereits alle für dasselbe zur Zeit möglichen Vorbereitungen. Nur mit dem Beginn des Kanalbaus wollte er noch bis zum Einlauf der Nachrichten aus Ispahan zuwarten, doch hatte man schon angefangen, die Lagerhäuserreihe zwischen dem Markt und der Nikolaikirche zu errichten, und es sollte ihnen der Name der »Persianischen Häuser« beigelegt werden. Auch von mancherlei Persönlichkeiten erzählte Olearius, unter anderen von dem Magister Basilius Becker, daß dieser durch seine Kenntnisse und klugen Ratschläge inzwischen noch außerordentlich in der fürstlichen Gunst emporgestiegen sei und sich fast beständig in Kiel aufhalte, ohne daß indes Paul Fleming auf solche Mitteilungen mehr als mit einem halben Ohr hinhörte. Seine Aufmerksamkeit ward erst in etwas geweckt, wie der Sprecher in Erwähnung brachte, der Magister Becker sei, wie man rede, schon seit Jahren nunmehr Brautwerber um die Tochter des Bürgermeisters Burenäus, und man rechne ihm allgemein dies in der Stadt als einen hohen Beweis seiner christlichen Sinnesart und scheulosen Handelns nach den göttlichen Geboten an, da die Benannte eine schwere Schädigung ihres jungfräulichen Rufes erlitten habe. Welcher Art die letztere gewesen, wußte Olearius nicht anzugeben und hatte er auch nicht weiter erfragt, nur daß sie in einem übelberufenen Hause bei nächtlicher Zusammenkunft mit einem Manne betroffen worden. Seitdem betrete niemand vom weiblichen Geschlechte aus den wohlangesehenen und ehrsamen Ständen mehr das Haus ihres Vaters, und sie verbringe ihre Lebenstage fast gänzlich nur auf sich selbst belassen, in einsamlichster Weise auf ihrer Stube. Trotz alledem aber weise sie die Bewerbung des Magisters Becker in hartnäckiger Betörung zurück, und dies machte wohl den Grund aus, weshalb Adam Olearius dem Tun und Treiben eines Frauenzimmers in so ausführlichem Maße Worte vergönnte. Denn es ging ihm daraus ein Vollbeleg für die untergeordnete geistige Naturbegabung des generis feminini hervor, da die mangelnde Vernunft der Beredten nicht einmal im Stande sei, zu erkennen, daß sie einzig durch ihre Verehelichung mit einem sogar auch am Hofe angesehenen Manne sich von der auf ihr lastenden Bescholtenheit zu erledigen und eine achtbare Stellung zurückzugewinnen vermöge.
Es erhellte aus den Mitteilungen des Erzählers als zweifellos, daß diesen, sowie die öffentliche Kunde in der Stadt Kiel keine Ahnung berührte, wer derjenige gewesen sei, mit dem Agnete Burenäus so nächtlicher Weile zusammenzukommen getrachtet. Das gereichte Fleming zu erfreulicher Beruhigung, und er wendete seine Gedanken rasch von dem in ihm aufgeweckten häßlichen Erinnerungsbilde wieder auf das lieblichste seines Lebens, das jetzt in dem trauten Garten zu Reval, sein Herz als Eigentum bei sich behaltend, zurückblieb.
Von den letzteren gibt uns manche Zeile in Adam Olearius' »Persianischer Reisebeschreibung« Nachricht. Wir ersehen daraus, daß Paul Fleming zum zweitenmal als ein gar anderer gen Moskau und weiter nach Ispahan zog, als er zuerst des nämlichen Weges geritten. Spräche das Buch es nicht oftmal geradezu, so klänge es uns schon genugsam aus den andersgearteten Gedichten entgegen, welche der Reiseberichterstatter von dieser zweiten Fahrt aus Mund und Feder seines jüngeren Freundes für die Nachwelt erhalten hat. Sie jubeln wie Vogelgesang des Frühlings, der auch sehnsuchtsvoll auftönt in sorgloser Seligkeit, oft jugendübermütig von allzureichem und leuchtendem Glück. Manche der jauchzenden Verse sandte der junge Dichter auch, wenn eine Möglichkeit sich bot, in Briefen nach Reval, von denen die meisten, als ob ein schützender Geist sie unter sein Geleit genommen, wenn auch oft lang umirrend, zuletzt doch aus der weiten Ferne glücklich und beglückend ihr Ziel erreichten. Selbst ein kleines Päckchen, dessen Inhalt er in einem der morgenländischen Bazare Ispahans angekauft, vertraute er einmal der ungewissen, doch ihn nicht täuschenden Weghoffnung. Frühling war's, als er den kleinen wohlverwahrten Behälter davonsendete, und Herbst wieder ward's, bevor Elsabe Niehusen ihn im Garten neben der letzten Rosenblüte öffnete. Da fiel ihr draus ein köstlicher Goldreif mit grünleuchtendem Smaragd in die Hand, und ein Blättchen, das ihn umhüllte, sprach:
»So reise denn auch du, du freundlicher Smaragd,
Zu meiner Freundin hin, und lasse dir behagen,
Daß eine solche Hand dich fürderhin soll tragen,
Die auch, wie keusch du bist, dich doch noch keuscher macht.
Sei um sie, wenn sie schläft, sei um sie, wenn sie wacht!
Oft wird sie dich von mir und meiner Liebe fragen:
Halt' anderer Steine Brauch, die nichts nicht wieder sagen,
Schweig, was Du siehst und hörst, und nimm dich selbst in Acht!
Geschieht es etwa dann, daß lieblich in Gedanken
Sie einen Kuß dir reicht, so heb' ihn auf für mich
Bis morgen gegen Nacht. Und wollten etwan sich
Die Lüfte, die es sehn, hierüber mit dir zanken,
Und mir ihn bringen eh', als ich mich stellet ein,
So send' ihn mir durch sie und laß es heimlich sein.«
Gleichfalls kamen dann und wann nach langer Umwanderung in Flemings Hand Grüße vom Ostseerand des finnischen Meerbusens.
Doch wenn auch keine solche Boten mit den Wolken, die der Nord und der Süd trieb, daher und dahinzogen, um die Harrenden schlug keine dunkle Sorge die Schwingen. Paul Fleming wußte jetzt, der Geliebten drohte nichts mehr, er werde sie wiederfinden, wie er sie verlassen, und Elsabe bangte nicht vor den weitberufenen schönen Frauen des Morgenlandes, denn sie trug, gleich einem Talisman auf ihrer Brust ein von dorther zu ihr geflattertes Blättchen, darauf geschrieben stand:
»Ein getreues Herze wissen,
Hat des höchsten Schatzes Preis;
Der ist selig zu begrüßen,
Der ein treues Herze weiß.
Mir ist wohl bei höchstem Schmerze,
Denn ich weiß ein treues Herze.«
Lieblich klang es selbstverständlich dem lauschenden Ohre der Liebe; aber es erheischt Kenntnis der schwülstig-geschmacklosen, unertragbaren Art fast aller Dichtung der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, um die frische Natürlichkeit und den neuen Wohllaut der deutschen Sprache ganz zu empfinden, mit denen die Lieder Paul Flemings auch in das Gemüt jedes fremden Hörers eindrangen.
Der Aufenthalt der Gesandtschaft in Persien zog sich weit in die Länge. Der junge Schah Sofi, verschwenderisch, vorteilsüchtig und geldgierig, zeigte sich in der Hoffnung auf reichhaltigen Gewinn dem Plane des deutschen Fürsten wohl zugeneigt; aber fast in stetiger Trunkenheit befindlich, war er selten für eine Verhandlung zurechnungsfähig und leistete weder Bürgschaft für längere Andauer seines Lebens, noch für eine Sicherung seiner Zusagen.
Noch weniger verhießen in dieser Richtung die trostlosen, außerhalb der Hauptstadt Ispahan fast gänzlich verwahrlosten Zustände des Landes. Wilde Steppenvölker brachen plündernd und verheerend über die unbehüteten Grenzen; wenn der Schah, wie zu vermuten stand, in nicht ferner Zeit seiner Trunksucht erlag, ging die Thronfolge auf seinen noch in unmündigstem Knabenalter stehenden Sohn Abbas über, und in diesem Falle waren Kriege um die Herrschaft beinahe mit Gewißheit vorauszusehen. Dennoch gelang es der klugen Einsicht, Ausdauer und Tatkräftigkeit des Gesandtschaftssekretärs Olearius, als des eigentlichen Leiters der Unterhandlungen, ein für die Lage der Dinge nicht unbefriedigendes Ergebnis herbeizuführen.
Dies machte auf dem Rückwege auch in Moskau wiederum ein längeres Verweilen zur Ordnung dort erforderlicher Vertragsabschlüsse notwendig, und so kam das Ende des Maimonats des Jahres 1639 heran, bevor die Reisenden wieder in die Stadt Reval einzogen. Ueberall hatte der Gesandtschaftsleiter Brüggemann seine Kunst aufgeboten, möglichst lange, absichtliche Verzögerungen herbeizuführen, weil er sich aus guten oder vielmehr übelsten Gründen vor der Rückkehr nach Kiel und Rechenschaftsablegung bei dem Herzog scheute. Aus solchem Zusammenkommen waren denn mehr als drei Jahre vergangen, wie Paul Fleming seine Braut wieder in die Arme schloß; doch obwohl sie jetzt nicht mehr im ersten Alter des Ueberganges vom Kinde zur Jungfrau stand, hatte sie sich dennoch völlig unverändert in der einem Frühlingsmorgen gleichenden Lieblichkeit ihres Antlitzes und Wesens erhalten. Nur zeigte ein Kleid, das sie sich zum Empfang wieder aus lichtblauem Stoffe angefertigt, das unter ihm Verborgene höher und reicher aufgeblüht; das erste blaue Gewand, in welchem Fleming sie vor fünf Jahren angetroffen, wäre heut eine Knospenhülle gewesen, die der entfalteten Rose nicht mehr entsprochen.
Gleich der verhüllten Schönheit des Mädchens aber war, vom Tau der Sehnsucht genährt, während der langen Trennung die Liebe im Herzen beider noch reicher zur Blüte aufgewachsen, und Augen und Lippen gaben sich selig-verschwiegen Kunde davon. Sie sprachen sich den Schluß eines Sonnettes, mit dem der junge Dichter einmal eine Hochzeit gefeiert:
»Ihr, balde Frau und Mann,
Erkennt des Glückes Gunst! Luft, Himmel, Sonne, Felder,
See, Quelle, Garten, Fels, Tal, Auen, Berge, Wälder,
Die stimmen euch itzund ein süßes Brautlied an.«
Nur kurze Aufenthaltsfrist fiel den Gesandten in Reval vergönnt, sie mußten bald wieder aufbrechen, dem ungeduldig wartenden Herzog Meldung zu erstatten, und auch Paul Fleming durfte sich von der letzteren nicht ausschließen. Die Gestaltung seiner Zukunft, das Verlangen des Brautpaares selbst erheischten gleichfalls seinen baldigen Wiederfortgang. Er wollte auf der niederländischen Universität zu Leyden den medizinischen Doktorgrad erwerben und sich danach in der großen Stadt Hamburg zur Ausübung seiner Wissenschaft niederlassen. Dann im ersten Beginn des nächsten Frühjahrs kam er zu seiner eigenen Hochzeit hierher zurück und führte seine junge Frau mit sich nach Deutschland.
Herrlich waren die kurzen und doch eine Unendlichkeit des Liebesglückes umschließenden Frühlingstage, welche gegenwärtig die beiden, zumeist in dem holdvertrauten Garten, vereinigt hielten. Um die Jahreszeit war's, in der vor drei Jahren Fleming bei der ersten Rückkehr von Moskau Elsabe Niehusen wie im Sterben liegend gefunden; doch jetzt fiel kein leisester Schatten in die lachende Sonnenwelt ihrer Zukunft hinein.
Oft redeten sie freudig von dem unheimlich-ahnungsschweren Bangen, das der Scheidende damals mit auf den Weg genommen und welches ihm das Wort der Liebe auf den Lippen zurückgebannt gehalten. Dann lachte Elsabe wohl übermütig:
»Du siehest, ich hatte mich mit dem Apfelkern nicht der Unterwelt anvermählt – oder mußt du's auch fühlen, um Glauben daran hegen zu können?«
Und ihre Lippen überzeugten ihn ohne Worte davon, doch ernsthafter fügte sie nach:
»Wir tragen allzeit das Gleiche in uns, und mir war es so in meiner Genesung, daß ich noch nicht wagte, auf das Glück zu hoffen. Drum sprach mein Mund nicht von ihm, bis du mich wieder hier auf der Bank fandest; nur den Augen konnte ich es nicht gebieten, zu schweigen, denn das reicht wohl über Menschenkraft.«
Und Braut und Bräutigam blickten sich an, und die Augen redeten wiederum mit sehnsuchtstiefem Glanze, was auch jetzt der Mund noch verschwieg.
Die Rosen blühten noch nicht, doch Fleming hatte aus Ispahan die Zwiebel einer bis dahin in Reval, wie in ganz Deutschland unbekannten Blume mitgebracht, die nach ihrer goldroten, turbanähnlichen Blüte dort »die Blüte des Schah« oder »Kaiserkrone« benannt wurde. Die pflanzten sie selbander in den Boden des Gartens ein; wenn der Frühling sich zu regen beginne, sagte der kundige Ueberbringer der Pflanze, da schlüpften die ersten grünen Spitzen aus der Erde, überaus hurtig wachsend und sich zu Knospen entwickelnd. Doch bevor diese aufgebrochen, sei er schon hier, und beim Hochzeitsfeste solle Elsabe die blühende Kaiserkrone an der Brust tragen; zum Symbole, daß sie seines Herzens Krone und Kaiserin sei.
Dann kam der Tag, an dem das Schiff zur Abfahrt bereit lag. Mit ihren Eltern geleitete die Braut den Fortziehenden an Bord, zum letzten Mal hielten sich ihre Hände. Doch lächelnd sagte Paul Fleming:
»Das ist keine Trennung mehr, wenn man schon ins moskowitische und persianische Land voneinander gegangen. Da gleichet die Ostsee nur einem Bächlein, über das man hinüber und herüber hüpfet.«
Die Kogge bauschte die Segel, und vom Glück der sicheren, seligen Zukunft leuchtend, grüßten die Augen Elsabe Niehusens der langsam entschwindenden nach.
*
Um die Junimitte trafen die Weitgereisten wieder an ihrer Ausfahrtsstätte im Hafen von Travemünde ein und nahmen von hier ihren Weg durchs Wagrische Land nach Kiel, wohin der Herzog Friedrich zu ihrem Empfang vom Gottorper Schloß gekommen. Doch schon vorm Holstentore ward ihnen ein anderer Empfang bereitet; die Kunde ihrer Rückkunft war ihnen vorangeeilt, und viele Hunderte erharrten sie zur ersten Bewillkommnung. Darunter befanden sich an der Spitze der städtischen Honoratioren nicht nur selbstredend der Bürgermeister und die Ratsherrn, sondern auch, als oberster Vertreter der Geistlichkeit, der Hauptpastor an der Nikolaikirche. Jedoch benannte dieser sich nicht mehr Magister Peter Trüger, der bereits vor zwei Jahren das Zeitliche gesegnet und von dem Poeta laureato Caesarico Rudolph Burenäus in einem griechischen Epitaph nach Verdienst seiner vielen Tugenden gepriesen worden war. Vielmehr hieß sich der ihm nachgefolgte, von der Gemeinde erwählte und vom Herzog bestätigte gegenwärtige Hauptpastor der Nikolaikirche Magister Christoph Basilius Becker, seit dem Abscheiden seines Vorgängers zugleich schon die Stellung des fürstlichen Hofpredigers bekleidend. Als Ratgeber Serenissimi, höchster geistlicher Würdenträger der Stadt und als ein bedeutsamer Mann, dem nach seinen Gaben auch gegeben worden, stand er in höchster öffentlicher Achtung, und es verwahrte sich Jeglicher, jemals Uebles von ihm gedacht, geschweige denn geredet zu haben. Er war unverehelicht, denn seitdem er zum Hauptpastor vorgeschritten, hatte er von seiner stets gleicherweise erfolglos gebliebenen Werbung um Agnete Burenäus abgelassen; und das einzige nicht zu seinem Preise Dienende, was einer unter vier Augen über ihn zu äußern sich unterfing, bestand in der Mutmaßung, er habe zuvor wohl nicht lediglich aus christlichem Erbarmen um die bescholtene Tochter der Bürgermeisters angehalten, sondern auch ein Augenmerk dabei auf das beträchtliche Vermögen desselben gerichtet gehabt. Solcher Rücksichtnahme hatte seine reiche Pfründe ihn nunmehr entledigt, und er schien zur Erkenntnis der größeren Gottgefälligkeit des ledigen als des ehelichen Standes vorgediehen, denn er bewarb sich weder mehr um Agnete Burenäus, noch um eine sonstige Tochter der Stadt.
Als die Gesandten in großem Geleite jetzt von der Ausmündung der Holstenstraße dem Eingang der Schmiedestraße zuritten, hielten sie unwillkürlich ein Weilchen an, da sie den früheren geraden Uebergang versperrt fanden und um ein Weniges zur Linken auf den Marktplatz hin ausbiegen mußten. Zwischen diesem und der Nikolaikirche erhob sich die fertig gestellte Reihe der »Persianischen Häuser«, jedes dem anderen an Große und Bauart gleichend, alle dem Markt zu im Erdgeschoß mit offenen Bogenhallen versehen; in der Mitte fuhrt ein Schwibbogen zur Kirche hindurch. Sie standen leer und blickten gewissermaßen fremd-absonderlich in ihre Umgebung drein; man sah ihnen an, daß es eine besondere Bewandtnis mit ihnen haben müsse. Am eigensten geriet dies den heimgekehrten Mitgliedern der Gesandtschaft ins Gefühl. Es bildete gleichsam eine Verkörperung des von ihnen betriebenen geistigen Werkes, in Holz und Stein hier aus ihrer Tätigkeit im fernen Morgenlande aufgewachsen, und als ein Gedächtnismal derselben für kommende Jahrhunderte standen die Häuser da. So wandten die Anhaltenden zu ihnen ein Weilchen in stummer Betrachtung die Augen hinüber, dann ritten sie weiter dem Schlosse zu, wo der Herzog sie zu feierlichem Empfang erwartete.
Noch eigener aber ward es Paul Fleming zu Sinn, als er nach der Aufwartung bei Seiner Gnaden mit Olearius seine alte Wohnung wieder aufsuchte, in das dunkle Haus, dann in die Stube des letzteren eintrat und als erstes das Pastellbildnis seiner Braut aus dem Winkel hervorhob. Was alles lag zwischen diesem Augenblick und jener Abendstunde, in der er das kleine Bild hier zum ersten Mal in den Händen gehalten! Eine Welt, ein Leben – eine wirkliche fremde Welt, tödliches Bangen und unsagbares Glück. Lange betrachtete er schweigend die vom Maler wiedergegebenen Züge der Geliebten. Ja, sie waren ähnlich, sehr ähnlich, aber doch nur wie ein gemalter Himmel dem wirklichen eines Maienmorgens glich. Wie seltsam sah das lichtblaue Kleid ihn an, das die Schultern Elsabes bedeckt, als sein Arm sie zum erstenmal umschlungen; er glaubte den weichen Stoff unter seiner Hand zu fühlen. Ja, so würden ihre hellen Augen in die seinigen blicken, wenn er jetzt plötzlich zu Reval im Garten vor ihr stände – nein, nicht so, auch das war nur ein matter, armer Abglanz des Lebens. Das stumm-geheimnisvolle Sternenlicht der wortlos redenden Liebessehnsucht in den Augen hatte der Stift des Malers nicht von dem Pergament aufleuchten lassen gekonnt. Und das alles, alles war sein, wurde es ganz, wenn der Frühling zurückkam! Und plötzlich hörte er den Silberton ihrer Stimme im Ohr, nicht wie Sinnestäuschung der Erinnerung, sondern um ihn, dorther, überall, aus jedem Winkel. Der Boden, die alten Wände hatten den Klang bewahrt und ließen ihn auftönen, denn hier, in diesem selben Raum hatte sie ja lebend als Kind einmal gestanden, gesprochen und gelacht. Es war zu viel für die Phantasie, für den Herzschlag des Dichters – er vernahm deutlich draußen vor der Tür ein Schluchzen, und er flog auf den dunklen Gang hinaus, an den wunderlichen Balken am Boden des finsteren Weges. Da lag die kleine Elsabe Niehusen drüber gestolpert, und er hob die Weinende auf, trug sie in die Stube zurück, schaukelte sie tröstend auf seinen Knien und streichelte ihr die Wangen. Aber sie wuchs ihm empor, schneller und schneller, immer größer und lieblicher, und nun schlang er die Arme um sie zusammen. Ach, um ein Traumbild, um leere Luft!
Das Verbleiben Flemings in Kiel war kein langes; er hatte dem vorderhand ganz mit den geographisch-politischen Ergebnissen der großen Reise beschäftigten Herzog keine Mitteilung von besonderster Wichtigkeit zu übermachen und erhielt gnädigste Entlassung aus dem fürstlichen Dienst mit einer Einladung zu späterer längerer Wiederkehr, um als Gast des Schlosses seine dichterische Auffassung der Natur und des Menschenlebens in Persien zur Darstellung zu bringen. So rüstete er sich schon nach einigen Tagen für den nächsten Zweck seines eigenen Seins zum Aufbruch nach Leyden; am Morgen des Reisetages kam es ihm jedoch noch mit einer poetischen Anwandlung, daß er das Bild Elsabes von der Wand herabnahm und mit demselben das Haus verließ. Er wollte die Persianischen Häuser noch einmal in ihrem Innern betrachten und seine Braut sollte ihn dorthin begleiten, wie sie ihm in seinem Herzen überall in Persien selbst das Geleit gegeben. Ein Antrieb war's, der für Adam Olearius, seiner hohen Gelehrsamkeit zum Trotz, zweifellos vollkommen unverständlich gewesen sein würde, und Rektor und Konrektor des neu aufblühenden Gymnasiums zu Bordesholm hätten vermutlich darüber auch als über » puerilia« die vernünftigen Köpfe geschüttelt. Aber die Dichter haben zu allen Zeiten etwas von großen Kindern gehabt, und wenn dazu die Liebe ihnen einen Elfenreigen im Kopf und Herzen getanzt, da haben sie auch wohl »kindische Dinge« getrieben, von denen dann zum Glück die Mit- und Nachwelt nichts erfahren. Und Jahrhunderte sind auch glücklich drüber vergangen, ohne der letzteren eine Ahnung von dem Knabentum Paul Flemings zu übermachen, daß er Elsabe Niehusen in effigie mit sich genommen, um sie mit ihm zusammen die Persianischen Häuser anschauen zu lassen. Dann mußte es eines Tages, allerdings durch seine Unvorsichtigkeit und durch die Wißbegier eines anderen Knaben, der sich in ein altes Bild verliebte, doch noch herauskommen.
Denn als er nun so durch die leeren Lagerräume hinwanderte, welche in Zukunft die Schätze des Morgenlandes auf ihrer Handelsrast in Kiel beherbergen sollten, und in das letzte, nach dem Eingang der Holstenstraße hinüberblickende Eckhaus geriet, da waren ihm allerhand sich aneinander reihende Gedanken durch den Kopf gegangen. In Wirklichkeit nämlich hatten seine Augen prüfender auf dem Bilde verweilt, als auf den Einrichtungen der Persianischen Häuser, und er hatte mehr an seine Braut gedacht, als an die künftigen Reichtümer zwischen den wohlgebauten Wänden um ihn. Er war ein wenig rastbedürftig und da am Fenster des letzten Hauses noch eine vergessene Bank stand, setzte er sich darauf. Dabei aber kam's ihm, daß er die Hinterwand des Bildrahmens ablöste, sein von der Reise her stets bei sich geführtes Taschentintenzeug hervornahm und auf die Rückseite des Pergaments dasjenige niederschrieb, was sich ihm im Kopf zurechtgestaltet. Das war das in seiner Gedichtsammlung unter dem Titel »Auf ihr Bildnis« forterhaltene Sonnett; und als er die Schlußverse beendet:
»Das schönste/ das man wünscht/ gehöret noch hierzu:
Entwirfstu ihren Leib/ so mahl' auch drein ihr Leben!«
da setzte er drunter:
»Geschrieben im vordern Eckhaus der Persianischen Häuser zu Kiel. MDCXXXIX.
Diß Bildniß gantz so befunden/ wie dermals vermeynt.«
Es befand sich niemand außer ihm in dem leeren Raume; allein dennoch hatte ein Menschenauge ihn während des Schreibens gewahrt und lange in stummem Blick gehalten. Dem Fenster des Eckhauses nah und grad gegenüber befand sich die Wohnung des Bürgermeisters, aus ihrer Stube sah Agnete Burenäus Paul Fleming auf der Bank sitzen. Sie hatte schon gewußt, daß er in die Stadt zurückgekommen sei, und seit manchem Jahr schon war ihr in dunkler Empfindung aufgegangen, gleich wie sie an jenem Abend ohne Schuld und Makel in das schlimme Haus gekommen, so möge der junge Dichter, den sie so tief im Herzen und Gemüt getragen, in ähnlicher Weise dorthin geraten sein. Wie dies geschehen sein könne, wußte sie sich zwar nicht zu erklären, denn sie hatte nicht gewagt, eine Erkundigung in dem Hause oder sonst bei irgend einem einzuziehen, überhaupt nie gegen einen Menschen den Mund zu einem Wort über das damals Geschehene geöffnet. Doch wie sie das schöne, edle Antlitz Flemings drüben nun vor sich schaute, kam es ihr mit voller Ueberzeugung, daß an ihm in Wahrheit so wenig Häßliches und Unreines haften könne, wie an ihr. Sie ging plötzlich davon und klopfte an die Stubentür Hinrich Weghorsts, der vor kurzem die Magisterwürde erworben, doch sein Amt als Hofmeister der Brüder Agnetes noch fortverwaltete. Auch gegen ihn hatte sie niemals eine Aeußerung über den Anlaß des Makels, der sie im Gerede der Stadt belastete, getan; doch er war der einzige, bei dem sie auch keiner Rechtfertigung bedurfte. Er trug keine gewonnene Ueberzeugung ihrer Schuldlosigkeit in sich, sondern sein Herz hatte vom ersten Augenblick gewußt, daß sie sich nicht unsittsam vergangen haben könne. Nun redete sie ein kurzes Weilchen mit ihm, dann verließ Hinrich Weghorst rasch das Haus und trat gleich darauf in den Raum ein, wo Fleming eben sorgsam das Bild wieder in den Rahmen einfügte. Der Ankommende begrüßte mit hoher und freudiger Achtung den jungen Dichter, der sich Weghorsts ebenfalls noch wohl erinnerte; dann zog der letztere eine zarte blaßbläuliche Feder hervor und sagte:
»Entsinnet Ihr Euch noch, Herr Fleming, daß eine Möwe am Strande unseres Hafens diese Feder vor Euren Fuß herabwarf? Ihr hobet sie vom Boden, reichtet sie einer Jungfrau dar, die neben Euch schritt, und sprachet, es habe nach Eurem Fürhalten der Himmel dies Angebinde wohl nicht für Euch, sondern für Eure Begleiterin bestimmt gehabt. Wie Ihr schauet, hat selbige Eure Gabe treulich aufbewahret und sendet durch mich Euch deß zum Zeichen die Feder als einen Gruß, um Euch alter Tage und guter Freundschaft zu gemahnen.«
Es kostete Hinrich Weghorst wohl einen Kampf schwerer Selbstüberwindung, solchen Auftrag an Denjenigen, der das Herz Agnetes besaß, auszurichten; doch so mutlos er für sich selbst war, so tapfer war er für sie und brachte seine Worte ohn' unschlüssiges Stocken sicher zu Ende. Paul Flemings Stirn aber überzog aus ihnen ein Schatteneinfall; er verstand gar wohl die Absichtskundgabe der dargebotenen Feder, daß sie ihn zu einem Vorkehren im Burenäus'schen Hause bewegen solle, und er entgegnete rasch:
»Ich entsinne mich wohl, Herr Weghorst, daß ich Diejenige, die Euch mit diesem Gruß gesendet, an dem Tage, von dem Ihr gesprochen, zum letzten Mal gewahrt. Wollet Ihr das von mir zurückvermelden, und daß es mir nicht mehr möglich falle, der vorigen Freundschaft zu gedenken, denn Ihr möget als Grund anfügen, ich müsse noch heute wieder zur Reise von hier aufbrechen, um vielerlei Notwendiges zu vollbringen, daß ich zum nächsten Frühling meine liebe Braut, deren Bildnis Ihr hier schauet, aus Reval in mein Haus heimführen könne.«
Um kurze Zeit darauf hängte Fleming das Bild Elsabes in den dunklen Winkel der Studierstube seines Freundes Olearius zurück, nahm alsbald danach von diesem Abschied und begab sich auf ein segelbereites Schiff, das ihn zu den Niederlanden nach Leyden bringen sollte. Hinrich Weghorst aber kehrte zu Agnete, ihr wortgetreu die Erwiderung Paul Flemings auf ihren Gruß auszurichten. Als sie die Entgegnung vernahm, entfuhr ihr nur bitterlich von den Lippen: »Auch er!« Dann stand sie lang in Schweigen. Es hatte gemeint: Auch er hält mich mit einer Schuld behaftet und trägt Verachtung gegen mich in sich. Ihr war noch nie zu deutlicher Vorstellung gelangt, was er von ihrem Zugegensein in dem Hause an jenem Abend gedacht haben möge; nun schlug's ihr zum ersten Mal mit dunklen Blutwellen ins Gesicht, welche Mutmaßung er davon habe fassen können und wohl müssen, und in heftiges Schluchzen ausbrechend und sich haltlos an die Schulter Hinrich Weghorsts stützend, stieß sie hervor: »O Weghorst, Ihr seid der einzige treue Freund, der mir auf Erden verblieben! Euch muß ich sagen, was gewesen, daß Ihr nicht zuletzt auch noch von mir abfallet, denn das trüge mein Leben nicht!«
In zitternder Erregung tat sie ihm jetzt zuerst kund, daß ihre Liebe für Paul Fleming sie zu einem blind-unvorsichtigen Tun fortgerissen habe, da die Eifersucht in ihr geweckt worden, sie wisse heute nicht, von wem, und sie nicht Widerstand leisten gekonnt, sich mit eigenen Augen zu vergewissern, ob die Schrift auf dem Blättchen Lüge oder Wahrheit berichte. Nachdem sie dem Hörer kurz so den Hergang klargestellt, ward sie beruhigter und fügte nach:
»Aber nun ist es ja gut und vorüber – nur daß ich's ihm selber nicht sagen kann, wie es geschehen, damit er besser von mir dächte. Doch ist's mir ein Tröstliches, daß ich ihn alsbald nach der ersten Verwirrung keiner schmachvollen Erniedrigung mehr schuldig geachtet, und so mag er mir in seinem Glauben Unrecht antun; es ist leichter, solches zu tragen, wenn man selbst sich bewußt ist, dem Andern keines zuzufügen. Und er bedarf ja nichts mehr, denn die Liebe einer Braut füllt sein Herz mit Glück. Was wisset Ihr von derselben, Weghorst? Sagt es mir! Ihr sahet ja ihr Bildnis – bedünkt sie Euch seiner wert und ihm zu verheißen, was eines Mannes Herz von seiner Frau begehrt?«
Reglos hörte Agnete Burenäus, was der Befragte über Elsabe Niehusen zu berichten Kenntnis erlangt hatte, dann ging sie auf ihre Kammer, glitt an ihrem Bette auf die Knie, und die Stirn wider die Lade festdrückend, weinte sie bitterlich.
*
Dann schritt der Herbst über die Wälder und Felder um die Stadt und nahm außer den flatternden Blättern auch sonst noch mancherlei mit sich davon. »Es verwechselte das Zeitliche mit dem Ewigen der Consul primarius civitatis Chiloniae et Poeta laureatus Caesaricus, Herr Rudolph Burenäus,« meldet der städtische Annalenchronist und Agnete blieb allein mit ihren unmündigen, von Hinrich Weghorst behüteten Brüdern im noch stiller gewordenen Hause. Durch Adam Olearius gelangte aus Gottorp Kunde nach Kiel, daß Paul Fleming sich zu Leyden rühmlichst den medizinischen Doktorgrad erworben und in Hamburg als Arzt niedergelassen habe. Der Schnee fiel, hoch die Gräber der Toten wie das Dach überdeckend, unter dem Agnete Burenäus in einförmigem Lebensgang die Tage an sich vorüberziehen sah. Oft in der stillen Einsamkeit ihrer Stube hielt ihre Hand das kleine Bändchen mit den ersten in Druck ausgegangenen Gedichten Paul Flemings, doch ihre Augen gingen gar manchmal über den Rand der Blätter fort in die Weite. Dann lag ein Septembertag mit heller, linder Sonne um sie her, ihr Fuß schritt im Ufersand zwischen flimmernden Kieseln und Muschelschalen, leiser Windzug kam weich über blau und goldig gedehnte Wasserfläche, und über kleinen heranmurmelnden Wellen schwebte mit langsamem Flügelschlag eine große weißbrüstige Möwe und ließ aus ihrer Schwinge die zarte Feder herabfallen, die als Lesezeichen zwischen den Blättern des Büchleins in der Hand Agnetes lag. Am Abend aber saß diese, wenn die Knaben sich zu Bett begeben, allein im Gespräch mit Hinrich Weghorst zusammen; die übrige Welt ging sie nichts an, kam immer noch nicht zu ihr, und sie verlangte nach keinem. Er las ihr aus guten Büchern vor, oft auch Gedichte Flemings, deren Schönheit er mit neidlos freudiger Bewunderung pries; dann reichten sie sich freundlich zur guten Nacht die Hand und schieden auseinander. Ein leiser Zug stillen Leides ließ Agnete vielleicht um einiges älter als die Zahl ihrer Jahre erscheinen, doch er diente nicht zur Entstellung, sondern zu einer geistigen und seelischen Veredlung ihres Antlitzes. Gleichmäßig bedacht vollzog sie mit der anderen Natur ihres Wesens die ihr obliegende Verwaltung des Hauses; so brachte ein Tag die Wiederholung des andern, und langsam wanderte der Winter dahin.
Als dieser aber das Jahr seinem Ende zubrachte, begab sich am Morgen des zweiten Weihnachtsfeiertages sehr Absonderliches. In der Nicolaikirche war eine dichte Menschenmenge versammelt, denn der Hauptpastor Basilius Becker stand, die Frühpredigt haltend, auf der Kanzel. Doch durch die Zuhörerschaft ging wider sonstigen Brauch ein unruhiges Geraune und Gemurmel, und ebenso schweiften die Augen des Predigers oftmals mit einem unstät-unruhig suchenden Blick über die gedrängten Köpfe im Kirchenraum umher. Dann befiel ihn einmal ein heftiger Krampfhusten, daß er, seine Rede unterbrechend, schleunig die Treppe hinunterstieg, um das Ende des Anfalles in der Sakristei abzuwarten. In diesen dunklen, abgefriedigten Raum mußte sich auch ein Bauer in grobem Zwilchmantel und mit breitkrämpigem Hut auf der Stirn verirrt haben, denn er verließ alsbald nach dem Eintritt des Predigers in das Pfarrstübchen durch eine dort befindliche kleine Hintertür die Kirche und verschwand draußen hurtig durch die Papengasse dem Hafen zu. Gleichzeitig jedoch erschienen von der Haupttür her mehrere Amtsdiener des neuen Bürgermeisters, um nach ergangenem Befehl des Herzogs den Hauptpastor Basilius Becker auf der Kanzel in Verhaft zu nehmen. Augenscheinlich rief dies unter den in der Kirche Anwesenden nicht übermäßiges Staunen hervor, aber gleicherweise, wie sie drauf vorbereitet sein gemocht, hatte auch der von den Bütteln Gesuchte Vorwitterung davon besessen. Denn als man nun in die Sakristei eindrang, fand sich dort nur noch eine leere zurückgelassene Hülle in Gestalt des schwarzen Priestertalars; der lose Vogel, der drin gesteckt, hatte sich gemausert und in bäurischem Kleid das Weite gesucht.
In der Stadt Kiel jedoch herrschte große allgemeine Aufregung über diesen weihnachtlichen Vorfall, und selbstbegreiflich hatte ein Jeglicher stets im Stillen eine Ahnung, ja die Ueberzeugung gehegt, daß es einmal so geschehen werde, als man öffentlich erfuhr, Basilius Becker sei einer langen Reihe von Fälschungen und Unterschlagungen, der Veruntreuung und des Betrugs, daneben lasterhaften Wandels schlimmster Art bezichtigt. Das war durch die Aussagen einer »bei der Mauer« wohnhaften übelverrufenen Weibsperson ruchbar geworden, zu der er seit manchen Jahren in sündlichem Verhältnis gestanden; jetzt aber, da sie zu altern angefangen, hatte er einer anderen, jüngeren den Vorzug vor ihr gegeben und sie deshalb aus Eifersucht und Rachbegier alles, was sie von ihm gewußt, zur Anzeige gebracht. Darunter befand sich auch, daß er vor fünf Jahren den Herrn Paul Fleming, damaligen Gast des Herrn fürstlichen Rates Olearius und die Jungfrau Agnete, Tochter des inzwischen verstorbenen Bürgermeisters Burenäus – weil er es auf eine Heirat mit derselben um des Vermögens ihres Vaters willen abgesehen gehabt – beide unter falschen Vorwänden durch Zuschriften in das Haus bei der Mauer verlockt habe, weil er sie wechselseitig in Liebe für einander befindlich gehalten. Und es sei seine auch voll in Erfüllung gegangene Berechnung dabei gewesen, daß unter den Umständen, wie beide dort unerwartet zusammengebracht worden, jeder vom andern Uebelstes und Schimpflichstes denken müsse. Damit sie aber nicht Zeit zu einer Aufhellung gewönnen, habe er sogleich, nachdem sie sich gewahrt, auf der Gasse vor dem Hause ein Geschrei anstellen und den Herrn Fleming schleunig durch die jetzige Angeberin des heimtückisch ausgesonnen und vollbrachten Planes davonführen lassen. Vielleicht bereute die letztere nachträglich die Eingebung ihrer Rachsucht doch in etwas, da ihr, als Beihelferin Basilius Beckers, auf dem »Kaak« des Kieler Marktplatzes vom Wesenmeister »nach Rechten« das Kopfhaar abgeschoren, sie darnach mit Ruten ausgestäubt und für die Schädigung des Rufes einer ehrbaren Jungfrau mit einem Brandstempel auf der Stirn versehen wurde. Aber ihr Versuch, ihre letztere Aussage zu widerrufen, um eigener Strafe zu entkommen, war ein fruchtloser, und selbstverständlich hatte von Stunde an auch niemand zu Kiel jemals die Jungfrau Agnete Burenäus in einem schmachvollen Verdachte, vielmehr dieselbe allzeit für ein seltenes Vorbild magdlicher Sittsamkeit und Tugend gehalten. Doch ihr galt die jetzt auf einmal ihr wiedergezollte allgemeine Achtung wenig; gern hätte sie gewünscht, daß ihr Vater noch diese Aufhellung erlebt, allein dafür war es zu spät geworden, und was die Welt von ihr dachte, hatte sie als nichtig schätzen gelernt. Nur Eines ließ ihr Herz schneller aufklopfen und reifte allmählich im Gange der Wochen einen Gedanken, ein Verlangen in ihr zur Tat, daß sie sich eines Tages hinsetzte und an Paul Fleming niederschrieb, was über ihr letztes Zusammentreffen mit ihm zur Offenbarung gekommen. Doch als sie den Brief vollendet und ihn nochmals las, zerriß sie ihn in Stücke. Der Empfänger hätte der Schrift eine falsche Deutung unterlegen können, als trachte sie, nochmals eine Annäherung an ihn zu versuchen. Und er besaß ja eine Braut mit der er sich, wie Agnete vernommen, binnen kurzem zu vermählen gedachte. So warf sie die Stücke des Briefes in den Kamin, sah sie in Asche verlodern und blickte dann stumm zum Fenster nach dem Eckhaus der »Persianischen Reihe« hinaus, unter welcher der Schnee in der Märzensonne zu schmelzen anhub.
Drüben in Reval regte er freilich seine weiße Decke noch nicht, aber Elsabe Niehusen hatte auch zur selben Zeit einen sonderbaren Gedanken, ein Verlangen, das ihr das Herz nach einem raschen Zergehen des Schnees klopfen ließ. Und sie suchte, der matten Sonne Beihülfe zu leisten, denn sie füllte täglich ihre Gießkanne mit warmem Wasser an, ging damit in den Garten hinunter und schüttete, wie in kinderhaftem Spiel, stets an der nämlichen Stelle den feuchten Inhalt zu Boden. Davon zerschmolz dort in kreisrunder Lücke der Schnee, und das Erdreich sah braun draus auf; an jedem Tag aber wiederholte Elsabe ihr seltsames Betreiben fort. Und am Morgen, wie der März in der Nacht zum April geworden, blickten aus dem freigelegten Erdboden ganz kleine, erste, grüne Spitzen empor und zeigten, daß die »Kaiserkrone«, die Paul Fleming zum Hochzeitsschmuck für seine Braut aus Ispahan mitgebracht hatte, lebte; und als dieselbe mit sehnsuchtsvollen Augen am Morgen des zweiten Apriltages zurückkam, waren die grünen Keimtriebe schon um ein hoffnungsfreudiges, beseligendes Stückchen wieder gewachsen.
Da geschah's um drei Tage zuvor, am dreißigsten März, daß Hinrich Weghorst zu Kiel Agnete Burenäus die eben vernommene Nachricht überbrachte, Paul Fleming sei, anstatt nach Reval zu reisen, in Hamburg plötzlich von einer schweren Erkrankung befallen worden und liege in der fremden Stadt, ohne Beihülfe von Freunden, verlassen in seinem Siechtum. Wie mit einem Schlag durchfuhr es bei der Meldung die Glieder der Hörerin, und das Blut fiel ihr aus dem Gesicht. Eine Weile lang wies dieses einen Ausdruck, als ob ihr Geist in der Weite abwesend sei, und sie sprach vor sich nieder: »Es ist zu fern bis nach Reval, als daß sie ihm beizustehen vermöchte. So bedünkt mich, ist's des Himmels Schickung und Wille, mich für sie zu berufen.« Nun sah Agnete auf und fügte laut nach: »Lasset mir sogleich einen Wagen zurüsten zur Fahrt nach Hamburg. Wollet Ihr mich dorthin geleiten, Weghorst?« Der Angesprochene erschrak halb und versetzte:
»Das möchte zu übler Nachrede Anlaß geben, Jungfrau –.« Doch diese entnahm ihm gelassen das Wort vom Munde: »Kann man Unübleres von mir reden, als ich es durch fünf Jahre getragen? Davor hab ich das Zagen verlernt, Weghorst. Nur Eines ist, das sich nicht tragen läßt, der Pflichtstimme nicht gehorcht zu haben, die im Herzen zu uns geredet.«
Um eine Stunde später trug ein Gefährt die beiden Hausgenossen durch das Holstentor nach Süden davon. Zwei Jahrhunderte nachher sollte man beginnen, den Weg von Kiel zur Nachbarstadt an der Elbe in wenigen Stunden zurückzulegen; aber zur Zeit war die Fahrt noch eine langsam-lange auf oft unwegsamer Straße, und erst nach zwei Tagen, um die Mitte des ersten April, trafen die Reisenden in Hamburg ein. Stunden vergingen noch, bevor sie die Wohnung Paul Flemings ausgekundet hatten, so war es schon gegen Abend, als sie zu ihm gelangten. Niemand war um ihn, als sein Diener und eine für Lohn gedungene alte Wärterin, die auf dem Vorflur eine Tisane bereitete; die Krankheit hatte den Befallenen so jählings gefaßt, daß weder seine Eltern im sächsischen Land noch seine Freunde in weiterer Entfernung noch Kunde davon zu erreichen vermocht, nur nach dem nahen Kiel war diese gekommen. Die alte Wärterin sagte geschäftsmäßig, ohne Anzeichen von Erregung: »Es stehet schlimm, er ist schon seit gestern nicht bei sich. Seid Ihr etwan die Braut des Herrn Doktor, nach der er unterzeiten ruft?« Agnete nickte kurz: »Ich bin hier in ihrem Namen,« und trat mit Hinrich Weghorst in die Krankenstube ein. Die Fenster waren verhängt, und darauf lag die Abendsonne des weichen, schönen Apriltages; wenn der junge Arzt selbst hier so eintreten gekonnt, hätte es ihn seltsam an das Zimmer gemahnt, in welchem er Elsabe Niehusen nach seiner ersten Rückkehr von Moskau gefunden. Doch er sah nichts mehr um sich, mit geschlossenen Augen lag er, und der erste Blick auf seinem Gesicht sprach, der Tod stehe bereits harrend über ihn gebückt. Ehe er die Besinnung verloren, hatte er selbst dies schon gewußt; ein Blatt auf dem Tisch neben seinem Bett gab es kund. Darauf hatte er mit einem Crayon vor zwei Tagen ein letztes Sonnett geschrieben, in dem er Abschied vom Leben genommen und sich eine Grabschrift gesetzt. Jenes bange Todesschauer-Gefühl des Herzens vor fünf Jahren hatte ihm doch wahr gesagt, daß Elsabe Niehusen nicht die Seinige werde. Nur hatte er gewähnt, sie sei der früh zum Dunkel der Unterwelt hinabsteigende Schatten, den seine Augen vorahnend gesehen; und er selbst war es gewesen!
Er lag in Fieberphantasien, unruhvoll den glühheißen Kopf hin und her werfend. Wie die Sonne vom Fenster schwand, schrie er jammernd auf: »Elsabe – Elsabe!«, als gehe sie von ihm. Da legte Agnete Burenäus ihm sanft ihre Hand auf die heiße Stirn und sprach: »Ich bin ja bei dir«, und er ward ruhig und murmelte: »Das ist schön – du bist gut – bleib' so bei mir – verlaß mich nicht.« So ging es den Abend und die Nacht hindurch; wenn die Angst des Fieberwahns, wie erstickend, über ihn kam, ging sie unter der vermeinten Hand seiner Braut zur Ruh', und seine Brust atmete wieder leicht. Um Mitternacht hob er plötzlich einmal den Kopf, öffnete die Augen und sprach mit vernehmlicher Stimme eine Strophe eines von ihm aus Persien an Elsabe gerichteten Gedichtes:
»Nicht glaub' ich, daß die größte Not
Mir größre Qual kann machen.
An mir lebt nichts nicht als der Tod,
Der stark ist in mir schwachen.
Das kranke Herze windet sich,
Die matten Augen brechen.
Nichts denk' ich, Liebste, denn an Dich,
Noch kann mein Mund nichts sprechen.«
Er blickte während des Redens Agnete grad' ins Gesicht, und ein leises, mattes Lächeln des Glücks suchte sich auf seine Lippen zu heben. Sein letztes war's, die Augen des zurücksinkenden Kopfes fielen wieder zu, sich nicht mehr zu öffnen. Sein Atemzug ward leiser und leiser, er starb nicht, er schlief ein. Die Hand Agnetes verließ die seinige nicht; wie der erste Dämmerschein anbrach, fühlte sie dieselbe kühler werden. Unwillkürlich stand sie auf und öffnete das Fenster, Licht und Luft des beginnenden Frühlingstages hereinzulassen. Von einem Kirchturm schlug die Uhr die vierte Morgenstunde des zweiten Apriltags, doch nach dem Schlag ward es nicht still, sondern ein Glockengewoge hub an, in das alle Kirchen Hamburgs einfielen. Gründonnerstag war's, und die Osterglocken begannen zu läuten; aber es klang, als höben sie ihre feierlichen Stimmen zum Gebet für Paul Fleming, dessen Brust den letzten Odem aushauchte.
Einer der Besten und Edelsten seiner Zeit, ihr hoffnungsreichster Dichter lag, kaum noch über die Schwelle des Jünglingsalters hinausgetreten, entseelt auf dem letzten Bett. Die Ostsee war für ihn kein Bächlein gewesen, drüber hinüber und wieder herüber zu hüpfen, vielmehr das dunkle stygische Wasser, über das Keiner zurückkommt. Ahnungslos hatte er jene trügerischen letzten Abschiedsworte am Schiffbord gesprochen, und ahnungslos stand an diesem Tage Elsabe Niehusen im fernen Esthland, sehnsüchtigen Blickes das nächtliche Wachstum ihrer Kaiserkrone betrachtend. Das freudige Aufsprießen im Frühling verbürgt auf Erden noch kein Emporgelangen zur Blüte; ein Frost kann plötzlich über sie fallen, oder sie selbst birgt einen unsichtbaren Wurm im Innern, der die Knospe welk zu Boden sinken läßt, die im Begriff gestanden, sich leuchtend zu entfalten. Denn es ist keine Gärtnerhand über ihm, welche die Wunderblume liebreicher behütete, als das Unkraut.
Vor dem Totenbett zu Hamburg aber stand im ersten Morgenlicht, die Hand Weghorsts gefaßt haltend, Agnete Burenäus. Nun sprach sie leise: »Wie ich für seine Braut bei ihm gewesen bis zum letzten, so will ich Abschied von ihm für sie nehmen,« und sie beugte sich über ihn und küßte die erkalteten Lippen Paul Flemings. Dann faßte sie wieder die Hand ihres treuen Begleiters: »Jetzt seid Ihr meinem Leben allein geblieben, Weghorst. Ihr wißt, daß ich den Toten geliebt habe; sein Antlitz sei Zeuge, daß ich Euch zu dieser Stunde sage, wenn Ihr meine Hand forthalten wollt durch unsere Lebensdauer, so verbleibt sie bei Euch.«
*
Am Ostermontag ward der Sarg Paul Flemings in der Katharinenkirche zu Hamburg beigesetzt. Eine im Gange der Zeit verschwundene, von seinem Jugendfreunde Casper Hartrauft aus Zittau ihm über das Grab gesetzte Epitaph-Inschrift lautete:
»Hier liegt der deutsche Schwan/ der Ruhm der weisen Leute/
Der Artzney lieber Sohn/ der wolberedte Mund/
Dem noch kein Landsmann je gleich reden hat gekunt.
Was, Leser, er itzt ist/ das kanstu werden heute.«
Von dem Schmerz, der Trauer und dem Lebensschicksal Elsabe Niehusens fehlt jegliche Ueberlieferung. Zu vermuten steht, daß die jähe Todesbotschaft aus Hamburg sich auf sie gelegt, wie die nordische Winterstarre Revals auf eine, schönerer Sonne des Südens entstammende, zu früh dem rauhen Boden entkeimte Blüte. Ihr Vater, »der Ehrenveste Für-Achtbare und Wohlfürnähme Herr Heinrich Niehusen/ der löblichen Gemeine und Bürgerschaft zu Revall Eltester und Handelsmann« hat, um »seine dem Autori auch in der Gruben zugetragene Schwieger-väterliche Affection zu bezeugen,« die erste vollzählige Sammlung der »deutschen Poemata des Sel. D. Flemingii« veranstaltet und »sothan gantzes Opus dem Durchläuchtigen/ Hochgebohrnen Fürsten und Herren/ Herrn Friedrichen/ Erbe zu Norwegen/ Hertzogen zu Schleßwig/ Holstein/ Stormarn und den Ditmarschen etc. etc. aus untertäniger Devotion dediciret.« Bald darauf wurden die » Nova Epigrammata« Paul Flemings in lateinischer Sprache durch Adam Olearius herausgegeben, der in einer »Klagschrift«, wie nachher in seiner »Persianischen Reisebeschreibung« am meisten zur Kenntniserhaltung der Lebensgeschichte seines Freundes beigetragen. Für eine Persönlichkeit unter den Teilnehmern an der persischen Reise fand diese einen bösen, wenn auch nicht gerade unerwarteten Abschluß. Um einen Monat nach dem Tode Flemings wurde das Gesandtschaftsoberhaupt Otto Brüggemann vom Schleswiger Kriminalgericht schuldig erkannt, »seines Herrn gemessene Befehle überschritten, an hohe Personen abgegangene Schreiben erbrochen und gefälscht, unwahrhafte Relation getan zu haben, ferner wegen ärgerlichen Lebenswandels, vorsätzlichen Todschlags, Veruntreuung fürstlicher Gelder und Güter«, zum Tode am Galgen verurteilt, doch vom Herzog »zum Schwert begnadigt« und bei Gottorp enthauptet. Bei der Wahl Brüggemanns zum Gesandten hatte Herzog Friedrich den nämlichen Fehlgriff getan, wie bei der Ernennung des Magisters Basilius Becker zum Hofprediger und Hauptpastor. Wer eigentlich der Letztere von Hause aus gewesen, ist nie klar aufgehellt worden. Jedenfalls aber war er ein Mann von ebenso bedeutenden Geistesgaben als Gewissenlosigkeit, dieselben lediglich für die Zwecke seiner Eigensucht zu verwenden. In dieser Richtung mochte er als ein »Philosoph« der Art gelten, wie die Zeit des dreißigjährigen Krieges ihrer gar manche erzog, den Glauben an göttliche Gerechtigkeit und an einen Lohn der irdischen Entsagung im Jenseits als töricht erkennend und nur trachtend, die kurze Lebensfrist nach Kräften und Wünschen zu genießen. Basilius Becker gelangte in seiner Bauerntracht glücklich aus Kiel und den holsteinischen Landen davon und entrann in diesen so dem Schicksal Otto Brüggemanns. Doch, wie es scheint, nur zu kurzem Aufschub, denn nachdem er es durch seine beredte Klugheit abermals dahingebracht, im Süden des Reichs bei dem Grafen von Hohenlohe Hofprediger zu werden, soll er von diesem bald, und schwerlich ungerechtermaßen, zu lebenslanger Einkerkerung verurteilt worden sein. Seinem Geschick, wenngleich in andrer Art, entkam aber auch Adam Olearius nicht, indem er bei seinem letzten Aufenthalt in Reval doch von einer ungelehrten Hinneigung seines Herzens zu einem Frauenzimmer befallen wurde und sich später von dort Jungfrau Katharina, Tochter des Ratsherrn Johann Müller, Erbherrn auf Knuda, mit dem auch Paul Fleming befreundet gewesen, als seine Frau nach Gottorp heimholte. Doch scheinen die Anschauungen des von seiner Zeit hochgerühmten Mannes über das weibliche Geschlecht im Allgemeinen dadurch keine erhebliche Veränderung erlitten zu haben.
Agnete Burenäus hat nach ihrer Zusage am Totenbette Flemings einen freundlich-friedlichen Ehebund bis ans Lebensende mit dem Magister Hinrich Weghorst geschlossen, der als Rektor der Kieler Stadtschule gegen Ausgang des Jahrhunderts hochbetagt gestorben ist. Der Ehe entsproßten zwei Söhne Virgilius und Hinrich Weghorst, beide gleich ihrem Vater als gelehrte Leute in der Welt angesehen; der erste ist als Archidiaconus zu Oldenburg in Wagrien, der zweite als Professor und Kanzleirat in Kopenhagen aus der Welt geschieden. Zu ihren Lebzeiten wurde das fürstliche Gymnasium von Bordesholm nach Kiel verlegt und hier in dem düstren, dumpfluftigen Gebäude der Küterstraße untergebracht, in welchem bis dahin vermutlich nicht die fernere seelisch-figürliche, sondern wirklich leibhaftige »Hausschlächterei« betrieben worden.
Das aber, was mehr oder minder in die Lebensläufte aller Jener bestimmend eingegriffen hatte, der große Plan des Herzogs Friedrich des Dritten von Holstein-Gottorp, was ward aus ihm? Wir wissen nur, daß nichts daraus geworden, ohne eigentlich den Grund dafür angeben zu können. Oder vielleicht waren es ihrer zu viele Gründe, sowohl im Morgenlande, wo der Schah Sofi bereits ein Jahr nach der Rückkunft der Gesandtschaft in der Tat seiner Trunksucht erlag, als besonders im Abendlande, wo die geschichtlichen Ereignisse uns erklärend entgegenkommen. Der dreißigjährige Krieg brach durch den Einfall der Schweden unter Torstenson nochmals verheerend wieder über Holstein, und ein anderer Krieg zwischen Dänemark und Schweden zog lange alle Länder an der westlichen Ostsee in Mitleidenschaft. Es war keine Zeit, um Weiteres vorzusehen und zu planen, als für den nächsten Tag; oder wenn ein besonderer Geist große, unkriegerische, vielleicht auch seltsam bedünkende Entwürfe in sich trug, so trat die Zeit doch einer Ausführungsmöglichkeit derselben gebieterisch entgegen. Und als dann nach dem späten Eintritt des Friedens, wie der Chronist schreibt, Herzog Friedrichs »Seele in die beglückte Ewigkeit gegangen war,« wandte sein Sohn und Nachfolger Christian Albrecht sein Interesse völlig anderem Gegenstande, der Gründung einer Universität in Kiel zu.
Gewiß ist, daß damals kein Spatenstich zur Anlage einer Kanalverbindung zwischen Ost- und Nordsee gemacht worden und daß die Persianischen Häuser meiner Vaterstadt niemals zwischen ihren Wänden indische Narden und Seidenballen, persische Teppiche und Naturerzeugnisse des Tropengürtels beherbergt haben. Von der hohen Phantasie ihres Erbauers für märchenhafte Zukunft bestimmt, sind sie dem Lose manches großen Gedankens, dem kleinen, praktischen Nutzen des Lebens anheimgefallen, der sich emsig in sie hineingenistet und drin fortvererbt hat, wie Vogelgeschlechter aller Art in den Mauerhöhlungen zerbrochener Burgen. Es hat auch keine Märchenfee schützend ihre Hand über ihnen gehalten; nach einer immerhin noch nicht übermäßigen Daseinsdauer von drittehalb Jahrhunderten sehen sie sämtlich greisenhaft-lebensüberdrüssig mit dem grämlichen Ausdruck verfehlter Existenzen drein, als möchten sie die Inschrift über dem Schwibbogen in ihrer Mitte: »Unser Leben währet siebenzig Jahr, und wenn es hoch kommt, so sind es achtzig Jahre, und wenn es köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen,« nicht allein für Menschen, sondern auch für Häuser gültig erachten.
Heute treibt das neue Getümmel einer werdenden Großstadt an ihnen vorbei, das sie höchstens einmal mißächtlichen Blickes bemißt, und es wohnt vielleicht schon niemand mehr in ihnen, der noch auf eine Frage antworten kann: »Das sind die Persianischen.« Auch die »Friseur- und Barbierstube« ist aus ihnen fortgeschwunden, doch wenn ich, ab und zu kurz wieder in meiner Vaterstadt vorkehrend, an den Ladenfenstern vorüberkomme, hinter denen ich mich als Knabe meines Haarüberflusses entledigen ließ, so höre ich auch aus schon ferner Weite herüber meine eigne Stimme fragen, was denn der sonderbare Name »die Persianischen« bedeute, und die Stimme des alten Scherenkünstlers darauf erwidern: »Wozu wulltest du das wul wissen, mein Schunge? Das kann dich kein Mensch sagen.«