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Im Hotel wurde Karl gleich in eine Art Büro geführt, in welchem die Oberköchin, ein Vormerkbuch in der Hand, einer jungen Schreibmaschinistin einen Brief in die Schreibmaschine diktierte. Das äußerst präzise Diktieren, der beherrschte und elastische Tastenschlag jagten an dem nur hie und da merklichen Ticken der Wanduhr vorüber, die schon fast halb zwölf zeigte. »So!« sagte die Oberköchin, klappte das Vormerkbuch zu, die Schreibmaschinistin sprang auf und stülpte den Holzdeckel über die Maschine, ohne bei dieser mechanischen Arbeit die Augen von Karl zu lassen. Sie sah noch wie ein Schulmädchen aus, ihre Schürze war sehr sorgfältig gebügelt, auf den Achseln zum Beispiel gewellt, die Frisur recht hoch, und man staunte ein wenig, wenn man nach diesen Einzelheiten ihr ernstes Gesicht sah. Nach Verbeugungen, zuerst gegen die Oberköchin, dann gegen Karl, entfernte sie sich, und Karl sah unwillkürlich die Oberköchin mit einem fragenden Blicke an.
»Das ist aber schön, daß Sie nun doch gekommen sind«, sagte die Oberköchin. »Und Ihre Kameraden?«
»Ich habe sie nicht mitgenommen«, sagte Karl.
»Die marschieren wohl sehr früh aus«, sagte die Oberköchin, wie um sich die Sache zu erklären.
›Muß sie denn nicht denken, daß ich auch mitmarschiere?‹ fragte sich Karl und sagte deshalb, um jeden Zweifel auszuschließen: »Wir sind in Unfrieden auseinandergegangen.«
Die Oberköchin schien das als eine angenehme Nachricht aufzufassen. »Dann sind Sie also frei?« fragte sie.
»Ja, frei bin ich«, sagte Karl, und nichts schien ihm wertloser.
»Hören Sie, möchten Sie nicht hier im Hotel eine Stelle annehmen?« fragte die Oberköchin.
»Sehr gern«, sagte Karl, »ich habe aber entsetzlich wenig Kenntnisse. Ich kann zum Beispiel nicht einmal auf der Schreibmaschine schreiben.«
»Das ist nicht das Wichtigste«, sagte die Oberköchin. »Sie bekämen eben vorläufig nur eine ganz kleine Anstellung und müßten dann zusehen, durch Fleiß und Aufmerksamkeit sich hinaufzubringen. Jedenfalls aber glaube ich, daß es für Sie besser und passender wäre, sich irgendwo festzusetzen, statt so durch die Welt zu bummeln. Dazu scheinen Sie mir nicht gemacht.«
›Das würde alles auch der Onkel unterschreiben‹, sagte sich Karl und nickte zustimmend. Gleichzeitig erinnerte er sich, daß er, um den man so besorgt war, sich noch gar nicht vorgestellt hatte. »Entschuldigen Sie, bitte«, sagte er, »daß ich mich noch gar nicht vorgestellt habe, ich heiße Karl Roßmann.«
»Sie sind ein Deutscher, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Karl, »Ich bin noch nicht lange in Amerika.«
»Woher sind Sie denn?«
»Aus Prag in Böhmen«, sagte Karl.
»Sehen Sie einmal an«, rief die Oberköchin in einem stark englisch betonten Deutsch und hob fast die Arme, »dann sind wir ja Landsleute, ich heiße Grete Mitzelbach und bin aus Wien. Und Prag kenne ich ja ganz ausgezeichnet, ich war ja ein halbes Jahr in der Goldenen Gans auf dem Wenzelsplatz angestellt. Aber denken Sie nur einmal.«
»Wann ist das gewesen?« fragte Karl.
»Das ist schon viele, viele Jahre her.«
»Die alte Goldene Gans«, sagte Karl, »ist vor zwei Jahren niedergerissen worden.«
»Ja, freilich«, sagte die Oberköchin, ganz in Gedanken an vergangene Zeiten.
Mit einem Male aber wieder lebhaft werdend, rief sie und faßte dabei Karls Hände: »Jetzt, da es sich herausgestellt hat, daß Sie mein Landsmann sind, dürfen Sie um keinen Preis von hier fort. Das dürfen Sie mir nicht antun. Hätten Sie zum Beispiel Lust, Liftjunge zu werden? Sagen Sie nur ja und Sie sind es. Wenn Sie ein bißchen herumgekommen sind, werden Sie wissen, daß es nicht besonders leicht ist, solche Stellen zu bekommen, denn sie sind der beste Anfang, den man sich denken kann. Sie kommen mit allen Gästen zusammen, man sieht Sie immer, man gibt Ihnen kleine Aufträge; kurz, Sie haben jeden Tag die Möglichkeit, zu etwas Besserem zu gelangen. Für alles übrige lassen Sie mich sorgen.«
»Liftjunge möchte ich ganz gerne sein,« sagte Karl nach einer kleinen Pause. Es wäre ein großer Unsinn gewesen, gegen die Stelle eines Liftjungen mit Rücksicht auf seine fünf Gymnasialklassen Bedenken zu haben. Eher wäre hier in Amerika Grund gewesen, sich der fünf Gymnasialklassen zu schämen. Übrigens hatten die Liftjungen Karl immer gefallen, sie waren ihm wie der Schmuck des Hotels erschienen.
»Sind nicht Sprachkenntnisse erforderlich?« fragte er noch.
»Sie sprechen Deutsch und ein schönes Englisch, das genügt vollkommen.«
»Englisch habe ich erst in Amerika in zweieinhalb Monaten erlernt«, sagte Karl, er glaubte, seinen einzigen Vorzug nicht verschweigen zu dürfen. »Das spricht schon genügend für Sie«, sagte die Oberköchin. »Wenn ich daran denke, welche Schwierigkeiten mir das Englisch gemacht hat. Das ist allerdings schon seine dreißig Jahre her. Gerade gestern habe ich davon gesprochen. Gestern war nämlich mein fünfzigster Geburtstag.« Und sie suchte lächelnd den Eindruck von Karls Mienen abzulesen, den die Würde dieses Alters auf ihn machte.
»Dann wünsche ich Ihnen viel Glück«, sagte Karl.
»Das kann man immer brauchen«, sagte sie, schüttelte Karl die Hand und wurde wieder halb traurig über diese alte Redensart aus der Heimat, die ihr da im Deutschsprechen eingefallen war.
»Aber ich halte Sie auf «, rief sie dann. »Und Sie sind gewiß sehr müde, und wir können auch alles viel besser bei Tag besprechen. Die Freude, einen Landsmann getroffen zu haben, macht ganz gedankenlos. Kommen Sie, ich werde Sie in Ihr Zimmer führen.«
»Ich habe noch eine Bitte, Frau Oberköchin«, sagte Karl im Anblick des Telephonkastens, der auf dem Tisch stand, »es ist möglich, daß mir morgen, vielleicht sehr früh, meine früheren Kameraden eine Photographie bringen, die ich dringend brauche. Wären Sie so freundlich und würden Sie dem Portier telephonieren, er möchte die Leute zu mir schicken oder mich holen lassen?«
»Gewiß«, sagte die Oberköchin, »aber würde es nicht genügen, wenn er ihnen die Photographie abnimmt? Was ist es denn für eine Photographie, wenn man fragen darf?«
»Es ist die Photographie meiner Eltern«, sagte Karl. »Nein, ich muß mit den Leuten selbst sprechen.« Die Oberköchin sagte nichts weiter und gab telephonisch in die Portierloge den entsprechenden Befehl, wobei sie 536 als Zimmernummer Karls nannte.
Sie gingen dann durch eine der Eingangstür entgegengesetzte Tür auf einen kleinen Gang hinaus, wo an dem Geländer eines Aufzuges ein kleiner Liftjunge schlafend lehnte. »Wir können uns selbst bedienen«, sagte die Oberköchin leise und ließ Karl in den Aufzug eintreten. »Eine Arbeitszeit von zehn bis zwölf Stunden ist eben ein wenig zuviel für einen solchen Jungen«, sagte sie dann, während sie aufwärts fuhren. »Aber es ist eigentümlich in Amerika. Da ist dieser kleine Junge zum Beispiel, er ist auch erst vor einem halben Jahre mit seinen Eltern hier angekommen, er ist ein Italiener. Jetzt sieht er aus, als könne er die Arbeit unmöglich aushalten, hat schon kein Fleisch im Gesicht, schläft im Dienst ein, obwohl er von Natur sehr bereitwillig ist – aber er muß nur noch ein halbes Jahr hier oder irgendwo anders in Amerika dienen und hält alles mit Leichtigkeit aus, und in fünf Jahren wird er ein starker Mann sein. Von solchen Beispielen könnte ich Ihnen stundenlang erzählen. Dabei denke ich gar nicht an Sie, denn Sie sind ein kräftiger Junge; Sie sind siebzehn Jahre alt, nicht?«
»Ich werde nächstens Monat sechzehn«, antwortete Karl.
»Sogar erst sechzehn!« sagte die Oberköchin. »Also nur Mut!«
Oben führte sie Karl in ein Zimmer, das zwar schon als Dachzimmer eine schiefe Wand hatte, im übrigen aber bei einer Beleuchtung durch zwei Glühbirnen sich sehr wohnlich zeigte.
»Erschrecken Sie nicht über die Einrichtung«, sagte die Oberköchin, »es ist nämlich kein Hotelzimmer, sondern ein Zimmer meiner Wohnung, die aus drei Zimmern besteht, so daß Sie mich nicht im geringsten stören. Ich sperre die Verbindungstüre ab, so daß Sie ganz ungeniert bleiben. Morgen, als neuer Hotelangestellter, werden Sie natürlich Ihr eigenes Zimmerchen bekommen. Wären Sie mit Ihren Kameraden gekommen, dann hätte ich Ihnen in der gemeinsamen Schlafkammer der Hausdiener aufbetten lassen, aber da Sie allein sind, denke ich, daß es Ihnen hier besser passen wird, wenn Sie auch nur auf einem Sofa schlafen müssen. Und nun schlafen Sie wohl, damit Sie sich für den Dienst kräftigen. Er wird morgen noch nicht zu anstrengend sein.«
»Ich danke Ihnen vielmals für Ihre Freundlichkeit.«
»Warten Sie«, sagte sie, beim Ausgang stehenbleibend, »da wären Sie aber bald geweckt worden.« Und sie ging zu der einen Seitentür des Zimmers, klopfte und rief: »Therese!«
»Bitte, Frau Oberköchin«, meldete sich die Stimme der kleinen Schreibmaschinistin.
»Wenn du mich früh wecken gehst, so mußt du über den Gang gehen, hier im Zimmer schläft ein Gast. Er ist todmüde.« Sie lächelte Karl zu, während sie dies sagte. »Hast du verstanden?«
»Ja, Frau Oberköchin.«
»Also dann gute Nacht!«
»Gute Nacht wünsch ich.«
»Ich schlafe nämlich«, sagte die Oberköchin zur Erklärung, »seit einigen Jahren ungemein schlecht. Jetzt kann ich ja mit meiner Stellung zufrieden sein und brauche eigentlich keine Sorgen zu haben. Aber es müssen die Folgen meiner früheren Sorgen sein, die mir diese Schlaflosigkeit verursachen. Wenn ich um drei Uhr früh einschlafe, kann ich froh sein. Da ich aber schon um fünf, spätestens um halb sechs wieder auf dem Platze sein muß, muß ich mich wecken lassen, und zwar besonders vorsichtig, damit ich nicht noch nervöser werde, als ich es schon bin. Und da weckt mich eben die Therese. Aber jetzt wissen Sie wirklich schon alles, und ich komme gar nicht weg. Gute Nacht!« Und trotz ihrer Schwere huschte sie fast aus dem Zimmer.
Karl freute sich auf den Schlaf, denn der Tag hatte ihn sehr hergenommen. Und behaglichere Umgebung konnte er für einen langen, ungestörten Schlaf gar nicht wünschen. Das Zimmer war zwar nicht zum Schlafzimmer bestimmt, es war eher ein Wohnzimmer, oder, richtiger, ein Repräsentationszimmer der Oberköchin, und ein Waschtisch war ihm zuliebe eigens für diesen Abend hergebracht worden, aber dennoch fühlte sich Karl nicht als Eindringling, sondern nur desto besser versorgt. Sein Koffer war richtig her gestellt und wohl schon lange nicht in größerer Sicherheit gewesen. Auf einem niedrigen Schrank mit Schiebefächern, über den eine großmaschige wollene Decke gezogen war, standen verschiedene Photographien im Rahmen und unter Glas; bei der Besichtigung des Zimmers blieb Karl da stehen und sah sie an. Es waren meist alte Photographien und stellten in der Mehrzahl Mädchen dar, die, in unmodernen, unbehaglichen Kleidern, mit locker aufgesetzten, kleinen, aber hochgehenden Hüten, die rechte Hand auf einen Schirm gestützt, dem Beschauer zugewendet waren und doch mit den Blicken auswichen. Unter den Herrenbildnissen fiel Karl besonders das eines jungen Soldaten auf, der das Käppi auf ein Tischchen gelegt hatte, stramm mit seinem wilden schwarzen Haar dastand und voll von einem stolzen, aber unterdrückten Lachen war. Die Knöpfe seiner Uniform waren auf der Photographie nachträglich vergoldet worden. Alle diese Photographien stammten wohl noch aus Europa, man hätte dies auf der Rückseite wahrscheinlich auch genau ablesen können, aber Karl wollte sie nicht in die Hand nehmen. So wie diese Photographien hier standen, so hätte er auch die Photographie seiner Eltern in seinem künftigen Zimmer aufstellen mögen.