Adam Karrillon
Bauerngeselchtes
Adam Karrillon

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Gute Nerven

David ging dem Goliath mit einem Stecken entgegen; Herkules mit leeren Fäusten dem erymanthischen Eber. Prometheus bot die Leber dem Schnabel und den Fängen des Adlers dar. Respekt fordere ich von Euch, ihr Schwächlinge von heute, vor den Nerven, die solches in grauer Vorzeit zu leisten vermochten.

Daß wir uns nicht überstürzen und der Gegenwart unrecht tun, indem wir die Vergangenheit loben? Paßt auf, ich will euch einen zeigen, der seine Hand so gut ins Feuer gelegt hätte wie Mucius Scaevola, vorausgesetzt, daß Vorderhand und Hinterhand in bezug auf Sensibilität gleichwertige Objekte sind.

Der erste Mittwoch – einerlei, welchen Monats – war wieder einmal da. Doktor Ebenich mußte zur Armenratssitzung aufs Gemeindehaus. Er schlenderte langsam die Straße entlang und begegnete einer Steinfuhre, die zu irgendeinem Neubau Tür- 270 und Fenstergewänder herbeibrachte. Der Fuhrmann grüßte den Doktor und bog vor seinen Augen, das Sattelpferd am Kopfe führend, in ein gepflastertes Seitengäßchen ein, das mit großer Steigung den Berg hinaufführte. ›Es müssen gute Pferde sein, wenn sie die schwere Last da hinaufziehen wollen,‹ dachte Ebenich und überschritt hinter der Langwied die Straße. Ein Metzger zerrte ein Kalb nach dem Schlachthaus. Hunde balgten sich vor des Doktors Füßen, und das Steinfuhrwerk war vergessen.

Im Rathaussaale saßen um den grünen Tisch fünf bis sechs Armenpfleger. Da der Bürgermeister noch nicht zur Stelle war und diese Graubärte Vernünftigeres nicht zu treiben wußten, so schnupften sie aus einer großen Birkenholzdose.

»Wo er nur heute bleiben mag?« bemerkte einer von den Schnupfern, »schon ist es ein Viertel nach drei Uhr, und er ist nicht auf seinem Platze.«

Die Tür ging auf, und der Bürgermeister trat in den Saal. Die Haare standen ihm zu Berg, und er sah erschrocken aus, gerade so, als wenn ihm ein Kassenrevisor begegnet wäre, und doch, dem war nicht so.

»Die Herren müssen die Verspätung entschuldigen,« stieß das Gemeindeoberhaupt aufgeregt hervor, »ich bin soeben der Augenzeuge eines großen Unglücks geworden. Stellen Sie sich vor, die Pferde einer 271 Steinfuhre kamen in der steilen Grabengasse ins Rückwärtshufen. Der Fuhrmann lief nach dem Hinterwagen, um die Bremse anzuziehen. Da glitt er aus, und ehe noch ein Mensch zu seiner Rettung auch nur einen Finger regen konnte, gingen alle vier Räder des schwerbeladenen Wagens über den Körper des Ärmsten.«

»Und die haben ihm das Wams und die Hosen übel zugerichtet,« bemerkte einer der Pfleger.

»Zerquetscht, zerdrückt, zermalmt haben sie, so wahr mir Gott helfe, den ganzen Kerl. Mit eigenen Ohren hörte ich jeden seiner Knochen krachen. Es klang, als wenn man überm Knie einen Reisigbesen zerbricht,« erklärte der Bürgermeister.

»Da wird er wohl gehörig geschrieen haben.«

»Geschrien? Keinen Laut hat er von sich gegeben. Er war, als man ihn unter den Pferden hervorzog, so stumm wie ein gekochter Stockfisch.«

»Da war er gar am Ende tot?« fragte einer der Ratsverständigen. »Hat man ihm denn nicht ein wenig Fruchtbranntwein eingeschüttet? Maikäfer und Fuhrleute werden wieder lebendig, wenn sie den Duft des Alkohols unter der Nase spüren.«

»Umsonst waren Baldrian und Hoffmannstropfen,« versicherte das Stadtoberhaupt. »Vier Männer haben ihn aufgepackt und in die Leichenkammer des Spitals getragen.«

272 »Wär's nicht am Ende doch angebracht, wenn ich mich nach dem Krankenhause aufmachte, um nach dem Verunglückten zu sehen?« bot Doktor Ebenich seine Dienste an.

»Ganz überflüssig. Er ist schon kalt. Weder Blutegel noch Schröpfköpfe ziehen aus seinem Körper auch nur einen Tropfen warmen Blutes heraus. Bleiben Sie lieber hier bei uns, Herr Doktor, und lassen Sie uns beraten, was aus der Frau und den Kindern des Verunglückten werden soll, denn die fallen nun doch der Gemeinde zur Last.«

So sprach der Bürgermeister, und die Armenratssitzung nahm ihren Anfang und fand ihr Ende, ganz wie alle Monate, nur daß ein Fuhrmann weniger auf Erden war.

Zwei Tage später, gegen vier Uhr des Nachmittags, ritt Doktor Ebenich durch den Buchenwald über dem Städtchen. Da umzitterte ihn in der Waldesstille ein trauriges Glockengeläute. ›Woher diese Töne zu so ungewöhnlicher Stunde?‹ fragte sich der Arzt, ›sollte es einem eingefallen sein, ohne meine Beihilfe zu sterben? Welch ein Vergehen gegen die hergebrachte Ordnung!‹ Er schüttelte den Kopf. Das war nicht denkbar.

Plötzlich kam ihm der tote Fuhrmann in den Sinn, und mild und feierlich gestimmt, wie er nun einmal war, hob er die Hände mit den Zügeln hoch und betete leise sein: »Herr, gehe nicht ins 273 Gericht mit ihm. Denn wenn du willst der Sünden gedenken, wer von allen Fuhrleuten wird bestehen mögen.«

Zehn Tage war der Ärmste begraben, und verschmerzt war er schon annähernd zu zwei Drittteilen, als in der Sprechstunde des Doktors Ebenich ein Hinkender vor den Schreibtisch trat. Er hatte in der linken Hand einen Stock und stopfte mit der rechten eine Tabakspfeife in seine Rocktasche hinein. Dann putzte er sich den Mund ab, um dem Arzt reinlich antworten zu können, falls dieser eine Frage an ihn richten würde. Im übrigen bewahrte er eine zuwartende Haltung.

Ebenichs Augen flogen orientierend über den Kranken hin und blieben schließlich an dessen Beinen hängen. Diese hatten eine geschwungene Form, so ungefähr wie die Kufen, auf welche man die Schaukelpferde zu leimen pflegt. Aus dieser Deformität zupfte nun der erfahrene Praktiker, wie die Spinnerin aus dem Rocken, den Stoff zu der folgenden Unterhaltung.

»Ihr kommt wohl schwerlich von über Land, denn auf so schlechtem Untergestell läuft man nicht weit?«

»Vom Bader komm' ich, der mir ein paar Zähne gezogen hat, weil er meint, meine Kreuzschmerzen könnten von einem hohlen Zahn herrühren. Zwei Zähne bin ich los und achtzehn Kreuzer Bargeld 274 dazu, aber meine Kreuzschmerzen, die hab' ich halt alleweil noch.«

»Und wie lange habt Ihr denn nun eigentlich die Schmerzen, von denen Euch der Bader mit seiner Zange befreien sollte?«

»Wie lang ich die hab'? Das mag so seit dem Heumachen sein, so um Lorenzi herum, drei Wochen vor Mariä Heimsuchung. Genau kann ich dies nicht sagen. Wer jeden Tag fremder Leute Befehle ausführen muß, hat wenig Zeit, auf das Gebrumm der eigenen Knochen zu achten.«

»Seit Lorenzi ungefähr? Nun, dann habt Ihr ziemlich lange gebraucht, bis Ihr auf dem Umweg über die Quacksalber den Weg zum Arzte gefunden habt.«

»Doch nicht. Ich bin gleich zu der Ammenbas gegangen. Wißt Ihr, mein Vater hat's in seinen alten Tagen akkurat so im Kreuz gehabt wie ich, und dem hat die Bas mit Spitzwegerichtee geholfen. Und wenn so was einmal gut eingeschlagen ist, da gewinnt man Vertrauen zu den Leuten und sucht – nichts für ungut, Herr Doktor – in der Not Hilfe bei ihnen, schon auch deshalb, weil sie so billig sind.«

»Schon recht, schon recht, guter Mann, die Kunst der Ammenbase in Ehren, aber sagt, warum habt Ihr Euch mit Eurem Leiden nicht an den Hexenschuster gewendet, der in der Gegend als Heilkünstler großes Ansehen genießt?«

275 »Soll ich zum Schmiedchen gehen, wenn der Schmied links neben mir wohnt? Bleib' mir einer mit den Kurpfuschern vom Leibe! Zu Euch, Herr Doktor, hab' ich Vertrauen, und so bin ich da und will geholfen haben.«

»Wenn dem so ist, so wollen wir mit Ernst an die Sache herantreten. Seid deshalb so gut und besinnt Euch einmal, ob Ihr nicht vielleicht eine Ursache findet, auf die Euer Leiden zurückgeführt werden könnte.«

»Wenn ich's nicht von meinem Vater geerbt hab', nun dann hab' ich von dem guten Alten überhaupt nichts geerbt. Dies, Herr Doktor, meine Ansicht, und die verfecht' ich gegen eine Stube voller Leut' und gegen einen Uhrkasten voller eichener Schälprügel.«

»Gut, wenn Ihr denn für Euren jetzigen Zustand eine Krankheitsursache nicht anzugeben vermögt, so seid so gut und entblößt einmal die schmerzhafte Stelle, vielleicht, daß der Augenschein uns weiter fördert und eine Aufklärung bringt,« sagte Herr Ebenich und legte sich in seinen Sessel zurück.

Der Bauer nestelte mit steifen Fingern an dem Knoten seines Halstuches herum, ohne ihn lösen zu können.

»Ich denke, Euch fehlt's im Kreuz? Was kramt Ihr da am Gurgelknopf herum!« warf der Doktor dazwischen.

276 »Dann soll ich wohl den Hosenbund aufmachen?«

»Ja, wenn Ihr den Ratten nicht befehlen könnt, daß sie Euch ein Stück aus dem Kamisol fressen. Die Haut über Eurem Hinterviertel muß ich nun einmal sehn.«

Der Fuhrknecht hatte begriffen und fing nun langsam an, die Hosenträger aufzuknöpfen.

Herr Ebenich bekam so Zeit, das Objekt seiner Tätigkeit zu beobachten. Die Gesichtszüge des Bauern waren dem Arzte nicht zum ersten Male vor die Augen gekommen und doch, er wußte nicht, wo er den ganzen Kerl unterbringen sollte. Er paßte in keine der ihm bekannten Familien, ja er paßte mit seinem Rundschädel nicht einmal in den ansässigen Völkertypus hinein. Und doch, er hatte Ähnlichkeit mit einem, den er schon einmal gesehen hatte. Mit wem nur? Da kam ihm der Steinfuhrmann aus der Grabengasse in den Sinn. Richtig, hier wie dort der gleiche Weißkrautschädel des Halbidioten.

Aber jener war ja tot und zu allem Überfluß begraben. Die Natur hatte doch nicht zwei Kerle nach einer Schablone gearbeitet.

Während Ebenich sich solche Gedanken machte, hatte der andere glücklich die Hosen über die Kreuzbeingegend und das angrenzende Gebiet heruntergebracht.

Alle Wetter, welch ein Anblick! Der Bauer schien von den Schulterblättern bis in die Kniekehlen mit 277 der Haut von reifen Pflaumen überzogen zu sein. Er war so dunkelblau wie ein badischer Polizeikommissar. So was von Bläue hatte Ebenich noch nicht gesehen, obwohl er übers ägäische Meer gefahren war, als sich der klare Julihimmel darin spiegelte. Allein wie kam dies Farbenwunder auf den Buckel eines Bauernknechtes. Der Doktor wollte das wissen, und er hub an zu fragen:

»Habt Ihr vielleicht einen Onkel, der ein Blaufärber ist?«

»So wenig, wie ich den Papst zum Vetter habe. Wo hinaus wollt Ihr mit dem Gerede?«

»Weil Ihr da hinten angemalt seid, als ob Ihr in einer Indigolösung gesessen hättet.«

Der Bauer drehte seine Wirbelsäule um die Längsachse, so daß er verzogen dastand wie eine Kelterschraube, und versuchte, an seiner Kehrseite den Augenschein aufzunehmen. Ein Bruchteil davon mußte ihm ins Gesichtsfeld gekommen sein, denn er erschrak zuerst, wurde dann nachdenklich und bequemte sich schließlich zu folgendem Erklärungsversuch:

»Zehn Tage sind es her, da ist mir, wie ich so zufällig auf dem Bauche lag, ein geladener Steinwagen über den Körper gegangen. Sollte es denn möglich sein, daß meine Kreuzschmerzen und die Verfärbung meines Buckels damit etwas zu tun hätten?«

278 Jetzt mit einem Male fiel es dem Doktor wie Schuppen von den Augen. Er durchschaute den Zusammenhang der Dinge, wußte, daß der tote Fuhrknecht wieder lebendig geworden war, und sagte zu seiner hoffnungsfrohen Seele: ›Wenn gesunde Nerven Goldes wert sind, welches Vermögen trägt dann dieser simple Bauer unter seinem Leinenkittel durch die Lande.‹ 279

 


 


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