Paul Keller
Drei Brüder suchen das Glück
Paul Keller

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Bericht über die Brucknersöhne

Im »Zuckerhut« traf sich Irene am Nachmittag desselben Tages mit Julia.

»Ich weiß nun Bescheid!«

Und sie gab das Gespräch mit Präsident Breitner fast wörtlich wieder. Julia hörte alles an, ohne Irene auch nur einmal zu unterbrechen. Sie schwieg auch, als das Mädchen geendet hatte, noch ein Weilchen, dann sagte sie:

»Und warum das alles? Weil du dir einbildest, den Brucknerjungen gehe es schlecht. Du glaubst, glücklich sein könnten nur die Menschen, die im Überfluß leben, nicht solche in bescheidenen Verhältnissen. Nun, unsere Verhältnisse sind freilich bescheiden – Portierleute –«

»Sprich nicht so, Tante Julia, du weißt, wie hoch ich euch schätze, aber daß ihr mit eurem kargen Einkommen so viel Gutes an den Brucknersöhnen tut und daß wir den Jungen ihr Erbe unterschlagen, das zerfrißt mich, das wird mich noch töten. Die armen Jungen!«

»Es sind keine armen Jungen, es geht ihnen ganz gut! Fangen wir beim Jüngsten an, beim Kurt. Er ist Stift oder wie er sagt Eleve im ›Alten Dessauer‹. Das ist eines unserer besten Hotels. Mein Mann hat seinen Kollegen, den Portier vom ›Dessauer‹ über Kurt ausgefragt. Kurt ist der Liebling des ganzen Hauses, denn er ist ein frischer, drolliger Junge. Was und wieviel er dort im ›Dessauer‹ zusammenessen mag, weiß der Himmel. Eine Liebe hat er auch schon, die blonde Emmy vom Buffet. Er ist siebzehn, sie ist neunundzwanzig, das paßt doch famos zusammen!«

Julia lachte so herzlich, daß sie sich verschluckte und husten mußte. Dann fuhr sie fort:

»Und der zweite, unser Dichter! Bei dem ging's anfangs schlecht. Er bewarb sich um eine Stelle bei der Zeitung, aber er kriegte keine. Schließlich nahm ihn ein Zeitungschef, der den alten Herrn Geheimrat gut gekannt hatte. Aber es war auch da alles besetzt, und Elmar mußte zunächst die Marktberichte machen. Stelle dir vor, Irenchen, ein Dichter macht Marktberichte. Ein Mensch, der eine Gans nicht von einer Taube unterscheiden kann, der keinen blauen Dunst hat, was Sellerie und was Endivien sind, und der Mohrrüben mit Radieschen verwechselt! Der schreibt Marktberichte! Nun, er schrieb sie nicht, ich schrieb sie; ich ging jeden Tag mit ihm auf den Frühmarkt, kundschaftete alles aus und diktierte ihm ins Notizbuch. Zu Hause las ich dann nach, was er aufnotiert hatte. Das meiste war falsch. Das besserte ich ihm aus, und der Bericht ging an die Zeitung. Es wäre alles ganz gut gegangen; bei der der Zeitung hätten sie nichts gemerkt; aber ich hatte gegen ein paar Marktweiber einige kritische, wohlberechtigte Bemerkungen gemacht. Das war der Verderb. Ein anonymer Wisch kam an die Zeitung, ihre Marktberichte würden nicht von dem langlodigen Jüngling gemacht, sondern von einer alten, niederträchtigen Schachtel, die ihm alles vorsage.«

Julia begann leise zu weinen.

»Bin ich denn wirklich eine niederträchtige, alte Schachtel?«

Statt aller Antwort fiel Irene Julia um den Hals und küßte sie, obwohl an diesem Tage im »Zuckerhut« ein Andrang von sieben Gästen war. Julia fand ihre straffe Haltung wieder.

»Zweiundfünfzig bin ich. Das ist kein Alter. Und niederträchtig bin ich auch nicht. Niederträchtig sind die anonymen Briefschreiber. Na, sie haben halt danach doch dem Elmar in der Zeitung für die Marktberichte das Vertrauen entzogen und sie haben ihn in die Gerichtskarriere hineingesteckt. Er sollte Berichte über die Gerichtsverhandlungen machen. Da hat er gleich am Anfang ein Gedicht über den Angeklagten und eins über den Staatsanwalt gemacht. Großartig, sage ich dir, Irenchen.

Er hat mir die Gedichte vorgelesen. Bei der Dichtung über den Angeklagten habe ich geheult, aber wie er es dann dem Staatsanwalt gegeben hat, dem Justizverbrecher und Leuteschinder, da war ich begeistert. Die Redaktion taugt nichts, Sie haben die Gedichte nicht angenommen, und Elmar sollte entlassen werden. Aber da kam ein unerhörter Glücksfall. Der Mann, der immer übers Theater schreibt – wie heißt er doch?«

»Kritiker!«

»Richtig! Der Kritiker an der Zeitung kriegte die Schwindsucht. Er mußte sofort nach Davos. Na, und sie hatten keinen, den sie da rasch einsetzen konnten. So schickten sie Elmar ins Theater. Da aber hat's gezündet! Kritiken schreibt Elmar, daß einem nicht nur die Haare, nein, daß einem der falsche Zopf zu Berge stehen kann. Alle Leute sagen: das ist einer! Der gibt's ihnen ordentlich! Der hat was weg! Alle fürchten sich vor Elmar, und die's angeht, Direktor oder Spielleiter oder Regisseur oder Dichter oder Schauspieler, ziehen vor ihm auf der Straße den Hut bis zur Erde. So sehr fürchten sie sich vor dem Bengel, der nicht mal Mohrrüben von Radieschen unterscheiden kann! Ich lach' mich tot. Was ist doch die Welt für ein Wursteltheater! Aber er verdient ein schönes Stück Geld, der Elmar – acht Mark für die Kritik und das Theaterbillet frei. Also, der zweite Brucknersohn ist im richtigen Fahrwasser.«

»Ich habe zwei Kritiken von ihm gelesen,« sagte Irene; »ich fand sie nicht richtig.«

»Richtig oder nicht,« entgegnete Julia; »wenn einer auf dem Gemüsemarkt Mohrrüben mit Radieschen verwechselt, geht das absolut nicht, aber, so hat Elmar gesagt, auf dem literarischen Markte kann man einen verfaulten Kürbis für eine erstklassige Kokosnuß ausgeben oder umgekehrt. Das glauben die Leute unbesehen. Ich versteh' davon nichts, die Hauptsache ist, Elmar sitzt fest im Sattel.«

»Und der Älteste?«

»Ja, dem geht's verhältnismäßig am schlechtesten. Wen Gott mit Hunger strafen will, den schickt er auf die Universität. Nun, wir lassen ihn aber doch nicht darben. Denke dir nur, Irenchen, er hat eine Einladung von Herrn Präsident Breitner zu einer Abendgesellschaft bekommen. Das ist eine große Auszeichnung. Aber er wollte sich eine Ausrede machen und nicht hingehen, weil er keinen passenden Anzug hat. Da hat mein August Geld geholt von der Sparkasse und hat an einem alten Anzug von Richard das Maß genommen. Er versteht das aus dem F, denn ehe er zum Hotelfach überging, war er nämlich Schneider, Damenschneider, das verdächtige Subjekt, und deswegen mußte er, als er sich mit mir verlobte, den Beruf wechseln. Also, er nahm die Maße und kaufte einen tadellos passenden Smokinganzug, dazu Lackschuhe, Oberhemd, schwarze Krawatte und was noch dazu gehört.«

»Das ist herrlich von euch! Was hat er denn gesagt?«

»Ach, geniert hat er sich und gesträubt wie ein zimperliches Mädel. Da aber hat ihm mein August einen Schuldschein vorgelegt. Eine ziemlich saftige Summe, vier Prozent Zinsen und Amortisation nach fünf Jahren. Auf diese scharfen Bedingungen ist er eingegangen und hat den Schein unterschrieben, und Kurt, der zu Hause war, hat großspurig mitunterschrieben: Kurt Bruckner, derzeit Eleve im ›Alten Dessauer‹, leiste selbstschuldnerische Bürgschaft. Richard als Jurist hat gesagt, das sei Unfug, das gelte nichts, da der Junge minderjährig sei. Das ist egal, hat August gesagt, er wird schon großjährig und mündig werden, großmäulig ist er ja jetzt schon. So feine Witze macht mein August manchmal direkt aus dem Stegreif.«

Julia lachte herzlich.

»Was seid ihr für glückliche Menschen, Julia; so herzlich wird bei uns das ganze Jahr nicht gelacht.« »Siehst du, Irenchen, daß ich dir das alles sage, ist ja nur, daß du es dir nicht gar so schwer machen sollst. Den Brucknerjungen geht es nicht schlecht; kannst es glauben. Sie sind alle klug und fleißig, sie kommen vorwärts im Leben.«

»Ja,« sagte Irene, »drei Brüder suchen das Glück und sollen es finden. Und auch ich werde meine Pflicht gegen sie erfüllen.«


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