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Die ganze Nacht hindurch wurde das Jammern nicht still im Hause des alten Caleb. Wehklagend standen die Mägde auf dem Flur, den trotz der späten Stunde und des allgemeinen Unheils die Nachbarn umlagerten und ab und zu liefen, den draußen Befindlichen mitzutheilen, daß noch immer keine Nachricht da sei von der schönen Tharah und von dem alten Caleb, der, erst genesen von der schweren Krankheit, sich hinausgeschleppt, um seine Tochter zu suchen. In dem Vorgemach saß Lea und zerraufte ihr greises Haar; sie hatte Asche darüber gestreut und starrte mit thränenlosen Augen auf die Thür, durch die Hellem gegangen, um das Verderben abzuhalten von ihrem Hause, und durch die Tharah, ihr Kind, ihm schweigsam gefolgt, wer konnte sagen, wohin, – hinweggezogen vielleicht von demselben frommen Gedanken, um nicht wieder heimzukehren, lag sie in der fremden Gasse, und die Hand des Todes lag über ihr und drückte mit bleiernem Gewicht die seidenen Wimpern herunter auf die schönen Augen. –
Wimmernd saß die alte Lea auf ihrem Stuhl. Die blauen Naphtaflammen in den Metallampeln wurden bleich und die graue Dämmerung kam. Und sie fing an zu singen, wie ein Kind, um ihre Angst zu verjagen; leise, zärtliche Namen einmischend, sang sie mit kindischen Lippen ein altes Lied von der Schönheit der Töchter Juda's.
»Eine Blume zu Saron warst du und eine Rose im Thal. Du warst die Schönste unter den Weibern, dich liebten die Frommen. Dein Name ist ein köstlicher Duft, darum lieben dich die Mägde.«
Ein Schluchzen der Mägde, welche die Worte vernahmen, begleitete den irren Gesang.
»Wir haben dir goldene Spangen gemacht und Edelsteine, die leuchteten wie deine Taubenaugen, denn du warst eine Königin, und dein Anblick besiegte die Hüter des Feldes, und ich wollte dich krönen mit ihnen am Tage deiner Hochzeit, am Tage der Freude meines Herzens, aber nun bist du wie eine Rose unter den Dornen –«
Ein mitleidiger Thränenstrom brach, den Jammer lindernd, aus den Augen der Alten.
»Ich will aufstehen,« murmelte sie in singendem Tone fort, »und in der Stadt umhergehen auf den Gassen und Straßen, und suchen, die meine Seele liebt.«
Sie that nach dem Sinn des Liedes und erhob sich, doch sie blieb, die Arme auf die Lehne des Sessels zurückstützend, halb aufgerichtet stehn, denn ein Summen ging drunten über die Häupter der Wartenden und drang durch die geöffneten Fenster herauf. Die Augen der greisen Lea hefteten sich wieder auf die Thür; regungslos, wie abwesenden Geistes, verharrte sie in der vorgebeugten Haltung und horchte hinab.
Drunten im Dunkel durch die Judengasse herauf kam der alte Caleb. Er schleppte sich mühsam an seinem Stock; ein Riß ging durch sein langes Kleid vom Hals bis auf die Füße, und sein grauer Scheitel war unbedeckt. Langsam und aufrecht kam er und schritt mit geschlossenen Augen wie ein Blinder durch sein Volk, von dem Keiner ihn anzureden wagte, und stieg die Treppe hinauf in das Vorgemach. Und er trat schweigsam zu auf sein Weib und griff mit der Hand in die Asche zu ihren Füßen und streute sie auf das greise Haupt.
Die Mägde brachen in erneute Wehklage bei dem Anblick aus und eilten weinend hinunter, dann scholl ein vielstimmig dumpfes Trauergemurmel von der Gasse empor.
Nur die Mutter sprach kein Wort; sie fiel lautlos in den Sessel zurück und ihre welke Schläfe schlug besinnungslos auf die Lehne des Stuhls.
»Der Herr hat sie genommen, es hat geöffnet Marchaboth das Thor für Deine Tochter Tharah, daß sie nicht wiederkehrt,« sagte der alte Caleb mit sicherer Stimme. »Ich habe geharrt auf einen Boten, der uns rufe aus dieser Stadt; er ist gekommen in anderer Gestalt, als er zu Lot trat, dem Sohne Haran's, und zu Elia, dem Thesbiter. Er ist gekommen als der Engel des Todes, – rüste Deinen Fuß, Lea, denn es ist Zeit.«
Die Alte richtete sich mit irrem Blick auf. »Gestorben ist Tharah, meine schöne Tochter,« lachte sie verwirrt, »ich werde nicht von ihr gehen, denn sie wird kommen um Mitternacht und mich küssen. Ich werde sie lebendig machen,« fügte sie geheimnißvoll hinzu, »denn es ist von mir gewichen die Kraft und zu ihr geflohen, um ihr wieder zu schenken das Leben, das ich ihr einmal gegeben aus meinem Schooß.«
Sie nickte fröhlich, irrsinnig mit dem Kopf und deutete auf ihre ausgestreckte Hand. Der Alte blickte sie ängstlich an und ergriff den Arm, den sie bezeichnete. Er hob ihn hastig auf und fühlte, daß er kalt und starr war, und wie er ihn losließ, fiel die Hand leblos und ohnmächtig auf die Seitenlehne des Sessels zurück.
»Gott, Barmherziger, du hast sie gestraft an dem Gliede, mit dem sie ausgethan den Fluch über Isaschar, meinen Bruder,« murmelte er dumpf; »du hast dich nicht gerächt an mir, sondern an meinem Weibe und meinen Kindern, daß ich ihn hinausgestoßen ins Elend. Du bist ein grausamer Gott, Jehova –«
Das Antlitz des Alten überzog sich mit düsterer Verzweiflung Die ruhige Würde, die in allem Leid, das er ohne Klage erduldet, bis jetzt sein Gesicht erfüllt, floh und ein wilder, trotziger Ausdruck begann unheimlich seine Miene zu verzerren. Seine glühenden Augen rollten über das geistesirre, gelähmte Weib und er reckte zitternd die Hand auf. »Gott, Gott Jehova,« stammelte er, »warum hast du mich aus Mutterleibe kommen lassen? Höre auf von mir, ich begehre nicht mehr zu leben, denn meine Tage sind eitel gewesen.«
Er hielt inne, denn der umnachtete Verstand des Weibes vor ihm fuhr bei seinen Worten empor. Sie blickte ihn starr an und erwiederte klanglos:
»Sprichst Du wie Hiob, so will ich reden wie Eliphas von Theman: Meinest Du, Thor, ein todter Mensch werde wieder leben –?«
Sie lachte höhnisch und ihre entkräfteten Lippen bewegten sich in häßlichem Krampf und das Angesicht des Greises schwoll auf, seine Augen traten stier hervor und er fuhr mit gesteigerter Stimme fort:
»Habe ich gewandelt in Eitelkeit? Oder hat mein Fuß geeilet zum Betrug? Habe ich mein Herz reizen lassen zum Weibe meines Nächsten? Habe ich verachtet das Recht meines Knechtes oder meiner Magd? Habe ich den Dürftigen ihre Begierde versagt? Habe ich gegessen meinen Bissen allein? Habe ich Jemand umkommen gesehen, daß er kein Kleid hatte und den Armen gehen lassen ohne Decke? Habe ich die Augen der Wittwe und der Waise lassen verschmachten? Habe ich mich gefreut, wenn es meinem Feinde übel ging? Habe ich mich schrecken lassen von der Verachtung? Gott Jehova, welches von deinen Geboten habe ich übertreten, daß ich zu dir schreie und du antwortest mir nicht, daß ich des Guten wartete und kommt das Böse, – ich war reich, aber du hast mich zu nichte gemacht, und du lachst über mein Verderben. Warum hat man mich auf den Schooß gesetzt, warum hat man mich mit Brüsten gesäuget, daß ich auf dich stoße mit meinem Elend? Der Tag müsse verloren sein, darinnen ich geboren bin, und Finsterniß und Dunkel über ihn kommen, denn du kannst nicht sein ein weiser und ein gerechter Gott und ich hebe auf wider dich meine Hand –«
Die lange Gestalt des Greises reckte sich in gespenstisch-majestätischer Höhe empor, seine zitternden Finger erhoben sich über sein Haupt in die Luft, und seine verstummten Lippen öffneten sich mit feierlichem Ausdruck – da brach ein lautes Geschrei von der Straße herauf. »Sie kommen!« rief es jubelnd; »es ist die schöne Tharah, es ist Hellem, ihr Bruder; – wer ist der Alte, der neben ihm geht mit dem Bart? Sie kommen, – sie sind gerettet –«
Und die Mägde flogen die Treppe hinauf ins Vorgemach und jauchzten: »Sie kommen, sie sind gerettet;« und eilten wieder hinunter, den Kommenden entgegen. Und wie ein Blitz zitterte es über Lea's Gesicht, und sie erhob sich mühsam auf der ungelähmten Seite und blickte auf die Thür, wie sie es gethan, als Caleb mit zerrissenem Rock hereingeschritten und Asche auf sein Haupt gestreut. –
Nur dieser stand regungslos, ohne Athem, mit der erhobenen Hand und lauschte. Unsägliche Freude und wilde, namenlose Angst wechselten und kämpften auf seinem Gesicht, bis er die Stimme Tharah's aus dem Flur vernahm und die Hand fiel starr herab. Er wendete sich, als wollte er hinaustreten, aber er neigte mit schwankendem Fuße das todtenbleiche Antlitz auf den Betschemel zu und stürzte, das Haupt verhüllend, regungslos vor ihm auf den Teppich.
Vor den Füßen Lea's knieten Hellem und Tharah; die Alte lachte und schluchzte; »Rose von Saron,« sagte sie, »bist Du da, Du Fürstentochter, und ich höre die Stimme Deines Freundes.« Sie streichelte liebkosend mit der nicht gelähmten Hand die Wangen des Mädchens und des Jünglings. »Meine Augen sind trübe geworden über Nacht,« murmelte sie, »aber ich fühle, daß Ihr es seid.« Plötzlich hob sie lauschend den Kopf. »Was für eine Stimme höre ich, außer der Euren?« fragte sie unruhig; »sie klingt, wie die Lippen Eures Vaters, wenn Gram auf seinem Herzen liegt.«
Sie wandte die Augen, die ihren Glanz verloren, gespannt in die Richtung, wo Isaschar zaudernden Fußes im Dunkel stand. Er hatte an der Thür innegehalten, und die Menge, die mit heraufgeströmt war, um sich an dem Glück des Wiedersehens zu erfreuen, umringte ihn. Nur Caleb bemerkte nichts von Allem; abgestorben für die Welt, lag er mit gefalteten Händen vor dem Altar des Herrn, den er zu lästern im Begriff gestanden, als er die Freude über sein Haus brachte, und betete.
Tharah sprang auf und trat auf ihren Oheim zu; sie faßte ihn an der Hand und führte ihn vor die blöden Augen der Mutter.
»Mutter,« sagte sie ernst, »es ist Einer gekommen aus der Fremde, um Deinen Sohn Hellem zu retten vom Verderben. Es hat Dir von ihm erzählt die Christenjungfrau und Dein Mund hat ihn gesegnet nach ihrem Wort. Laß Deine Hand an ihm thun, was Dein Mund gethan –«
Sie schwieg, denn Isaschar hatte die gelähmten Finger der Alten gefaßt und benetzte sie mit Thränen.
»Wehe, alt bist Du geworden, Tochter Hagar's,« schluchzte er, »und welk die Hand, deren Kraft mich ausgestoßen aus meinem Volk, daß ich bin zwanzig Jahre umgeirret unter den Fremden. Und Dein Auge ist trübe geworden, schöne Lea, das mich hat verfolgt mit seinem Zorn über die Erde –«
»Isaschar,« sagte die Alte mit langsamer Zunge, »so wahr ich lebe, Du bist Isaschar, der Sohn Samai's.« Sie fuhr heftig mit der Rechten an das linke Augenlid, das ihr, fast zugefallen, den Blick bedeckte, und hob es mit den Fingern auf. »Du mußt sein von Gott gesegnet, Isaschar,« fuhr sie fort, »daß er Dich gesendet, um Deinen Sohn zu retten, und Freude zu bringen über unser Alter, und der Segen des Herrn hebt auf den Fluch der Menschen –«
Die Kniee des Greises zitterten und er wäre zu Boden gefallen, wenn sich nicht von hinten die Arme Caleb's, der bei dem Namen, den sein Weib aussprach, aufgefahren war, um seinen Nacken gepreßt hätten. Die Brüder hielten sich wortlos umarmt, es war todtenstill in dem Gemach. Die Menge zog sich ehrfurchtsvoll von der geöffneten Thür zurück und verkündete die Botschaft auf der Straße, »daß Isaschar, der Sohn Samai's, seit zwanzig Jahren heimgekommen aus der Fremde, und daß von ihm genommen der Fluch um Lea, die Tochter Hagar's.«
Endlich ließ Caleb die Hand von dem Halse des Bruders und blickte ihm, ihn von sich haltend, ins Gesicht. »Gesegnet soll die Stunde sein für alle Zeit, in der Du zurückgekommen in mein Haus,« sagte er feierlich, »denn Du bist gekommen als der Bote Gottes, seinen Zorn abzuwenden von mir und meinem Geschlecht –«
Er hielt inne und griff sich an die Stirn. »Ja, als der Bote Gottes,« murmelte er, sich besinnend, »auf den ich geharret, wie Lot, der Knecht des Herrn, daß er komme und uns sage, daß es an der Zeit sei.«
Alle Muskeln seines Gesichts hatten sich plötzlich wieder angespannt, seine Züge waren geröthet und von Vorsorge und erwägenden Gedanken erregt. Er blickte umher und sagte schnell:
»Wir werden Lea tragen auf einem Sessel ins Schiff und hinabfahren den Rhein nach Rotterdam, wo unser Volk lebt in Sicherheit. Wir werden nichts nehmen, als das baare Gold und die Juwelen von meiner Tochter, und schleunig fortgehen aus diesem Hause –«
Doch Lea machte eine abwehrende Bewegung. »Laß mich sterben hier, wo ich gelebt, Caleb,« sagte sie matt, aber mit fröhlicher Miene; »da ich das Glück erlebt, das der Herr uns beschert. Wir wollen nicht gehen, wir wollen uns freuen an diesem Tage, und die Mägde sollen Kuchen backen aus ungesäuertem Mehl zu seiner Ehre und daß der Sturm ist vorübergefahren an unserem Haupte.«
Und Tharah und Hellem stimmten ein; sie hatten die Stunden der Angst vergessen, die ob ihnen hin entflohen, und dachten der fröhlichen, nur durch den Anblick der hülflosen Mutter getrübten Gegenwart.
Doch der Alte schüttelte den Kopf. Er hob langsam die Hand und deutete auf das enthüllte Bild an der Wand.
»Es hat es gemalt ein geschickter Künstler,« sagte er mit eigenthümlichem Ton, der die Anwesenden mit seltsamem Schauer überlief; »pack ein Deine Diamanten, Tharah, gut, daß Du sie nicht verlierst; wir werden gehen aus diesem Hause, denn als ich bin gekommen in die Christenstadt im Morgengrauen –«, er dämpfte innehaltend seine Stimme zu kaum vernehmlichem Geflüster herab, seine Augen leuchteten geheimnißvoll in die der Hörer, und er hauchte: »da hab' ich gesehen einen Menschen mit einem Mantel verdeckt heranschleichen an den Brunnen vor dem Thor, und er zog aus seiner Tasche ein Säckchen und warf es hinunter in das Wasser, daß es aufklatschte. Und wie er davongelaufen, habe ich nachgesehen in den Brunnen hinunter und habe gesehen ein weißes Pulver schwimmen über dem dunklen Grunde –«
Er redete nicht aus, denn ein lautes Gelärm erhob sich auf der Treppe. Eilige, polternde Tritte kamen die Stufen herauf, ein schwächliches Männchen mit einem kurzen Stabe in der Hand und gebieterischer Amtsmiene in dem unbeweglichen, verknöcherten Gesicht erschien, von einer Schaar bewaffneter Wächter gefolgt, in der offenen Thür. Sie stießen ihre Hellebarden klirrend auf den Fußboden und schlossen einen Halbkreis um ihren Führer, der, mit seinem Stabe der von draußen nachdrängenden Menge Ruhe gebietend, mit trockener, lauter Stimme sagte:
»Ich suche Caleb, den Sohn Samai's, und Hellem, den Sohn Isaschar's, auf Befehl des ehrwürdigen Rathmeisters und Rathes der hilligen Stadt zu Cölln – wo sind sie?«
Die unerwartet in ihrer Freude Unterbrochenen sahen sich stumm an, ein unruhiges Murmeln lief draußen durch die Menge, die das Haus erfüllte, und pflanzte sich bis auf die Straße fort. Nach einem Augenblick des Besinnens trat der alte Caleb würdevoll vor und erwiederte:
»Hier sind wir, was ist es, das der ehrwürdige Rath von uns verlangt?«
»Seid Ihr Caleb, der Sohn Samai's,« versetzte der Diener des Raths mit ausdruckslosem Blick, »so seid Ihr angeschuldigt vor dem Gericht, die Brunnen in der hilligen Stadt Cölln vergiftet zu haben, zur Erzeugung der Pest und zum Verderb der Christenheit; und wider Hellem, den Sohn Isaschar's, ist die Klage erhoben, daß er hier gestern Abend eingetroffen ist aus Toledo in Spanien, wo die Juden einen Bund der Obern aus ihrem Volk aufgerichtet haben und Sendboten ausschicken in alle christlichen Länder, um durch Gift die Pest in Europa zu erzeugen und zu verbreiten.«
Er sprach es gleichgültig mit dünner, näselnder Stimme. »Legt ihnen die Ketten an, das Gericht ist versammelt,« setzte er, sich zu den Hellebardieren umwendend, hinzu.
Das Gemurmel des Unwillens unter den draußen stehenden Juden brach bei den letzten Worten in einen lauten Schrei aus. Die Masse führte einen Stoß gegen den Rücken der Bewaffneten und fluthete, ihre Reihen durchbrechend, stürmisch und drohend in das Gemach.
»Sie lügen, sie wollen uns verdächtigen, um uns zu berauben, – schließt das Thor, verrammelt die Häuser, – behaltet sie als Geißeln,« rief es aufgeregt.
Der Schwächliche wandte sich gegen die wogende Menge um. »Gewalt?« fragte er, seinen Stab zur Constatirung der Thatsache wie ein Fragezeichen bewegend. »Ihr widersetzt Euch?«
»Gewalt gegen Gewalt,« tönte ihm die Antwort entgegen.
Er trat einen Schritt zurück. »Sie komme über Euch,« erwiederte er mit kalter Ruhe. »Kommt!« Er gab seinen Begleitern einen Wink und wollte das Gemach verlassen, doch der alte Caleb lief ihm nach und hielt ihn am Arm zurück.
»Es ist von Gott gesetzt die Obrigkeit und der Mensch soll ihr gehorchen, auch wenn sie ist befangen im Irrthum. Es weiß der lebendige Gott, daß wir sind unschuldig und können ruhig treten vor die Richter,« sagte er fest und laut, indem er seine beiden Hände den Wächtern darreichte, die sie, verwundert, mit schweren Ketten belasteten. »Komm, Hellem, mein Sohn,« fügte er, sich zu den Seinen umwendend, leiser und mit zitternder Stimme hinzu, »der Herr wird über uns sein, daß wir zurückkommen gereinigt von dem Verdacht, und daß wir nicht Alle durch Trotz mit uns reißen ins Verderben.«
Der Jüngling that, wie der Alte gebot, die Frauen standen noch starr, von dem neu hereingebrochenen Unheil schreckgelähmt. Dann ergriff Tharah Hellem's Arm:
»Ich will mitgehen, ich will zu Tode reden die schändliche Verleumdung mit meinen Lippen,« sagte sie heftig.
Allein der Beamte wies sie zurück. »Ich habe keinen Befehl, Euch mitzunehmen, Jungfer,« antwortete er unempfindlich.
»Bleib, Tharah, und packe ein Deine Diamanten, und rüstet Euch, daß wir können abreisen sofort, wenn wir zurückkommen,« flüsterte der alte Caleb in ebräischer Sprache; »Isaschar wird Euch geben guten Rath; wenn der Abend kommt, wollen wir fortziehen zu Schiff nach Rotterdam; bleib', ich befehl' es Dir, Tochter.«
Die Hellebardiere nahmen die Verhafteten in ihre Mitte und führten sie durch die von gedrängter Menge erfüllte Gasse. Wie ein Lauffeuer rann die Nachricht durch das Ghetto, daß der reiche Caleb und sein Sohn Hellem gefangen genommen und von den Christen beschuldigt seien, die Brunnen vergiftet und die Pest in Cölln erzeugt zu haben. Kopf an Kopf standen die Juden an dem Wege zum Thor, und ihre Augen hingen an den Lippen Caleb's, um auf einen Wink von ihm mit Gewalt über die kleine Schaar der Wächter herzufallen und die Entführten mit Gewalt zu befreien. Doch der Greis schritt ruhig zwischen ihnen durch und wehrte den Eifrigen mit der geduldigen, kettenbeladenen Hand. Wo er ein näher befreundetes Gesicht erblickte, nickte er mit dem Kopf hinüber und rief ein paar Worte in ebräischer Sprache, welche der Angesprochene damit zu beantworten pflegte, daß er sich leise aus dem Gedränge entfernte und seinem Hause zueilte. Die Menge aber folgte den Gefangenen unruhig bis ans Thor und machte Miene, ihnen noch weiter das Geleit zu geben, allein Caleb wandte sich um und sprach laut zu dem Volk:
»Bleibet zurück, daß Ihr nicht Aufsehen erreget in der Stadt, das Euch und uns könnte schaden. Es herrscht Gerechtigkeit bei dem weisen Rath und bei dem Christenvolk, daß wir werden abstreifen den Verdacht, den die Böswilligkeit hat geheftet an unseren Namen.«
Der schwächliche Führer, der während der letzten Minuten mit einiger Unruhe das drohender anwachsende Murren der Juden beobachtet hatte, drehte den Kopf zu dem Alten herum und sagte befriedigt und mit so freundlicher Miene, als sein phlegmatisches Amtsgesicht sie nur anzunehmen vermochte:
»Ihr seid ein verständiger Mann, Caleb; der Rath ist weise und gerecht, und er wird Euch schützen, wenn Ihr nicht schuldig befunden werdet. Sprecht noch einmal zu Eurem Volk, denn ich sehe, Ihr seid ein Mann von Ansehen in der Judengasse, und es wird gut für Euch und für sie sein, wenn sie Euch gehorchen.«
Der Alte lächelte traurig zu den Worten. »Der Rath,« murmelte er vor sich hin, »mag er sein weise und gerecht, doch was hilft die Weisheit und die Gerechtigkeit wider die Habgier und den Haß?«
Aber ein pfiffiger Zug flog zugleich um seine Mundwinkel, wie er das zu seinen Gunsten veränderte, knöcherne Gesicht des Schwächlichen überflog. Er wiederholte noch einmal, gegen die Juden gewendet, mit lauter Stimme seine Ermahnung, und sie stauten sich am Thor, das er jetzt schnell durchschritt, auf und blieben zurück.
An dem Brunnen, der hart neben dem Gitter lag, waren Leute in amtlicher Tracht beschäftigt, die Befehle ertheilten und von Handlangern Wasser in Eimern heraufziehen ließen, auf dessen Oberfläche ein feiner, weißlicher Staub schwamm.
»Da haben wir es,« sagte eine Stimme, während jene vorübergingen, »der Rest ist noch drin,« und eine Hand zog einen festeren Gegenstand hervor, den sie der Begutachtung der Uebrigen entgegenhielt.
»Was haben die Leute mit dem Wasser?« fragte der alte Caleb seinen Begleiter, der seit den ersten, zwischen ihnen gefallenen Worten wieder steif an seiner Seite ging, unbefangen.
»Sie suchen nach dem Gift, daß Ihr in den Brunnen geworfen haben sollt,« entgegnete dieser.
»Ich soll vergiftet haben den Brunnen da? So?« erwiederte der Alte ruhig.
Der Amtsdiener blickte ihn zweifelnd an. »Und mich däucht, sie haben gefunden, was sie suchen,« versetzte er.
Caleb nickte mit dem Kopf. »Sie werden gefunden haben Gift in einem leinenen Beutel,« sagte er, »das weiß ist, wie ein Mehl und schwimmt auf dem Wasser.«
Die Miene seines Begleiters wurde wieder strenger und unerbittlicher. »Ihr wißt sehr genau, was darin ist und werdet vielleicht vor den Richtern behaupten, es sei kein Gift. Doch unsere Aerzte werden darthun, was es ist,« antwortete er trocken.
»Ich werde nichts verlangen, als die Wahrheit,« entgegnete der Alte gelassen; »sagt mir doch, wer hat gesagt, daß der alte Caleb habe geworfen das Gift da in den Brunnen? Hat er nicht getragen ein Baret mit einer gelben Feder, und hat er nicht gehabt einen dunklen Mantel um die Schulter, in den er hineinstecken konnte seinen Kopf?«
Jedoch der Schwächliche, in dessen Augen der flüchtige Ausdruck von Wohlwollen wieder verschwunden war, erwiederte nichts mehr auf die Fragen des Juden und schritt verschlossen mit gemessenem Schritt fort, bis sie an das große Gebäude kamen, in welchem in der ersten Morgenfrühe das boshafte Gesicht des Spitalwärters verschwunden war, bald nachdem eine andere männliche Gestalt, die in der Richtung vom Ghetto gekommen, eiligen Fußes hineingeschlüpft. Der Himmel war wolkenlos, nur ein leichter Nebel sammelte sich und färbte das Blau in ein falbes Grau um; er senkte sich langsam herab und wob einen matten Dunstschleier um die Dächer und die Fenster des massiven Steinhauses, in welchem der ehrwürdige Rath der hilligen Stadt Cölln zu einer, »durch dringende Nothwendigkeit gebotenen«, außerordentlichen Sitzung berufen und versammelt war.
Eine Schaar von Müssiggängern und auf der Straße befindlichem Volk war von dem Aufzug herbeigelockt und folgte den Gefangenen bis ans Thor des Gebäudes. Sie war nicht zahlreich, und nur Wenige wußten eine Muthmaßung dessen, was geschehen sollte, anzugeben; allein die Nachricht, daß Juden im Ghetto verhaftet und vor den Rath geführt worden, durchflog schnell die Gassen, und von selbst entstand auf jeder Lippe die Anschuldigung, daß sie die Pest erzeugt und droben ihr Urtheil empfingen, und der lärmende Haufe um das Rathhaus vergrößerte sich zusehends, soweit man bei dem immer dichter herabfallenden Nebel seine Zahl, mehr nach dem anwachsenden Geschrei, als mit den Augen berechnen konnte.
Droben in dem weiten, reich mit Getäfel und Portraits ehrwürdiger Vorfahren der Väter der Stadt ausgeschmückten Saale herrschte Stille, die nur von dem leisen Zwiegespräch einzelner Rathsmitglieder unterbrochen wurde. Es waren größtentheils ältliche Herren von imposanter Statur, in stattlicher, ernster Kleidung. Das Selbstbewußtsein des thätigen Bürgers, der durch rege Arbeit seine hervorragende Stellung erworben, verband sich mit einem hervorstechenden Ausdruck des Patriziergefühls zu unverkennbarer stolzer Sicherheit, die ihre Unabhängigkeit gleich sehr nach Außen wider die rechtlose Gewalt der die Handelswege umlagernden Raubritter, wie nach Innen gegen die oft versuchte geistliche Oberherrschaft des erzbischöflichen Stuhls zu vertheidigen wußte. Doch Intelligenz und durch das Alter erzeugte Milde, wo ihre Vorrechte nicht angetastet zu werden drohten, schimmerte unter der etwas steifen und gravitätischen Maske ihrer Gesichter hervor. Die allgemeine Angst der Stadt schien weder ihre Züge, noch ihre Sprache zu berühren, die gemessen von den ruhigen Lippen kam, auch wenn ihr Herz unter verhaltenem Gram zittern mochte. Es war Einer unter ihnen, an den die Uebrigen, sobald sie in den Saal gekommen, zunächst hinantraten und ihm die Rechte darreichten, die er mit schweigsamem Drucke schüttelte. Dann öffnete sich eine Seitenthür und der Rathmeister, der Schultheiß der hilligen Stadt Cölln, trat in feierlicher Amtstracht mit einer Papierrolle, an der ein gewaltiges Siegel herabhing, in der Hand ein.
Die Anwesenden, die sich gesetzt hatten, erhoben sich und neigten den Kopf; der Schultheiß ging ebenfalls auf den von den Anderen zuerst Begrüßten zu und reichte ihm die Hand.
»Euer Haus hat einen herben Verlust erlitten, Herr Eppstein,« sagte er ernst, »und ich beklage ihn mit Euch. Doch wenn der Tod Euren Sohn unserem Arm nicht entzogen hätte, würden wir ihn heute gestraft haben, wegen Ungebühr, die er am gestrigen Morgen wider friedliche Bürger dieser Stadt begangen. Wir halten auf unsere Gerechtsame und es ziemt uns, streng gegen unser eigenes Blut zu sein, wenn es diejenigen Anderer mißachtet.«
Der Vater des beschuldigten Todten senkte antwortlos den Kopf und der Schultheiß bewegte sich auf ein anderes Mitglied des Rathes zu.
»Euer Sohn hat ebenfalls an dem Streite, der durch einen fremden Edelmann gestiftet worden, theilgenommen, Herr Hans Stockhard,« sprach er fort; »ich warne Euch; das Unheil, das unsere Stadt betroffen, erregt die Gemüther, und wenn Schaden durch den Uebermuth oder Gewaltthätigkeit der Patriziersöhne entsteht, werden wir die Schuldigen unerbittlich ausfindig machen. Es käme ihnen zu, der Menge ein Beispiel zu geben, und nicht ihre Jugend durch Ausschweifung und wüste Gelage zu schänden, wie es geschehen. Ich mache Euch vor Gott und vor der Majestät des Kaisers verantwortlich für die Frevel Eurer Kinder, und ihre Schuld komme über Euch,« setzte er streng hinzu, indem er sich von dem gleichfalls verstummten Hans Stockhard, dem Rathsherrn, abwendete und einen etwas erhöhten Sessel in der Mitte des langen, fast den Saal erfüllenden Tisches einnahm. Ein beipflichtendes Gemurmel tönte von den Lippen der Anwesenden, das er mit einem Wink, der sie auf ihre Plätze niederließ, beschwichtigte. Dann entrollte er das Papier in seiner Hand und sagte mit fester und vernehmlicher Stimme:
»Es ist uns durch einen Boten des hochfürstlichen und edlen Landgrafen Friedrich von Thüringen, Markgrafen von Meißen, ein Brief mit Siegel an den Rath der hilligen Stadt zu Cölln ergangen, wie Seine fürstliche Gnaden derselben mehrere an die freien Reichsstädte seiner Nachbarlande übersendet hat, den ich Eurer Kenntnißnahme und Eurem Urtel, hochehrwürdige und weise Herren vom Rath, zu unterbreiten habe.«
Er hob bei den Worten das Blatt vor die Augen und las also:
» Ir Ratesmeyster unde rat der hilligen stat zcu Cöllen, wysset, daz wir alle unzen Juden haben lazen burnen also wyt alse unze lant sin, umme dy groze Bosheyt dy sy an der krystenheit haben getan, wenne sy die krystenheit getot wollden haben mit vor gift, dy sy in alle borne geworfen haben, daz wir genczlich der kunt unde der varn haben, daz daz wor ist. Dor umme roten wir uch dazir uwere Juden lozet toten, gote zcu lobe und zcu ern under der krystenheit zcu selikeit daz dy krystenheit noch ir geschwacht von in werde.«
Ein Murren des Unwillens unterbrach den Lesenden, und der alte Eppstein erhob sich von seinem Sitz.
»Ihr habt hart, wenn auch gerecht, vorhin mit uns geredet, Herr Schultheiß,« sagte er mit starker Stimme, »darum verlange ich von Euch im Namen derselben Gerechtigkeit und des preiswürdigen Rathes dieser Stadt, daß Ihr das unwürdige und schimpfliche Sendschreiben des hochfürstlichen Herrn Landgrafen zu Thüringen wider Bürger unserer Gemeinschaft nicht weiter leset, es sei denn, daß begründete Klage zuvor gegen dieselben aus unserer Mitte vorgebracht worden und vernommen. Wer stimmt mir bei?«
Sämmtliche Mitglieder des Rathes, mit Ausnahme der rechtsgelehrten Beisitzer, die unbeweglich, in ihren langen, schwarzen Talar gehüllt, auf ihren Sitzen verharrten, erhoben sich, und der Schultheiß legte den Brief, ohne das Ende zu lesen, vor sich auf den Tisch.
»Der Rath hat vor der Hand beschlossen, von dem Schreiben des hochfürstlichen Herrn Friedrich, Landgrafen zu Thüringen, nicht Kunde zu nehmen,« sagte er, dem Protocollführer diktirend, in ruhigem Amtstone, obwohl die Freude über den Beschluß aus seinen strengen, aber wohlwollenden Zügen hervorleuchtete. »Es ist demnach eine Klage eingebracht und unterstützt von Zeugen wider zwei Bewohner des Ghettos in unserer Stadt, und die Beschuldigten sind zugegen mit den Klägern: Caleb, der Sohn Samai's, und Hellem, der Sohn Isaschar's, angeschuldigt, daß sie Brunnen vergiftet und dadurch die Pest zu Cölln erzeugt haben sollen. Das Gericht ist versammelt, führt die Genannten herein.«
Die Thürsteher entfernten sich auf einen Wink des Rathsmeisters und brachten die von den Wächtern mit ihrem Führer umringten Gefangenen, während von der anderen Seite die Kläger, Graf Honfried an der Spitze, und hinter ihnen der Spitalwärter und mehrere seiner Genossen mit häßlichen Gesichtern, die an der Nachtscene im Krankenhaus theilgenommen, erschienen. Der Edelmann trat keck mit dem Raufdegen an der Seite und dem Baret auf dem Haupte ein, das er erst vor einem scharfen Blick des Schultheiß, der ihn vom Kopf bis zu den Füßen musterte, mit einer Art spöttischer Höflichkeit abzog. Der alte Caleb nahm beim Eintreten sein Käppchen vom Scheitel und blieb, die Hände darüber haltend, aber hochaufgerichtet, auf dem ihm angewiesenen Platze stehn.
Die Rathsherren neigten die Köpfe zusammen und flüsterten; Kunz Eppstein und Hans Stockhard suchten den Blicken des Grafen auszuweichen, die er ihnen mit frecher Zudringlichkeit zuschleuderte. Der Schultheiß bemerkte ihre Verlegenheit und faßte sie streng ins Auge; dann begann er mit seinem gewöhnlichen Ton:
»Wer bringt die Klage gegen Hellem, den Sohn Isaschar's, vor? Er spreche.«
Der Wärter trat, einen heimtückischen Blick auf den Genannten hinüberwerfend, aus der Reihe und sagte schnell und sich in seiner Rede verwickelnd: »Ich zeuge, und die hinter mir stehen mit mir, daß dieser Mensch am vorgestrigen Abend aus Toledo gekommen ist mit einem Befehl des Geheimbundes der Juden, die Brunnen der Christen in dieser Stadt mit Arsenik zu vergiften –«
Die Zeugen hinter ihm erhoben ein Geschrei und reckten die Hände auf. »Ja – ja – wir haben es gesehen, – wir bezeugen es,« riefen sie.
Doch der Schultheiß achtete nicht darauf. Er gebot Ruhe mit der Hand und fragte gelassen: »Welchen Beweis habt Ihr für eine so schwere Aussage?«
Der Wärter wich dem unbeirrten Blick des Fragenden scheu aus. »Es ist so,« entgegnete er, »Ihr hört, gestrenger Herr, sie sagen es. Sie wissen es, denn der Jude war heute Nacht im Spital in ihrer Gegenwart –«
»Weshalb kam er ins Spital?« unterbrach ihn der Vorsitzende.
»Weil er zuerst die Pest hatte, die er unter den Christen in dieser Stadt ausbreitete,« antwortete der Gefragte triumphirend; »sie sind Zeugen, Hunderte sind Zeugen; er selbst hat es gestanden.«
Der Schultheiß wandte verächtlich den Kopf. »Ihr beschuldigt ihn, daß er Gift mit sich gebracht, um die Christenheit zu verderben, und daß er zuerst mit dem eigenen Gift sich die Pest beigebracht. Eure Anklage ist die eines Schurken oder eines Narren,« erwiederte er. »Woher kamt Ihr von Eurer Wanderung, Sohn Isaschar's?« fügte er, sich gegen Hellem wendend, bei.
»Ich kam zurück aus Frankfurt, wo ich im Ghetto gewesen bei unserem Volk,« entgegnete der Jüngling.
»Und wie geschah es, daß Ihr am Morgen vor dem Thor gefunden wurdet, zu einer Stunde, da das Ghetto noch nicht geöffnet war?«
Hellem zauderte. »Ich hatte es nicht gewußt, daß ich die Pest mitgebracht aus der Fremde,« versetzte er leise, »und ich bat den alten Marchaboth, daß er mir das Gitter öffne.«
»So seid Ihr Beide strafbar, der Thorhüter und Ihr, Jüngling,« sprach der Richter streng, »denn Ihr habt das Gesetz übertreten.«
Doch der alte Caleb trat plötzlich mit aufgehobenen Händen vor. »Er ist heimgekommen aus der Fremde, gestrenger Herr Schultheiß, nach sieben langen Jahren, und Ihr wißt, was das heißt, wenn Ihr seid Vater von einem Sohne, und wir saßen beisammen und unser Herz freute sich, da hat er gefühlt, daß war die Pest in ihm, und er ist hinausgegangen, ohne zu sagen ein Wort, aus dem Hause und aus unserer Stadt, um seinen Vater und seine Mutter und sein Volk nicht mitzuführen ins Verderben. Und er hat sich weggeschleppt bis vors Thor, und wäre weiter gegangen auch aus der Stadt der Christen auf das Feld, aber er ist zusammengebrochen auf der Straße in seinem Blut, und da haben sie ihn aufgenommen nach Stunden und ins Spital getragen, und haben ihn todtschlagen wollen, wie einen Hund, weil er war aus unserem Volk.«
Seine Stimme zitterte und brach; der Schultheiß drehte hastig den Kopf, daß niemand die Thräne bemerkte, die aus seiner grauen Wimper fiel, dann wiederholte er gemessen in demselben Tone, wie vorher:
»Euer Sohn ist strafbar, weil er das Gesetz übertreten, und Ihr werdet für ihn nach dem Gebot mit dem Theil Eurer Habe büßen, welchen die Vorschrift bestimmt.«
»Ich werde bezahlen, hoher Rath, ich werde thun nach dem theuren Recht, man soll uns behandeln nach dem Recht,« murmelte Caleb.
Der Richter wandte sich wieder zu den Klägern: »Welche andern Beweise habt Ihr für die Schuld dieses Mannes?« fragte er.
Der Wärter sowohl als seine Genossen waren unter der ihnen ertheilten Zurechtweisung mit giftigen Blicken verstummt, doch jetzt trat der Edelmann keck vor und antwortete:
»Ich glaube, es ist Beweis genug, daß Gift in dem Brunnen zunächst dem Ghetto gefunden, welches die Aerzte als Arsenikpulver erkannt, und daß ich gesehen, wie jener alte Heuchler es mit seinen Händen hineinwarf.«
Er sprach es mit vornehmer Geringschätzigkeit, doch der Schultheiß richtete die Augen scharf auf sein Gesicht und entgegnete: »Wer seid Ihr, der Ihr vor uns klagt und Zeugniß ablegt?«
Der alte Caleb war bei der Stimme des Grafen in die Höhe gefahren und suchte umher, bis er den Sprecher gefunden. »Gott der Wunder,« rief er aus, »ist es nicht der Graf Honfried von Teufelsstein, der mich anklagt, und ist mir schuldig zweitausend Goldgülden von der Messe vom Jahr vorher, worüber ich habe einen Schein zu Händen von ihm –«
Er stöberte eifrig in der Tasche seines Rockes, ohne das Gesuchte zu finden. »Er liegt in meinem Schrank auf dem Bord zur rechten Hand,« murmelte er für sich weiter. »Gott der Wunder.«
Der Vorsitzende blickte fragend auf den Kläger.
»Nun, Ihr hört meinen Namen,« erwiederte dieser brüsk, »er hat Euch wohl manchmal Angst eingejagt. Ihr braucht nicht wegen des Scheins in die Judengasse zu schicken,« setzte er, einen Wink des Richters unterbrechend, hinzu, »es ist, wie der alte Schurke sagt, er hat ihn mir in der Geldklemme mit seinen Wucherfäusten abgelockt.«
»Ich kenne Euch nicht,« versetzte der Schultheiß kalt; »Ihr gehört nicht unter unsere Botmäßigkeit; habt Ihr angesehene Bewohner in dieser Stadt, auf deren Gewicht Ihr Euch berufen könnt?«
Der Edelmann lachte. »Wenn Euch das Ansehen Eurer eigenen Collegen, der ehrwürdigen Herren Eppstein und Stockhard, genügt,« sagte er, auf die Genannten hindeutend, die sich verlegen unter einem fragenden Blick des Rathmeisters erhoben.
»Ich kenne den Grafen Honfried durch meinen Sohn, den er aufzusuchen pflegte,« antwortete Jeder von ihnen mit ablehnendem Ton und setzte sich auf seinen Platz zurück.
Der Schultheiß nickte mit dem Kopf. »Es ist gut,« sagte er. »Aus welchen Gründen, Graf Honfried von Teufelsstein, erhebt Ihr die Anklage wider Bürger unserer Stadt?«
Der Graf zuckte spöttisch mit den Lippen. »Aus Menschenpflicht, wenn Ihr es wissen wollt, um das Verderben von der Christenheit abzuwenden,« entgegnete er rasch.
Der alte Caleb hatte, seitdem er auf seinen Ankläger aufmerksam geworden, die Augen nicht von ihm gewendet. Er musterte ihn vom Kopf bis zum Scheitel, seine Höhe, die Ausdehnung seiner Schultern, dann überflog er das Baret und den Mantel, den der Edelmann hinter sich auf einen Sitz geworfen, und rief plötzlich:
»Hoher Rath, ich bitte um den gerechten Gott, hoher Rath, befehlet dem Manne, welcher Klage führt gegen mich, daß er sein Baret aufsetze mit der gelben Feder und umthue seinen Mantel und ihn ziehe über seinen Kopf –«
Er schritt hastig gegen den Grafen vor, der sich weigerte und zähneknirschend dem Befehl des Schultheiß, das Verlangte zu thun, nachgab.
»Gott der Wunder, – Gott der Wunder!« schrie der Alte einmal über das andere, die Hände zusammenschlagend, »ist er es nicht, den ich gesehen heute Morgen heranschleichen an den Brunnen, und mit eigenen Händen hinunterwerfen das Gift, das er will auf mich werfen um das baare Gold, das ich ihm hab' geliehen. Gestrenger Herr Richter, laßt doch dem Manne untersuchen die Tasche, ob er nicht hat darin ein weißes Pulver, das herausgestäubt sein muß aus dem Sack, den er bei sich trug –«
Er sprang auf den Edelmann zu, der wüthend um sich schlug und sich den Wachen widersetzte, welche auf ein Zeichen des Schultheiß Hand an ihn legten. Wie eine Tigerkatze packten die Finger des Alten den Mantel Honfried's und rissen ihn von seiner Schulter; dann schleppte er denselben, wie ein Raubthier die erhaschte Beute, vor Aufregung knurrend, an den Sitz des Richters. Er griff mit fiebernden Händen in eine Tasche und in eine zweite, das Zittern seiner Glieder nahm zu, endlich stieß er einen Schrei aus, wie ein Wahnsinniger, denn unter seinen Fingern wirbelte ein weißer Staub hervor und er wendete den Sack der Tasche nach Außen, daß ein greifbarer Rest des Pulvers vor dem Rath auf den Tisch fiel.
Der Schultheiß winkte und ein Arzt, der schweigsam bis jetzt abseits von dem Tisch gesessen, trat hinzu und beugte sich über die mehlartig fein zerriebene Masse. Er prüfte dieselbe genau; es war todtenstill in dem Saal, der sich trotz dem Steigen des Tages immer mehr unter den dichten Schleiern des an die Fester wogenden Nebels verdunkelt hatte. Nur ein dumpfes Grollen wie ferne Meeresbrandung, wie das Geräusch tausend aufgeregt durcheinander redender Stimmen, kam von der Straße herauf.
» Arsenicum in pulverem redactum – zerstoßener Arsen,« sagte der Arzt, sich von seiner Untersuchung abwendend, »es ist die nämliche, giftige Substanz, genau in derselben Feinheit, wie sie in dem Brunnen am Ghetto gefunden.«
»Gott, gerechter Gott, es giebt noch weise und gerechte Männer unter den Christen. Ist es genau dasselbe Gift, Herr Arzt, welches ist gefunden im Wasser, sagt Ihr? Gott der Wunder, er sagt es und es sieht so aus.«
Die ernsten Gesichter der Rathsmitglieder verzogen sich beinahe zu einem mitleidigen Lachen bei dem Anblick des alten Mannes, den seine Besonnenheit und ruhige Würde verlassen, daß er wie närrisch auf und ab tanzte, sich auf das giftige Pulver neugierig niederbeugte und es beroch und rief: »Riecht es nicht nach Knoblauch? Ich habe immer gehört, daß Arsenik sollte einen Geruch haben nach Knoblauch.« Dann schlug er, wie plötzlich sich seiner und seiner Umgebung erinnernd, die Arme über der Brust zusammen; nur um seine Mundwinkel flog ein schlaues, vergnügtes Schmunzeln und seine Lippen schmatzten leise vor sich hin:
»Sollte ich nicht wiederbekommen durch den gestrengen und gerechten Rath bei der Gelegenheit meine zweitausend Goldgülden, – wie?«
Doch der Edelmann, der freigelassen war, fuhr zornschnaubend empor. »Der Jude hat mir das Gift in den Mantel gezaubert; ich verlange, daß er auf die Folter gelegt, daß ihm die Beine gebrochen werden, bis er gesteht!« schrie er so laut, daß einzelne seiner Worte bis auf die Straße zu der versammelten Volksmenge hinunterdrangen, die, ohne zu wissen um was es sich handelte, das Bedeutungsvollste derselben tobend wiederholte.
»Auf die Folter, – legt die Juden auf die Folter!« heulte das Getümmel, und drängte vergeblich gegen das aus starken Eichenbohlen gefügte Thor, dessen von Innen vorgeschobene Riegel unbewegt dem Druck widerstanden.
»Ihr hört es,« fuhr Honfried fort, »eilt Euch – oder macht der Rath der hilligen Stadt Cölln Gemeinschaft mit dem Ghettogesindel wider die Christen?« fügte er, höhnisch die ernsten und strafenden Gesichter der grauen Patrizier messend, bei.
Der Schultheiß zog finster seine Brauen zusammen. »Verlangt nicht, Graf Honfried, was gegen Euch angewendet werden könnte,« sagte er drohend.
Der junge Edelmann machte einen wilden Sprung zur Seite. »Gegen mich? Seid Ihr toll, alter Graukopf,« schrie er, »die Folter gegen mich, den reichsunmittelbaren Grafen, der keinen Herrn über sich hat, als den Kaiser –«
»Und das Gesetz des Kaisers, nichtswürdiger Bube,« donnerte der Schultheiß, mit gewaltiger Stimme ihn unterbrechend, »nach welchem Du unserem Spruch verfallen bist, denn Du hast den Frieden, welchen Du in der Urphede geschworen, gestern Morgen am lichten Tag mit Deinen Genossen gebrochen, und verdienst den Tod, – Du bist überwiesen zum Verderben der Stadt und Verdächtigung ihrer Bewohner Gift in die Brunnen geworfen zu haben, und das kaiserliche Reichsgesetz befiehlt, den Thäter auf die Folter zu bringen und seine Glieder zu brechen, bis er seinen Frevel gesteht.«
Der Edelmann war todtenbleich geworden, seine häßlichen Lippen zuckten vor Wuth und unmännlicher, gräßlicher Angst. Er wollte antworten, aber er stotterte nur: »Wagt es, – wagt es!« und Schaum trat ihm vor den Mund.
Die Züge des Richters hatten sich beruhigt und nahmen einen feierlichen Ausdruck an. Er bewegte, Stille gebietend, die Hand, und das Flüstern verstummte, und Alle blickten gespannt auf ihn, wie er mit ernster Würde sprach:
»Es ist in Eure Hand gegeben, ein großes Unglück zu hindern, einen schweren Fluch von Euch und von der Zukunft Eurer Söhne abzuwenden. Ein Vierteljahrhundert ist vorüber, seitdem die schwarzen Blattern den Rhein heimgesucht; mancher von Euch, ich selbst habe es erlebt. Damals in der Stadt zu Mainz, wie heute vor Euch, traten Verleumder auf vor dem Rath der Stadt, und ihre Arglist und Habgier beschuldigte die Juden, daß sie mit Gift die tödtliche Krankheit erzeugt. Und der Rath zu Mainz war schwach und fürchtete sich vor dem Grimm des verführten Pöbels, dem er nachgab und die Unschuldigen martern ließ, bis sie unter der Qual der Folter Verbrechen gestanden, die sie nicht begangen. Verbannt die Juden aus Eurer Stadt, versagt Ihnen Euren Schutz, wenn Ihr wollt, – oder seid menschlicher und gewährt ihnen die Rechte, welche jeder genießt, zu athmen und frei zu sein, daß Ihr das kommende Geschlecht zu guten Bürgern, zur Wehrkraft für Eure Mauern gegen die Raubburgen des Adels erzieht, – aber fürchtet die göttliche Gerechtigkeit und tastet nicht Euch selber an, in der Verfolgung der Unschuld, auf die Aussage Elender, die schlimmere Verbrechen begangen, als deren sie jene bezüchten, denn ich befehle, den Kläger mit seinen Zeugen vor Gericht zu stellen wegen Mordes, den er in dieser Nacht an einem Arzt verübt, der die Opfer seiner Bosheit im Spital, dem Asyl der menschlichen Barmherzigkeit, für das Unglück gerettet hat.«
.Gottes des Allmächtigen Segen über Euch, gestrenger Richter, schluchzte der alte Caleb, »es ist ein Mensch, – dieser Christ ist ein Mensch.«
Sonst erfolgte kein Laut auf das, was der Schultheiß gesprochen, nur drunten heulte das Volk fort, und er nahm wieder das Wort:
»So frage ich, ob Ihr nach Eurem Gewissen und ohne Menschenfurcht beistimmt zu meinem Urtheil, daß Caleb, der Sohn Samai's, und Hellem, der Sohn Isaschar's, schuldig sind, das bestehende Gesetz übertreten zu haben, das ihnen verbietet, bei Nacht das Ghetto zu verlassen, und daß sie dafür gestraft werden mit zweitausend Goldgülden, welche die Stadt als ihre gerechte Forderung an den Grafen Honfried von Teufelsstein übernimmt –«
Der alte Caleb stieß einen jammernden Laut aus. »Zweitausend Goldgülden für sich öffnen zu lassen das Thor in der Noth,« ächzte er; »es ist ein theurer Spaziergang, gestrenger Herr Richter, ich kann nicht machen viele solche Gänge –«
»Und daß die Genannten erkannt werden, als böswillig angeklagt der Brunnenvergiftung und Erzeugung der Pest, welche durch unerforschte Ursachen das deutsche Reich befallen und sich bis über unsere Stadt verbreitet,« fuhr der Schultheiß ernst fort; »und daß sie um der ausgestandenen Angst willen und dem Makel ihres Leumunds eine Entschädigung von dem Vermögen der Kläger verlangen mögen, nach dem das Gutachten der Rechtsgelehrten übereinkommt.«
Die versammelten Mitglieder des Raths erhoben sich einmüthig am Schluß, und die rechtskundigen Beisitzer nickten gravitätisch mit dem Kopf. Nur der alte Caleb fiel mit den Armen um den Hals seines Brudersohnes, der während der ganzen Verhandlung schweigsam, wie von anderen Gedanken bedrängt, dagestanden, und küßte ihn und rief lachend und schluchzend:
»Ich will nicht haben die Entschädigung, sie soll gegeben werden den Armen in der Christenstadt für die Gerechtigkeit der weisen Richter, und meine Tochter, die schöne Tharah, soll gehen und ihnen küssen die Hand.«
Der Schultheiß stellte noch eine Frage an den Rath, ob jemand noch etwas gegen die Freilassung der Losgesprochenen einzuwenden habe, die von jenem verneint ward. Er trat nun auf Caleb zu und reichte ihm die Hand. Der Jude bückte sich demüthig und wollte sie küssen, doch der Richter ergriff die Rechte des Alten und drückte sie mit ernster Freundlichkeit. Einen Augenblick stand der Greis verwirrt und blickte scheu zu ihm auf.
»Er hat mir gegeben die Hand vor aller Welt, er muß wollen leihen von mir eine große Summe,« murmelte er mißtrauisch zwischen den Zähnen, allein allmälig richtete er sich mit leuchtenden Augen höher empor, der gebogene Rücken hob sich frei, und er sagte mit feierlichem Stolz: »Herr, Ihr habt mich losgesprochen von dem Verbrechen, das ich nicht begangen, und Gott wird es Euch vergelten. Ich hätte nicht geweint eine Thräne, wenn Ihr mich hättet verurtheilt zum Tode, oder mir auferlegt, mich freizukaufen mit allem meinem Gold, aber Ihr habt mir gegeben Eure Hand vor den Augen, der Welt, und Ihr könnt sagen, Ihr habt weinen gesehen den alten Caleb.«
Er wandte sich ab, denn ein hastiger Thränenstrom rollte aus den großen, glänzenden Augen in seinen silbernen Bart. Der Schultheiß trat bewegt zu dem Führer der Hellebardiere und befahl ihm, die Beiden zurückzubringen und mit den Wächtern durch die Volksmenge ans Ghetto zu geleiten.
»Geht durch die Hinterthür und wählt die einsameren Straßen,« schloß er. Dann wandte er sich noch einmal Caleb zu und fügte leise bei: »Laßt das Ghettothor schließen, wenn Ihr hineingelangt, und haltet es verriegelt, bis ich Euch Botschaft sende; es ist klüger und kann Unheil verhüten. Der Diener hat mir berichtet, wie verständig Ihr Euer Volk ermahnt, Caleb; seid klug, seid geduldig nach Eurer Art; geht, – Euer Gott sei mit Euch!«
Fröhlich verließen Hellem und der Alte den Saal, den sie mit Zagen betreten, und stiegen eine Seitentreppe zur Hinterthür hinab. Die Mittagsstunde war schon vorüber, es schien, als ob der Abend bereits hereinbreche, so tief dämmerte es durch die Scheiben, aus denen man durch den Nebel kaum mehr die Umrisse der gegenüberliegenden Häuser gewahrte.
Der Schultheiß wandte sich von der Thür und schritt auf seinen Sessel zu: »Jetzt zu den Schuldigen,« sagte er laut, »die Unschuld ist gerettet –«
Ein Schrei unterbrach ihn und eine Stimme, die höhnisch rief: »Und über Euch komme die Rache!« Er sah auf, Sprünge krachten über den Boden auf das Fenster zu, das klirrend zerbrach, und Graf Honfried, auf den die Wächter lässig Acht gegeben, stand in der Bogenwölbung des Fensters.
Unten hörte man die Menge aufheulen; »Es ist ein Jude, – er will fliehen, – greift ihn, – schlagt ihn todt –«
Doch der Edelmann rief kreischend hinunter: »Sie sind entflohen, Euer Rath hat sie entwischen lassen; ich komme zu Euch, macht Platz, stürmt das Ghetto!«
Von hinten streckten sich die Hände der Wächter nach ihm aus, aber mit einem kühnen Satz verschwand er aus der Fensteröffnung und sprang unverletzt in die etwa vierzehn Fuß tiefere Straße hinunter, deren Boden weich und schmutzig unter seinem Fuß nachgab, und ein gelles, jubelndes Geschrei empfing ihn.
Das ernste Gesicht des Schultheiß wurde todtenblaß. »Mainz,« keuchte er, »sie machen es wie in Mainz. Zieht die Sturmglocke, ruft die Bürger zu den Waffen!« und er ergriff sein schwarzes Baret und stürzte, ohne auf die Warnung der erschreckten Räthe zu achten, athemlos auf die Straße nach.
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