Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die Mittagsglocke an Bord des›Bacharach‹ hatte die Passagiere hinabgerufen, die Decks lagen leer da. Oben auf dem oberen Promenadendeck wanderte ein Mann allein zwischen den Rettungsbooten und den großen Ventilatoren umher. Er trug eine Tasche in der Hand. Er ging nach vorne und stützte sich auf das Geländer, stand da und sah zu den Zwischendeckpassagieren hinab, die in ihre groben Kojendecken gehüllt, rings umher auf dem Vorderdeck lagen. Es war ruhiges Wetter, aber die Fahrt des Dampfers erzeugte einen starken Zug; die Schornsteine heulten laut in einem sehr tiefen Ton; die farbigen Fenster in der Kuppel über dem Speisesaal waren ein wenig geöffnet, von Zeit zu Zeit konnte man Violinen da unten hören.
Ein Herr kam die Treppe hinauf und stellte sich an das Geländer, nicht weit von dem mit der Tasche entfernt; er stand eine Weile da mit einer beobachtenden Haltung, machte dann unbemerkt noch einen Schritt, so daß er dicht neben dem andern stand.
»Guten Abend, mein Herr,« sagte er, und es klang genau so, als wenn er eine Dame auf der Straße anredete. Der andere wandte langsam das Gesicht zu ihm herum, antwortete aber nicht.
»Schönes Wetter!« fuhr der sprechlustige Herr einen Grad befreiter fort. »Ja, es weht ein wenig, aber das Schiff geht ja ruhig. Ha – da wäre der Hut beinahe hingegangen!«
»Dann sollten Sie ihn festhalten!« sagte der andere.
Der kleine breitschultrige Mann lachte sehr hierüber und so nichtsahnend gutmütig, daß den andern seine Kälte ein wenig gereute und er, ohne sich zu räuspern etwas vor sich hinmurmelte, daß es wirklich stark wehe, daß aber das Schiff trotzdem recht ruhig gehe …
Lebhaft entgegnete der breite Herr: »Ja, ist es nicht sonderbar! Zu anderen Zeiten kann es gerade umgekehrt sein. Ich reiste von Shanghaj nach Honolulu, und obwohl sich kein Wind regte, tauchten wir fast die ganze Zeit die Rettungsboote abwechselnd ein. Jesus Christus wie wir rollten! – eine Dünung vermute ich. Aber gestatten Sie, daß ich mich vorstelle, mein Name ist Mason, Thomas A. Mason, London. Wir haben uns bei Tische gesehen, nicht wahr … Herr Edmund Hall …«
»Das ist mein Name.«
»Wundert es Sie, daß ich das weiß?« sagte Herr Mason in einer andren, niedren Tonart, die er jedoch gleich wieder in leichten Scherz übergehen ließ. »Wir sind einundsiebzig in der ersten Kajüte, und die neunundsechzig habe ich mir nach der Passagierliste und den Nummern bei Tische gemerkt. Der Siebenzigste, das bin ich … Herr Edmund Hall. Hm, Sie sind auch nicht seekrank; ich sehe, Sie rauchen. Auf See rauchen kann ich nun doch nicht, obwohl ich nicht eigentlich seekrank werde; aber der Tabak schmeckt mir nicht. Das ist eine Entbehrung. In gut drei Tagen sind wir in New-York. Gestatten Sie mir eine Frage …«
Edmund Hall hatte dagestanden und ganz leise den Kopf gewiegt und an andre Dinge gedacht, er unterbrach Mason und fragte gedämpft:
»Können Sie die Maschine hören?«
Mason lauschte höflich einen Augenblick.
»Ja-a. Ja! Sie sind Geschäftsmann, Herr Edmund Hall?« Hall antwortete nicht. »Sie reisen für ein Haus, Herr Edmund Hall? Ich habe die Idee – –«
»Hören Sie doch einmal,« sagte Edmund Hall leise, fast flehend, und beugte sich in der hereinbrechenden Dunkelheit vor. »Können Sie die Kolben hören? Das klingt wie ein großes Herz … und da ist ein Nebengeräusch. Ein Klappenfehler …«
»Sie sind Ingenieur?« fragte Herr Mason mit einem hastigen Blick. »Ein Klappenfehler, sagen Sie – ist etwas an der Maschine in Unordnung?«
Hall richtete sich auf und sah den kleinen Mann zum ersten Mal an, leise schüttelte er den Kopf.
»Ich hoffe doch, daß Sie Ihr Leben versichert haben,« äußerte er mit einem trüben Lächeln ... »Herr … entschuldigen Sie, ich habe Ihren Namen vergessen.«
»Wie beliebt!« sagte Herr Mason und stutzte. »Sie meinen, daß Gefahr im Anzuge ist? Einer der Kolben leckt ein wenig, so viel ich hören kann. Ob ich mein Leben versichert habe – was wollen Sie damit sagen? Mein Name ist Mason …«
»Hören Sie jetzt wieder,« bat Hall und neigte das Ohr nach der Richtung der Schornsteine. »Hören Sie, welch eine gute, gründlich zuverlässige Maschine! Die ist beinahe so lebendig wie ein Mensch, Herr Mason, und sie ist ehrlicher. Seien Sie ganz ruhig, Sie sind völlig sicher. Wir andern haben Ihretwegen schlaflos dagelegen.«
Mason setzte die Beine auf das Deck, richtete sich stramm auf. »Hm! Sie sagen, ich bin sicher. Vorhin fragten Sie, ob ich versichert sei. Schlaflos sagen Sie …. Gut. Um von etwas andrem zu reden. Was sagen Sie zu unserer berühmten Reisegefährtin, Madame d'Ora? Kennen Sie sie nicht? Nein, Sie kennen die Dame nicht, Herr Hall. Sehe ich Ihnen zu gut?«
Herr Mason lachte still und anspruchsvoll, brach aber ab und begann von neuem:
»Finden Sie es übrigens nicht auffallend, daß eine Dame aus der ersten Kajüte sich in dem Maße mit den Passagieren der zweiten einläßt? Finden Sie nicht? Sie schweigen, Herr Hall. Ja, Schweigen ist bei einer solchen Gelegenheit vielleicht am allerberedetsten. Haben Sie den großen Laienprediger da hinten, achtern, in der zweiten Kajüte beobachtet, der sich wie ein Hahn spreizt? Die schöne Diva scheint Sorge um das Heil ihrer Seele zu haben …«
Hier schlug sich Herr Mason mit einem Knall auf den Schenkel und lachte ausgelassen. Aber er brach wieder ab und fragte tastend:
»Finden Sie vielleicht, daß Madame d'Ora zu schön und zu gut ist … Sie lachen nicht, Herrn Edmund Hall.«
»Wollen Sie nicht hinunter und Mittag essen, Herr Thomas A. Mason?« fragte Hall mit leisem Tadel
»Ich bin überzeugt, Madame ist eine bezaubernde Frau gewesen, so vor fünf, sechs Jahren,« fuhr Mason langsam fort, »aber jetzt ist sie zu stark. Nach meinem Geschmack. Jesus Christus! ich will mit Ihnen wetten, daß sie die ersten zweihundert Pfund hinter sich hat. Aber Leben ist da, weiß Gott, in dem Körper! Der Kapitän hat auch ein Auge auf sie geworfen. Wenn ich der Kapitän wäre, würde ich Madame einen Wink geben, sich in passendem Abstand von der zweiten Kajüte zu halten … Sie scheinen nicht zuzuhören, Herr Hall.«
»Da unten auf dem Vorderdeck ist einer, der auf der Mundharmonika spielt,« murmelte Hall und drehte den Kopf vorsichtig nach Mason herum. Dann beugte er sich wieder vor und sah auf das Deck hinab, wo Haufen von Menschen im Schutz des Backs lagen. Die Dunkelheit gestattete nicht, die einzelnen zu erkennen.
»Hören Sie? Klingt es nicht sonderbar?« sagte Hall beinahe zuvorkommend. Er erhob die Stimme mit einer lächelnden Schwärmerei: »Dieser jämmerliche Ton! Hören Sie doch, wie die kleine Melodie so süß gegen den Wind und die Wellen anweint. Nun schwimmen die Fische ein paar Seemeilen unter unsern Stiefeln und schnüffeln. Hören Sie nur, wie er spielt! – Ah, wie flüchtig und fein er spielt. Wie fliegender Sommer, Sie wissen, im September! Wildgänse oben unter den Tauwolken … ich bilde mir ein, der Kerl ist Bierfahrer oder Totengräber …«
»Er hat Talent,« sagte Mason, »freilich hat er Talent. Was spielt er doch? … After the ball.«
Mason wiegte sich ergriffen und fing an, die Melodie zu summen. Hall wandte sich ungeduldig um, fixierte den Mann, dann wandte er sich wieder ab und sah in die See hinaus, wo die Schaumfurchen, die der Bug zog, sich von den Kuhaugen des Schiffes beleuchtet, kräuselten. »Ach ja, ja!« rief Hall mit einem Seufzer aus, der wie Weinen klang. Sie schwiegen eine Weile.
»Herr Edmund Hall,« sagte Mason endlich mit einem geschäftsmäßigen Nebengeräusch in der Nase, »Herr Edmund Hall, Sie scheinen nicht wohl zu sein. Sie machen einen nervösen Eindruck, Herr Edmund Hall.«
»Wollen Sie nicht hinunter gehen und essen?« fragte Hall müde und brutal. Milder fügte er hinzu: »Es ist ja schon lange her, seit es geläutet hat. Ich will nicht hinunter, falls Sie aus dem Grunde warten.«
»Keinen Appetit, Herr Hall?« fragte Mason. »Sagen Sie mir doch – ganz offen – lassen Sie uns zur Sache kommen – was meinten Sie vorhin mit der Frage, ob ich mein Leben versichert habe? Sollte das eine Drohung sein, eine freundliche Aufforderung an mich, Ihnen vom Leibe zu bleiben? Sie scheinen ein wenig aufgeregt zu sein … Was meinten Sie damit? Beschäftigen Sie sich mit dem Gedanken, daß mein Leben oder das Leben irgend eines andern, aber hier speziell das meine, auf dem Spiel stehen könne? Wie, Herr Edmund Hall? Welchen besonderen Grund haben Sie, die Tasche, die Sie da in der Hand halten, nie von sich zu lassen? Warum gehen Sie umher wie ein Mann, den irgend etwas bedrückt, warum sprechen Sie nicht mit Ihren Reisegefährten? Ich habe Sie beobachtet, Sie können sich darauf verlassen, daß ich Sie beobachtet habe. Sehen Sie die Sache einmal ganz ruhig an – ist es schlimm für Sie, quält es Sie? Sehen Sie es immer vor Augen?«
Jetzt wurde Hall ärgerlich, wie es schien, er wollte Ruhe haben vor diesem Menschen, dessen Gerede er wohl kaum gehört hatte.
»So schweigen Sie doch endlich,« bat er ohne irgendwelches Kolorit in der Stimme. »Was reden Sie eigentlich? Gehen Sie hinunter zum Essen und lassen Sie mich in Frieden.«
Mason trat einen Schritt zurück und brachte einen knurrenden Laut im Halse hervor. Und während er ein paar Handeisen aus der einen Rocktasche in die andere steckte, nickte er Halls Rücken zu und ging die Treppe hinab.