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Zehntes Kapitel

Rückwärts zum Ständestaat oder vorwärts zum Sozialistenstaat!

Wenn die Gegner der Sozialdemokratie auf die Sklaventheorie des Aristoteles zusteuern, so nehmen wir ihnen das so wenig übel, daß wir vielmehr ihre Verständigkeit und Ehrlichkeit loben. Diese Theorie ist in der Natur der menschlichen Gesellschaft begründet, und stärker als je machen sich heute diese Gründe geltend. Denn erstens ist es unbestreitbar, daß es einige Nationen giebt, die zum Herrschen berufen, und andre, die zum Dienen bestimmt sind, und wenn wir wirkliche Kolonien in Afrika bekommen sollten oder die mecklenburgischen Junker ihren patriotischen Plan verwirklichten und chinesische Kulis einführten, so würden selbst die Freisinnigen keine solchen Narren sein, den uns untergebnen schwarzen und gelben Menschen die Rechte von Reichsbürgern verleihen zu wollen. Zweitens giebt es auch innerhalb der Herrschernationen einzelne Individuen, die in der Abhängigkeit ganz brauchbare Arbeitswerkzeuge abgeben, denen aber die Befähigung zur Selbständigkeit fehlt, sodaß sie, mag man ihnen auch alle äußern Bedingungen der Freiheit sichern, immer wieder in Abhängigkeit versinken. Diese würden sich für ihre Person wohler fühlen und nützlichere Glieder des Gemeinwesens werden, wenn man ihren Verstand nicht über ihre sittliche Energie hinaus entwickelte und sie in dem engen Kreise verworrener Vorstellungen, der ihrer Verwendbarkeit völlig angemessen ist, ungestört ließe, anstatt sie durch Schulunterricht, durch Zeitunglesen und durch Verleihung von politischen Rechten zu Versuchen anzuspornen und zu nötigen, die im voraus zur Erfolglosigkeit verurteilt sind. Im Gefängnisse zu L. lernte ich vor dreißig Jahren einen Mann kennen, der so ehrlich war, daß ihm, wie weiland Herr und Frau Putiphar dem guten Joseph, der Aufseher und seine Frau das ganze Haus anvertrauten, U. a. schickten sie ihn auf den Wochenmarkt einkaufen, und zwar allein und ohne Aufsicht, und nie hat er einen Pfennig veruntreut. Dabei war er stets willig, sehr anstellig und zu allem geschickt; ohne die Uhrmacherei gelernt zu haben, hat er eine Wanduhr zusammengebosselt und dem Gefängnisse geschenkt. Wurde er entlassen, so zehrte er die im Gefängnisse verdienten paar Groschen auf und beging dann einen kleinen Diebstahl, um wieder verhaftet zu werden. Das einemal meldete er sich unverhaftet. »Frau Inspektern,« sagte er, »mein Geld ist alle; bitte schön, lassen Sie mich wieder ein!« Haben Sie gestohlen? »Nee –, na, wenn es nu einmal sein muß –«. Damit rennt er fort, nimmt – es ist gerade Wochenmarkt – vom ersten besten Wagen eine Peitsche herunter und knallt damit ganz langsam durch die Menge hindurchschreitend bis zum Gefängnisse. »Jetzt hab ich gestohlen,« sagt er freudestrahlend, »jetzt müssen Sie mich einlassen!« Welche Grausamkeit und welche Unvernunft, solchen Menschen den Herrn zu nehmen, ohne den sie nicht leben können, und sie ins Gefängnis zu sperren, als ob die für alle reichen und »staatserhaltenden« Herren allernützlichste Naturanlage eines solchen Armen, sein Abhängigkeitsbedürfnis, ein Verbrechen wäre! Die »Berliner Morgenzeitung« brachte neulich ein Feuilleton von Küchenmeister-Kaberlin: »Der Industrieort Plötzensee.« Darin wird beschrieben, wie willig und fleißig die Leute dort arbeiten, in wie wunderbar kurzer Zeit Laufburschen und Hausknechte jedes beliebige Handwerk lernen, für das man gerade Hände braucht – eine vernichtende Kritik unsers Lehrlingswesens, wie der Inspektor Bieding richtig bemerkt – wie leicht die Ordnung aufrecht zu erhalten ist, und mit welchem Wohlwollen der Inspektor seine Schützlinge behandelt, die seiner Versicherung nach sämtlich »gute Jungen« sind. Bei einigen dieser Leute ist nun gewiß die Unselbständigkeit des Charakters und der Mangel eines festen Abhängigkeitsverhältnisses schuld, daß sie – im juristischen Sinne des Worts wenigstens – Verbrecher geworden sind. Bei andern war es die Schwierigkeit oder Unmöglichkeit, auf ehrlichem Wege fortzukommen, was sie hineingebracht hat, bei noch andern ein Konflikt mit den Behörden u. s. w. Den einen wäre mit einem Herrn geholfen, den andern mit einem sozialen Zustande, wo nicht Grund und Boden, sondern Hände fehlen, wie denn aus vielen der – z. B. nach Australien – deportierten Verbrecher ganz von selber ehrliche Leute geworden sind. Welch ein Zustand! Hätte nicht die Sozialdemokratie das Ehrgefühl so sehr geschärft, die Arbeitslosen würden im Winter massenhaft Schaufenster einschlagen und Majestätsbeleidigungen begehen, um Aufnahme ins Gefängnis zu finden; bedroht man doch diese neue Art von »Verbrechen« schon mit Lattenarrest! Dem Geiste des Christentums widersprechen Sklaverei und Hörigkeit an sich noch nicht. Er fordert nur, daß die Abhängigen menschlich behandelt werden, und daß man ihre Persönlichkeit soweit achte, als sie eine haben. Sind Schwachköpfe der oben beschriebnen Art nicht in dem Sinne Persönlichkeiten, daß sie ihr Schicksal selbst aus eigner Kraft, zu gestalten vermöchten, so vermögen sie wenigstens zwischen Gut und Böse zu unterscheiden und können für ihre Handlungen selbst verantwortlich gemacht werden, können sich selbst die Gattin wählen und was dergleichen actus humani mehr sind, die ihnen das heidnische Altertum, in der Theorie wenigstens, nicht zugestand. Nicht gegen die Sklaventheorie des Aristoteles an sich erhebe ich Protest, sondern nur gegen die Anwendung, die man in alter Zeit von ihr gemacht hat und neuerdings wieder macht. Während die Griechen und Römer geneigt waren, alle Ausländer für Arbeitswerkzeuge anzusehen, die ihnen die Götter geschenkt hätten, bilden sich unsre heutigen Kapitalisten ein und wollen sie die Welt glauben machen, ihnen allein habe die Natur das zur Betriebsleitung erforderliche Talent verliehen, und der Arme sei ihnen als Werkzeug geschenkt, wobei sie noch beständig darüber klagen, wie unbequem zu gebrauchen, wie unfügsam und widerspenstig, wie anspruchsvoll und kostspielig dieses Werkzeug sei, und wie gern man es durch eine Maschine ersetzen möchte.

Noch ein dritter Grund läßt sich gegen die Forderung der Freiheit für alle anführen. Gerade die Verhältnisse mannichfach abgestufter Abhängigkeit sind unerschöpfliche Quellen der schönsten sittlichen und gemütlichen Regungen und Beziehungen und der edelsten Thaten: Dienstmannen- und Dienstbotentreue, väterliche und mütterliche Fürsorge der Herrschaften, gegenseitige Anhänglichkeit, mitfühlende Teilnahme der einen an den Leiden und Freuden der andern, spendende Liebe auf der einen und dankbare Liebe auf der andern Seite, und sonst noch so manches Wertvolle fließt daraus hervor. Von dem allen läßt die Verwandlung des Dienstverhältnisses in einen Vertrag zwischen Gleichberechtigten nichts übrig, sie löst den Inhalt des menschlichen Gemütslebens in lauter Paragraphen und Rechenexempel auf. Die Plakate der Herren Landräte an den Straßenecken, die an die »Arbeitgeber und Arbeitnehmer« gerichtet sind, besiegeln den Untergang des Zeitalters der Poesie, d. h. des Zeitalters der Menschen, und den Anbruch der neuen Zeit, die den Menschen in allen Stücken dem Gesetz der nach Zahl, Maß und Gewicht geordneten Körperwelt unterwirft, Antonio und Porzia, die hilfreichen Freunde, machen dem Juden Shylock Platz, Herakles und Siegfried, diese Vorbilder aller Dienstmannen, dem Dienstmann Nr. 33, der für jeden Gang 50 Pfennige zu liquidieren hat. Jetzt fehlt nur noch, daß die Verliebten untereinander den Preis für die zu gewährenden Liebkosungen, und die Mütter mit einem den Kindern zu bestellenden Rechtsanwalt den Preis für die Nachtwachen am Bette ihres kranken Kindes kontraktlich vereinbaren; das erste geschieht ja wohl schon einigermaßen. Der amerikanische Sozialist Gronlund hat vollkommen richtig bemerkt, daß das europäische Trinkgelderwesen für die Verwirklichung des Sozialistenstaates ein nicht zu unterschätzendes Hindernis bilde, Ein Mensch, der gewöhnt ist, Trinkgelder zu nehmen, fühlt sich als Untergebener der Spendenden; das Gefühl der Gleichberechtigung kann in ihm nicht aufkommen. Es kann also gar keinem Zweifel unterliegen, daß, wenn Professor Iherings Feldzug gegen das Trinkgelderunwesen – jedes Wesen erscheint von der andern Seite gesehen als Unwesen – Erfolg gehabt hätte, damit der Sozialdemokratie die Wege geebnet worden wären. Und auch hier ist es doch sehr die Frage, ob damit das Leben wesentlich verbessert oder verschönert worden wäre. Sind alle Ansprüche und Leistungen der Gasthaus- und Kaffeehauskellner vertragsmäßig bestimmt, so fällt damit die Fürsorge weg, deren sich heutzutage Stammgäste zu erfreuen pflegen. Weder wird ihnen ein freundliches Gesicht zum Willkommen, noch finden sie täglich ihre Zeitung auf ihrem Platze, noch erfahren sie interessante Neuigkeiten, denn zu solchen Dingen können die Kellner nicht verpflichtet werden. Beim jetzigen Zustande findet der freundliche und freigebige Gast einen freundlichen und dienstfertigen Kellner und umgekehrt. Ist erst einmal die strenge Gleichberechtigungs- und Vertragstheorie durchgeführt, dann ist es für den Kellner gleichgültig, ob er ein netter Mensch oder ein Klotz, und für den Gast, ob er freigebig oder schäbig ist; Tugenden nützen und Charakterfehler schaden nichts mehr. Die Schattenseiten des Trinkgelderwesens sollen damit nicht geleugnet werden; nur auf die grundsätzliche Bedeutung der Sache kam es uns hier an. Auch um jene zarten Kulturblüten, die wir echt aristokratische Gesinnung und wahrhaft vornehmen Umgangston nennen, wäre es geschehen, wenn die Gleichberechtigung Aller und die Zurückführung aller Lebensverhältnisse auf Verträge möglich wäre. Beim Nivellement wird immer mehr Hohes erniedrigt als Niedriges gehoben; die geistige Roheit des Amerikanertums ist bekannt.

Viertens drängen mancherlei Verhältnisse zur Wiederherstellung der Leibeigenschaft. Den Grubenarbeitern ist im letzten Ausstände durch die auf Seite 107 erwähnten Maßregeln das Koalitionsrecht thatsächlich entzogen, sie selbst sind dadurch aus »freien Arbeitern« in Dienstboten oder Hörige verwandelt worden, Ein konservatives Blatt bezeichnete das Verhalten der Ausständigen im Saarrevier als »freche Auflehnung gegen jede Autorität«; dieser Auffassung nach stehen die Grubenverwaltungen den Arbeitern nicht als Kontrahenten gegenüber, sondern als Autoritäten, d. h. als Herren oder Obrigkeiten. Wenn es wahr ist, was die Mehrzahl der Unternehmer behauptet, daß sich die Koalitionsfreiheit mit dem großindustriellen Betriebe nicht verträgt, dann bleibt eben nichts übrig, als die Gesetze den Forderungen der Industrie anzubequemen und die Leute auch der Form nach zu Hörigen ihrer Brotherren zu machen, was sie ja dem Wesen nach ohnehin sind. Die immer stürmischer werdenden Klagen und Forderungen der Rittergutsbesitzer in den östlichen Provinzen sind bekannt. Die Herren verlangen: Bestrafung des Kontraktbruchs, Beschränkung der Freizügigkeit und der Auswanderung, Verteuerung des Reisens auf der Eisenbahn und Verminderung des Schulunterrichts auf dem Lande, d. h. die thatsächliche Leibeigenschaft; die förmliche verlangen sie wohlweislich nicht, weil die ihnen sehr große Lasten auflegen würde. Es wirkt erfrischend und erlösend in dem widerlichen politischen Lügennetz, in das wir verstrickt sind, wenn ein Mann einmal den Mut hat, so offen mit der Sprache herauszurücken, wie der Graf von Königsmark, der nach dem »Naugarder Kreisblatt« in der »Pommerschen ökonomischen Gesellschaft,« wie üblich, über »die Zuchtlosigkeit und den Kontraktbruch« der Arbeiter geklagt und dann geäußert hat: aus Gefängnis mache sich der Arbeiter nichts, da er ja im Gefängnis besser lebe als zu Hause; selbst aus einer Zuchthausstrafe machten sich die Arbeiter nichts, da sie dadurch dem Militärdienst entgingen; nur noch die Prügelstrafe könne helfen, denn »Ehrgefühl haben die Leute ja doch nicht.« Damit sind wir sofort noch ein gutes Stück hinter die altgriechische und die mohammedanische Sklaverei zurückgeschnellt; denn nach der Rolle zu urteilen, die sie in den Dramen spielen, haben die altgrichischen Sklaven ein sehr feines Ehrgefühl gehabt und bedeutend besser als im Zuchthause gelebt; und die Mohammedaner sind bei weitem nicht so prügellustig wie die pommerschen Junker. Als vorigen Sommer der bekannte Eugen Wolf dem Sultan von Sansibar einmal klagte, er möchte gern auf die Jagd gehen, habe aber keine Leute, so sagte ihm der: »Ich werde dir Leute schicken; dir gebe ich sie gern, weil ich weiß, daß du sie nicht schlägst und mißhandelst, wie die andern Europäer thun.« Aber es ist gut, daß sich endlich einmal Männer finden, die den Mut haben, das Lügengewebe herzhaft zu zerreißen.

Mit dem Lügengewebe meine ich nichts geringeres als den modernen Konstitutionalismus. Dieser ist aus den zwei ungeheuerlichen Lügen gewoben, daß der Besitzlose persönlich frei, und daß er ein vollberechtigter Staatsbürger sein könne. Man hat sich eingebildet, den Ständestaat abschaffen und den Staat von Athen und Sparta einführen zu können ohne dessen Grundlage, die Sklaverei. In ihrem Ursprunge war diese Lüge nicht allein schuldlos, sondern sie begründet sogar, weil den edelsten Regungen des Herzens entsprungen, einen Anspruch auf Ruhm für unsre Väter und Großväter. Dazu wurde der Irrtum des Verstandes, der jener edeln Regung dienen mußte, durch die wirtschaftlichen Verhältnisse der Zeit verdeckt. Die Philosophen der Humanitätsperiode stellten, in Übereinstimmung mit dem Christentum wie es der Kalvinismus verstanden hatte, an jeden Menschen die Forderung, daß er sich zur vollen Persönlichkeit entfalte. Daraus ergab sich seine Freiheit und seine Gleichberechtigung im Staate. Nun hatten zwar alle frühern Geschlechter gewußt, daß Freiheit nicht denkbar sei ohne die auf Grundbesitz gegründete ökonomische Unabhängigkeit, und daß der persönlich Abhängige unmöglich an der Gesetzgebung und Verwaltung des Staates teil nehmen und seinem Brotherrn Gesetze vorschreiben könne Als Anfang März im preußischen Abgeordnetenhause die Kosten für die durch Reichsgesetz eingeführten Bergewerbegerichte bewilligt werden sollten, erklärten die konservativen Gegner dieser Einrichtung, es sei unerträglich, daß Arbeiter über ihre Brotherren zu Gericht sitzen sollten.; auch haben die Staatsmänner des vorigen Jahrhunderts die Weisheit Chinas bewundert, das jedem seiner Bürger den Besitz einer eignen Scholle zu sichern verstanden hat; in unsern Tagen freilich scheint die Übervölkerung doch auch im himmlischen Reiche ein zahlreiches Proletariat von Besitzlosen geschaffen zu haben. Allein die hochentwickelte Geld- und Kreditwirtschaft Europas erzeugte den Schein, als sei ökonomische Unabhängigkeit auch ohne Grundbesitz möglich: man brauchte ja nur Geld zu verdienen, um unabhängig zu werden. Daß das sogenannte bewegliche Kapital weiter nichts ist als eine Hypothek auf den vaterländischen Grund und Boden, daß diese Hypothek die Hälfte des Bodenwerts nicht übersteigen darf, wenn sie die Landwirtschaft nicht zu Grunde richten und damit das vernichten soll, was ihr Wert verleiht, daß demnach das bewegliche Vermögen so wenig nach Belieben vermehrt werden kann wie der Grundbesitz, daß vielmehr sein Wachstum durch dessen Ausdehnung begrenzt wird, dieses alles übersah man und glaubte dem Mephistopheles, der dem Kaiser und der Welt bis heute vorschwindelt, um jedermann reich zu machen, sei nichts nötig als eine Papierfabrik und eine Notendruckpresse. Auch überwog im Anfange unsers Jahrhunderts die Zahl der Grundbesitzer noch so sehr, daß sich nirgends Massen Besitzloser anhäuften, an denen der Trug hätte offenbar werden können. Aber bald drängte die ökonomische Entwicklung dazu, die Zahl dieser lebendigen Beweisstücke zu vermehren. Der Rittergutsbesitzer, dem die verbesserte Landwirtschaft reichen Geldertrag versprach, fand es vorteilhafter, seinen ganzen Acker selbst zu bewirtschaften, anstatt einen Teil davon seinen Hörigen zu überlassen, Der Umwandlunsprozeß der Hörigen Altpreußens in besitzlose Lohnarbeiter ist von Knapp sowohl in seinem großen Werke über die Bauernbefreiung in Preußen wie in seiner vortrefflichen kleinen Schrift: »Die Landarbeiter in Knechtschaft und Freiheit« beschrieben worden. Sehr wertvolle Aufschlüsse über den Gang der Dinge seit der Separation und Ablösung enthält der dritte Band des vom Verein für Sozialpolitik veröffentlichten Berichts über »die Verhältnisse der Landarbeiter.« Dieser von Dr. Weber bearbeitete dritte Band behandelt die ostelbischen Provinzen Preußens. In den »zurückgebliebensten« Landesteilen sind die ursprünglichen guten Verhältnisse stellenweise noch erhalten. Ursprünglich erhielt der sogenannte Instmann gar keinen Geldlohn. Der gnädige Herr gewährte ihm Wohnhaus, Stallung, Obstgarten, zwei Morgen Ackerland für Getreide und einen Kartoffelacker, für seine Kuh freie Weide im Sommer und Futter im Winter, den zehnten bis fünfzehnten Scheffel vom Flegeldrusch, oft noch eine gewisse Garbenzahl beim Mähen, Dünger für seinen Acker, das Gespann zur Bestellung seines Ackers, Fuhren zum Holz-, Torf-, Kohlenholen, zu Markte, zum Geistlichen und zur Hebamme. Wie stark in diesem System noch die Interessengemeinschaft zwischen Herrn und Instmann war, liegt auf der Hand. Das alles hörte auf, als die Brache wegfiel, Hackfrüchte den Körnerbau einschränkten, die Maschine den Dreschflegel verdrängte. An Stelle der Eigenwirtschaft des Instmanns trat zuerst das Deputat, an dessen Stelle dann das Geld. Zudem machten Kartoffeln und Schnaps aus dem kleinen Manne körperlich und geistig einen andern Menschen. Immer weniger ständige Arbeiter braucht das moderne große Gut, immer mehr heimatlose Kampagnearbeiter, und als solcher ist der genügsame Slawe am willkommensten. »Vor Jahrhunderten haben deutsche Bauern, sagt Weber, gerufen von den slawischen Großen, die deutsche Kultur in den Oder- und Weichselgebieten begründet; heute ruft der kapitalistische Großbetrieb des Ostens die Slawen ins Land.« So vollständig haben die menschlichen Beziehungen zwischen Herrn und Arbeitern aufgehört, so sehr sind die Arbeiter auch hier nur noch Arbeitswerkzeuge, daß, wie Dr. Weber klagt, nicht wenige der Herren die bei der Enquête vorgelegten Fragen nicht ordentlich zu beantworten vermocht haben; sie kennen einfach die Verhältnisse ihrer Arbeiter gar nicht. und bald erkannte er den ungeheuern Vorteil der Ablösung, gegen die er sich anfänglich gesträubt hatte: sein um ein Stück Gemeindeacker vergrößertes Gut brachte um so mehr Geld, als sich die Anweisung auf Geldverdienst und Freiheit, mit der man den kleinen Mann für die eingezogne Gemeindetrift abgefunden hatte, als trügerisch erwies, und er sich gezwungen sah, für den gnädigen Herrn billiger zu arbeiten, als er es im leibeignen Stande gethan hatte. So begegneten sich denn seine Wünsche und die des nach Arbeitern hungernden Großindustriellen, und diesem Zuge der Zeit entsprechend ward das große Befreiungswerk mit der Freizügigkeit und dem allgemeinen gleichen Wahlrecht gekrönt. Seitdem aber ist die Bevölkerung weit über die Möglichkeit der Versorgung durch Hypotheken auf den heimischen Grundbesitz gestiegen, und so haben wir nun jenen gasförmigen Aggregatzustand des ärmern Volks, der es jeder Industrie leicht macht, aus allen Teilen des Reichs Arbeiter nach Bedarf und Belieben anzuziehen und sie wieder abzustoßen.

Längst ist der Trug enthüllt, oder sagen wir lieber, die edle Selbsttäuschung der Völker zerronnen, und jede Staatskunst ist eitel, die nicht von der Thatsache ausgeht, daß sich zwei Strömungen auf Tod und Leben bekämpfen, von denen die eine, die sich konservativ nennt, die förmliche Wiederanerkennung des tatsächlich noch vorhandnen, nur umgeschichteten Ständestaates, die andre, die sogenannte liberale, den Sozialistenstaat zum Ziele hat. Haben wir nötig, die Behauptung, daß schon jetzt die untersten Arbeiterschichten wirklich in Sklaverei leben, noch ausführlich zu beweisen? Wir haben bei andern Gelegenheiten genug Beweismaterial dafür beigebracht, doch wollen wir, der Sicherheit wegen, noch ein paar von den unzähligen beweisenden Thatsachen anführen, die jedem vor Augen liegen. Der Dienst dieser Arbeiterschicht ist schwerer und unangenehmer als der von Sklaven irgendwelcher Zeit oder irgendwelchen Volkes. Von den Arbeiten in einer märkischen Zuckerfabrik entwarf kürzlich der »Vorwärts« folgende, unwiderlegt gebliebne Schilderung, In der Schwemme (Tagelohn 1,60 Mark) stehen die Arbeiter mit nackten Füßen oft bis über die Knie im Wasser; essen kann ein jeder nur, wenn ein Kamerad währenddessen seine Arbeit mit übernimmt; die zwölfstündige Arbeit geht ohne Frühstück-, Mittag- und Vesperpause ununterbrochen fort. Nie Arbeiter in der Diffusion erhalten zwar hohe Stiefel, dafür aber stürzt ihnen eiskaltes Wasser entgegen, während die Luft, in der sie arbeiten, 30 und mehr Grad heiß ist. Lohn 1,90 Mk. Am Montejus (einer Vorrichtung zum Heben heißer Flüssigkeiten) arbeiten Knaben in einer Hitze von 30-40 Grad für 1,20 Mark u. s. w. Überstunden werden häufig gefordert. In der Anilin- und Sodafabrik zu Ludwigshafen (das Nähere im Sozialpolitischen Zentralblatt, in der Nummer vom 31. Oktober 1892) ist die Arbeit so ungesund, daß wenige sie lange über ein Jahr aushalten; von den 3430 Arbeitern waren 2383 im Betriebsjahre neu eingestellt; Leute, die über 35 Jahr alt sind, werden, als untauglich, nicht angenommen. Durchschnittlicher Jahresverdienst des erwachsenen Arbeiters 750 Mark; dabei schwankt die Dividende, die das Unternehmen abwirft, zwischen 21 und 25 Prozent, d. h. also, man braucht nur mit 1-2000 Thalern beteiligt zu sein, um im Müssiggehen soviel zu verdienen, wie die Arbeiter mit unangenehmer Arbeit und dem Opfer ihrer Gesundheit. In gesundheitsschädlichen und gefährlichen Betrieben dürfen nach den neuen Arbeiterschutzvorschriften jugendliche Arbeiter vor ½6 Uhr morgens und nach ½9 Uhr abends nicht beschäftigt werden. Obwohl nun die Eisenhütten zu dieser Kategorie gehören, hat sich doch der Bundesrat bewegen lassen, in der am 29. April 1892 für die Walz- und Hammerwerke erlassenen Verordnung diese Beschränkung fallen zu lassen. Dagegen bleiben sie der Bestimmung unterworfen, daß dem Verzeichnis der jugendlichen Arbeiter eine Tabelle beizufügen sei, worin Anfang und Ende der innerhalb jeder Arbeitsschicht gewährten Pausen angegeben ist. Diese Beschränkung in der Ausbeutung der Knaben und Jünglinge erscheint nun den Direktoren so unleidlich, daß der Generalsekretär Dr. Beumer in einer Sitzung des Vorstandes des Vereins deutscher Eisen- und Stahlindustriellen am 9. Dezember 1892 erklärt hat: wenn die Verordnung des Bundesrats nicht bald aufgehoben würde, so werde es mit den jugendlichen Arbeitern gehen wie mit den Frauen, d. h. man werde keine mehr beschäftigen. Über die Pferdebahnbediensteten zu Breslau hat vor einigen Jahren die »Schlesische Zeitung«, ohne widerlegt zu werden, berichtet, daß manche von ihnen regelmäßig von früh um 6 Uhr bis Nachts um 12 Uhr Dienst haben, also netto 6 von den 24 Tagesstunden »freie Männer« sind, eine Zeit, die doch noch nicht zum Ausschlafen reicht. Nach dem Bericht des badischen Fabrikinspektors Wörishoffer, des einzigen in Deutschland, der die herrschende Wirtschaft rücksichtslos aufdeckt, sind auch im Jahre 1892 noch 36 stündige Arbeitsschichten vorgekommen; Arbeiter, die ihm Übertretungen der Gewerbegesetze angezeigt haben, sind mit Entlassung bestraft worden. Der österreichische Ingenieur- und Architektenverein hat eine Reihe von Bestimmungen für Arbeiterschutz bei Hochbauten vorgeschlagen, erst vorgeschlagen! zu denen auch folgende gehört: »Hochschwangere Handlangerinnen dürfen in der Regel nur im Erdgeschoß, niemals auf Leitern, Verwendung finden.« Über die Verrichtungen des gewerblichen Lebens bei den alten Ägyptern, bei den Griechen und Römern, auch bei den sehr grausamen Assyrern sind mir durch Abbildungen ziemlich genau unterrichtet; kennt vielleicht jemand eine solche, wo hochschwangre Frauen dargestellt würden, wie sie, Gefäße mit Mörtel auf dem Kopf, eine Leiter hinaufsteigen? Der in »unzivilisirten« Sklavenländern unbekannten Kinderausbeutung ist ja nun durch Schutzgesetze in allen unsern »zivilisirten« Staaten einigermaßen ein Riegel vorgeschoben; allein der Notwendigkeit, zum Brotverdienst der Eltern beizutragen, sind dadurch die Kleinen keineswegs überhoben. Außer der fünfstündigen Arbeit in der Schule, die für die jüngern immerhin auch schon eine Leistung ist, haben sie entweder den Eltern bei irgend einer Hausindustrie zu helfen oder als Ausläufer und Hausirer, oft auch des Nachts, Geld zu verdienen.

Zur Widerwärtigkeit, langen Dauer und kärglichen Bezahlung der Arbeit kommt die eiserne Disziplin der Fabrik. Nicht etwa die strenge Ordnung der Fabrik bedeutet eine Erschwerung des Dienstes. Die erscheint vielmehr, verglichen mit der Sudelei in der Hausindustrie und in vielen Handwerkstätten, als eine Wohlthat. Lehrling und Lehrling ist zweierlei, gerade so wie Fabrik und Fabrik zweierlei ist. Der Sohn des angesehenen Meisters, der bei einem andern Meister lernt, um dereinst selbst Meister zu werden, lebt weit angenehmer als der Gymnasiast, Aber der sogenannte Lehrling, der Sohn armer Leute, die den Jungen bloß aus der Kost haben wollen, der als billiger Arbeiter ausgenutzt und dann auf die Straße geworfen wird, Eben da wir dieses schreiben, erzählt uns ein Junge unsrer Bekanntschaft, daß sein Meister wegen flauen Geschäftsgangs von seinen beiden Gesellen einen entlassen habe; Lehrlinge aber hält der Mann acht! der hat ein Hundeleben, das als allgemein bekannt nicht weiter beschrieben zu werden braucht; wer wirklich noch nicht wissen sollte, wie es da zugeht, kann es aus dem Bericht des Hamburger Fabrikinspektors Dr. Steinert über das Jahr 1891 erfahren. Wenn der Schlosser- oder Tischlerlehrling aus so einer Sudelwerkstatt in die schönen hellen und reinlichen Hallen einer Maschinenbauanstalt oder Möbelfabrik kommt, wo die Arbeit mit dem Glockenschlage anfängt und aufhört, wo er keine Prügel, Ohrfeigen und Püffe bekommt, wo ein freundlicher verständiger Werkmeister die Arbeit anweist und leitet, gehörige Erholungspausen bewilligt werden und der Sonntag ganz frei ist, so glaubt er sich in den Himmel versetzt. Es sind wiederum gerade die unangenehmsten Beschäftigungen, z. B. in Spinn-, Web- und Zuckerfabriken, wo der Arbeiter weniger zu schaffen als eine unaufhörlich wirbelnde Maschine mit solcher angespannter Aufmerksamkeit und so ohne alle Unterbrechung zu bedienen hat, daß die Arbeit an sich schon zur Qual wird, daß der Mensch für die ganze Zeit, wo er eingestellt ist, aufhört, Mensch zu sein und Maschinenteil wird – solche sind es, wo die Fabrikdisziplin die an sich widerwärtige Frohnarbeit vollends unerträglich macht. Die Arbeit »mit muntern Reden zu begleiten,« daran ist da nicht zu denken. Die Fabrikordnungen, in deren Erlaß die Besitzer allerdings durch die Gewerbenovelle gewissen gesetzlichen Beschränkungen unterworfen sind, regeln das Verhalten der Arbeiter bis ins kleinste, und an den Ausgängen der Zuckerfabriken stehen beim Schichtwechsel – während der Schicht darf überhaupt keiner hinaus – besondre Aufseher, die jeden einzelnen mustern oder wohl auch untersuchen, ob er nicht etwa eine Süßigkeit eingesteckt hat, so daß also ein jeder von vornherein für einen mutmaßlichen Spitzbuben erklärt wird. Kurz, die Arbeit ist auch von dieser Seite her betrachtet Sklavenarbeit, das Gegenteil der wirklich freien Arbeit beim Bauer und beim anständigen Handwerker, wo ab und zu ein freundliches Wort, ein Scherz, ein Wechsel der Beschäftigung, eine kleine außerordentliche Unterbrechung die Arbeit würzt, die Anstrengung erträglich macht, die Spannkraft wieder herstellt; wo der Arbeitende hie und da auf ein paar Augenblicke das Werkzeug niederlegt und einem fliegenden Vogel, einem aufgeschreckten Hasen nachschaut, dabei seine Muskeln je nach Bedürfnis reckt und streckt oder ein wenig ruhen läßt.

Dazu kommt die gefängnisartige Absperrung. Früher arbeitete jedermann coram publico, und es konnte beim Arbeiten nichts auffälliges passiren, was nicht an demselben Tage noch das ganze Dorf oder das ganze Städtlein erfahren hätte. Zwar arbeiteten unsre Handwerker nicht, wie die im Süden, vor der Hausthür oder in offnen Läden, aber den ganzen Tag gingen Kunden aus und ein, und Goethe erzählt bekanntlich, sein Vater habe ihn gern in die Werkstätten mitgenommen, und so habe er die verschiednen Hantirungen kennen gelernt. Heute wird alles im Laden gekauft; wie es in der Werkstatt aussieht, wo etliche Dutzend Schneider oder Schneiderinnen unter der Fuchtel eines Schwitzmeisters seufzen, davon haben die Herren und Damen, die sich nach dem Modejournal kleiden, keine Ahnung. Die Fabriken gar sind dem Unberufnen so unzugänglich wie die Gefängnisse und seit einigen Jahren auch die Kasernen und Kasernenhöfe; nur der mit obrigkeitlicher Vollmacht ausgerüstete Gewerberat wird eingelassen, nachdem man schleunigst alles entfernt oder versteckt hat, was seinen Tadel herausfordern könnte. Sogar die Gutshöfe sind nicht mehr so zugänglich wie sie es ehedem waren, und werden landwirtschaftliche Industrien auf ihnen betrieben, dann sind sie dem unberechtigten Neu- oder Wißbegierigen verschlossen. Überhaupt hat der landwirtschaftliche Großbetrieb dem Landleben seine Poesie geraubt; der einzige Vorteil, den die Tagelöhner vor Fabrikarbeitern noch voraus haben, ist, daß sie in freier Luft arbeiten. Sonst geht es auf dem Rittergute so ungemütlich zu wie in der Fabrik: rastloses Schaffen unter strenger Aufsicht, Maschinenbetrieb mit Zerfleischung und Gliederabreißung, Geldlohn ohne Naturallieferungen, kein Anspruch auf eine kleine eigne Scholle, auf dauernde Versorgung, keine Spur von gemütlichem Feierabend und fröhlichen ländlichen Festen. In einer höchst interessanten Arbeit über »das nahende Ende des landwirtschaftlichen Großbetriebes« sagt Dr. Rudolf Meyer, »Neue Zeit« 1893, S. 430. Rudolf Meyer, dieser kenntnis-, erfahrungs- und gedankenreiche Landwirt, ist zuerst von der konservativen, dann von der Zentrumspresse hinausgeworfen worden und muß jetzt seine lehrreichen Aufsätze in sozialdemokratischen Zeitschriften veröffentlichen. nachdem er die Einführung der modernen Wirtschaftsweise auf einer böhmischen Herrschaft beschrieben hat: »Nun verschwindet der Rest der Brache. Der Boden trägt jedes Jahr, ohne Ruh und ohne Rast – es geht ihm wie dem frei gewordnen Lohnarbeiter, dem die katholische Kirche hier glücklicherweise eine schöne Zahl Feiertage gerettet hat, die auf dieser Domäne, deren Herrschaft streng kirchlich ist, auch heute noch arbeitsfrei sind, außer in der Zuckerfabrik! Darin arbeitet man auch Sonntags, Tag und Nacht, in zwei zwölfstündigen Schichten, wie in Österreich überall in dieser grauenhaften Industrie, welche in zwei Kontinenten zum Fluch der Arbeiter geworden ist.« Wie die landwirtschaftlichen Arbeiter, so sind auch viele Handwerker von der eisernen Fabrikdisziplin ergriffen worden. Die Maurerwitze gehören der Vergangenheit an. Wir hatten unlängst Gelegenheit, monatelang einen Bau zu beobachten. Die Maurer von heute schaffen rasch, gleichmäßig, und ohne andre Unterbrechung als die ordnungsmäßigen Pausen. Der leiseste Versuch der Unbotmäßigkeit wird mit augenblicklicher Entlassung, d. h. mit ein paar Hungerwochen bestraft. Der Militärdienst, das weiß jedermann, ist heute weit anstrengender als vor zwanzig und gar vor vierzig Jahren, dabei, eben auch wegen der eisernen Disziplin, das gerade Gegenteil jenes lustigen freien Soldatenlebens, das der Holkische Jäger in Wallensteins Lager preist. Was der Soldat an materiellen Gütern genießt, das sind ordentliche Kleidung und Obdach, hinreichende kräftige Nahrung und eine gesunde Beschäftigung! nichts über das hinaus, was unbedingt nötig ist, ihn vollkommen dienstfähig zu erhalten. Trotzdem haben der Reichskanzler und General von Falkenstein den Arbeitern aus der Seele gesprochen, da sie die Kasernen als Ferienkolonien bezeichneten, Den Sozialdemokraten, die darüber spotten, scheint die oben angeführte Äußerung des Grafen Königsmark Recht zu geben. Wenn wirklich die pommerschen Bauernknechte den Militärdienst fürchten, so könnte zweierlei daran schuld sein, entweder körperliche Entartung in Folge schlechter Kost, oder jene Erschwerung des Dienstes, über die allgemein geklagt wird, und die seit zwanzig Jahren stetig ärger geworden zu sein scheint. Das durchschnittliche Arbeiterleben ist eben so unerfreulich, daß solche Arbeiter, denen der Dienst nicht wegen Ungeschicklichkeit oder Entwöhnung der Muskeln zu schwer fällt und die sich dadurch nicht zu arg im Fortkommen gehindert finden, ihn als eine Erholung begrüßen.

Wie sehr sich die Großindustriellen als die unumschränkten Herren ihrer Arbeiter betrachten, haben sie in den letzten Jahren bei mehreren Gelegenheiten sehr unbefangen kund gegeben, z. B. indem einer ihrer mächtigsten Verbände den vorgeschlagnen Arbeiterschutzmaßregeln gegenüber erklärte: der Arbeiter handle frei bei Abschließung seines Kontrakts. Sei dieser aber einmal abgeschlossen, so sei der Arbeiter gebunden; in der Fabrik oder Grube habe der Unternehmer allein zu gebieten und niemand habe ein Recht, ihm drein zu reden, auch der Staat nicht. Wie es aber um die Freiheit des Arbeiters bei Abschließung des Kontraktes steht, darüber brauchen wir nicht weiter zu reden. Nur bei günstiger Konjunktur, d. h. wenn die Nachfrage nach Arbeit das Angebot übersteigt, hat er freie Wahl, und die Zeit der günstigen Konjunkturen ist vorläufig vorüber. Der Gedanke, irgend ein seiner Sinne mächtiger Mensch könne freiwillig die Arbeit in einer Zuckerfabrik oder Zündhölzchenfabrik wählen, ist geradezu toll; man wählt »frei« zwischen zwei solchen Beschäftigungen, wie man zwischen Zuchthaus und Selbstmord, oder zwischen Gift und Strang wählt. Und bei alledem müssen Tausende von Arbeitern noch froh sein, wenn sie solche Arbeit bekommen und behalten. Die Zahl der Entlassungen wächst jeden Winter, und in den Zeitungen liest man dann Notizen wie die: »Am letzten Frosttage bat in einem Dorfe bei Potsdam ein Handwerksbursch um Nachtquartier im Gemeindehause. Sie ward ihm verweigert. Am nächsten Morgen fand man ihn mit erfrornen Füßen auf der Landstraße. Er wurde ins Krankenhaus nach Potsdam gebracht, wo ihm beide Beine unterm Knie abgenommen wurden.« Kant und Fichte – bei Hegel sind wir dessen weniger gewiß – würden diesen Zustand niederträchtig genannt haben.

Bei dem Überangebot von Händen steht es jederzeit in dem Belieben der Unternehmer, solche Arbeiter zu entlassen, die ihnen aus irgend einem Grunde, z. B. wegen ihrer politischen Gesinnung unangenehm sind. So z. B. hat im Ahlwardtprozeß der Oberstlieutenant Kühne mitgeteilt, daß in Löwes Gewehrfabrik 400 Arbeiter entlassen worden seien, weil sie am ersten Mai gefeiert hätten. Dagegen ist ja nun wohl nichts einzuwenden. Denn erstens duldet es die Fabrikordnung nicht, daß 400 Arbeiter ohne Erlaubnis einen Tag feiern, und zweitens darf nicht gestattet werden, daß die Arbeiter einer Fabrik, die für den Staat arbeitet, an einer sozialdemokratischen Demonstration teilnehmen; soweit es sich thun läßt; beschäftigt der Staat sozialdemokratische Arbeiter überhaupt nicht. Bei verschiednen Gelegenheiten haben die Vertreter der rheinisch-westfälischen Großindustrie dem Handelsminister Vorwürfe darüber gemacht, daß die fiskalischen Gruben und Werkstätten nicht noch gründlicher von sozialdemokratischen Arbeitern gesäubert würden. Damit ist aber zugleich den Arbeitern die einzige Freiheit genommen, die sie formell noch von Sklaven unterscheidet, die Freiheit, von ihren politischen Rechten zur Besserung ihrer Lage Gebrauch zu machen. Wie sollen sie denn davon Gebrauch machen, wenn sie keine eigne Partei bilden und nicht alles das thun dürfen, was zum Parteileben gehört? Sollen sie etwa den Bock zum Ziergärtner machen und die Vertretung ihrer Interessen einem Konservativen oder Nationalliberalen übergeben? Oder sollen sie ihre Sache vertrauensvoll auf Gott und den Staat stellen? Der Staat berechtigt sie nicht zu solchem Vertrauen, wie unter vielem andern folgender Erlaß beweist. »Sobald das Umräumen oder Abladen von Betriebskohle erforderlich wird, sollen von jetzt ab diese Arbeiten nach Schluß der Arbeitszeit von denjenigen Maschinenputzern ausgeführt werden, denen am Sonntage vorher freier Sonntag, unter Gewährung ihres Tagelohns, bewilligt worden war. Nach der Verfügung des Königlichen Eisenbahnbetriebsamts Brieg-Lissa vom 9. November 1877 soll nur denjenigen Maschinenputzern monatlich ein freier Sonntag oder Feiertag bewilligt werden, welche im Tagelohn arbeiten, und welche zeitweise zu Überstunden herangezogen werden müssen, ohne daß denselben die Überstunden in Rechnung gestellt werden, was überhaupt nicht geschehen darf. Breslau, den 17. November 1892. Die Betriebs-Werkstätte.« So verordnet von einer Behörde des einen der noch existirenden vier oder fünf christlichen Staaten, nachdem Moses 1500 Jahre vor Christus verordnet hat, daß der Israelit am Sabbath nicht allein selbst ruhen, sondern auch sein Vieh und seine ausländischen Sklaven ruhen lassen solle, mit dem Zusatz: »Gedenke, daß du selbst ein Knecht und Fremdling gewesen bist im Lande Ägypten!«

Könnte die Verpönung der Arbeiterpartei durchgesetzt werden – am guten Willen und an der Anwendung von Zwangsmitteln hats nicht gefehlt –, so würde damit das allgemeine gleiche Wahlrecht nicht einmal mehr formell bestehen. Materiell ist es ohnehin beinahe wirkungslos; die sozialdemokratische Partei kann zwar hier und da, durch Verstärkung der übrigen Oppositionsparteien, eine Regierungsvorlage zu Falle bringen, dagegen ist sie nicht imstande, einen ihrer positiven Vorschläge auf dem Wege der Gesetzgebung durchzusetzen. Sollte sie einmal so stark zu werden drohen, daß sie dieses vermöchte, so würden sich alle übrigen Parteien mit den verbündeten Regierungen zur Abschaffung des allgemeinen gleichen Wahlrechts vereinigen. Das heißt also, man bewilligt dem Arbeiter die politischen Rechte nur unter der Voraussetzung, daß sie unwirksam bleiben; so steht es ja u. a. auch mit dem theoretisch anerkannten Rechte des armen Mannes, das Amt eines Schöffen oder Geschwornen zu bekleiden und mit manchem andern Rechte. Wie viel würdiger wäre es eines großen christlichen Reiches, die Unfähigkeit aller wirtschaftlich Abhängigen zur Ausübung staatsbürgerlicher Rechte offen anzuerkennen, dafür aber dem armen Volke die Wahl von Tribunen zuzugestehen, die an den Thüren des Saales der Gesetzgeber erscheinen müßten, um die Beschwerden des Volks vorzutragen, und denen man vielleicht das Recht einräumen dürfte, Vorschläge zur Besserung zu machen und in gewissen Fällen durch ihr Veto volksfeindliche Maßregeln zu vereiteln!

Also: was die Konservativen wollen, aber einzugestehen nicht den Mut haben, das ist die Wiederherstellung des alten Ständestaates: Erhebung der Rittergutsbesitzer zu einem privilegirten Stande, dessen Güter unteilbar und unverpfändbar, und dem die Bauern als Unterthanen und die Arbeiter als Hörige zu unterwerfen wären. Allerdings würde das Ergebnis dieser Umwandlung den Herren sehr schlecht gefallen. Sie würden sich verpflichten müssen, ihren Leibeignen und deren sämtlicher Nachkommenschaft auf ewige Zeiten Wohnung und Unterhalt zu gewähren, und ihre Einkünfte würden dadurch beinahe so niedrig werden wie die ihrer Urgroßväter gewesen sind, die freilich den Ertrag des Gutes noch nicht mit Hypothekengläubigern zu teilen brauchten. Wie sich die freikonservativen und nationalliberalen Großindustriellen eine ihren Wünschen entsprechende gesetzliche Regelung ihrer Beziehungen zu den Arbeitern denken, ist mir nicht recht klar.

Dieser konservativ-reaktionären Strömung staut sich die liberal-fortschrittliche entgegen, die in die Sozialdemokratie ausmündet, Ihren politischen Gehalt hat diese Richtung nicht von Karl Marx, sondern von Kant, Fichte und Hegel empfangen, Hegel definirte den Staat als die Verwirklichung der sittlichen Idee, nachdem Kant und Fichte die freie Persönlichkeit, die stets Selbstzweck sei und sich niemals als Mittel für andre dürfe gebrauchen lassen, als Wurzel und Wesen der Sittlichkeit bezeichnet hatten. Daraus ergeben sich mit Notwendigkeit folgende Forderungen, Jeder ist persönlich frei und darf nicht von einem andern abhängig sein; im Privatverkehr wie im Staatsleben stehen alle Bürger als Gleichberechtigte neben einander und die einzige Beziehung, die sie verbinden kann, ist die des freien Vertrags. Arbeiten darf jeder nur für sich und die Gesamtheit, nicht für eine Privatperson, Alle Arbeitsteilung und Arbeitsvereinigung kann daher nur die Form von Produktivgenossenschaften haben, mögen diese nun auf einem Privatabkommen beruhen oder Veranstaltungen des Staates sein. Nur für den Staat ist der Arbeiter verpflichtet, sich Abzüge von dem Ertrage seiner Arbeit gefallen zu lassen, nicht für einen Privatunternehmer; der Arbeitsleiter hat nur eine seinen Leistungen entsprechende Besoldung zu beanspruchen. Daß ein arbeitswilliger Mensch ohne Einkommen bliebe, kann nicht vorkommen; sobald sich der Fall ereignete, würde der Staat aufhören, die Verwirklichung der sittlichen Idee zu sein und zum Notstaate herabsinken, dem keine höhre Daseinsberechtigung zukäme als allen andern Einrichtungen, die aus der Not des Augenblicks entspringen und die man verabschiedet, sobald man sie loswerden kann.

Der Unterschied zwischen diesem Vernunftstaat und dem Sozialistenstaat beschränkt sich darauf, daß es der erste auf Verwirklichung der sittlichen Idee, der zweite auf Beglückung der Menschen abgesehen hat; aber wäre es möglich, den einen von ihnen zu verwirklichen, so würde mit ihm zugleich auch der andre verwirklicht sein. Denn der Vernunftstaat würde nicht das Lebensglück von je hundert Personen dem Behagen einer einzigen Person opfern; weder Darbende noch Millionäre könnte er dulden. Der Sozialistenstaat aber würde zugleich die Sittlichkeit verwirklichen, denn es könnte ja kein Mensch den andern für sich als Mittel benutzen, also keiner unsittlich sein.

Daß diese Ideen in allen Gliedern des Volks, wenn auch nicht bewußt, so doch lebendig werden, dafür sorgen täglich Schule und Presse. Das ist hinlänglich bekannt. Zur Illustration der Wirksamkeit der Schule nur eine Anekdote. Neulich fragten wir eine höchst verständige Frau, die in ihrer Jugend eine sehr tüchtige Dienstmagd gewesen und daher eine sehr tüchtige Hausfrau geworden ist, warum sie nicht auch ihre Töchter lieber in den Dienst schicke, anstatt sie Putz machen und sticken zu lassen. Zu ihrer Rechtfertigung führte sie nach andern weniger beweiskräftigen Gründen noch einen an, der sich hören läßt: die heutige Schulbildung mache die Kinder so zartfühlend, daß ihnen der Gedanke an ein Dienstverhältnis unerträglich sei. In der That mag, wie bekannt, fast kein deutsches Mädchen mehr dienen. Lieber hungern sie als Konfektionsdamen, als daß sie sich bei einer Herrschaft kräftige Kost und guten Lohn verdienten. In Schlesien hilft man sich vorläufig noch mit polnischen Mädchen; wenn diese vollends germanisirt sein werden, wird guter Rat teuer und das sozialistische Ideal in dieser Beziehung so ziemlich erreicht sein: man wird für den Hausdienst nur noch Herren und Damen bekommen, die sich kontraktlich zu einzelnen genau umschriebnen Leistungen verpflichten, aber keinen Handgriff und keinen Schritt darüber hinaus thun. Eine Beamtenfrau, die bis dahin in Schlesien und Posen gelebt hatte, deren Mann aber kürzlich nach Berlin versetzt worden ist, spricht in einer Frauenzeitung ihr Entsetzen aus über den anmaßenden Ton der Berliner Dienstboten, die mit ihrer Frau auf dem Fuße der Gleichberechtigung verkehren wollten, und fordert alle Berliner Damen auf, ihre Dienstmädchen nur aus Posen und Schlesien zu beziehen. Wie lange würde denn das nützen? Auch unter den deutschredenden Dienstmädchen katholischer Konfession giebt es noch ganz anspruchlose, die keine andre Erholung beanspruchen, als die sonntägliche Messe, wofern ihnen keine andre Zeit bewilligt wird, die Fünfuhrmesse und allenfalls am Sonntag Nachmittag der Besuch eines frommen Konventikels. Aber der aufgeklärte Dienstherr kann so etwas nicht leiden; wenn er Sonntag früh um fünf das Mädchen fortgehn hört, verdirbt ihm das die Morgenruhe, und dann kann er doch auch das arme Ding nicht den Pfaffen und dem Aberglauben überlassen. Er sucht ihr also klarzumachen, daß das, was sie als heilig verehrt, nur Hokuspokus sei. So haben denn unsre aufgeklärten Herrschaften die Dienstboten, die sie verdienen und sich selbst erzogen haben: Damen, die sich der Frau gleichberechtigt fühlen, den Hausschlüssel und verschiednes andre fordern.

Und so sind denn die Steigerung der Empfindung, die Verfeinerung des Ehrgefühls, die Entwicklung der selbstbewußten Persönlichkeit so weit gediehen, daß die Furcht vor einer angedrohten oder die Scham über eine empfangne körperliche Züchtigung schon den Schüler zum Selbstmorde treibt, während es vor einigen Jahrzehnten kein bessres Mittel gab, sich eines derben Jungen Zuneigung und treue Anhänglichkeit zu erwerben, als wenn man sich einmal mit einer tüchtigen Tracht Prügel um ihn bemühte. Da außerdem die theoretische Beseitigung der Stände, die Verdrängung der Volkstrachten durch die eine gleichmäßige Mode, die allgemeine Verbreitung des Hochdeutschen und gleichartiger höflicher Umgangsformen durch Schule, Vereine, öffentliche Versammlungen zusammengewirkt haben, alle nicht augenscheinlich verlumpten Männer und Knaben zu Herren, alle Frauen und Mädchen zu Damen zu machen, so erscheint der Widerspruch des Einkommens und der sozialen Stellung des Armen gegen seine philosophisch, verfassungsmäßig und konventionell festgestellte und ihm so zu sagen anerzogne Gleichberechtigung mit dein Reichen als ebenso unsittlich wie unvernünftig, und dessen Aufhebung nur noch eine Frage der Zeit.

Unter den demokratisirenden Kräften des modernen Lebens spielt die allgemeine Dienstpflicht eine eigentümliche Rolle. Die levée en masse haben die französischen Republikaner in die Weltgeschichte eingeführt. Unter Napoleons genialer Führung eroberten ihre Volksheere halb Europa, bis sie 1813 von deutschen Volksheeren zurückgeworfen wurden. Aber Friedrich Wilhelm III. hatte von seinem Standpunkte aus Recht, wenn er gegen diese »revolutionäre« Volksbewegung im innersten Herzen Abneigung empfand, und alle spätern Neuorganisationen des preußischen, des deutschen Heeres haben mehr oder weniger deutlich den Zweck verfolgt, das »Volk in Waffen« so viel wie möglich zu einer Armee von Berufssoldaten zu erziehen. Demnach sind es nicht bloß militärtechnische, sondern auch politische Gründe, aus denen Caprivi (siehe seine Entgegnung auf Eugen Richters Rede vom 10. Dezember v.J.) und alle europäischen Regierungen die »militärische Truppe« einem »Haufen heldenmütiger Vaterlandsverteidiger« vorziehen. Nur waltet hier der Unterschied ob, daß die Regierungen von Frankreich und Italien den Zweck nicht zu erreichen vermögen, den die von Preußen, nur teilweise auch die von Österreich und Rußland bisher erreicht haben, nämlich die Massenhaftigkeit des Volksheeres mit dem Charakter eines dem Staatsoberhaupt unbedingt ergebnen und auch im Kampfe gegen rebellische Unterthanen unbedingt zuverlässigen Heeres von Berufssoldaten zu verbinden. Worauf beruht nun diese unbedingte Zuverlässigkeit des preußischen Heeres? Auf der Natur seines Offizierkorps und seiner Unteroffiziere. Der preußische Offizier, das ist ihm durch Familientradition in Fleisch und Blut übergegangen, kennt nur einen Herrn und eine Autorität, den König von Preußen; alles übrige: Volk, Staat, Staatsverfassung ist ihm verhältnismäßig gleichgültig, und keine Veränderung im Staate vermag das persönliche Band zwischen ihm und dem Monarchen zu lockern. Der Unteroffizier aber sieht in den Offizieren seine natürlichen Vorgesetzten und versteht seine kleine Mannschaft zur nämlichen Gesinnung zu erziehen, wofern sie sie nicht schon von Hause mitbringt. Finge der preußische Unteroffizier einmal an zu denken: »Was du leistest, Herr Lieutenant, das kann ich auch; daß ich es nicht darf, daß ich mich nicht zu deinem Vorgesetzten emporschwingen darf, ist eine Ungerechtigkeit, die beseitigt werden muß,« so wäre damit das eiserne Band der Disziplin des preußischen Heeres zerrissen. Wie kommt es nun, daß sich der preußische Unteroffizier seinem Offizier, auch dem jüngsten Lieutenant, willig unterordnet? Nicht weil der Offizier mehr gelernt hat: das Wissen des durchschnittlichen Offiziers könnte sich der durchschnittliche Unteroffizier mit Leichtigkeit aneignen; auch nicht weil zum Offiziersrang nur hoch begabte zugelassen würden und der Unteroffiziersstand die Versorgungsanstalt für weniger begabte wäre. Sondern weil die Offiziere dem herrschenden Stande entstammen und sich zum Gebieten berufen fühlen, die Unteroffiziere dem dienenden, der die zugemutete lebenslängliche Unterordnung als eine Einrichtung der Natur und als etwas selbstverständliches hinnimmt. Deshalb sind die Märker und Pommern die idealen Offiziere und Gemeinen, weil sich beide von Kindesbeinen an als gnädiger Junker und Knecht gegenüber gestanden haben. Müssen die altpreußischen Rittergutsbesitzer einmal von ihren Herrensitzen herunter, verschwinden ihre Familien im Volke, nehmen jüdische Kommerzienräte ihre Stellen ein, in deren Sprößlingen der Bauernsohn nun und nimmermehr seine natürlichen Vorgesetzten anerkennen wird, dann bricht dieser wunderbare Bau zusammen. Und schon wenn im Unteroffizierstande die Industriearbeiter, im Offizierstande die Söhne der christlichen Bourgeoisie die Oberhand gewännen, wäre damit seine Festigkeit erschüttert, denn der städtische Arbeiter, der, wenn auch nicht geradezu Sozialdemokrat, so doch unbedingt »jebildet« ist, steht dem Fabrikbesitzersohne bedeutend kritischer gegenüber als der Bauernknecht dem Junker. Die Festigkeit der preußischen Armee beruht also darauf, daß sie, im Widerspruch zum Liberalismus und zu den Ideen von 1813, ein ständisch gegliederter Körper ist.

Entgegengesetzte Strömungen und der Widerspruch zwischen Idee und Wirklichkeit bedrohen an sich einen Staat so wenig, daß sie vielmehr ein notwendiges Element des politischen Lebens bilden. Erst wenn die dadurch erzeugten Spannungen einen gewissen Grad erreichen, sprengen sie den Staat, anstatt ihm Leben und Bewegung zu verleihen. Wenn sich ein Zehntel des Volks in einer der Idee und Verfassung des Staates widersprechenden Lage befindet, so ist das ein Antrieb zu heilsamen Veränderungen, beträgt aber die Zahl zwei Drittel, so bedeutet das entweder die Revolution oder die Verkümmerung. Auf zwei Drittel können wir im Deutschen Reiche die Zahl dieser Existenzen schätzen. Noch wählen sie bei weitem nicht alle sozialdemokratisch. Die meisten Armen unter den Katholiken hoffen durchs Zentrum Erlösung von ihren Nöten zu erlange» oder dulden wohl auch in religiöser Ergebung ohne Anspruch auf Besserung. Von den Protestanten haben solche, die in der Judenschaft die Ursache ihrer Leiden entdeckt zu haben glauben, den Konservativen, und andre, die noch immer die Pfaffen und Junker für Tyrannen und Volksverderber halten, den »Freisinnigen« die Vertretung ihrer Interessen anvertraut. Die Enttäuschung kann bei keiner der drei Gruppen ausbleiben. Und außerdem werden im Laufe der nächsten dreißig Jahre aus den drei Vierteln vier Fünftel, aus den vier Fünfteln fünf Sechstel werden. Denn da die ganze anbaufähige Fläche unsers Vaterlandes vollständig verteilt, der Hypothekenbesitz aber bereits dermaßen angeschwollen ist, daß der Hypothekengläubiger im Begriff steht, den Grundbesitzer von seinem Gute hinunterzustoßen, so kann aller weitere Volkszuwachs nur proletarisch ausfallen. Soll demnach weder ein Zusammenstoß der beiden entgegengesetzten Strömungen unserm Staatswesen, noch Verkümmerung im Elende der Herrlichkeit unseres Volks ein schlimmes Ende bereiten, so muß ein Ausweg gefunden werden.


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