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Unsere Junggesellenwohnung hatte durch den Tod der Mutter meines Freundes und durch das kurz darauf erlebte Ableben unserer treuen Köchin Mathilde einen völlig veränderten Zuschnitt erhalten. Der beständige Wechsel unserer Hausangestellten, die sich niemals mit einer so ungeregelten Lebensführung, wie sie uns nun einmal aufgezwungen war, auf die Dauer abfinden konnten, bestimmte meinen Freund schließlich dazu, sich an unsere dankbare Verehrerin Frau Doktor Gerda Mallison, geborene Gerd, zu wenden, die meinen Lesern durch den »Dieb, der nie etwas stahl« in bester Erinnerung sein dürfte.
Auf diese Weise kamen die Frau verwitwete Schiffskapitän Emma Wenzel und deren Enkelin Ingeborg Menzel in unser Haus. Der erste Eindruck, den wir von der hageren, grauhaarigen und verschlossenen Frau Emma erhielten, war nicht gerade ermutigend. Die dürre Dame erklärte uns bei der entscheidenden Unterredung mit verbitterter Offenheit, ihr Mann habe sich das Leben genommen, nachdem sein Dampfer bei Nacht und Nebel im Kanal auf vorgelagerte Klippen aufgelaufen und ihm wegen angeblicher Nachlässigkeit im Dienst das Patent und die Pension entzogen worden seien. Ihr einziger Sohn wieder habe die Schande nicht ertragen können, sei in die Fremde gezogen und in Mexiko verschollen. Er war nach kurzer Ehe ohnedies durch die Geburt Ingeborgs Witwer geworden und hatte auch diesen Schicksalsschlag nie verwinden können. Das alles lag nun etwa achtzehn Jahre zurück, und seit siebzehn Jahren hatte man von dem Steuermann Fritz Wenzel nichts gehört. Frau Wenzel war damals von Hamburg nach Berlin gezogen, hatte eine kleine Plättstube eröffnet, sich mit ihrer Enkelin bisher schlecht und recht über Wasser gehalten und es sogar fertig gebracht, Ingeborg eine gute Erziehung zuteil werden lassen. Freilich hatte Ingeborg nachher, um eine Arbeitskraft zu sparen, in der Plätterei mithelfen müssen.
Was wir auf diese Weise über die beiden Frauen erfuhren, hätte meinen Freund auch ohne Inges flehende Blicke dazu bestimmt, dieser energischen Lebenskämpferin Emma Wenzel als Hausdame, Köchin und Empfangsdame unser Heim und unser leibliches Wohl anzuvertrauen.
Am 1. September hielten unsere neuen Hausgenossen ihren Einzug, wurden droben im ersten Stock untergebracht, führten eine Riesenkiste mit Andenken an Kapitän Jochem Wenzels Seereisen mit sich, und bereits am nächsten Tage hatten Harald und ich einen leicht verdorbenen Magen, da das Abendessen – Aal grün – uns so vortrefflich mundete, daß wir etwas zu leichtfertig in der Berechnung der zuträglichen Menge Aal grün gewesen waren. Dafür gab es dann am 2. September nur Salat und ein Spiegelei zum Mittagessen, als allerschönste Zukost aber Inges übermütige Blauaugen und vergnügtes Geplapper.
Drei Tage darauf hieß Inge bei uns nur noch »Sonnenscheinchen« und Frau Emma (ganz insgeheim) ... »der Nachtschatten«. – Sogar Harst hatte vor der dürren Dame Respekt bekommen. Was sie anordnete. hatte Hand und Fuß, und was sie kochte, war für meine Anlage zum Bäuchlein fast verhängnisvoll.
So kam denn der mir unvergeßliche zwölfte September heran. Sonnenscheinchens lustiges Geträller erklang bereits am hellen Morgen, und als Großmutter Emma beim gemeinsamen Frühstück warnend betonte, daß all die Vöglein, die schon so früh sängen, abends die Katze hole, nahmen wir auch diesen Weisheitsspruch des Nachtschattens genau wie ihren übrigen Vorrat an ähnlichen volkstümlichen »Dämpfern« nur als den üblichen Ausfluß ihrer durchaus berechtigten schwerblütigen Lebensauffassung hin.
Zu jener Zeit herrschte bei uns Geschäftsflaute. Harst gab sich mit chemischen Experimenten ab, und ich sah meinen Vorrat an Manuskripten daraufhin durch, was sich am besten zur Veröffentlichung eignete.
Vormittags um zehn läutete es an der Vorgartentür. Inge säuberte gerade die Spätrosen von Blattläusen, ihr blondes Haar mit dem gegen alle Mode zum Kranz geschlungenen dicken Zopf und den kecken Stirnlöckchen leuchtete im Sonnenschein, und die große Wirtschaftsschürze, die sich fest um ihre gertenschlanke Gestalt schmiegte, verlieh ihr etwas so hausfraulich-würdiges, daß der Fremde – ich hörte es vom offenen Fenster aus – sie höflich fragte, ob sie vielleicht Frau Harst sei.
Inge lachte silberhell ...
»Nein ... Bewahre ...! Ich bin hier nur das Mädchen für alles, bin Sekretärin. Hausangestellte, Gärtnerin, Empfangsfräulein ... – Bitte, treten Sie näher ...«
Der Fremde stellte sich uns als Ingenieur Holger Jörnsen vor. Er war ein sonngebräunter Mann schwer bestimmbaren Alters, bartlos, hager, sehr bedächtig in Sprache und Bewegungen und äußerst sorgfältig gekleidet. Ein kaum bemerkbares Faltennetz um Augen und Mundwinkel sowie die leicht angegrauten Schläfen bei sonst sehr vollem dunklen Scheitel ließen ebenfalls keinen Rückschluß auf sein Alter zu. Sein Deutsch war einwandfrei, wenn auch etwas gesucht in der Ausdrucksweise, am hervorstechendsten aber waren die fast wimperlosen Augen, die in ihrer Starrheit des Blickes an schlechte Glasaugen einer Puppe erinnerten.
»Ein etwas eigentümliches Anliegen führt mich zu Ihnen, Herr Harst«, erklärte er, nachdem er kurz erwähnt hatte, daß er den größten Teil seines Lebens im Auslande zugebracht habe. »Es handelt sich nicht um einen Kriminalfall, sondern nur um sehr sonderbare Beobachtungen meinerseits, für die ich keine Deutung zu finden vermag. Selbstverständlich will ich Ihre gewiß kostbare Zeit nicht ohne entsprechendes Honorar in Anspruch nehmen, zumal die Beobachtung der betreffenden Personen Ihnen viel Mühe bereiten dürfte. Die Leute sind überaus vorsichtig und mißtrauisch, und wenn ich es mir nicht leisten könnte, für einen ... sagen wir ... zwecklosen Zeitvertreib etwas zu opfern, wäre ich nicht zu Ihnen gekommen.«
Mein Freund, der langatmige Einleitungen nicht liebt, kennt ein probates Mittel, derartige Klienten, die ihren Bericht so etwa bei der Arche Noah und der großen Sintflut beginnen, zu strafferer Kürze aufzumuntern? Er gähnt diskret!
Dies tat er auch jetzt. Herr Holger Jörnsen hüstelte, schwieg und platzte dann heraus: »Um Sie nicht zu langweilen, Herr Harst, – folgendes erlebte ich vorgestern und gestern. Ich wohne, wenn ich nach Berlin komme, stets bei meiner Schwester, die in der Inselgasse in Berlin SO dicht an der Spree die erste Etage eines älteren Hauses mit Aussicht nach dem Wasser seit vielen Jahren innehat. Vorgestern abend zog bekanntlich ein sehr schweres Gewitter über den Südosten Berlins hinweg. Ich stand am Fenster, und beim Aufflammen eines Blitzes bemerkte ich aus dem Flusse ein Boot mit drei Männern, die gerade einen gefüllten Gegenstand – es kann ein gefüllter Sack gewesen sein – versenkten. Der nächste Blitz, der unmittelbar folgte, zeigte mir dasselbe Boot und ein zweites mit zwei Insassen, die offensichtlich auf die drei anderen Leute Jagd machten, wobei sie nach dem Kai hin mit einer roten Laterne Signale gaben. Der dann plötzlich einsetzende Regen entzog mir die Weiterentwicklung der Geschehnisse, und erst gestern abend, wieder gegen elf Uhr, beobachtete ich etwa an derselben Stelle, wo die drei Männer den Sack oder was es sonst war ins Wasser geworfen hatten, wiederum ein Boot mit drei Leuten, von denen der eine ruderte, während die anderen zweifellos mit einer sogenannten Schleppharke, wie sie von den Bernsteinfischern an der Samlandküste benutzt wird, den Flußgrund absuchen. Es regnete gestern leicht, und infolge des Temperatursturzes lagerten auch dünne Nebel über der Spree, so daß ich Genaueres nicht unterscheiden konnte. Jedenfalls stellten die Leute nach einer halben Stunde ihre Bemühungen ein und landeten am Bollwerk dicht vor meinem Fenster. Leider konnte ich nicht feststellen, was der, der nun ausstieg, auf dem Rücken trug. Nur das sah ich genau, er betrat das Nebenhaus Nr. 2, ein ganz altes schmales Gebäude, in dem sich im Erdgeschoß eine kleine Plätterei befindet. Heute früh erfuhr ich von meiner Schwester, daß diese Plättstube unlängst in andere Hände übergegangen ist und daß die Vorbesitzerin sehr viel mit Seeleuten zu tun gehabt haben soll, – den Gerüchten nach ist ihr Sohn verschollen und sie suchte durch Bekannte oder Verwandte etwas über dessen Verbleib zu ermitteln. Da ich nun den Verdacht hege, daß die beiden feindlichen Parteien in den beiden Booten etwas Gesetzwidriges begangen haben könnten, möchte ich diese Dinge restlos aufklären lassen. Ich bin durch Zufall Zeuge des Versenkens des großen Gegenstandes im Flusse und gestern Zeuge der Anstrengungen der drei Männer gewesen, den Gegenstand wieder herauszuholen, und ich halte mich für verpflichtet, diese Geschehnisse durch Sie und Ihren Freund nachzuprüfen, obwohl ich wie gesagt keinerlei festen Anhaltspunkt dafür habe, daß die drei Leute etwa eine Leiche verschwinden lassen wollten.«
Nun war er endlich mit seinem Bericht fertig.
Er blickte Harst noch starrer und noch erwartungsvoller an und schien bestimmt damit zu rechnen, daß seine Erzählung auf uns Eindruck gemacht haben müßte.
Ich selbst wußte nicht recht, was ich davon halten sollte.
Harsts vollkommen gleichgültige Miene konnte mich freilich nicht täuschen. Ich kenne ihn.
Herr Jörnsen kennt ihn weniger.
Daher fragte er, als mein Freund stumm wie ein Fisch blieb und die matten Fliegen beobachtete, die um den Kronleuchter summten: »Halten Sie es für möglich, daß es sich um eine Leiche in einem Sack und um ein Verbrechen handelt, Herr Harst?«
Harst senkte den Kopf und schaute den Ingenieur zerstreut an.
»Es ist ein Verbrechen, ich weiß es ...«, erklärte er leise, aber sehr bestimmt.
Jörnsen konnte eine Bewegung höchster Ueberraschung nicht unterdrücken. Er packte mit den Händen die Ecken der Lehne seines weichen Klubsessels, preßte mit seinen langen, muskulösen Fingern das Leder zu zwei dicken Fallen zusammen und rief kopfschüttelnd aus:
»Wie, Sie wissen es ...?! Woher denn?!«
»Aus dem Polizeibericht ...«
Jörnsen behielt den Mund offen.
»Polizei ...bericht?!«, wiederholte er verständnislos.
»Ja! Ich empfehle Ihnen, die heutige Morgenausgabe der Berliner Börsenwarte zu lesen. Das Blatt ist außerordentlich vielseitig. Um die Abonnenten für die entsetzliche Oede der Börsenmeldungen zu entschädigen, bringt es im Unterhaltungsteil in ganz witziger Form oder als Kurzgeschichten Polizeiberichte über alle möglichen Vorkommnisse. Heute früh finden Sie in der Börsenwarte die Meldung, daß die Kriminalpolizei in aller Stille einen Sack mit einer männlichen Leiche aus der Spree geborgen hat. Die Zeitung berichtet weiter, daß kurz vor Redaktionsschluß noch die Nachricht einlief, der Tote sei aus der Leichenhalle eines hiesigen Friedhofes gestohlen und der Sarg mit Steinen gefüllt worden. Der Verdacht liegt nahe, daß es sich um gewerbsmäßige Leichendiebe handelte, die mit Medizinern und Anatomiedienern in Verbindung stehen, so meint das Blatt. Daß die Diebe sich dieses Toten wieder entledigten, mag seinen Grund darin haben, daß der Einbruch in die Friedhofskapelle so frühzeitig entdeckt wurde. Ich kann Ihnen also nur den Rat geben, Herr Jörnsen, Ihre Beobachtungen der Polizei mitzuteilen. Für mich hat die Angelegenheit wirklich keinerlei Interesse.«
Der Ingenieur nickte beipflichtend. »Ich werde Ihren Rat befolgen und Ihnen Nachricht zukommen lassen, was die Kriminalpolizei unternommen hat.«
»Sehr liebenswürdig ... Bemühen Sie sich jedoch nicht zwecklos. Die Zeitungen werden darüber ohnedies Meldungen bringen, und mir ist die Sache auch gänzlich gleichgültig.«
Herr Holger Jörnsen empfahl sich mit merklicher Zurückhaltung. Meines Freundes scheinbare Uninteressiertheit hatte ihn verstimmt und von seinem Standpunkt aus enttäuscht.