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Zehntes Kapitel

Dem Schüler der unteren Klassen eines Gymnasiums erscheint in nebelhafter Ferne die Schwelle der Schule als eine Lebensstufe anderer Art – etwa wie wenn man von den Sprossen einer Hühnerstiege auf eine Marmortreppe gelange – wie ein fast unerreichbarer Märchenstrand schwebt sie ihm vor, an dem die kleine Erbärmlichkeit des täglichen Daseins wesenlos absinke und einer würdigen Stellung nach oben und nach unten Platz mache. Der Sekundaner trägt seine Bücher und Hefte nicht mehr in einem Ranzen, sondern frei oder von einem Lederriemen umschnürt unter'm Arm; er hat für Missetaten keine körperliche Ahndung, kein an der Wand Stehen für Versäumnisse und Verspätungen zu befürchten. Der Reife seiner Erkenntnis überhaupt und seiner Schulderkenntnis im speziellen gemäß, bemißt sich ihm die Sühne für jedes Vergehen vielleicht gewichtiger, als früher, aber der Strafkodex der Schulzucht enthält für ihn nur mehr das eine Wort ›Karzer‹, mit verschiedenen Abstufungen nach der Schwere begangener Sünden, doch immer hoch über die gemeine Vergangenheit schon durch den Namen emporgehoben, der an die schrankenlos und menschenwürdig am Schlusse des Abiturientenexamens harrende Freiheit gemahnt. Es gibt einen jüngeren Lehrer, der den Sekundaner mit ›Sie‹ anredet – einige ältere sogar kleiden bei Zusammenkünften außerhalb des Schulgebäudes ihre Ansprache in die witzige Formel: »Hier nenne ich Dich Sie, aber morgen früh nenne ich Sie wieder Du« – das kindische Umhertollen auf dem Hof in den Pausen hat aufgehört. Die gestern noch Kollegen, socii malorum waren, sind Schulknaben, bemitleidungswerte Geschöpfe, doch zugleich auch bereits Heloten geworden; noblesse oblige, der höhere Rang legt höhere Verpflichtungen auf, und der Sekundaner durchschreitet nach dem Vorbild des Primaners im Gespräch auf- und abwandelnd die Freistunde. Er fühlt, daß ihn von jenem ein unermeßlicher Abstand noch trennt, doch ist dieser mehr praktischer als ideeller Natur und der Zwischenraum dann und wann überbrückbar. Der Primaner kann sich zu ihm herablassen, ihn in irgend einer Angelegenheit als einen Gleichen behandeln, wie der Minister auf dem neutralen Boden der Gesellschaft sich einem nicht seinem Ressort untergebenen höheren Beamten scheinbar eine Stunde lang menschlich gleichzustellen vermag. Das alles winkt an der Schwelle der Sekunda und der an's heißersehnte Ziel Gelangende setzt mit heimlichem Freudebeben den Fuß über sie hin.

Er ist in seinem Stolz ein sehr törichter Bursche – man kann ihn auch treffender noch einen recht dummen Jungen nennen – aber er könnte etwas zu seiner Entschuldigung vorbringen, mit dem er allem Lachen und Spotten der Klugen den Mund zu stopfen imstande wäre. Daß die Spötter alle selbst, ohne Ausnahme, wie alt sie auch seien und würden, mit jeder Hoffnung nach jedem erharrten Glück noch grade so voraussähen, wie der Schüler nach dem Feenreich der Sekunda. Daß sie ihre Träume grade so daran hängten, das erstrebte Ziel mit goldenen Kränzen der Phantasie umflochten, nur das Eine als Wunderstufe ihres Daseins herbeisehnend, und daß, wenn sie den Fuß über seine Schwelle gesetzt, alles grad' so geblieben wie zuvor, nur daß ein glänzender Punkt vor den Augen erloschen und sie umher suchen müssen, in dem Nebel der Zukunft ein neues zauberisches Irrlicht zu entdecken.

Diese Art von Repitition in der Schule des Lebens ahnt freilich der Sekundaner noch nicht, sondern sendet aus seiner Enttäuschung gläubig vertrauensvoll den Blick um eine Staffel weiter nach der Prima voraus, und es gibt Leute, welche Sekundaner bleiben, bis der Tod ihre Augen zudrückt, die noch im letzten Moment eine tanzende Sternschnuppe vor sich gewahren. Aber alles in allem haben sie vielleicht von dem Glück der Erde grad' am meisten erjagt.

Wir waren alle Sekundaner, Fritz Hornung, Philipp Imhof und ich – selbstverständlich auch Eugen Bruma, doch auch selbstverständlich uns um mehrere Ordnungen vorauf – und nachdem wir acht Tage lang den Subrektor Beireis als Klassenordinarius mit dem Konrektor Schachzabel vertauscht gehabt, erkannten wir sämtlich, daß alles genau ebenso geblieben, wie es von je gewesen, und fanden uns mit der vollendetsten Philosophie darin, der man den Namen Jugendunverwüstlichkeit gegeben. Auch Fritz Hornung war durchaus der nämliche, wie aus den Tagen der Quarta, und gab zur Mutmaßung Anlaß, er werde es unverändert bis zum früheren oder späteren Abschluß seiner Tage überhaupt bleiben. Ich konnte ihn mir auch als Abiturienten aus dem Schlußexamen des Lebens nicht anders als mit einem gleichmütigen Achselzucken und fröhlichem Auflachen vorstellen, während Imhofs Zukunftswandlungen mir allerdings nicht viel Anreiz zum Nachdenken boten, aber desto klarer, dem Nebel des Kommenden schon vollständig entrückt, sich dem Auge bis zu ihrer letzten Vollendungs-Gestaltung darstellten. Er kehrte von jedem Ferienbesuch in seiner Vaterstadt mehr gentleman-like zurück, tadelloser im modernsten Schnitt seiner Kleidung, seines Hutes, im Lack seiner Glanzstiefel und der Farbe seiner Handschuhe, doch nicht zum Vorteil der äußeren Erscheinung, die das Bild seiner musterhaften Umrahmung ausmachte. Dies schien mir jedesmal mehr an Frische verloren zu haben, seine Gesichtsfarbe fahler, die Augen glanzloser geworden zu sein; seine Größe ließ ihn als noch nicht erwachsen erkennen, aber in den Zügen erinnerte nichts an eine Altersgenossenschaft mit Fritz Hornung. Er drückte sich uns gegenüber zumeist in französischen oder englischen Wendungen aus, die wir gemeiniglich nicht verstanden; indeß, wenn er sie uns übersetzte, pflegten wir größtenteils den Sinn ebenso wenig zu fassen, und er vermochte uns auch dies wieder dahin zu erläutern, daß eine Kleinstadt überhaupt keinen Begriff vom Leben beibringe und ihre Bewohner fortwährend auf einer Stufe knabenhafter Unkenntnis und kleinbürgerlichen Geschmackmangels erhalte.

Oberflächlich betrachtet, oder vielmehr von weitem glich ihm Eugen Bruma etwas, doch in der Nähe verschwand jede Aehnlichkeit, mit der nur das dunkle Haar und der schmalschultrige Wuchs täuschten. Bruma besaß weit feiner, gleichsam geistiger geschnittene Züge, deren Farbe nicht ins fahlgelbliche spielte, sondern von einer nie umstimmbaren weißen Blässe war. Das schwarze Haar hob diese noch und gab mit einer wohlgebildeten, unmerklich gebogenen Nase, mit, wenn auch etwas dünnen und festanliegenden, doch äußerst feingeschwungenen Lippen seinem Gesicht einen nicht gewöhnlichen, interessanten, geistreich zu nennenden Ausdruck. Seine Augen ließen sich nicht deutlich mehr erkennen, da er fast immer, seit Jahren schon, eine Brille trug, obwohl zufällige Anlässe ergaben, daß er ohne sie ebenso scharfsichtig war, als mit ihrer Benutzung. So gewahrte man nur viel Weiß zwischen den Lidern, während es vermutlich an der Spiegelung der Gläser lag, daß die dunklen Augensterne sich nie gradaus in das Gesicht eines vor ihm Stehenden zu richten, sondern etwas seitwärts daran vorbei zu sehen schienen. Wir standen zu Eugen Bruma, wie von jeher, in durchaus keinem andern Verhältnis, als die Gemeinsamkeit einer Hausgenossenschaft es am Mittags- und Abendtisch ergibt; auch in der Schule besaß er keine näheren Freunde und schien solche keineswegs zu entbehren, da er reichlichen Ersatz in dem vertrauten Fuß, auf dem er zu sämtlichen Lehrern stand, eintauschte, wie er zu Hause auch unserer nicht bedurfte, sondern gleicherweise im intimsten Verhältnis zu Doktor Pomarius vollstes Genüge fand.

»So nun kamen die Tage und gingen,« sagte der Vater Homer. Von allen klassischen Aussprüchen antiker Dichtung, Weisheit, Heldenmütigkeit und Seelengröße aber, die sich als analytische, syntactische, grammatikalische und stilistische Perlen an der Schnur der Tage vor uns aufreihten, prägte sich mir keiner tiefer, persönlicher ins Gemüt als ebenfalls ein Wort, oder vielmehr zwei Wörtchen des Vater Homer, die er aus seines Lieblingssohnes Hector ahnungstrübem Geist hervorbrechen läßt. »Έδδεται ήμαρ – Kommen wird einst ein Tag –« meine Lippe summte es in jeglicher Beschwernis, schlimmer Erwartung oder böserer Erfüllung, die Finger kritzelten es auf den Rand meiner Broullions und ritzten es in die Tischplatte des Klassensitzes zwischen die rätselvollen Denkmäler meiner Vorgänger hinein. »Kommen wird einst ein Tag« – was er bringen solle, fügte freilich die Hand nicht hinzu und hätte wahrscheinlich der Kopf selbst häufig weder nach der Seite der Hoffnung, noch derjenigen der Befürchtung sich klar auszudrücken vermocht; doch »kommen wird einst ein Tag« kam mir sicherlich jedesmal auch halb unbewußt über die Lippen, wenn der Korridor des Gymnasiums mich jetzt im Sekundanerrange an der etwas seitab liegenden Tür des Karzers vorüberführte.

Und es kam auch ein Tag – in passender Auswahl war es ein Donnerstag – an welchem Professor Tix seine Ilias nach Ablauf der Stunde mit einer Handbewegung schloß, die uns allen sofort die beabsichtigte Anknüpfung eines noch vorhandenen Kommentars verständlich machte. Er überblickte musternd die Klasse und hub an:

»Es hat jemand seiner frivolen Gemütsart – hm-abera – Ausdruck geliehen und an der Karzertür mit Kreide angeschrieben – abera – »Έδδεται ήμαρ – abera. – Er hat's aber nicht einmal richtig geschrieben – hm-abera – sondern ήμαρ mit einem spiritus asper – abera. – Wer ist es gewesen? – abera – ich will ihm doch am nächsten Sonntag-Vormittag einige Stunden Zeit geben – hm-abera – über den richtigen spiritus für einen Sekundaner nachzudenken – abera.«

Es antwortete niemand; mir stand wie eine Vision die für den nächsten Sonntagmorgen lang voraus geplante große Segelfahrt mit Erich Billrod und Magda vor Augen, und wie durch Wellenrauschen klang mir Professor Tix' wieder gehobene Stimme an's Ohr:

»So müssen wir wohl einmal die griechischen Exerzitienbücher – hm-abera – nach der Handschrift collationieren – abera.«

Nun sagte plötzlich Fritz Hornung aufstehend: »Ich hab's getan.«

»So? – abera.« Professor Tix mußte einen Blick aufgefangen haben, den Fritz Hornung mir einen Moment vorher zugeworfen. »Also Sie haben es getan – hm-abera – kommen Sie mal heraus, Hornung – ich vergesse, daß ich nicht in der Prima bin – abera. Stell' Dich einmal an die Tafel, Hornung, und schreib' mit Kreide, was ich Dir sage: η – abera – nein, kein großes Η, sondern ein kleines η – hm-abera.«

Fritz Hornung ließ den Versuch, den er mit einem großen Η gemacht und malte mit äußerst nachdenklicher Hand ein η an die Wandtafel.

»So, und nun ein μ – abera – noch einmal, μ, μ – abera – jawohl Deine Mimik redet deutlich genug – hm-abera – und auch noch ein ρ abera –«

Die Kreide knirschte so auf der Holzplatte, daß weiße Stückchen davon herunterfielen –

»Und Du hast protervitatem animi, ich möchte sagen impudentiam, genug gehabt, Hornunge, – hm-abera – es sei Dein Eta, Dein My und Dein Rho auch an der Karzertür – abera?«

»Die Kreide hier ist zu roh,« antwortete Fritz Hornung kaltblütig, »ich hatte damals bessere.«

Doch ich sah an Professor Tix' auf mich blickendem Auge, daß das angebotene Opfer ein vergebliches sei, und sagte:

»Ich hab's geschrieben, Herr Direktor.«

»So, Du, Keßler? – hm-abera. Sieben Städte stritten sich um den Geburtsort des Mäoniden – abera – zwei Sekundaner streiten sich um die Vaterschaft eines falschen spiritus – abera. Ich will euch beiden einmal den richtigen spiritus asper ins Gedächtnis blasen – hm-abera – dem einen für seine Verlogenheit, daß er nicht geredet – abera – und dem andern für seine Verlogenheit, daß er geredet – hm-abera. Keßler geht am Sonnabend abend in den Karzer und bleibt bis zum Sonntag abend – abera – und Hornung löst ihn ab bis zum Montag – hm-abera. Kähler soll das Bettzeug wegnehmen für die beiden Nächte – abera – damit ihr auch einmal eine sponda aspera – abera – kennen lernt; es wird für euren spiritus gut sein – hm-abera.«

*

» Perfer et obdura – abera – nam et haec meminisse juvabit – hm-abera,« rezitierte Fritz Hornung, als Professor Tix die Klasse verlassen hatte. »Es wollte nicht, Reinold; warum mußt Du auch so verdammte schiefe griechische Krähenfüße machen, daß man ihnen Deine Urheberschaft im Stockfinstern anriechen kann! Na, nun kannst Du das Vergnügen haben, mir die alte Strohmatratze erst weich zu liegen.«

»Ich habe wahrhaftig keine Schuld daran, Fritz; weshalb warst Du so unsinnig und gabst Dich an?«

»Unsinnig? Ich verbitte mir den Tusch! Ich wußte, daß Du am Sonntag aussegeln willst, und da ich an dem Morgen doch nichts vorhabe, als höchstens Eugen Bruma mit Doktor Pomarius aus der Kirche kommen zu seh'n – Eta – my – rho – ra-abera so hätt's mir ganz gut gepaßt, denn, wenn Du auch kein Hector bist, Du hast ganz recht:

Einmal muß kommen der Tag,
da der heilige Karzer sich auftut –

und es ist gut, daß man sich rechtzeitig für die Studentenzeit einübt. Uebrigens ist's noch gewaltig lange bis Sonnabend abend hin und höchst unphilosophisch, jetzt schon daran zu denken. Imhof hat heut neue Lackstiefel an, die so eng sind, daß er kaum darin gehen kann; ich will ihm mal zufällig auf den Fuß treten, vielleicht hilft ihm das etwas. Schreien wird er nicht, denn das gehört nicht zum feinen Ton, und wenn er inwendig räsonniert, höre ich nichts davon.«

Trotz Fritz Hornungs philosophischer Zeitanschauung fand ich jedoch, daß der Sonnabend-Abend grade so rasch herankam, wie ein erwünschter Lebensmoment langsam näher zu schleichen im Gebrauch hat. Eigentlich schien es mir, hatte ich kaum Muße gehabt, etwas anderes mehr zu tun, als Magda und Erich Billrod davon zu unterrichten, daß aus meiner Teilhaberschaft am Sonntag nichts werden könne. Der Letztere nahm dies mit ziemlicher Gelassenheit auf und versetzte: » Volenti non fit injuria; warum warst Du ein sciolus, der durchaus wissen wollte, wann der Tag kommen werde? Man muß geduldig sein und abwarten, Reinold Keßler, und wenn Deine Schule hier Dich darin zum Meister ausbildet, so hat's die andre, die hinterdrein kommt, nicht nötig. Geh' mit Gott, oder vielmehr mit einem guten Buch in den Karzer und denke am Sonntag-Vormittag an uns, wenn wir auf dem blauen Wasser umherschwimmen.«

»Pfui, Du bist häßlich, Onkel Billrod; mach' Reinold doch nicht obendrein das Herz schwer!« zürnte Magda. Sie war äußerst empört und tat, was ich noch nie von ihr gehört, schalt auf Menschen und Dinge, die Schule und Professor Tix, nur nicht auf mich, der im Grunde doch die meiste Schuld trug. »Es ist abscheulich! und ich hatte mich so gefreut! Ist es denn erlaubt, Einem solches Unrecht anzutun, Onkel Billrod, und kann man sich gar nicht dagegen wehren?«

»Wenn Du mir sagen willst, was Recht und Unrecht in der Welt ist, kleine sciola,« antwortete Erich Billrod, fast als ob er an ihrem Zorn Vergnügen fände, mit lächelnder Miene. »Ich will nicht sagen, daß ich Reinolds griechische Uebungen auf dem Holz direkt als ein Verbrechen ansehe, das nur durch Todesstrafe gesühnt werden könnte, aber mich däucht, er hätte vor Hornung – der Bursche gefällt mir übrigens, trotz seiner beredten Verlogenheit – schon einen Mund gehabt, seine Autorschaft in Anspruch zu nehmen, und so will's mir scheinen, als ob Recht und Unrecht sich diesmal in beiden Schalen ziemlich das Gleichgewicht hielte, und wenn man das von einem Gymnasialdirektor sagen kann, so ist es über alles Lob erhaben. Tröste Dich im übrigen, Magda; heimlich ist dieser junge Gelehrte stolz, die erste Bekanntschaft mit dem Karzer zu machen – seine letzte wird es hoffentlich nicht sein – und da eine Sommernacht im Bett manchmal vor Hitze nicht schlafen läßt, überhebt Professor Tixens Fürsorge ihn der Befürchtung, die ein weicher Federpfühl erregen könnte. So bleibt also eigentlich nur abscheulich, sciola, daß Du übermorgen mit mir allein die Fahrt machen wirst, und ich danke Dir für das Kompliment, das Du meiner Begleitung damit ausgestellt hast.«

Es war ein Stück von der Kunst Erich Billrods, in die letzten Fältchen des Herzens hineinzusehen; ich schwieg, doch ich fühlte, daß wirklich ein ganz leiser, geheimer Reiz in mir saß, auch einmal zu erfahren, was es mit einem vieiundzwanzigstündigen Aufenthalt im Karzer auf sich habe, und als ich am späten Abend Lea ebenfalls die Mitteilung von dem mir Bevorstehenden machte, sprach ich in der Tat mit einem gewissen Stolz von diesem Vorrecht der Sekundanerwürde. Sie hörte mir zu und fragte: »Die ganze Nacht ohne Bett?« – »Wenn es zehn wären,« antwortete ich, »ich würde kein Bittwort drum tun«; doch sie schüttelte den dunklen Kopf: »Ich hab's auch einmal gemußt, eine Nacht ist lang, und am Morgen wird's bitterkalt.« Sie sah nachdenklich umher, lachte dann jedoch mit eigenem Augenausdruck plötzlich in sich hinein, daß ich fragte: »Worüber lachst Du?« – »Ueber nichts, oder wenn Du's wissen willst, über Deinen Professor Tix,« versetzte sie. »Gut' Nacht, Reinold, ich muß heut' früh nach Haus.« Ich besann mich: »Ja so, es ist Freitag Abend, und Du gehst wohl mit Deinen Muhmen – weißt Du noch, wie Du vor Jahren mich einmal an dem Abend mit in das Häuschen nahmst?« Lea nickte, aber es flog dabei mit einem leisen, rötlichen Anhauch über ihr Gesicht. »Ich war sehr albern damals,« und sie wiederholte noch einmal: »Gut' Nacht!« und lief davon.

Dann kam der halb gefürchtete, halb geheimnisvoll verschleierte Abend, ich meldete mich bei dem alten Kähler, der mir unhörbar wie über eine tiefe Schneedecke durch die dunklen Gänge voranschritt, die Karzertür aufschloß und mit dem zahnlos gemurmelten Trost, ich würde auf dem Bett nicht untersinken, wieder die Angeln hinter mir kreischen ließ. Ich hörte noch das Rasseln des Schlüsselbundes, doch keinen Schritt, der sich draußen entfernte, und befand mich in meiner Kemenate allein.

Jedenfalls war sie so mittelalterlich einfach, wie nur der erste Raubritter sie in seinem Felsennest besessen haben mochte. Ein Tisch, ein Stuhl, eine Bettstelle ohne Inhalt, wenn man nicht die Matratze dafür gelten lassen wollte. Außerdem weißgetünchte Wände mit griechischen, lateinischen und deutschen Bleistiftinschriften, die jedoch wenig Aussicht besahen, als ein corpus inscriptionum gesammelt zu werden und mit den Hinterlassenschaften großer unbekannter Geister nur die Anonymität gemein hatten. Das Anziehende des Karzers, wenn er wirklich über etwas Derartiges verfügte, lag unfraglich nicht drinnen, sondern draußen.

Aber wahrlich, dort lag es auch. Die Sonne befand sich im Untergehen und ein goldgrünliches Licht spielte über allem, was man durch das Fenster gewahrte. Zunächst die Rückseite eine Reihe alter Giebelhäuser und darüber hoch und fest meinen alten Freund aus ferner Zeit schon, den grünen Kirchturm der Stadt. Das Herz schlug mir freudig, mit ihm war ich jedenfalls nicht vereinsamt, die Nacht mochte so lang und kalt sein, wie sie wollte.

Ich sah weit durch das offene Fenster. Der Karzer lag im ersten, nicht hohen Stockwerk des alten Schulgebäudes; im Notfall, bei entstehender Feuersbrunst – es war vernünftig, sich alle Möglichkeiten rechtzeitig vorher zu gegenwärtigen – hätte man sich mutmaßlich ohne Gefahr für Arme und Beine, vom Hals zu geschweigen, durch einen Sprung auf die weiche Erde des anstoßenden, ziemlich geräumigen Gartens retten können. An der Außenwand unter dem Fenster zogen sich an dünnem Lattenspalier Pfirsich und Aprikosenbäume herauf. Die Früchte der letzteren waren goldgelb und reif; ich bückte mich hinaus, doch meinem Arm fehlte eines Schuh's Länge, die obersten zu erreichen. Aber es lag wieder ein klassischer Trost darin; so ungefähr stand Tantalus auch dereinst, und Gleiches mit ihm zu dulden, besaß eine gewisse Erhabenheit, vorzüglich wenn sich die Leidenszeit nur auf eine Umdrehung der Erde erstreckte. Hätte Weinlaub den vortrefflichen Geschmack von Aprikosen gehabt, würde von tantalischer Entsagung überhaupt nicht die Rede gewesen sein, denn jenes wucherte, die linke Hälfte des Fensters fast verdeckend, in gewaltiger Fülle an einem knorrig-dickstämmigen, uralten Rebstock noch bis zum oberen Dachrande hinauf. Aber leider ließ sich auf Weinblättern höchstens mit der Zunge schnalzen, und in Ermangelung von besserem tat ich das eine Weile.

Der Aufenthalt im Karzer übte offenbar – und das war vermutlich seine moralisch-pädagogische Bestimmung – auf die Dauer eine nachdenkliche Wirkung, zumal wenn die Dämmerung, wie jetzt, einem riesigen grauen Spinngewebe gleich über die Gartenbüsche, die Giebel, selbst den alten Turm hinkroch. Ich hatte mir den Stuhl an's Fenster gerückt, und die letzte Helle reichte noch eben aus, daß ich den auf dem Sims verzeichneten Weisheitsspruch heraus zu buchstabieren vermochte:

» Quidquid agis, prudenter agas et respice carcerem.«

Allerdings, halte bei allem im Bewußtsein, daß es Dich einmal sitzen läßt! Ein sogenannter schlechter Witz freilich, der mir diese Uebersetzung durch den Kopf summte, aber im Grunde war sie nicht übel. Schließlich kam nach Freude und Leid doch immer wieder eine Stunde, wo jene abgeblüht, dieses abgeschüttelt war, wo man wieder allein saß und das neue Fazit mit ins Rechenbuch eintrug. Was für eine Bestimmung hatte dies letztere eigentlich, oder ging das selbe kuriose Hin- und Herrechnen, Addieren und Subtrahieren mit seinen Plus- und Minuszeichen bis zur letzten Seite und dem wunderlichen Strich darunter fort, ohne daß der Zweck der ganzen Aufgabesumme dem vorwärts Arbeitenden einmal klar würde?

In diese arithmetischen Betrachtungen – nur dann und wann noch von einem neuen verunglückenden Aprikosenversuch unterbrochen – legte sich allmählich das volle Nachtdunkel, wie ein vorrückender Kommentar meiner Meditationen. Die Uhr schlug von dem nicht mehr sichtbaren Turme die zehnte Stunde, und alles lag in schweigsamer Finsternis begraben. Erst um elf Uhr sollte die Welt sich wieder aufhellen, astronomisch genau berechnet nach dem Aufgang des gestrigen Abends kam der abnehmende Vollmond sogar erst zwölf Minuten später. Nur ein dickleibiger Nachtschwärmer schnurrte hin und wieder durch die linde Spätsommerluft am offenen Fenster vorbei, raschelte leis im Weinlaub und verfolgte keineswegs die wohlwollende Absicht, mir in die ausgestreckt wartende Hand hineinzufliegen.

Im Grunde wurde die Sache – wenigstens interimistisch – etwas langweilig und ließ die Vorstellung aufkeimen, eine Untersuchung über die Wahrheit des » variatio delectat« vorzunehmen. Dafür bot sich indeß gegenwärtig nur eine Möglichkeit, die Bettstelle mit der Seegrasmatratze, aber die Wahllosigkeit bot wiederum den philosophischen Vorzug der Quallosigkeit, und ich legte mich, die Arme unter den Kopf breitend, darauf. Ein Kopfkissen wäre bequemer gewesen, doch es gab sicherlich irgendwo in der Welt augenblicklich Menschen, die auf Steinen schliefen, gern mit mir getauscht hätten, und eine Stunde bis zum Mondaufgang ließ sich's aequo animo ertragen.

Es war meine Absicht, nicht zu schlafen, und meine Ueberzeugung, daß ich sie befolgte. Ich dachte in der Welt umher und meine Gedanken vereinigten sich in dem Punkt, daß alle Leute, die ich mir vorstellte, jetzt unter einer Decke lägen. Erich Billrod und Magda, Lea, Fritz Hornung, Imhof, Bruma, Professor Tix und Doktor Pomarius – selbst Anna Wende in Magdeburg ebenso. Ja sogar der alte Kähler lag unter einer Decke, nur ward es mir allmählich deutlicher, daß es eine Schneedecke sei und daß ich bei ihm darunter liege.

Ich schlief nicht, denn ich sagte mir: »Unsinn, es ist Sommer und nirgend Schnee vorhanden; die Kälte kommt vom offenen Fenster, besser wär's, aufzustehen und es zuzumachen.« Aber ich stand nicht auf, und nach einigen Augenblicken wisperte der alte Kähler mit seiner dünnen Stimme: »Hörst Du's im Weinlaub rascheln, das ist er, er kommt von Sibirien und wirft den Schnee über uns, wie ein Federbett – haushoch –«

»Klatsch!« da flog es auch im selben Moment hinterdrein, was er prophezeit, mir weich und doch schwer grade an den Kopf, und ich fuhr in die Höh' und starrte im Dunkel um mich. Hatte ich doch geschlafen oder träumte ich vielmehr noch? Meine Hand tastete über ein weiches Kopfkissen, und zugleich hörte ich draußen im Weinstock ein leises Krachen, ein Rauschen und ein unterdrücktes Lachen. Ich mußte mich immer noch besinnen, dann schoß mir ein unzweifelhafter Gedanke hell durch den Sinn, ich sprang vom Bett und rief gedämpft: »Fritz – prächtiger Schlafkamerad, das ist ein Freundschaftsstück, das ich Dir gedenken werde!«

Doch als Antwort flog mir eine wollene Decke entgegen, es krachte lauter, griff nach dem Fenstersims und schwang sich behend, den matten, ungewissen Lichtschein verdunkelnd, herauf. Nun sprangen zwei Füße kaum hörbar, gleich denen einer Katze, ins Zimmer herab, doch von dem Geräusch eines leicht um sie her raschelnden Gewandes begleitet, und das wohlbekannte Lachen Leas klang mir im Ohr.

»Du?« sagte ich erstaunt, in der Finsternis die Hand nach ihr ausstreckend. Sie fiel vergnügt ein:

»Kein prächtiger Schlafkamerad, aber das Kissen wird darum nicht härter, die Decke nicht kälter sein, nicht wahr?«

»Es ist, als hättest Du meine beiden einzigen Wünsche in diesem Augenblick erraten. Aber wie konntest – woher wußtest Du?«

»Glaubst Du, ich hätte vergessen, was Du für mich getan, und ließe Dich eine Nacht so schlafen? Wir Juden mögen ein besseres Gedächtnis haben – ich fragte einen von Deinen Hauskameraden nach dem Karzer und ließ ihn mir genau beschreiben –«

»Fritz Hornung?« fiel ich ein.

»Seinen Namen weiß ich nicht, er sieht blaß aus –« »Dann wird es Imhof gewesen sein,« ergänzte ich, und sie fuhr fort: »Ich hatte es mir heut in der ersten Frühe angesehen, daß man in dem Weinstock heraufklettern könne, und so wartete ich, bis es dunkel und still auf den Straßen geworden, stieg mit dem Kissen und der Decke aus meinem Fenster und hier in Deines hinein. Und Du hattest schon geschlafen? es war zu komisch, was für einen Ton Du ausstießest, als ob Dir jemand etwas Schlimmes antäte!«

Noch während sie es sprach, fing ihre Gestalt an, sich leise von dem Rahmen des offnen Fensters abzuheben, um den Schattenriß ihres Kopfes begann es zu rinnen und zu fließen, dann trat allmählich ihre Figur deutlich auf weißem Hintergrunde hervor, zu dem der über die Dächer auflugende, noch ziemlich volle Mond alles draußen versilbernd umwandelte. Lea klopfte das Kissen auf meiner Matratze zurecht, ordnete die Decke zum Gebrauch und sagte: »So, nun kannst Du schlafen, wann Du willst.« – »O, wenn Du bei mir bist, schlaf ich überhaupt nicht,« antwortete ich; »aber Du sollst nicht um meinetwillen auch wachen, sondern wenn es zwölf schlägt, machen wir aus, gehst Du nach Haus, um zu schlafen.«

»Ich glaube, im Kopf schläft Dir ein Stückchen, Reinold,« lachte sie, »denn erstens habe ich für heut nacht zu Hause keine Decke und Kissen –«

»Hast Du mir die von Deinem eignen Bett gebracht?«

Sie nickte. »Natürlich, woher hätte ich sie sonst nehmen sollen? und dann muß ich beides, eh' es voll Tag wird, doch wieder nach Hause tragen, damit Dein alter Weißbart es nicht hier findet, wenn er Dir Frühstück bringt.«

Sie hatte recht und ich noch gar nicht daran gedacht. »So bleibst Du also die Nacht hindurch hier? Du Arme – nein, einmal im Leben, so im Mondschein ist das hübsch, und ich will Dich nicht mehr bedauern, sondern wir wollen herrlich plaudern und uns erzählen.«

Das taten wir eine Weile. Da das Zimmer nur zwei Sitzplätze darbot, saß Lea auf dem Stuhl am Fenster und ich auf der Bettkante; wir redeten von schon lang uns gemeinsam vergangener Zeit, vom Golddrosselnest im dürren Laub des Zaunwalls, das Mondlicht selbst trat jetzt an den Rand des Fensters, nach und nach klang Leas Stimme mir undeutlicher, bis sie plötzlich sagte: »Du wirst müde, leg' Dich und schlafe.«

»Nein – nur den Kopf ein wenig zurück – ich höre alles –« erwiderte ich, die Stirn auf das Kissen niederlehnend und zugleich mechanisch die Füße heraufziehend. Dann ward es eine ganze Weile still, bis ich auf einmal, zusammenfahrend, die Augen weit öffnete und zum Bewußtsein kam, daß ich wieder geschlafen hatte. Der Mond durchfloß jetzt breit das Zimmer und erhellte fast wie Tageslicht Leas unbeweglich auf dem Stuhl sitzende Gestalt. Sie hielt den Arm auf's Fenstergesims aufgestützt und schien mir weit größer als noch am Tage zuvor; wenn ich nicht gewußt, sie sei's, hätte ich sie für eine ihrer voll erwachsenen Muhmen gehalten. Ihre Lider waren geschlossen, und sie schrak auf, wie ich ihren Namen rief.

»Ja, was ist's, Reinold?«

»Es geht nicht mit dem Wachen,« entgegnete ich, mich halb aufrichtend. »Ich bin eingeschlafen und Du auch; komm, wir wollen ein paar Stunden uns zusammen ausruhen, dann werden wir wieder munter sein.«

Sie richtete ihre dunklen Augen auf mich. »Nein, ich bin nicht müde –«

»Doch, Du hast geschlafen, komm!«

»Nein« – sie schüttelte das schwarze Haar – »ich muß wachen, damit wir nicht die Zeit versäumen.«

»Aber ich will nicht, daß Du die Nacht so unbequem auf dem Stuhl sitzen sollst, während ich Dein Kissen und Deine Decke habe.«

»Nein!« wiederholte sie zum drittenmal, und mir war's, als stoße sie es diesmal mit einer gewissen Heftigkeit aus. »Es ist kein Platz in dem schmalen Bett und ich würde Dich am Schlafen hindern.«

»Dann will ich überhaupt nicht schlafen, sondern lege mich auf die Erde, und Professor Tix Abera kann sich mit Kissen und Decken einmummeln,« erwiderte ich fest entschlossen mit unmutigem Ton und machte Anstalt, das Bett zu verlassen. »Ich bin noch derselbe, aber Du nicht mehr, Lea, sonst wüßtest Du, daß es im Golddrosselnest viel enger und Du nicht so bange warst, ich konnte im Schlaf um mich schlagen, Dich stoßen oder drücken.«

Lea war jetzt von ihrem Stuhl aufgesprungen, an mich herangetreten und sagte halb atemlos hastig:

»Du tust mir Unrecht, Reinold – ich bin noch dieselbe, wie damals, bleibe es immer für Dich. Ja, wir sind noch dieselben und wollen noch einmal wieder zusammen uns im Golddrosselnest vom Wind einwiegen lassen. Hörst Du ihn im Weinlaub? er ist auch noch derselbe und bleibt's. O es war so schön – nun schlafe – da bin ich.«

Sie schwang sich leicht und geräuschlos wie ein Vogel zu mir herauf. »Siehst Du, daß wir Platz genug haben,« rief ich fröhlich, die Decke mit über sie breitend, »und wenn Du mir Deinen Arm um den Hals legst, reicht das Kissen auch für uns beide aus.«

Lea blieb einen Augenblick stumm und reglos, dann antwortete sie langsam:

»Ja, wenn Du mir eins zu lieb tust.«

»Gewiß, was Du verlangst.«

»Heiße mich auch einmal so, wie die andre, – ich kenne Dich ja länger – als sie –«

»Als Schwester Magda? Und so soll ich Dich auch – was kann Dir daran liegen? Aber, wenn Du es verlangst, tu ich's gern, Schwester Lea.« Sie stieß einen leisen, freudigen Ton aus, schlang nun ungestüm mir den Arm um den Nacken und zog mich an sich, daß meine Stirn an ihrer Schläfe zu ruhen kam. »So, nun wollen wir schlafen, Bruder Reinold; wer zuerst aufwacht, weckt den andern.«

Der Nachtwind summte noch eine Weile im mondbeglänzten Weinlaub, dann dehnte sich dies mählich zu weiter grüner Saat, und blauer, unendlicher Frühlingshimmel legte sich darüber und auf weichem Flügel trug der Nachmittagswind hundert trillernde Lerchen in die Lüfte –

Plötzlich fuhren Lea und ich gleichzeitig vom Schlaf in die Höh'. Es war kein Trillern von Vogelstimmen, sondern ein scharfes Klirren, das uns aufgeschreckt; der Mond hatte der Sonne Platz gemacht, doch ihrem frühesten Aufgang nur, denn ein halb mattes Licht erfüllte noch das Zimmer und regte den ersten Eindruck in uns, daß wir grade rechtzeitig aufgewacht seien. Doch im selben Moment öffnete sich die Tür, der weiße Schneebart Kählers, der eine Sekunde lang über der Schwelle aufgeschimmert, verschwand ins Dunkel zurück, und an seiner Stelle tauchten Doktor Pomarius und Professor Tix in dem Türrahmen auf. Der letztere in einem ziemlich von vieljährigem Verdienst redenden Schlafrock, der bis auf die, in Filzschuhen steckenden bloßen Füße hinunterschlotterte; sein Aufzug und sein ungekämmtes Haar taten kund, daß entweder Feuerruf im eigenen Hause oder Obliegenheit einer noch nie ihm auferlegten Pflicht ihn besinnungslos aus dem Bett aufgerissen haben mußte. Er machte mit froschartig vorquellenden, auf uns gerichteten Augen einen Schritt vorwärts, rang nach Luft, stieß: »Hm-abera – abera!« aus, schöpfte Atem und stöhnte:

» Mehercle – per superos et inferos – abera – nein, bei'm Jehova des alten Testamentes, der da heimsucht und rächet bis ins vierte Glied – abera – es ist, würdigster Freund, wie Ihr vortrefflicher, sittenreiner Zögling es uns angekündigt – hm-abera. Meine Augen sehen es und fassen es nicht – abera – sie sehen dies Haus der Zucht verwandelt in ein Haus der – abera – abera – lupanar hätte Plautus es in seinen unsterblichen Komödien bezeichnet – abera. Sie sehn ein monstrum juvenale abera – wie der göttliche Griffel des Juvenal keines zu erfinden vermocht hätte – hm-abera – juvenes utriusque sexus abera – einen Lotterbuben, puerem, noch Jahre bevor die Natur ihm ein Anrecht auf die toga virilis verliehe – hm-abera und eine Lotterdirne, welche man mit dem Stäupbesen peitschen und aus unserer christlichen Stadt davonjagen wird – hm-abera. Sie sehen es und fassen es nicht – abera – abera.«

*

In der Natur fallen tagelang anhaltende Nebel ein, bald gleichmäßig ruhend, bald in Verdichtungen hin- und herwogend, die keinen Gegenstand deutlich erkennen lassen, und so mischen sich Tage ins Menschenleben, in denen vor Auge und Ohr alles nebelhaft verschleiert liegt, während die Gedanken sich Wolkenbildern gleich durch den Kopf drängen, formlos und wesenlos, sich selbst im Moment ihres Entstehens kaum bewußt, von der Erinnerung nicht mehr zu fassen. Dergestalt vergingen mir Tage, in welchen ich an langsam zerreißendem Faden das Damoklesschwert über meinem Scheitel schweben fühlte. Ich wußte, daß ich mich eines ungeheuren Doppelverbrechens schuldig gemacht, mir die Karzerstrafe durch Gesellschaft, die harte Tangmatratze durch Kissen und Decke erleichtert zu haben, aber trotzdem empfand ich dunkel, daß in der geheimnisvoll-schwülen Luft ein noch unheimlicherer Gewitterausbruch drohte, als bisherige Erfahrung das Gewichtsverhältnis zwischen Frevel und Sühne bemessen ließ. Es enthielt wenig tröstliche Beruhigung, daß der Besuch der Klasse mir untersagt worden; die sonst köstliche Freiheit hatte Wert und Reiz verloren, überall, selbst in Feld und Wald sah ich die Gitterstäbe eines Käfigs um mich her, dem ich nirgendwo zu entrinnen vermochte. Lea war nicht zu finden, und zu Hause kümmerte sich niemand um mich. Ich erhielt Brot und Milch – Wasser hätte es unfraglich sein sollen, und ich verdankte die Transsubstantiation zweifellos nur Tante Dorthes heimlichem Erbarmen – auf einer Kammer für mich allein, in die auch mein Bett versetzt worden. Selbstverständlich war von einer Mittagsmahlzeit nicht die Rede und allen Uebrigen offenbar verboten, Wort oder Blick mit mir auszutauschen. Nur Fritz Hornung raunte mir einmal an einer Ecke hastig zu: »Du, ich glaube, sie wollen Dich feierlich relegieren; dann stelle ich etwas an, daß sie mich auch wegjagen, und wir laufen zusammen in die Welt hinaus. Ich habe Bruma heut morgen ein Brechpulver in den Kaffee getan und er bricht sich den ganzen Tag. Das Mädchen, welches Dir die Kissen gebracht, ist unglücklicher Weise an ihn geraten, mit der Frage, wo der Karzer sei und da hat der schuftige Patron Lunte gerochen, sich auf Wache gestellt, spioniert und gesehn, wie sie an dem Weinstock hinaufgeklettert ist. Das Mädchen wollen sie von der Polizei aus der Stadt fortjagen lassen; übrigens sagt Imhof, es sei stark und er hätte es nicht von Dir vermutet. Er wird immer mehr ein Narr und er sollt' einmal auf der leeren Matratze eine Nacht liegen, ich wollte sehen, ob er sich nicht Kissen und Decke verschaffte, wie er könnte und wenn er sie stehlen müßte. Also Du kannst auf mich rechnen, nötigenfalls gieße ich Professor Tix ein Dintenfaß auf die Perrücke – abera – wenn sie Dich – da kommt der Apfelhüter, lebwohl, Reinold!«

Erich Billrod sagte nichts, als ich ihm von der Mitteilung Fritz Hornungs berichtete. Er ließ sich nur den ganzen Vorgang noch einmal genau erzählen und antwortete dann: »Wenn Du Dein Zeichentalent nicht so unverantwortlich vernachlässigt hättest, würdest Du der Menschheit einen Dienst damit leisten können, indem Du ihr die moralische Empörung des Professor Tix in Schlafrock und Filzschuhen augenfälliger vergegenwärtigtest. Wann ist Doktor Pomarius am Nachmittag zu Hause?

»Um fünf Uhr.«

»So erwarte mich dann vor Eurer Linde, Reinold Keßler.«

Ich folgte dem Geheiß, Erich Billrod kam, sagte kurz: »Komm mit mir!« und klopfte einige Augenblicke nachher an Doktor Pomarius Studierzimmer. Der letztere war nicht allein, sondern Eugen Bruma befand sich bei ihm. Erich Billrod blickte diesen kurzprüfend an, nachdem er gegrüßt, und fragte: »Vielleicht der vortreffliche sittenreine Zögling, dessen Professor Tix rühmende Erwähnung getan?«

»Sie erzeigen mir die Ehre, Herr Doktor –?« erwiderte Doktor Pomarius fragenden Tones und mit ostensibel verwundertem Blick auf ihm und mir verweilend. »In der Tat, ein Stolz meiner pädagogischen Wirksamkeit, der Obersekundaner Eugen Bruma, Sohn des hochverehrten Superintendenten unserer Provinz.«

»Eine seltene Ehre, Herr Doktor, wollen Sie sagen,« entgegnete Erich Billrod, »da ich nur in seltenen Fällen Anlaß dazu finde. Heut liegt indeß ein solcher vor, dessen Urheberschaft wir gemeinsam diesem vortrefflichen jungen Menschen und dem ich infolgedessen das Vergnügen meines Besuchs bei Ihnen verdanke. Es freut mich, ihm diesen Dank für sein ausgezeichnetes Talent hier abstatten zu können, das ihm unstreitig eine glänzende Karriere als weltlicher und geistlicher Spion, Diebsfänger oder in derlei ehrenwerten Berufszweigen eröffnet.«

»Ich hoffe nicht, mein Herr,« fiel Doktor Pomarius ein, »daß Sie meinen jungen Freund –«

»Vor der Hand nur ersuchen möchte, mir über seinen Beweggrund Mitteilung zu machen, weshalb er das von ihm beobachtete Schulvergehen nicht sogleich nach der Wahrnehmung, sondern erst am andern Frühmorgen zur Anzeige gebracht hat?«

»Weil er hoffte –«

»Ich bitte Sie, diesen hoffnungsvollen Jüngling selbst hoffen zu lassen.«

Eugen Bruma hatte bisher geschwiegen, sah jetzt hinter der Brille seitwärts an Erich Billrod vorüber und sprach, doch zu Doktor Pomarius gewendet:

»Weil ich hoffte, das Judenmädchen werde sogleich wieder zurückkommen – denn, nicht wahr, Herr Doktor, es ist ein großer Unterschied, ob sie nur die Sachen hinaufbefördert, oder selbst die ganze Nacht mit droben zubringt?«

»Gewiß, mein prächtiger Junge, ein großer Unterschied für Deine Sittenreinheit,« bestätigte Erich Billrod. »Und deshalb bliebst Du vermutlich im Garten stehen und wartetest die Nacht hindurch, ob Deine edelsinnige moralische Hoffnung sich nicht erfüllen würde?«

Doktor Pomarius räusperte sich kräftig. »Darf ich mir nochmals die Frage erlauben, was mir eigentlich die Ehre verschafft –?«

»Geographisches, ethnographisches, biographisches Interesse, Herr Doktor,« versetzte Erich Billrod gleichmütig. »Ich besaß eine freie Stunde und wollte diese benutzen, Sie für einen Freund um einige Auskunft über München zu ersuchen, das sich, wie ich mich zu erinnern meine, Ihres persönlichen Aufenthalts zu erfreuen gehabt hat.«

Doktor Pomarius griff nach einem auf seinem Schreibtische liegenden Gegenstande, drehte ihn zwischen den Fingern und entgegnete: »Ich würde mit Vergnügen erbötig sein – allein es ist – ich entsinne mich bereits aus früherer Zeit einmal – ist eine hartnäckige, irrige Meinung von Ihnen, daß ich irgendwie in der Stadt München –«

»Eine hartnäckige allerdings, wie man sprichwörtlich von hartgesottenen Sündern redet,« unterbrach Erich Billrod ihn. »Die letztere Redensart kommt mir unwillkürlich – vermittelst einer Gedankenbrücke, würden die Mnemotechniker sagen – bei der Erinnerung an München in den Sinn.«

Ueber Doktor Pomarius außerordentlich dünne Lippen zog sich ein mattes Lächeln von der nämlichen Dimension. »Das Gedächtnis ist eine köstliche Gottesgabe, nur soll unsere menschliche Schwäche sich davor hüten, daß sie sich zu stolz auf seine Unfehlbarkeit verläßt. – Mein lieber junger Freund, die freie Himmelsluft wird Dir für Deine von pflichtgetreuer Arbeit überangestrengte Gesundheit ratsamer sein; ich folge Dir sogleich in den Garten, damit wir unsern erbaulichen Abendweg durch die schöne Gottesnatur nicht versäumen. – Geh hinaus, Keßler!«

Eugen Bruma hatte das Zimmer bereits verlassen, ich drehte mich unschlüssig auf der Ferse, doch Erich Billrod faßte meine Schulter: »Bleib', Reinold. – Sie wissen, Herr Doktor, es heißt: Führe uns nicht in Versuchung.«

»Ich verstehe die Anwendung dieser heiligen Bitte im vorliegenden Falle nicht,« erwiderte Doktor Pomarius, als ob er etwas im Hintergrund seines Schlundes hinunter zu schlucken genötigt sei.

»Dann will ich sie Ihnen erklären. Mein junger Freund hier besitzt nach meiner Empfindung ungefähr ebenso viel von meiner Natur, als Ihr junger Freund dort von Ihnen, und das macht mich mißtrauisch, ob ich ihn hinterdrein gehen lassen darf, ohne ihn in die Versuchung zu führen, Ihrem jungen Freunde draußen einige Rippen entzwei zu brechen, oder ihn zufällig so lange an der Kehle zu fassen, bis er seine vortreffliche, sittenreine Seele ausgehaucht hätte. Wie gesagt, dieser Argwohn stammt aus meiner Empfindung verwandter Gefühlsart zwischen Ihrem mißratenen Mündel und mir, und das versetzt mich wiederum mnemotechnisch nach München, wo zu meiner Zeit, wie ich mich äußerst genau jetzt erinnere, ein Kandidat der Gottesgelehrtheit mit einem Birnen oder sonstigen Obstnamen sich aufhielt, den er, wie ich zufällig später einmal gehört, nachher mit einem anderen vertauschte. Er tat dies nicht ohne ausreichenden Grund – ich glaube, daß dieser an mir einen der wenigen Mitwisser besitzt – denn er war äußerlich Hauslehrer oder Hofmeister in einem mir befreundeten angesehenen Hause, innerlich aber in erster Reihe ein augenverdrehender heuchlerischer Schurke, der seine Vertrauensstellung in der Familie mißbrauchte, eine niederträchtige Handlung an einem blutjungen Mitgliede derselben zu begehen. Man hätte ihn dafür ohne Schwierigkeit nach Verdienst ins Zuchthaus sperren können, damit zugleich aber sein Opfer und das ganze ehrenhafte Haus vor der Welt in schimpfliches Gerede gebracht, so daß man vorzog, ihn laufen zu lassen und ihm noch eine beträchtliche Summe dazu zu geben, damit er nur schweige. Daß der Hundsfot das Geld annahm, war selbstverständlich, und er wird entsprechend würdigen Gebrauch davon gemacht haben – doch, was mich darauf gebracht, ist, daß ich mich deutlich, als wäre es gestern gewesen, entsinne, wie ich diesen gottesfürchtigen Obstkandidaten, wenn ich ihn damals irgendwo angetroffen hätte, grade in der nämlichen Weise behandelt haben würde, von der ich eben befürchtete, mein junger Freund könne sie Ihrem jungen Freunde gegenüber zur Anwendung bringen.«

»Oh, oh – eine wahrhaft empörende – mir unbegreiflich, daß ich nicht davon – aber natürlich, da ich mich nie in München befunden,« sagte Doktor Pomarius in so auffälliger Zerstreutheit, daß er mir plötzlich freundlich zunickte, und mit den Worten: »Dir wäre die Luft draußen auch zuträglicher, mein junger Freund,« eine Armbewegung verband, als ob er die Hand nach meiner Schulter auszustreuen beabsichtigte. Doch er zog sie auf halbem Wege zurück und fragte, gegen meinen Begleiter gerichtet auf's Liebenswürdigste:

»Darf ich, nach Ihrer vorherigen Andeutung, bitten mir zu sagen, Herr Doktor, womit meine geringen Kräfte Ihnen dienlich zu sein vermögen?«

Erich Billrod blickte mit der Miene eines sich plötzlich Besinnenden auf seine Uhr, griff nach seinem Hut und lächelte artig: »Da habe ich vollständig meine kurz bemessene Zeit in Ihrer angenehmen Gesellschaft verplaudert und muß den Wunsch meines Freundes auf eine vielleicht sich bietende andere Gelegenheit – ich vergesse, Sie waren ja nie in München. Doch ich nehme Ihr gefälliges Anerbieten, mir einen Dienst zu erzeigen, mit Dank an. Ich weiß, daß Sie, Ihren Verdiensten gemäß, größten Einfluß bei den Leitern unseres Gymnasiums besitzen, deren pädagogischer Eifer sie ebenfalls in eine hartnäckige irrige Meinung verstrickt zu haben scheint, da dieselben, wie ich höre, nicht umhin zu können glauben, einen hübschen kindlichen Zug in eine Parallele mit der Geschichte des vorhin von mir erwähnten Kandidaten zu bringen. Mein Wunsch in der Sache wäre jedoch, daß mein junger Freund hier – der, wie Sie eben in zärtlicher Weise an den Tag gelegt, ja auch nicht minder der Ihrige ist – völlig straffrei ausginge, da, wenn von einer Schuld überhaupt die Rede sein könnte, er selbst jedenfalls nach keiner Richtung in den Augen vernünftiger Menschen eine solche auf sich geladen hat. Ich hege das feste Vertrauen, daß es Ihrem Gerechtigkeitssinn und Ihrer väterlichen Liebe zu unserm jungen Freunde gelingen wird, Herrn Direktor Tix vollständig von der Schuldlosigkeit Reinolds zu überzeugen, und Sie vermögen dann begreiflich auf meine Dankbarkeit zu zählen.«

»Oh, oh, sicherlich – es wird mir sicherlich gelingen, mein lieber junger Freund,« erwiderte Doktor Pomarius, mit Augen und Mund mich anstatt Erich Billrods apostrophierend, indem er diesmal seine Hand bis an meine Schulter ausstreckte und diese halb zärtlich streichelte, halb, zum erstenmal in meinem Leben, mit lächelnder Jovialität durch leichtes, freundschaftliches Klopfen auszeichnete.

*

Westwärts hinaus von unserer ländlichen Vorstadt zog sich eine breite Chaussee, anfänglich durch Wiesenniederung, dann einen lang und langsam anschwellenden Hügelrücken hinauf, den droben zu beiden Seiten des Weges kurznarbige Rasensteppe mit vereinzelten Haidekrautbüschen und gelbblühenden Ginstersträuchen bedeckte. Die Höhe lag wohl eine Stunde von der Stadt entfernt, und in ihre Einsamlichkeit stieg nur mehr der grüne Kirchturm herüber; durch die spätsommerliche Abendluft kam dann und wann aus der Weite das Brüllen eines Rindes, und in dem Schlehenbusch, unter den ich mich hingestreckt, flatterte in winzig-sylphidenhafter Gestalt ein Goldhähnchenpaar und ließ manchmal ein feines Gezwitscher vernehmen, das wahrscheinlich Meinungen über den bevorstehenden Aufbruch in wärmere Länder austauschte. Sonst war alles still, der blaßblaue Himmel von weißen Schäfchen dicht überweidet, und die Sonne trat langsam an den Rand eines sich bräunlich färbenden Waldstriches drüben im Westen herab.

Ich hatte, als Erich Billrod den Doktor Pomarius verlassen, mit meinen Gedanken den Weg hierher eingeschlagen, weit hinaus, einer Richtung zu, die mir Bürgschaft leistete, daß ich unbehindert dem, was sich mir im Kopfe drängte, nachhängen könne. So saß ich auf der Höhe und blickte die weiße staubige Landstraße hinunter und suchte mir ein Verständnis für den Vorgang der letzten Stunde zu eröffnen. Doch mein Umherdenken blieb vergeblich; ich wußte nur, daß die Welt nicht mehr wie ein großer Käfig mit Gitterstäben hinter jedem Zaun und Baum um mich lag, daß ich wieder an Licht und Luft, am Flimmern des windbewegten Halmes, am Summen des Eichengezweigs erfreuen konnte. Erde und Himmel dehnten sich wieder in friedvoller Schönheit und Klarheit vor mir aus, denn das schwer und schwül drohende Unwetter, das seit Tagen, alles verfinsternd, den Atem der Brust beengend, darüber gehangen, hatte der Hauch einer Stunde verscheucht; doch der Zauberer, der dies mit lächelndem Munde vollbracht, hatte in die Nebel meines Kopfes kein Licht mit hineingetragen, und so deutlich und unzweifelhaft mir das Ergebnis vor Augen stand, so rätselvoll blieb der Beweggrund, durch den Erich Billrod während eines flüchtigen Besuchs alle Anschauungen des Doktor Pomarius über meine Schuld, Strafbarkeit und Ruchlosigkeit vollständig ins Gegenteil zu verwandeln imstande gewesen. In dieser Beziehung umgab mein Denken eine undurchdringlich dichte Wolke, gradeso wie das wirbelnde Staubgewoge den Wagen, der die Niederung durchrollend, jetzt langsameren Schritts die Steigerung der weißen Chaussee heranzuklimmen begann. Er bildete die erste und einzige Belebung auf der bisher völlig reglosen Straße, und des fruchtlosen Denkens müde, richtete ich ihm meine Aufmerksamkeit entgegen. Geraume Weile verschlang der Staub noch in gleicher Weise Pferd, Fuhrwerk und Insassen, bis offenbar Kopf und Mähne eines Schimmels aus der rinnenden Wolke hervortraten. Wohl eine Minute lang wieder Schritt um Schritt blieb es das nämliche, dann überlief's mich plötzlich und wunderlich wie eine uralte Erinnerung – als käme sie von einem der Seelenwanderungssterne Erich Billrods zurück – denn aus dem fahlen Gewirbel schimmerten jetzt ziegelrote Räder und ein himmelblaues Wägelchen, auf dem als Kutscher ein Mann mit fast unglaublich lang erscheinendem Oberkörper saß, den ein enganschließender, grauschwärzlich schillernder Rock umgab, auf welchen beinah' bis über die Mitte der Brust ein breiter, gelbweißer Bart, wie aus lauter Staub gebildet, herunterfiel. Auch die buschigen, über einer stark gekrümmten, mächtigen Nase zusammen verwachsenen Augenbrauen waren von der nämlichen Farbe – die lange Gestalt trat mir vor die Augen, wie eins der steinernen Pharaonenbilder, die seit Jahrtausenden unveränderlich die Wandlungen der Menschheit über sich ergehen ließen, ohne eine Wimper zu regen. Aber im nächsten Moment traf mich ein Ruf von dem dicht herangekommenen Fuhrwerk herab, ein Mund stieß meinen Namen aus, und ich sah nun erst auf in Leas Gesicht. Im ersten Augenblick erschien es mir fremd, denn vor meiner Einbildung stand es, als das eines kleinen Mädchens, dem langes, tintenschwarzes Haar über Stirn und Schläfen auf- und niederflog, während die Hände sich am Sitzrand des Wagens festzuklammern suchten; doch jetzt hob sich's fast als ein großes Weib vom Sitz empor, gebot: »Halt' an, Großvater!« und sprang blitzschnell zu mir herunter.

»Du, Lea?« fragte ich staunend, und sie gleichzeitig:

»Du hier, Reinold? Wußtest Du, daß ich hier vorüber käme?«

Ich schüttelte den Kopf. »Wohin fährst Du denn und weshalb?«

»Wohin?« Sie lachte scharf und unschön auf – »in die Welt hinaus, irgendwo. Weshalb? Weil sie gesagt, ich sei – weil die christliche Obrigkeit mich durch den Büttel aus eurer Stadt fortgejagt hat.«

»Bei'm Gotte Jehova – weil sie gesagt, meines Sohnes Kind sei eine schlechte Dirne und bringe in Verderbnis die guten Christenknaben – bei'm Gotte Jehova.«

Mir war's, als ob die Worte irgendwoher aus der Luft gekommen; der Großvater Leas mußte sie gesprochen haben, aber ich hatte keine Bewegung seiner Lippen wie seiner ganzen Gestalt gesehen. Unwillkürlich versetzt ich:

»Um mich? Haben sie Dich um meinetwillen fortgejagt, weil Du mir geholfen?«

»Ich weiß nicht warum –«

Lea sagte es, das Haar zurückwerfend. Ihre weißen Zähne blitzten dabei durch die dunkelroten Lippen, und sie erschien mir wieder fremd, doch anders als zuvor; mir war's plötzlich, als sehe mich aus ihrem Gesicht eine Tochter der heißen Wüste drüben im Morgenlande an, wie ich sie auf Bildern gewahrt, daß mich's mit seltsamem Schauer vom Scheitel bis zur Sohle durchrann. Aber zugleich ergriff sie meine Hand, und nun war's ihre altvertraute Stimme, mit der sie hastig hinzufügte:

»Einerlei weshalb, Reinold – Du trägst keine Schuld daran und sollst sie niemals tragen! Leb' wohl – wir müssen noch weit heut nacht – und hab' Dank, Dank für viele Jahre – ich kann's Dir nicht anders sagen –«

Sie schlang die Arme heftig um meinen Nacken und küßte mich; dann hatte sie mit einem Sprung den Wagensitz wieder eingenommen: »Weiter, Großvater!« Die Peitsche klatschte, der Staub wirbelte auf, über die ebene Höhe rollte das bunte Fuhrwerk hurtig davon. Lea blickte sich noch um, bis die Wolke sie und dann auch die lange, steinbildartige Gestalt ihres Begleiters wieder verschlang. Die Sonne trat jetzt drüben hinter den bräunlichen Waldrand, das Rollen erstarb und die weiße Landstraße war leer.

 

Ende des ersten Buches.


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