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Hier soll ein schattenhaftes Schicksal geschildert werden.
Konturen eines Juden, von seltsamer und doch ewiger Konstellation zart auf den Untergrund einer Epoche gezeichnet, sollen hier nachgezogen werden.
Wir wollen sehen, ob solche Kontur, wenn wir sie um ein Weniges und ihr Gemässes in der Trennung des umrissenen Körpers von dem umgebenden Raum verstärken, nicht doch Gestalt aus sich enthüllt, die unter dem Schattenhaften ihres Daseins eine Seele und ein lebendiges Sein aufdeckt. Vielleicht spricht sie dann mehr zu uns, als sie Geschriebenes – Verse, Gedanken, für uns Gesprochenes – hinterlassen hat.
Wir wollen noch einmal, von innen her gezwungen, Dienst verrichten an der noch nicht zuende gelebten und im Erleben noch nicht ausgeschöpften Vergangenheit unseres Volkes.
Aus der Zeit des deutschen Mittelalters, aus jener zwiespältigen Epoche, in der die Form des Lebens und der Sinn des Lebens vergeblich nach einer Übereinstimmung suchen, ist eine Sammlung von Liedern erhalten geblieben, die nach ihrem mutmasslichen Sammler Ruediger Manesse aus Zürich die Manessische Handschrift genannt wird.
Eine bunte und erlauchte Gesellschaft ist da versammelt: grosse und kleine Poeten, ritterliche und bürgerliche Sänger, gescheite und platte Spruchdichter, Minnesänger und Moralisten; so wie die unruhige Bewegtheit einer Zeit es mit sich bringt, die in kurzen Zuckungen von Blüte zu Verfall und wieder zu einem neuen Anlauf stürmt. Da singt und deklamiert, da klagt und jubelt, da schmachtet und fordert, da überschäumt und moralisiert fast eine ganze Welt. Fast: denn es ist nur der Ausschnitt einer Welt. Er führt nicht von den Höhen zu den Tiefen der Schichtungen eines Volkes: er gibt keinen echten Querschnitt durch die lebendige Gesamtheit einer Nation; er ist mehr dem Oben als dem Unten verknüpft, einer Oberschicht des Gesellschaftlichen, die den Alltag und das Leben bestimmt und beherrscht, ohne ihm doch auf die Dauer gewachsen zu sein. Zwar wie diese Welt sich hier darstellt, ist sie noch im Vollbesitz ihrer Kräfte. Sie weiss noch nichts von ihrem Verfall, 10 der morgen eintreten wird. Sie ist noch höfisch und ritterlich.
Anschaulich wie die Lieder und Sprüche sind die Bilder, die fast jedem Dichter in der Handschrift beigegeben sind. Sie sind durchweg szenischen Inhalts; Ausdruck einer Zeit, die noch nicht porträtieren kann, weil sie das Individuelle im Menschen noch nicht begriffen hat. Sie lebt in Konventionen, und Konventionen sehen nicht auf Gesichtszüge und Ausdruck, sondern auf die Tracht und die Haltung und die Gebärde und die Handlung. So ist keiner der abgebildeten Dichter hier mit seinem Wesen und aus seinem Wesen angeredet, sondern mit seiner Kleidung, seiner Haltung, seinem Beruf und seinem Wappen. Er steigt vom Rosse oder überreicht ein Gedicht oder trägt ein Lied vor oder – sofern er lesen und schreiben kann – ist über seine Schreibtafel gebeugt. So unpersönlich und nur gegenständlich ist auch die Umwelt dieser Dichterschaft gezeichnet: Turniere und Szenen aus dem Kriege, Belagerung von Burgen und Brettspiel daheim, ein Ritter auf der Kreuzfahrt und eine heimliche Entführung, Jagd, Tanz, Musik, Mord und liebevolle Umarmung. Das ist auch zugleich ein wesentlicher Teil der Themenwelt dieser Dichter und die Wirklichkeit ihres Publikums.
Inmitten dieser bunten und erlauchten Gesellschaft finden sich einige wenige Lieder eines 11 Spruchdichters, der, wenn sein Name nicht mitgeteilt wäre, gleichwohl in seiner Art und Sonderheit aus dem typisierenden Bilde erkannt werden müsste, das ihm beigegeben ist. Es ist ein Bild ohne besonderen Glanz und ohne ausgeprägte Handlung, eines, das durch keine Bewegtheit des Tuns und des Tons fesselt. Auf einem leicht erhöhten Sessel, den Krummstab in der Hand, sitzt ein geistlicher Würdenträger. Ein Kleriker und ein Laienpriester stehen neben ihm. Er weist mit einladender, gewährender oder wünschender Gebärde auf einen Mann, der rechts am Bildrand steht und zu diesen dreien als zu seinem offenbaren Publikum hinüberschaut. Der Ausdruck seines Gesichtes entspricht durchaus dem der anderen, sofern man nicht darin den Versuch einer Individualisierung finden will, dass seine Augenbrauen wagerecht verlaufen, während die der anderen den gleichen, etwas weibischen Bogen beschreiben. Auch sein langer Mantel mit Hermelinfutter und Pelzkragen ist wie der des geistlichen Würdenträgers. Sein Untergewand ist rot, sein Oberkleid violett. Er trägt langes Haar, wie sein Publikum, vielleicht um eine Nuance länger. Aber er trägt als einziger einen Bart. Die Krümmungen und Strähnen sind behaglich betont. Und er trägt einen deckelartigen Hut mit einer hohen, kugelig verlaufenden Spitze. darauf. Seine Hände endlich treten 12 mit steifen, aber höchst bewegt gemeinten Gebärden in den Raum hinein.
Damit ist er nach den Möglichkeiten und für das Verständnis seiner Zeit genügend individualisiert: langer Bart und spitzer Hut als das Charakteristikum der Tracht; heftige Gebärde als die Besonderheit des Wesens. Im Ganzen: ein Jude. Die Überschrift dient nur noch der Bestätigung: Süsskint, der Jude von Trimperg.
Wer sich über den tausendjährigen und niemals ausgeglichenen Widerspruch zwischen dem Juden und dem Deutschen im klaren ist; wer um die nie aufgelöste und nie auflösbare ständische Schichtung der deutschen Stämme weiss: der ahnt, dass hier eine seltsame Diskrepanz vorliegt. Was hat der Jude Süsskind von Trimberg im Reigen der höfischen Dichter zu suchen? Sind die Welt seines Herkommens und die Welt, der er seine Sprüche vorträgt, einander so nahe und verwandt, dass der Schritt von drüben nach hüben sich als eine Selbstverständlichkeit gibt? Oder sind sie einander so fern, dass nur ein seelisches Phänomen sie zu überbrücken vermag? Unzulänglich bleibt die Aussage jener, die da mit Zufriedenheit feststellen, es habe der Jude des 13. Jahrhunderts nicht nur aufnehmend, sondern eben auch produktiv am kulturellen Leben jener Zeit seinen Anteil gehabt. Aber die Aufnahme einer fremden Kultur und die Betätigung 13 in ihr setzt immer voraus, dass im geistigen Bezirk – und somit auch im seelischen – eine Umschaltung vor sich gehe, eine Umlagerung des Erlebens, die mehr ist als Technik des Aufnehmens und Technik des Tuns; die vielmehr, wird sie zuende gedacht und zuende erlebt, Schicksal in sich birgt. Es ist ja jede Begegnung zwischen Welten Schicksal für den, der sie tiefer erfasst als mit dem nachlässigen Griff seiner Selbstzufriedenheit.
So ist es unerlässlich, will man Schicksalen zwischen Einzelnen und zwischen Völkern auf die Spur kommen, dass man zuvor Kontur und Inhalt ihrer Welten umreisst. Nur so vermeidet man es, die vielen Fremdheiten auf der Erde noch um das Gewicht der Unkenntnis und des Unwillens zu überbürden.
Vertiefen wir also um ein weniges die flächenhaften Miniaturen, in deren Gesellschaft wir den Juden Süsskind von Trimberg gefunden haben. Wie sieht das Getriebe aus, das hinter diesen ungebrochenen Farben haust? Es ist – um ein Wort durch seinen Inhalt aufzulösen–die Disharmonie ungebrochener Triebe; eine Disharmonie, die entweder im hemmungslosen Bekenntnis zum sinnlichen Dasein die Ungeistigkeit ihres Lebens betont und sich darin geborgen fühlt; oder die sich mit ästhetischer Gebärde auf eine Insel flüchtet und sich in ihrer Geistigkeit 14 betäubt. Beide male wird mit heftigen Gebärden das Gewicht verlagert, und die Disharmonie, statt aufgelöst zu werden, wird überdeckt.
Diese Disharmonie ist nichts anderes als die natürliche Lebensäusserung des grossen Dualismus, der seit je die germanische Welt beherrscht und der seine Unauflösbarkeit durch die Einführung des Christentums bekommen hat. Der Rhythmus dieser Disharmonie ist die Pendelbewegung zwischen den Extremen dieses Dualismus. Schon das germanische Heidentum, in dem Weltanschauung, Naturgefühl und religiöses Empfinden eine Einheit bilden, ist in seinem Erleben auf den Dualismus von Helligkeit und Dunkel, von guter und böser Naturkraft, von Baldur und Loki angewiesen. Es besitzt daran eine natürliche und ihm gemässe Religion, die durch keinen nur sittlichen und keinen nur ethischen Gedanken beschwert und problematisch gemacht wird. Aber ehe der Germane noch die Reifezeit erreichte, in der solche Gedanken und Probleme die Schwelle des Unterbewusstseins überschreiten können, wurde die christliche Religion an ihn herangetragen. Sie kam nicht nur als eine Formung und Lehre des Glaubens, sondern sie kam gleichermassen als Macht, die zwar belehren will, aber auch bereit ist, den Unbelehrbaren mit der Waffe zu unterwerfen. Der Kampf des schon bekehrten gegen den noch heidnischen Stamm bekam von 15 daher den Charakter eines religiösen Schicksals für die noch nicht Bekehrten: der neue Gott erwies sich als stärker denn ihr heidnischer Gott. Unterwerfung aber verstanden sie alle Zeit, von damals bis in die Gegenwart, schneller und gründlicher als Unterordnung. Es bedurfte dazu nur jeweils einer Parole und ihres Trägers in der Gestalt eines Führers. Wenn der Bataverhäuptling bei Tacitus von den Germanen berichtet: »Sie kennen keinen Befehl und keine Leitung, sondern tun alles nach Willkür«, so wird dabei nicht erkannt, dass solcher Wille zu ungeregeltem und willkürlichem Tun seine Kompensation findet in der jeweiligen Bereitschaft, einen Führer anzunehmen und ihn bis zum Träger mystischer Eigenschaften zu glorifizieren.
In der christlichen Religion, der sie erlagen, boten sich zwei Elemente dar, die ihre Aufnahme ermöglichten: eben der Dualismus und die Führergestalt, beide bis in die letzten Konsequenzen ausgebildet. Der Dualismus war hier nicht mehr auf die Spanne naturhafter und naturnaher Gewalten beschränkt, sondern er war wie eine eherne Klammer über Diesseits und Jenseits, über die Welt der Dinge und die Welt der Seele gelegt. Materie und Geist, Himmel und Hölle, Jesus und Satan, Erbsünde und Erlösung standen da als das Links und Rechts unvereinbarer Gegensätze. Es gab keine Grenzlinie. Man konnte 16 nur dem einen oder dem anderen verfallen. Da aber Dieses und Jenes gleichermassen Möglichkeiten der menschlichen Seele sind, gab es nur das Pendeln von hüben nach drüben als der natürliche Ausdruck des bewegten Lebens. Und es wird sich erweisen, dass diese Pendelausschläge das ganze Leben der Jahrhunderte in allen Schichtungen und Ebenen durchziehen.
Auch die zentrale Gestalt der christlichen Religion, Jeschu von Nazareth, wurde ihnen als ein Führer und Herrscher von grösstem Ausmaasse dargeboten. Während ihnen der Gedanke des Eingottes fast nebenher überliefert wurde, bekamen sie in Jeschu denjenigen, dessen Worte zu befolgen, dessen Ideen anzunehmen und dessen Lebenswandel nachzuahmen war. Nicht der Eine Gott beherrschte die Welt, sondern dieser eine Jeschu. Aus solcher Konzeption ist verständlich, dass das germanische Christentum aus der für ihre Glaubenswelt umstürzenden Tatsache des Eingottes nie die Konsequenz gezogen hat, sondern nur aus seiner Auffassung von der Gestalt Christi. Nicht das begriffen sie und haben sie je begriffen, dass alle Völker nur einen Gott haben; sie begriffen nur, dass alle Welt sich dem zu unterwerfen habe, der sie unterwarf: Jeschu. Er betrat ihre Welt mehr als Herrschender denn als Heiliger. Als sie sich seiner dichterisch bemächtigten – im »Heliand« aus der ersten Hälfte des 17 9. Jahrhunderts – machten sie aus ihm einen germanischen Volkskönig und die Apostel zu seinen tapferen und getreuen Kriegsgefährten.
Vom Christentum als Glaube her gesehen, war solche Umwandlung der zentralen Gestalt nur ein unvollkommener Ersatz dafür, dass diese Religion nicht originär und nicht im Volke und aus dem Volke gewachsen war. Aber von der Organisationsform dieses Glaubens, von der christlichen Kirche her, war solche Umwandlung durchaus legitim. Denn gerade in der Kirche war die Führeridee zur Herrschaftsidee gesteigert und ausgeartet. Der Glaube an die Universalität der christlichen Lehre war zum Machtanspruch hypertrophiert, der auch das gesamte weltliche Dasein unter seine Gewalt und Hoheit bringen wollte. Das ganze öffentliche Leben der Jahrhunderte, ob einer bewusst daran teilnahm oder nicht, wurde durch diesen inneren Widerspruch zwischen Glaube und Kirche bestimmt. Aber stärker noch wurde es bestimmt durch die Kämpfe, in denen Kirche und weltliche Herrschaft, Papst und Kaiser um die Macht rangen.
So man in diesem Kampfe überhaupt von Recht und Anspruch reden kann, war die Willkür des Anspruches auf beiden Seiten gleich gross. Aber die reale Handhabe für den kirchlichen Anspruch hat das frühe germanische Kaisertum selbst gegeben. Die politische Einheit, die Karl der Grosse 18 seinem Reiche nur oberflächlich durch Kämpfe und Niederwerfungen geben konnte, weil die selbstsüchtige und beschränkte Sonderheit der deutschen Stämme sie nicht als ein Dauerndes und Gefügtes zuliess, musste er durch eine religiöse Einheit ersetzen. Aber als Hersteller einer religiösen Einheit konnte er – trotz aller irdischen Macht – nur ein Funktionär der römischen Kirche sein; und seine Weltherrschaft, zu der er sich berufen fühlte, konnte die Krone nur in Rom empfangen. Hier entstand nicht eine Verknüpfung von Welt und Glaube, von Kaisertum und Kirche, sondern eine unheilvolle Verkoppelung. Beide waren auf Weltherrschaft eingestellt. Beide streckten die Hand nach dem römischen Imperium aus. Beide trieben einen Universalismus, der ausschliesslich war und sich den Anderen unterwerfen wollte. Gewiss wollte das deutsche Kaisertum aus voller Überzeugung Schutz und Hort der Kirche sein; gewiss träumte es sich in die Idee vom weltlichen und vom geistlichen Schwert hinein, die vereint und in Eintracht die Welt beherrschen sollten. Aber Rom war konsequenter in seinem Willen zur Macht, und es war nicht, wie das Kaisertum, durch nationale Schranken und Interessen gebunden. Im Gegenteil: es konnte immer die nationalen Aspirationen gegen den kaiserlichen Universalismus ausspielen, während das Kaisertum in dem Masse, wie seine 19 Imperiumsidee wuchs, sich vom eigentlichen Zentrum, dem nationalen Staat, entfernen und dem einheimischen Fürstentum zunehmende Macht überlassen musste. Darum musste nicht nur ein gewaltsamer Zusammenstoss zwischen Kirche und Kaisertum erfolgen, sondern auch der tragische Untergang der einen oder der anderen Macht. An der Schwelle der Zeit, die uns in dieser Darstellung vor allem angeht, bekommt dieser Kampf seine letzte dramatische Wucht und ein wahrhaft grosses Format. Er endet damit, dass das Papsttum das germanische Kaisertum aus den Angeln hebt.
Ganz einsam in seiner Grösse und nur von wenigen Menschen seiner Zeit überhaupt verstanden, ficht Friedrich II. diesen Streit aus. Im Bilde dieses Ringens gesellt sich zu dem grossen Gegensatz von weltlicher und kirchlicher Macht ein kleinerer, wenngleich er nicht weniger beklemmend ist: der Gegensatz zwischen dem grandiosen, umfassenden Universalismus dieses Genies und dem kleinen territorialen Egoismus der deutschen Fürsten. Sie verstanden nicht einmal, dass jenseits ihrer Grenzpfähle Ideen der Weltgestaltung im Kampfe lagen. Sie begriffen nur die Erwägung, wie sie ihre persönliche Macht vergrössern und wie man die Macht des wirklich Grossen unterbinden könne. Aber man kann es ihnen nicht einmal zum Vorwurf machen, denn diese Welt war eng in sich und mit dem 20 jeweiligen Bezirk ihres Daseins zufrieden. Die Bindung an Scholle, Heimat, Sippe und Sitte war die Grundlage der Existenz, und hierzu – nicht zu einem Nationalismus irgend welcher Prägung – stellte der universalistische Traum und das imperialistische Begehren des Kaisertums die kompensierende Note dar.
Eine solche Welt der grossen Gegensätzlichkeiten muss in ihren Auswirkungen verständlichermassen auch da noch empfunden werden, wo die persönliche Mitwirkung an der Auseinandersetzung nicht in Frage steht: im alltäglichen Leben des Volkes. Was draussen und droben geschah, war nicht ihr Geschehen; aber sie mussten es auskosten mit der Belastung ihrer wirtschaftlichen Existenz, mit der Verworrenheit der innerpolitischen Verhältnisse und mit der Unsicherheit der Handelsstrassen. Zugleich aber mussten sie es geniessen mit dem Abglanz, der von den Kämpfen und Träumen des Imperiums, von seiner Not und seiner Hoffnung zu ihnen drang. So konnten sie sich einen gewissen Ausgleich schaffen für die angeborene Enge und die landschaftliche Gebundenheit ihrer Welt. Aus eigener Kraft haben sie diese Grenze nie überwinden können. Sie brauchten immer einen Anstoss von aussen. Dann reagierten sie darauf mit kurzen, heftigen Zuckungen und aus ungebrochener Triebkraft. Die beiden grossen Anregungen ihres Daseins: 21 die Bekanntschaft mit dem Himmel und das Bekanntwerden mit der Welt, wurden ihnen von Rom vermittelt; dort durch das Christentum, hier durch die Kreuzzüge.
Die Kreuzzüge sind keineswegs, wie man oft glauben machen möchte, nur ein spontanes Faktum, aus der religiösen Sehnsucht des Volkes und der Völker erwachsen. Sie sind in Ursprung und Motiv ein Faktum der klerikalen Politik, und zwar der inneren und der äusseren Politik in genialer Verschlingung. Unterwerfung ist ihr letztes Ziel. Das Laientum in seinen primitiven religiösen Bedürfnissen und das Rittertum in seinen kriegerischen Instinkten wurden hier gleichermassen gebunden und die so gezähmten Kräfte auf schon vorgezeichneten Wegen auf Eroberung des heiligen Landes gerichtet, um mit dieser Eroberung dem Gedanken von einer vollkommenen und universalen Kirche das wichtige Territorium zu verschaffen, von dem zwar nicht die Gewaltidee, aber die Glaubensidee ausging. Der Weg nach Jerusalem war für Ritter und Laien gleichermassen vorgezeichnet vom System der Busse für begangene Sünden, von jener Methode des seelischen Zwanges, die es allein ermöglichte, den unterworfenen Gläubigen auch wirklich zu zähmen. Vom Beichtstuhl her wurde das religiöse Schicksal des Menschen gewährt oder verweigert oder unter Bedingungen 22 gestellt, und eine dieser Bedingungen, eine dieser Pönitenzen war die Pilgerschaft. Sie ging des öfteren den Weg nach Jerusalem, denn unter allen Anschaulichkeiten, die diese Menschen für das religiöse Begreifen brauchten, war dieser östliche Bezirk der eindringlichste. Oft taten sich mehrere Pilger zusammen und versahen sich wegen der Unsicherheit der Strassen mit bewaffnetem Schutz. Als Rom sich entschloss, diesen religiösen Wandertrieb seiner Aussenpolitik nutzbar zu machen, brauchte nichts zu geschehen, als dem Zweck dieser Züge noch eine realisierbare Aufgabe zu verbinden: die Eroberung des Pilgerzieles. War die Pilgerschaft bisher eine spezielle Form der Busse, so musste sie jetzt als Kreuzzug notwendig generellen Charakter bekommen. Hier wurde ein neuer Weg zum Heil angeboten, den man nur zu betreten brauchte, um ein restlose Vergebung von allen Sünden zu erlangen.
Auf dem gleichen Wege liess sich auch das unruhige Problem lösen, das sich aus dem Wesen der feudalen Ritterschaft ergab. Hier wurde das Erbe des alten heidnischen Reckentums in sublimierterer Form verwaltet. Nationale Bindungen bestanden dabei nicht oder nur ganz nebenher. Wirksamer war schon die Erwägung, der Ritter habe das Recht und das Rechte zu verteidigen. Der Impuls selbst aber kam aus der Auffassung 23 des Kämpfens und des Kriegens als des Handwerks, das der Ritterschaft angemessen war. Unter allen Umständen blieb es egoistisch und von keiner Idee gebunden, so wie es sich auch dem Kaisertum gegenüber egoistisch und seinen universalen Ideen unzugänglich gezeigt hatte. Solcher Egoismus des Standes und solche Unkontrollierbarkeit der Kämpfe beunruhigten aber eine Welt, an deren ungestörten Beherrschung der Kirche alles lag. Vergeblich versuchte sie, besonders unter der französischen Ritterschaft, die pax dei zu sichern und getroffene Vereinbarungen durch die communitas pacis sogar zu erzwingen. Sie musste endlich dazu übergehen, die Instinkte, die sie nicht zähmen konnte, wenigstens zu sublimieren. Aber sie hat noch stets um eines realen Zweckes willen und nie um der Idee selber willen etwas sublimiert. So leitete sie auch hier den Strom einer ungebärdigen Kraft in die Richtung ihres Zieles: dem Christentum – selbst mit dem Schwerte – Raum in der Welt zu verschaffen.
Es ist für die kulturellen Auswirkungen der Kreuzzüge belanglos, dass sie ihr utopisches Ziel nicht erreichten, und zwar weder das territoriale noch das geistige Ziel. Der erste Elan konnte das Königreich Jerusalem zwar aufrichten, aber nicht behaupten, und das Vordringen des Islam nach Europa hat nicht nur den 24 Kreuzzügen als Veranstaltung, sondern auch als Idee den entscheidenden Schlag versetzt. Schien es in den Anfängen noch möglich, alle widerstrebenden Interessen der Welt und alle ihre Machtmittel in der Hand der Kirche als dienende Werkzeuge zusammenzufassen, so erwies sich auf die Dauer, dass sie die Welt nicht gebunden, sondern erst eigentlich entfesselt hatte. Das war ein natürliches und notwendiges Ergebnis, denn das Religiöse in den Menschen jener Zeit – und im Germanen insbesondere – war nicht das Wesen dieser Menschen selbst, sondern nur die eine Seite ihres Wesens, die mit einer anderen, vitalen, von rohem Lebenswillen erfüllten Seite korrespondierte und in fast organischer Gegensätzlichkeit stand. So ist auch zu verstehen, dass die strenge kirchliche Bindung der Geister, die hier im Zweck mitwaltete, in ihr Gegenteil umschlagen und sich nach den Gesetzmässigkeiten der Pendelbewegung in einer üppigen Freude am Weltlichen entladen musste. Indem die Kirche auf die eine Wagschale der eingeborenen Gegensätzlichkeiten ein allzu schweres und strenges und unweltliches Gewicht legte, liess sie die andere Schale hoch hinaufschnellen, und so hat sie trotz allem und sicher gegen ihren Willen die Zeit und den Menschen der Zeit um ein Gewaltiges an Lebenseindrücken und Lebensmöglichkeiten bereichert. 25
Diese Bereicherung wurde jedem Stand und jeder Volksschicht zuteil, ganz gleich, wie gross ihr religiöses Bedürfnis war. Schon die Möglichkeiten, die durch die Teilnahme an den Kreuzzügen geboten wurden, waren überraschend gross; und man könnte vermuten, sie seien von einem genialen Psychologen erdacht, wenn sie nicht im Wesen und in der seelischen Struktur dieser Menschen selbst gelegen hätten. Die erste und entscheidende Förderung erfuhr das Rittertum. Ihm wurde schlechthin alles geboten, wofür es überhaupt aufnahmefähig war. Nichts beengte und beeinträchtigte mehr sein martialisches Gelüste. Es wurde im Gegenteil legitimiert, ja geheiligt. Es konnte sich hemmungslos betätigen und dabei noch einen beträchtlichen seelischen Gewinn einstreichen: die Vergebung von allen Sünden. Denn diesesmal war das Morden und Hinschlachten von Menschen eine Tat, die Gott im Himmel wohlgefällig war. Es ging ja nicht gegen Menschen und Mitmenschen, sondern nur gegen ungläubige Kreaturen. Welche unheimliche seelische Befreiung lag darin, sich die jenseitige Welt zu erobern, indem man auf dem festen Grunde dieser Welt mit Schwert und Lanze kämpfte; sich die Verdienste der Heiligkeit zu verschaffen, indem man den natürlichen Instinkten ihren rasenden Gang liess! So konnten diese Ritter, noch triefend von , Menschenblut, vor dem Altar des Heiligen 26 Grabes niedersinken und aus aufrichtiger Erschütterung der Seele Tränen vergiessen.
Einer gleichen Erschütterung war aber auch jeder Mann aus dem Volke zugänglich. Diese Menschen hatten durchaus die Möglichkeit zur religiösen Extase, und es kann nur aus einem fieberhaften und krankhaften Ausbruch religiöser Unruhe und religiöser Verängstigung erklärt werden, dass die Pastorellenzüge in Frankreich und der Kinderkreuzzug in Deutschland in Bewegung gerieten. Wer wirklich aus Gläubigkeit das Kreuz nahm, dem war zugleich die ganze seelische Last des Daseins abgenommen. Freilich ward ihm eben so oft auch die wirtschaftliche Last abgenommen, denn ihm winkte neben dem geistlichen Lohn die Befreiung von Steuern oder von Schuldzinsen und – dem Juden gegenüber – oft sogar von der Schuld selbst. Es waren nicht wenige, für die solcher Vorteil entscheidend war. Hinzu kam, besonders für den ersten Kreuzzug, dass Pest und Hungersnot Menschen in Bewegung setzten, die mehr Auswanderer nach dem Osten als Kreuzfahrer waren. Und endlich drängte auf diesen Weg auch der Wust von Abenteurern, Landstreichern, Verbrechern, entlaufenen Mönchen, Bettlern und gefährlichem Gesindel. So schwingt auch hier das Pendel vom Heiligen bis zum Gemeinen. Beides wurde gleichermassen in Bewegung gesetzt, und beides musste notwendig 27 seine Rückwirkung auf die Zeit und ihre geistige Gestaltung ausüben.
Auch die Ritterschaft war durchaus nicht frei von weltlichen Motiven. Ein grosser Teil des feudalen Adels fiel den Kreuzzügen schon um deswillen zu, weil seine unsichere gesellschaftliche Position, durch ewige Fehden, Verarmung, Hunger und Pest unterwühlt, jedem Ausweg zudrängte, zumal wenn er Abenteuer und Beute versprach. Für den Feudalismus ergab sich die Möglichkeit, das beengende Gesetz der Primogenitur zu durchbrechen und für die jüngeren Söhne Herrschaften und Fürstentümer zu suchen.
So voll Zwiespältigkeiten und Gegensätzlichkeiten die Motivierungen sind, so in sich widerspruchsvoll war auch der Ablauf der Kreuzzüge. Schon zu allem Anfang gehen die Ritter und das Volk, die pauperes, getrennt. Von den fünf Haufen der pauperes (der dritte schlachtet bei wegelang tausende von Juden am Rhein ab) werden drei schon unterwegs in Gegenwehr ihrer masslosen Exzesse von den Ungarn vernichtet. Unter den Rittern selbst sind eben so viele Gläubige wie spekulative Politiker. Auf dem Wege zum Heiligen Grabe entsteht das politische Interessengewirr von Konquistadoren, die vor allem östliche Fürstentümer für sich gründen wollen. Schon vor den entscheidenden Kämpfen sucht man durch Verhandlungen mit den 28 »Ungläubigen« zu seinem privaten Ziele zu gelangen. Die klerikale Konzeption schon des ersten Kreuzzuges muss sich die Durchführung des Unternehmens auf wesentlich weltlicher Basis gefallen lassen. Der theokratische Gedanke, als Joch für den Laien gedacht, wird das Deckwort, unter dem die Weltlichkeit immer hemmungsloser ihre Zwecke einsetzt. Schon der dritte Kreuzzug geht völlig vom Laientum und nicht vom Papsttum aus. Er scheitert durch die politische Rivalität zwischen England und Frankreich und enthüllt damit seinen ausschliesslich weltlichen Charakter. Unverhohlene wirtschaftliche Ziele mischen sich ein und verschieben sogar das Ziel vom heiligen Lande weg nach Ägypten und Konstantinopel. Die italienischen Städte brauchen neue Handelsemporien und vor allem einen direkteren Weg für den Handel mit Indien. Auf diese Weise wird der Verlauf des vierten Kreuzzuges bestimmt, und vergebens wehrt sich das Papsttum dagegen. Den fünften Kreuzzug setzt Innozenz III. noch, wenn auch als Niederlage, als sein eigenes Werk durch. Dafür wird der folgende Zug, mit dem Friedrich II. sein Gelübde einlöst, eine geniale Karrikatur. Nicht ein Tropfen Blut wird vergossen. Auf Grund freundschaftlicher Verhandlungen sichert der exkommunizierte Hohenstaufe sich für 15 Jahre die heiligen Stätten. Hier wird nicht einmal mehr der Vorwand der Religiosität 29 erhoben. Es ist Diplomatie schlechthin. In Antwort darauf entfesselt das Papsttum gegen den Befreier des Heiligen Grabes einen Kreuzzug in seinen eigenen Territorien mit Ablass und Sündenvergebung. Solange Friedrich II. König von Jerusalem ist, verbot Gregor IX. sogar die Entsendung von Hilfstruppen nach Jerusalem. Hier wird zwar noch der Vorwand der Religiosität erhoben, aber es ist Politik schlechthin. Das Papsttum akzeptiert damit die Zwecke des Laientums, während in der Abfolge das Laientum sich unter Ludwig dem Heiligen des religiösen Motivs bemächtigt.
Schon dieser flüchtige Überblick mag zeigen, dass die Kreuzzüge durchaus nicht so gegliedert werden können, dass man sie mit Ziffern von einander trennen könnte, sondern dass sie eine fliessende Einheit mit fluktuierendem Wechsel der Motive bilden, so wie die gegensätzliche innere Motivierung der Zeit es verständlich macht. Gerade aus diesem Grunde kann auch nicht von einem eigentlichen Scheitern der Kreuzzüge die Rede sein, sondern nur vom Scheitern dieser und jener Etappe. Im Ganzen erledigten sich die Kreuzzüge von selbst. Der Impuls hörte auf und die Teilnahme versiegte. Der moralische Status pendelte weiter und machte die Kreuzfahrten illusorisch. Sie interessierten nicht mehr. Darum hörten sie auf. 30
Weit mehr interessierte die Ausbeute. Diese Ausbeute bestimmte das Gesicht der Zeit in einem doppelten Sinne: als allgemeiner Eindruck und als konkrete Erfahrung. Es ist nicht anzunehmen, dass die Welt, die wir mit diesen kurzen Zügen skizzieren wollen, von jedem Akt dieses Dramas und von der Bedeutung der einzelnen Motive gewissenhaft und einsichtsvoll Kenntnis genommen hätte. Dafür war ihr kritisches Vermögen zu gering und ihr geschichtlicher Sinn zu primitiv. Das will sagen: sie hatten so wenig sichere Erfahrung, dass sie nichts darauf aufbauen konnten als die dichtende und dichterische Verklärung von Vorgängen; nicht aber das exakte Miteinander und Nacheinander von Tatsachen. So konnten ihnen nur die Gipfelpunkte dieser Vorgänge zu Bewusstsein kommen und konnten nur die handgreiflichen Ergebnisse dieses Zusammentreffens mit dem Osten ihren geistigen Status, wenn auch nur um ein geringes, beeindrucken. Sie sahen: da ziehen Gläubige neben Verbrechern ins Heilige Land; da werden Königreiche gegründet und verloren; heilige Stätten werden angebetet und wieder vergessen; da streiten sich Fürsten unter einander und mit dem Papst; da erobert ein Ketzer das Heilige Land und der Papst verflucht ihn; da wird nach Jerusalem gerufen und die Handelsniederlassung gemeint. Das alles musste mit der Kraft einer Sensation 31 auf sie eindringen, weil alle Masse durch ihr Nebeneinander und Durcheinander gestürzt und aufgehoben schienen.
Von gleicher; wenn nicht vermehrter Stärke war die Sensation, die ihnen für ihr alltägliches Dasein aus den greifbaren Dingen geboten wurde. Menschen ihres eigenen Umkreises kamen nicht wieder, oder kamen mit Beute beladen zurück; zuweilen auch mit Krankheiten behaftet. Neue Lebensgüter tauchten auf. Sie sahen Pflanzen, die sie nicht kannten; Früchte, die sie noch nicht gekostet hatten: den Zucker, die Zitrone, den Mais, die Melone; Stoffe, die ihnen unbekannt waren: Baumwolle, Muslin, Damast; Farben, die sie nicht kannten: lila und purpur. Sie lernten den gläsernen Spiegel kennen und den Rosenkranz. Man erzählte ihnen phantastische Dinge und gab ihnen Reisebücher in die Hand, in denen der Pilger von morgen sich über alle heiligen Stätten informieren konnte. Handelswege weiteten sich aus, auf denen die grossen Kaufleute Italiens ihre Güter aus dem Osten über Europa verteilten, und am Rande dieser Strassen wuchsen die Städte aus ihrer bisherigen Enge heraus oder entstanden gar erst. Ihr geographisches Wissen erfuhr mindestens als allgemeine Vorstellung eine Erweiterung. Asien war zwar ein schon vorhandener Begriff, aber es wurde jetzt erst entdeckt und mit der selben Erregtheit 32 in die Vorstellung einbezogen wie späterhin die Entdeckung Amerikas. Eine neue Form des Glaubens, eine unbekannte Form der Zivilisation und eine fremde Kultur traten in die Nähe ihres Blickes; und bei dieser Begegnung lernte der Westen entschieden mehr vom Osten, als der Osten vom Westen lernen konnte.
Hier greift ergänzend die Tatsache ein, dass auch unabhängig von den Kreuzzügen starke Anregungen von Sizilien, dem Treffpunkt östlicher und westlicher Kultur, ausgingen. Von hier und vom Araber in Spanien übernahm der Westen nicht weniger an positivem Wissen als vom Araber in Syrien. Er bezog von ihnen das Material für wissenschaftliches Denken, lernte von ihnen Mathematik und holte sich die Grundlagen seiner Scholastik, nicht ohne sich dabei auf Avicebron zu stützen, von dem man nicht wusste, dass es der Jude Salomo ben Jehuda ibn Gabirol war. Welcher Strom von dichterischen Elementen endlich in diese Welt einbrach, wird später gesondert zu betrachten sein.
So wesentlich dieses Andrängen neuer Kulturen, neuen Wissens und neuer Dinge auch ist, so wenig kann aber davon die Rede sein, dass hier einfach eine Rezeption dessen stattfand, was der Osten dem Westen an Neuem zu geben hatte. Es war ein Andrängen, ein Anstossen; nicht eigentlich ein Kontakt. Sie nahmen nicht auf, 33 sondern sie wurden bewegt. Sie wurden nicht angereichert, sondern gerieten in eine gesteigerte Schwingung der Pendelbewegung hinein. Denn sie standen dem Erleben nicht frei als schöpferisch Aufnehmende gegenüber, sondern als Gebundene und Gefesselte. Sie waren nicht einmal imstande, einen allgemeinen Eindruck von dem zu übermitteln, was die phantastische und ungewohnte Natur des Morgenlandes ihnen eindringlich vor Augen stellte. Weder ihre Ritter noch ihre Dichter, die vor das Erlebnis fremder Landschaft gestellt wurden, vermochten sie in ihrer Formung und Eigenart auch nur annähernd zu charakterisieren. In aller Fremde blieben sie noch dem heimatlichen Bezirk verbunden; nicht nur im Naturgefühl, sondern auch in der ganzen seelischen Reaktion. Sie betreten fremde Räume, ohne sich hinein zu begeben. Die Begegnung mit Anderem wird überhaupt nicht unmittelbares Erlebnis, sondern eher Störung des Gewohnten. Selbst der vehemente Auftakt der Kreuzzüge konnte sie, jeder anderen geschichtlichen Darstellung zum Trotz, nicht spontan bewegen, sondern nur zögernd und allmählich; und selbst ein Ekkehard vermag noch in seiner Chronika über das »Delirium« der Kreuzfahrer zu spötteln. Sie waren weder bereit noch imstande, ihre allgemeine geistige Grundlage zu verlassen. Sie war zu eng, als dass sie das hätten wagen können. 34 Ihr Wissen war noch gering, ihre Erfahrung ohne starke Tradition, ihr geschichtliches Bewusstsein noch halbe Sage, ihre Vorstellung von der Realität noch halb heidnische Dichtung, ihre Wissenschaft fast eine romantisch gefärbte Kunst. Sie hatten allezeit nur Augen für ihre eigene Welt, und dort halten sie noch heute.
In diese Welt, die für sie der Mittelpunkt des Kosmos war und die sie, als eine gottgegebene Tatsache, nie in Frage stellten, drangen jetzt Geräusche, Farben und Töne von aussen. Sie verstanden nicht eigentlich, was das in sich und als Eigenwert bedeutete; sie verspürten nur, dass dieses Stück Welt sonderbarerweise von der ihrigen ganz verschieden war. Ihm gegenüber versagten die überlieferten Anschauungen. Die Maasse, die sie aus der Gebundenheit ihres Bezirkes für alles bereit hielten, stimmten hier nicht. Diese gottgegebene mittelalterliche Welt war doch schon weit variierter und komplizierter, als sie es sich gedacht hatten. Das versetzte dem Selbstbewusstsein einen Stoss, der nach Ausgleichung verlangte. Nach dieser Störung wollte man wieder unstörbar werden und das eigene und gewohnte Maass zurückgewinnen. Das aber konnte nicht geschehen, indem man sich wieder in den alten Formen zur Ruhe begab. Denn nicht nur war der Anstoss einmal erfolgt und konnte nicht nachträglich negiert werden; sondern sie 35 verspürten auch, dass gerade die Maasslosigkeit, der Mangel an einem elastischen Maass letztlich für diese Störung und Unruhe verantwortlich war. Daraus ergab sich der Drang, nun wirklich nach einem »Maass«, das heisst: nach einer umfassenden, würdigen, abgerundeten und maassvollen Lebenshaltung zu kommen. Das Wort »Maass« muss hier durchaus als ein Begriff der künstlerischen und ästhetischen Lebenshaltung verstanden werden. Es ist die Kehrseite des Überdimensionierten, des Reckenhaften und Ungeschlachten, des unbeherrschten, oft brutalen Gefühls, des leidenschaftlichen und vielfach groben Affekts. Es überkam sie eine Sehnsucht nach einem bergenden Maass, ein Bedürfnis nach dem Glanz und der Wärme des Daseins. Das Pendel schwingt wieder.
Aber woher sollten sie dieses Maass nehmen? Die Religion konnte es ihnen nicht mehr verschaffen. Das religiöse Motiv hatte sich in den Kreuzzügen abgenutzt und war entwertet. Gegenüber dem Lebenswillen hatte es kein Gewicht mehr, höchstens, dass die ungebrochene Weltlichkeit sich seiner als Deckmantel bediente. Ihre Religion enthielt im übrigen auch in sich selbst keinen mitteilbaren »Maass«stab, sondern sie gab nur ein Vorbild. Sie vermittelte keine verpflichtende Idee, sondern eine spezielle Nachfolge. Man musste sich schon, wollte man zu 36 einem Ausgleich kommen, auf das eigene Lebensgefühl verlassen, und das war zu allen Zeiten eine unausgegorene Mischung von starkem metaphysischem Vermögen und naiv-ursprünglichem Barbarentum. Zwischen diesen beiden Elementen ist ohne die wirkliche Sublimierung des einen oder des anderen aber ein Maass überhaupt nicht denkbar, es sei denn, man verlege es in die Zwischenschicht des Gefühls, auf die Ebene, wo die Wirklichkeit nicht mehr stört, weil ihre Erschütterungen durch das Traumhafte und Verträumte aufgefangen werden. Gewiss kann auch so eine neue Realität entstehen; aber sie bringt keine wahrhafte Auseinandersetzung mit der Welt zustande, sondern beruht nur allein in sich und dauert nicht länger, als die Spannung des Gefühls erhalten bleiben kann. Dann stirbt sie zusammen mit ihrem farbigen Geschöpf, das sie gezeugt hat: dem Wunschbild. Dann zerfällt auch der schöpferische Bezirk, in dem es entstehen konnte: die lyrische Dichtung. Beide aber haben für Blüte und Verfall ein soziales und ein ästhetisches Milieu zur Voraussetzung, aus deren Bedürfnissen sie erwachsen und deren Bedürfnisse sie zugleich zu befriedigen haben: die Welt des höfischen Rittertums und die Welt des Minnesanges. Von beiden wird noch gesondert zu sprechen sein.
Dieses also sind die lebendigen Untergründe der Welt, die uns aus den Miniaturen und den 37 Versen jener mittelalterlichen Liederhandschrift anruft. Und es steht nun die Frage auf: was hat der Jude Süsskind von Trimberg da zu suchen? Ist das auch seine Welt? Nein; es ist durchaus nicht seine Welt. Er möchte nur, dass sie es sei. Sie ist auch für ihn ein Wunschbild. Die Welt, zu der er aus Wesen und Herkunft gehört, hat ganz andere Aspekte und ganz andere Farben. Betrachten wir sie ein wenig.