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So lebte das einzige Kind meines Bruders! In einer Umgebung von Schmutz, Heuchelei, Armseligkeit, Rohheit. Ein Glück, dass dem Weltverbesserer doch noch das Kehren vor der eigenen Tür einfiel, ehe er an die große Mission ging, anderen zu helfen.
Fast in jeder Familie gibt es einen, auf den sich die anderen ganz besonders verlassen, zu dem sie in ihren Kümmernissen und Nöten kommen, dem sie es überlassen, zu ordnen, was sie selbst schlecht gemacht haben, der Geld borgen muss, wenn die andern nichts haben, der immer schieben, immer unterstützen, immer aushelfen muss. Den Starken als Stütze der Schwachen kann man ihn nennen, wenn man es ideal ausdrücken will; sonst kann man auch kurz sagen: der Lastesel. Nachgerade kam es mir vor, als ob ich in unserer Familie diesen Ehrenposten bekleidete.
Ich kann nicht behaupten, dass ich mit Freundlichkeit an meinen Bruder dachte, als ich durch den Staub des Hofes nach der Straße zurückflüchtete. Was an diesem Kinde geschah, war jahrelange Sünde. Auch an die Mutter dachte ich nicht ohne Bitterkeit. Sie war in diesem Augenblick nicht mein silbernes Mütterchen, sie war eine reine, aber selbstgerechte Frau, die nicht stark genug war, der Schuld mit Herzenstapferkeit ins Auge zu sehen und auf dem Schlachtfeld der Sünde Samariterdienste zu tun, sondern eine, die sich ängstlich in ihrer wohlumhüteten Sauberkeit hielt, mehr bekümmert um sich selbst als um das, was draußen zugrunde ging. Jawohl, ich hatte nicht Lust, das alles so hinzunehmen, ich wollte meine Meinung sagen. Was sollte ich denn tun, ich einzelnstehender Mann? Es würde schwer genug halten, das Kind loszubekommen. Der ekle Kerl von Pflegevater war zum gesetzlichen Vormund und Pfleger bestellt, die Erziehungsrechte waren an ihn abgetreten. Um ihm das Kind in Güte gewissermaßen abzukaufen, dazu fehlte mir das Geld. Mit gesetzlichen Mitteln aber so einem abgefeimten Schuft an den Leib zu gehen, würde schwer genug sein. Das Nächste war, einen Anwalt zu befragen.
*
In meinem Hotel suchte ich das Lesezimmer auf, setzte mich in eine Ecke und grübelte. Ich mochte wohl schon lange so gesessen haben, da tippte mich jemand auf die Schulter.
»Sie sollten mal Ferien vom Ich machen, Sie haben es nötig!«
Es war Mister Stefenson, der also zu mir sprach. Ich war ganz erstaunt, ihn so plötzlich hier in Berlin zu sehen.
»Ferien vom Ich sollten Sie machen!« wiederholte er.
»Von wem erfuhren Sie denn, dass ich hier bin? Von meiner Mutter?«
»Von wem anders sollte ich es wissen? Sie sind in Familienangelegenheiten hier – wegen einer kleinen Nichte – wollen sie in eine andere Pension bringen – ja, lieber Doktor, das gefällt mir nicht!«
»Was gefällt Ihnen nicht?«
»Dass Sie Ihre Zeit mit solchem Familienkrimskrams vergeuden.«
»Erlauben Sie, das ist doch wohl meine Sache.«
»Ihre Sache und meine Sache. Sie haben jetzt keine Zeit für solche Dinge. Es passt nicht in unser Programm. Sie haben selber gesagt, zu unserem Ferienheim gehöre vor allen Dingen die Erlösung von drückenden familiären Fesseln. Ist das keine Fessel, die Sie am Fuß schleppen? Jetzt, wo wir in der allerschwersten Gedankenarbeit stehen müssten, fahren Sie einem kleinen Mädel nach. Was liegt der Welt an dem kleinen Mädel? An Ihrem Ferienheim soll ihr etwas liegen.«
»Ich glaube, Herr Stefenson, so eng sind wir denn doch noch nicht miteinander verbunden, dass Sie in dieser Weise mit mir reden dürfen.«
»Ich darf«, sagte er phlegmatisch. »Ich habe in Ihnen so etwas wie einen Propheten gesehen – die Propheten gehen aber in die Wüste, ehe sie öffentlich auftreten, nicht nach Berlin – die Apostel verlassen Weib und Kind – der Soldat, der in den Krieg zieht, darf nicht rückwärts schauen, er sagt: Was schert mich Weib, was schert mich Kind? Der Familiensimpel bleibt immer ein mittelmäßiger Kerl.«
Ich erhob mich und wollte ihm grob kommen. Aber ich setzte mich wieder, sah auf einen Augenblick in seine ehrlichen, quellklaren Augen und sagte dann: »Sie haben vielleicht in manchem recht, Mister Stefenson, aber im ganzen sind Sie doch im Unrecht. Wenn ein Soldat in den Kampf ziehen soll und am Fuß eine Beule hat, wird er danach trachten, dass ihm erst ein Arzt die Beule öffnet und die Wunde säubert und verbindet, ehe er marschiert. Sonst bleibt er eben am Wege liegen. So geht es mir auch. Ich muss mir erst diese Angelegenheit mit meiner kleinen Nichte vom Halse schaffen, ehe ich an unsere Aufgabe gehen kann.«
»Gut, so schaffen Sie sich die Angelegenheit vom Halse – morgen vormittag zwischen neun und elf. Um elfeinhalb können wir dann unsere Beratung haben.«
»So rasch geht das nicht.«
»Wie lange kann es denn dauern?«
»Wohl einige Wochen oder auch Monate.«
Herr Stefenson lächelte sanftmütig.
»Das ist sehr schön! Ja, dann sind Sie wohl so freundlich, mich nach einigen Monaten gelegentlich wissen zu lassen, mit wem Sie schließlich Ihr Sanatorium begründet haben. Ich bin gar nicht abgeneigt, mir dann einen Prospekt schicken zu lassen. Für jetzt, guten Abend!«
Er verließ mich. Ich sah ihm nach, als er aus dem Zimmer ging, und wusste, dass es aus war mit meinem Lebenstraume. Ich saß ganz still, und ich weiß jetzt nicht mehr, was ich damals alles dachte. Ich wusste in jener Stunde nur, es war aus, um eines kleinen Mädchens willen, das ich kaum auf zwei Minuten lang gesehen hatte – aus! Dieser Mann, der vor zwei Tagen so viel Geld auf eine Idee von mir setzen wollte, hielt mich nun für einen Schwachkopf. Aber auf so elende Weise durften wir uns nicht trennen. Rasch warf ich einige Zeilen auf eine Karte, ich müsse Herrn Stefenson noch einmal sprechen, nicht um ihn umzustimmen, daran dächte ich nicht, sondern um nicht ganz ungerechtfertigt zu scheiden. Ich schickte Stefenson durch einen Kellner die Karte, und er kam auch bald persönlich.
»Mister Stefenson – es ist nichts Geschäftliches mehr, nur etwas rein Menschliches. Es ist darum, dass wir uns jetzt ohne gegenseitige Hochachtung, aber doch auch ohne beleidigende Gesten trennen wollen, wie Sie selbst einmal gesagt haben. Haben Sie noch zehn Minuten Zeit für mich?«
Er nickte, und ich erzählte ihm ohne alle Umschweife die Tragödie Joachims und seines Kindes, und wie ich das Mädchen heute draußen auf der Ackerstraße getroffen hatte. Mir wurde das Herz warm beim Erzählen, aber Stefenson blieb ganz gleichgültig. Zuletzt sagte er:
»Es ist eine traurige Geschichte, die Sie da erzählt haben, aber sie kommt alle Tage vor. Es ist gar nichts Neues. Ich habe die Geschichte auch erlebt. Aber etwas Interessantes ist dabei: Sind Sie wirklich fünf Jahre lang hinter Ihrem Bruder her gewesen?«
»Ja, ich fand ihn nicht eher.«
»Hm! – Sagen Sie, wollen wir den Abend noch zusammenbleiben? Ich möchte den ›Sommernachtstraum‹ in der deutschen Aufführung ansehen. Kommen Sie mit? Sie haben es doch wohl nicht so eilig nach Hause?«
Ich wusste, dass ich bei diesem Manne verspielt hatte, aber ich nahm die Einladung an. Er sagte, er habe nun noch Geschäfte, wir würden uns im Theater treffen. Damit händigte er mir eine Theaterkarte ein und verließ mich. –
Mendelssohns Ouvertüre zum »Sommernachtstraum« huschte und zwitscherte an mir vorüber, Shakespeares unsterbliches Werk reinster Fröhlichkeit tat sich in glänzender Darstellung vor mir auf, aber ich saß wie ein Geistesabwesender auf meinem Platze. Der Stuhl neben mir war leer geblieben. Stefenson war nicht erschienen. Der Märchenwald, durch den die Elfen huschten, blaute vor meinen Augen; aber ich dachte an den Wald an dem Abhang des Waltersburger Weihnachtsberges.
Pyramus und Thisbe trieben ihren grotesken Spaß. Da dröhnte von meiner Logentür her tiefes Gelächter. Stefenson stand dort. Er beachtete mich nicht, er schaute nur vergnügt nach der Bühne und lachte so laut, dass er die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zog.
Die nächste Pause kam. Da setzte sich Stefenson neben mich und sagte zur Entschuldigung seines späten Kommens:
»Manche Geschäfte wickeln sich in Berlin sehr langsam ab.«
Nach dem Theater fuhren wir nach einem Restaurant. Nachdem wir gegessen hatten, sagte Stefenson ganz unvermittelt:
»Die Luise habe ich flottgemacht. Zuviel Schwierigkeiten habe ich mit dem alten Gauner nicht gehabt. Der Hauswirt war gerade bei ihm und drängte um die Miete; da machte es der Kerl um dreihundert Mark. Er gab alles schriftlich, was ich wünschte. Mit Anwälten ist das nichts. Das ist teuer und umständlich. Mit dreihundert Mark war alles in zwanzig Minuten gemacht, und ich hatte das Kind. Dann war ich um eine Pflegeschwester aus. Das hat länger gedauert. Das hat unsinnig lange gedauert. Die ganze schöne Eselsszene habe ich im Theater verpasst. Die Pflegeschwester ist nun mit der Luise in unserem Hotel. Nummer 187 wohnen sie. Bald fahren sie nach einem Erziehungsinstitut in Thüringen. Es ist mir empfohlen worden. Da wird ja wohl die Luise körperlich und seelisch zurechtgestutzt werden.«
Ich schlug wieder einmal die Hände zusammen.
»Guter Herr Stefenson, das haben Sie getan?«
»Ich bitte, exaltieren Sie sich nicht! Eine Zeitlang wird die Luise in dem Institut bleiben, und dann kann sie zu uns in das Ferienheim kommen – so als eine Art – als eine Art Einweihungsengel.«
Mich würgte es in der Kehle.
»Sie wollen das Heim doch mit mir gründen?«
»Ja«, sagte er ganz ruhig, »ich will. Es hat mir was an Ihrer Geschichte gefallen. Natürlich nicht das Sentimentale, aber dass sie fünf Jahre lang die Jagd machten, das zeugt doch von einer gewissen Ausdauer. Und Ausdauer ist zu gebrauchen.«
*
Ich bin wieder im stillen Waltersburg. Berlin N liegt hinter mir wie ein wüster Traum. Welch Gegensatz! Die kleine Luise ist gut untergebracht.
Stefenson hat mir gestern schriftlich mitgeteilt, dass er mich für keinen Philosophen halte, auch nicht für das, was man einen lebensklugen Menschen nenne, und was ich als Arzt tauge, könne er nicht beurteilen. Er halte mich für einen Dichter. Meine ganze Idee sei weniger ärztliches Problem als vielmehr eine Dichtung. Aber Dichtung sei besser als Problem. Dichtung ist etwas Gezeugtes, Probleme sind etwas Konstruiertes, Dichtung ist Lebewesen, Problem ist Mechanik. Und so solle ich nur jetzt meine Dichtung ganz ausgestalten und ihm vertrauensvoll übergeben. Was ausführbar sei, werde ausgeführt werden, das andere werde als blauer Dampf in die Höhe ziehen und auch als Wölklein am Himmel noch schön sein.