Gottfried Keller
Das verlorene Lachen / I.1
Gottfried Keller

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Der folgende Tag war ein Sonntag, der mit dem schönsten Junimorgen aufging. Justine war mit der Sonne wach; sie rüstete und schmückte sich, als ob es zu einem Feste ginge, indem sie gegen ihre letzte Gewohnheit das Haar in reiche Locken ordnete, ein duftiges helles Sommerkleid anzog, auch den Hals mit etwelchem feinen Schmucke bedachte. So ging sie, ungesehen von den noch schlafenden Ihrigen, den Weg nach der Höhe, das Gesicht leicht gerötet und rüstigen Schrittes. Die Großmutter war über ihre jugendliche und reizende Erscheinung ganz verwundert und auch zufrieden mit der Wendung, welche das Schicksal zu nehmen schien. Sie zwang, da sie beim Frühstück saß, die Enkelin, die noch nichts genossen hatte, eine Schale Kaffee zu trinken. Doch ruhte Justine nicht lange, sondern brach wieder auf, um auf dem Bergwege, auf welchem Jukundus kommen mußte, ihm entgegen zu gehen. So wandelte sie in bänglich froher Erwartung in die Sonntagsmorgenstille hinein. Die Erde war überall, wo man hinsah, mit Blumen bedeckt, von den eben verblühenden Bäumen wehten die Blüten hinweg, wenn ein Lufthauch sich erhob. Jetzt begannen die Kirchenglocken in der Nähe und in der Ferne zu läuten, rings um den langhin gedehnten See, in den weißschimmernden Ortschaften; die tiefen vollen Töne der mächtigen Glocken flossen zusammen und erfüllten weit und breit die Luft wie ein unendliches Klangmeer, welches an das klopfende Herz Justines hinanschwoll und es in seine Tiefe zurückzuziehen drohte. Allein sie kehrte nicht zurück, sondern eilte, getragen von den tönenden Wogen, dem Manne entgegen, der jetzt im Scheine der Morgensonne raschen Schrittes herankam. Sobald sie einander gewahrten, kehrte das verloren gewesene Lachen in ihre Gesichter zurück, und sie umarmten und küßten sich herzlich.

Ohne darauf zu achten, wohin sie gingen, gerieten sie auf einen Waldpfad und bestiegen Arm in Arm die oberste Höhe des Berges, während sie in gegenseitigem Geplauder sich alles erzählten, was ihnen widerfahren und was sie gelebt und gedacht über die Zeit ihrer Trennung. Das Glockengeläute verlor sich indessen allmählich durch die hinter ihnen liegenden Waldungen sowie durch das endliche Aufhören, und als der letzte Ton mit einem einzelnen Nachschlag verhallte, wurden sie doch der tiefen Stille inne, welche jetzt eintrat. Sie befanden sich am Rande einer geräumigen Waldlichtung, die eine schön gepflegte Baumschule umfaßte. In wohlgeordneten Reihen standen Tausende und wieder Tausende von winzigen Weißtännchen, Rottännchen, Fichtchen, Lärchlein, kaum drei bis vier Zoll hoch, die ihre hellgrünen Köpfchen emporstreckten und einer festlichen Versammlung vieler Kleinkinderschulen glichen. Dann standen die gereihten Scharen kniehoher, dann brusthoher Bäumchen, wie wackere Knabenschulen, bis ein Heer mannshoher Buchen-, Eichen-, Ahornjünglinge folgte und im Rücken derselben die schützende Gemeinde der alten Hochwaldbäume die Versammlung abschloß. Die ganze Pflanzschule war so sorgfältig und zierlich gehalten wie der Garten eines großen Herren, obwohl sie nur einer bäuerlichen Genossenschaft gehörte; die feierliche Stille erhöhte den überraschenden Eindruck, welchen der Anblick einer liebevollen Sorge hervorbrachte, die nicht mehr für das eigene Leben, sondern für ein kommendes Jahrhundert, für die Enkel und Urenkel wartete.

Im durchsichtigen Schatten junger Ahornstämmchen war von den Forstleuten eine Ruhebank angebracht worden, auf welche Jukundus und Justine sich niederließen, den tröstlichen Anblick schweigend und ruhevoll genießend.

»Siehst du«, sagte endlich Jukundus, indem er Justinens Hände ergriff, »so wie wir uns nur wieder gefunden haben, sehen wir gleich, daß die Welt überhaupt nicht so schlimm ist als sie sich gerne stellen möchte. Alle diese hastigen und harten Selbstsüchtigen geben sich eigentlich doch alle ihre Mühe nur für ihre Kinder und erfüllen sogar Pflichten der Vorsorge für die ihnen unbekannten künftigen Geschlechter!«

»Hast du mich auch noch ein bißchen lieb?« erwiderte Justine, welche in diesem Augenblicke nur für sich sorgen mochte. Jukundus blickte in die Ferne und sah durch ein paar Tannenwipfel hindurch eine Spanne des blauen Horizontes mit einem länglichen weißen Gebäude schimmern, das mehr zu ahnen als zu erkennen war.

»Kannst du jenes weißglänzende Ding sehen?« sagte er, »es ist einst ein Kloster gewesen, das vor siebenhundert Jahren ein Rittersmann zum Gedächtnis seiner Frau gestiftet hat, als sie ihm gestorben war. Er selbst ging in das Haus hinein und verließ es in seinem Leben nicht wieder. So lieb bist du mir, wie dem seine Frau war, obgleich ich in kein Kloster gehen würde, wenn ich dich verlöre. Aber der ganze glänzende und stille Weltsaal wäre für mich das Gotteshaus deines Gedächtnisses, deine Grabkirche! Doch laß uns nun den kleinen Ehrenhandel schlichten, der noch zwischen uns schwebt. Zur Buße und Sühnung sollst du mir jenes grobe Wort noch einmal sagen, das uns entzweit hat, du gröbliches Liebchen, aber mit lachendem Munde, damit es seinen bösen Sinn verliert. Schnell also, wie hieß es?«

Er legte hiebei den Arm um ihre Schultern und hielt mit der anderen Hand ihr Kinn fest. Sie schüttelte aber den Kopf und verschloß, so dicht sie konnte, den Mund. Da klopfte er ihr sachte auf die Wangen, suchte ihr den Mund aufzumachen und sagte immer: »Schnell! heraus mit der Sprache, rühre dein Zünglein!« bis sie voll Zärtlichkeit und Scherz das Wort rasch, aber fast unhörbar hersagte: »Lumpazi!« worauf Jukundus sie küßte.

Wie sie nun so sich umfaßt hielten und eine Weile schwiegen, sage Justine unversehens: »Jukundus, was wollen wir nun mit der Religion oder mit der Kirche machen?«

»Nichts«, antwortete er. Nach einigem Sinnen fuhr er fort: »Wenn sich das Ewige und Unendliche immer so still hält und verbirgt, warum sollten wir uns nicht auch einmal eine Zeit ganz vergnügt und friedlich still halten können? Ich bin des aufdringlichen Wesens und der Plattheiten aller dieser Unberufenen müde, die auch nichts wissen und mich doch immer behirten wollen. Wenn die persönlichen Gestalten aus einer Religion hinweggezogen sind, so verfallen ihre Tempel und der Rest ist Schweigen. Aber die gewonnene Stille und Ruhe ist nicht der Tod, sondern das Leben, das fortblüht und leuchtet, wie dieser Sonntagsmorgen, und guten Gewissens wandeln wir hindurch, der Dinge gewärtig, die kommen oder nicht kommen werden. Guten Gewissens und ungeteilt schreiten wir fort; nicht Kopf und Herz oder Wissen und Gemüt lassen wir uns durch den bekannten elenden Gemeinplatz auseinanderreißen; denn wir müssen als ganze unteilbare Leute in das Gericht, das jeden ereilt!«

Justine schaute ihren Mann während dieser Reden unverwandt an und mit errötendem Gesicht, weil sie empfand, daß sie ihn längst so offen hätte zu ihr sprechen hören können, wenn sie sich eher ihm anvertraut hätte als einem Kirchenmanne. Mochten nun Jukundis Worte weise oder töricht sein, so gefielen sie ihr jedenfalls über die Maßen wohl, zum Beweise, daß sie jetzt ganz ihm angehörte.

»Amen!« sagte Jukundus, »ich glaube fast, ich fange auch an zu predigen!«

»Nicht Amen!« rief Justine, »fahre fort und sprich weiter! Denke, diese Baumschule sei deine Gemeinde, und predige ihr wie jener Heilige den Steinen oder ein anderer den Fischen!«

»Nein, die Kirche ist aus! hörst du das Zeichen?« antwortete Jukundus lachend, als wirklich in der Ferne hier und dort die Glocken die Beendigung des Gottesdienstes verkündeten.

Sie erhoben sich und gingen langsam nach der Wohnung der Großeltern, so daß es Mittag wurde, bis sie dort anlangten. Die Alten hatten aber, um ein rechtes Versöhnungsfest bei sich zu sehen, die ganze Familie aus Schwanau heraufbeschieden und ein einfach kräftiges Mahl nach ländlicher Art bereitet. Alles war versammelt, als das versöhnte schöne Paar kam. Es herrschte aber zuerst einige Spannung und Befangenheit; doch als man sah, daß das verlorne Lachen wiedergekehrt war, verbreitete sich der Sonnenschein des alten Glückes im ganzen Hause. Die Stauffacherin glänzte wie ein Stern und ergriff fest wieder das Steuer, um das wiederhergestellte Glücksschiff zu lenken.

Justine zog nun zu ihrem Manne nach der Stadt, wo er ohne Unterbrechung wohl gedieh und seine Leichtgläubigkeit in Geschäfts- und Verkehrssachen verlor, ohne deswegen selbst unwahr und trügerisch zu werden.

Sie bekamen einen Sohn und eine Tochter, welche sie Justus und Jukunde nannten und die blühende, lachende Schönheit weiter vererben werden.

Sie besuchten öfter die frommen Frauen Ursula und Agathchen, wenn sie einen Spaziergang machten, und ließen es ihnen an nichts fehlen. Das Ölweib war fortgezogen, da es die vollkommene Unschuld und Güte nicht vertrug.

Der Pfarrer, dessen schwache Stunde Justine gesehen hatte, kam zuweilen auch wieder herbei und vertraute sich dem Paare gerne an. Er führte mit schwerem Herzen noch eine Zeitlang seinen bedenklichen Tanz auf dem schwanken Seile aus und war dann froh, durch Jukundis Vermittlung in ein weltliches Geschäft treten zu können, in welchem er sich viel geriebener und brauchbarer erwies als Jukundus selber einst in Seldwyla und Schwanau getan hatte; denn er, der Pfarrer, glaubte nicht leicht, was ihm einer vorgab.


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