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Das Dorf Wollingen hatte einen großen Schritt vorwärts in seiner Entwicklung getan: es sollte Luftkurort werden. Erst hatten einige Gäste aus der Stadt im Sommer bei Bekannten hier gewohnt und waren des Lobes voll, weil die bewaldeten Höhen ringsum eine Menge schöner Spaziergänge boten und kein Lärm von Fabriken oder Eisenbahnen die ländliche Stille unterbrach.
Nachher hatte der findige Gastwirt einen Stock auf sein Haus gesetzt und in den Zeitungen benachbarter Industriestädte Lärm geschlagen.
Da bekam nicht nur er seine neuen Stuben voll, sondern auch in dem Dorfe mietete man sich ein und lebte für ein billiges doch in schöner Waldluft.
Auch der junge Tischlermeister Anton Hurtig baute sich ein haar Stuben in den Garten hinein und konnte sie gut vermieten.
Als aber im Herbst die Sommergäste sich verzogen und diese Stuben leer standen, kam ein einzelner, ältlicher Herr und wollte sich für den Winter niederlassen; er sei Beamter im Ruhestand, hätte seine kleine Pension wohl anderswo verzehren können, wollte aber allein sein und es recht einfach und billig haben. So bezog er denn die eine Stube und ließ sich das Essen genau zur bestimmten Zeit hineinschicken.
Da er wiederholt erklärt hatte, er wolle recht ungestört allein für sich leben, suchte denn auch sein Hauswirt ihm solche Ruhe zu verschaffen, und es kümmerte sich außer unserm Herrgott niemand um den alten Herrn Kniebig.
In den ersten Wochen mußte er sich sehr wohl gefühlt haben in dieser Einsamkeit, er ging langsam in Berg und Wald spazieren, saß bei dem schönen Herbstwetter mit seiner Zeitung unter dem großen Eichbaum, der hinten in der letzten Ecke des Gartens stand und redete keinen Menschen an.
Nun hatten die andern mit ihrem Leben und ihrer Arbeit vollauf zu tun, so daß es auch niemand drängte, sich dem Fremden mit Unterhaltung zu nahen.
Da wurde es allmählich kalt. Wochenlang regnete und stürmte es, wie es so des Herbstes altes Recht ist, und mit dem Spazierengehen gab es nichts.
Man sah wohl den alten Herrn jetzt oft unbeweglich am Fenster stehen und hinausstarren. Aber was ist wohl vom Fenster aus zu sehen, wenn dies auf einen herbstlichen Garten hinausgeht?
Es ging niemand vorbei, und mit der Zeit mußte er die Aussicht auswendig gelernt haben.
Wiederholt hatte die junge Frau Tischlermeister ihrem Mann schon gesagt: »Sprich doch mit unserm Herrn Rat, ich fürchte, der arme Mann kommt noch um seinen Verstand.«
Aber Anton getraute sich nicht recht den Frieden zu stören, den der Alte sich ja beim Ankommen so feierlich ausbedungen hatte. Im ganzen gefiel ihm der Mann nicht sonderlich, denn er war jetzt bald sechs Wochen da und war nie zur Kirche gekommen, hatte auch unter seinen Büchern, die er ausgekramt, keine Bibel, kein Andachtsbuch, und man hatte ihn nie bei seinem einsamen Essen die Hände falten sehen.
Wie nun aber wieder ein Sonntag kam, und draußen fegte der Novembersturm dürre Blätter zusammen und dazwischen schüttelte er ein wenig kalten Regen herab, da faßte sich Anton ein Herz und klopfte nach dem Kaffee des morgens um acht Uhr bei dem Herrn Rat an.
Aus das »Herein« öffnete er bescheiden die Tür und fragte: »Ist es dem Herrn Rat gefällig, daß ich einen Augenblick zum Plaudern zu ihm hereinkomme? Es ist ja draußen unschön zu gehen, und ich habe doch Sonntags viel freie Zeit, und ich meinte, es müßte dem Herrn Rat doch die Zeit lang werden.«
Einen Augenblick stutzte der einsame alte Mann, dann aber nötigte, er seinen Gast herein, bot ihm einen Stuhl an und sagte:
»Sie haben Recht, Hurtig, es ist doch bei diesem Wetter ein eigen Ding, so ganz allein sein zu müssen. So lange ich in der Stadt meine regelmäßigen Dienstpflichten hatte und mich jeden Tag entweder über meine Vorgesetzten oder meine Untergebenen ärgern mußte, habe ich mir das immer so schön gedacht, einmal von meiner Pension in aller Stille leben zu können. Wenn es aber jetzt so reichlich über einen kommt, was man sich lange gewünscht hat, dann wird man dieses Glückes fast überdrüssig. Sie glauben gar nicht, was das heißt, jetzt bald drei Wochen in der Stube eingeschlossen sein zu müssen. Dazu höre ich ja heute seit längerer Zeit meine eigene Stimme zum erstenmal wieder.«
»Ja, Herr Rat, wir hätten schon längst uns genähert, aber wir meinten uns nicht aufdrängen zu müssen. Zudem sind wir ja einfache Leute und können Ihnen keine große Unterhaltung bieten.«
»Einfache Leute«, wiederholte der alte Herr. »Nein glückliche Leute sind Sie. Sie haben viel Arbeit und verstehen Ihre Sache, sind angesehen bei ihren Nachbarn, sind glücklich in ihrer Ehe, – tausend noch eins, was ist das für ein glückliches Leben!«
»Ich glaube nicht«, antwortete Hurtig bescheiden, »daß unser Glück bloß daher kommt, aber wir sind beide Christen, und wenn es mal ein Ärgernis oder einen Wortwechsel gibt, dann wissen wir beide uns durch das Christentum schnell wieder zu finden. Man schämt sich was, daß man überhaupt hat böse werden können und bittet dem Heiland und dem Andern sein Unrecht wieder ab. Und darum meine ich, ist das eigentliche Glück, was wir haben, erst durch das Christentum, dadurch, daß wir gläubig sind, uns gegeben.«
Der alte Herr pfiff durch die Zähne und sagte nach einer kleinen Pause plötzlich:
»Christentum – ja hören Sie mal, mein lieber Freund, das sind veraltete Geschichten. Wer heutzutage nur ein klein wenig sich umgesehen hat in der Wissenschaft, der weiß ganz genau, daß Ihr sogenanntes Christentum nur eine Einbildung ist. Unsere Vernunft sagt uns: Stück für Stück ihres Glaubens ist nicht mehr zu beweisen oder ist den natürlichen Bedingungen und Gesetzen widersprechend. Bricht man aber erst einzelne Stücke aus diesem ganzen schönen Gebäude heraus, dann stürzt es zusammen. – Ich habe mich schon gewundert, daß so ein praktischer Mann wie Sie, der doch auch in der Welt herumgekommen ist, noch Sonntags das Gesangbuch unter den Arm drückt, wie der letzte stockdumme Bauer. Aber ich will Ihnen durchaus nicht zu nahe treten. Jede Einbildung ist so lange mächtig und wirksam, als man eben an sie glaubt. Glauben Sie eben wirklich daran, daß Ihr Christentum Ihr Glück ausmacht, – ich will Sie nicht stören. Wenn aber ein Unglück eintritt, Enttäuschungen kommen, werden Sie dann auch sagen, daß das Christentum daran schuld sei?«
»Entschuldigen Sie, Herr Rat. Wenn ich alles, was Sie mir eben in wenig Minuten gesagt haben, auf meine Art widerlegen wollte, so brauche ich viel Zeit. Unsereiner kann es nicht so kurz zusammenfassen, wir müssen immer weiter ausholen. Also haben Sie nur etwas Geduld mit mir, und nehmen Sie es dem ungebildeten Handwerker nicht übel, wenn ihm die Rede manchmal so rauh wird, wie die Hand vom Hobel. – Ja, Sie haben Recht, ich bin auch in der Welt herumgekommen und habe auch manches gehört und manches gelesen von ungläubigen Büchern und Schriften. Aber die ganze Zeit, während ich in solcher Umgebung war und solche Reden mit anhören mußte, habe ich eine Stimme in mir vernommen, die sprach: »Anton, glaube ihnen nichts, sie reden sich nur das böse Gewissen vom Leibe, sie glauben doch alles, daß es einen Gott gibt und ein Gericht nach dem Tode, und das Gewissen bringt doch keiner zur Ruhe – –.«
»Um alles in der Welt«, unterbrach der Rat ungeduldig den Sprechenden, »was hat denn das mit unserer Unterhaltung von Ihrem Christentum zu tun?«
»Ja, sehen Sie«, sagte Anton, »wenn es kein Gericht nach dem Tode gibt, dann braucht man auch kein Christentum. Gibt es aber einen lebendigen Gott, hat der Mensch eine unsterbliche Seele und kommt diese Seele nach dem Tode vor den Richterstuhl dieses Gottes, dann braucht der Mensch auch Christentum, dann braucht er einen Trost und die Vergebung seiner Sünden, sonst müßte er verzweifeln.«
Der Rat trommelte ungeduldig mit den Fingern auf der Tischplatte und sagte:
»Nun nehmen Sie doch einmal an, daß gerade diese Dinge, die Sie eben nannten, Gewissen, Unsterblichkeit und Gericht nach dem Tode, nicht existieren, sondern bloß unsere Einbildungen sind.«
Der Andere sagte bedächtig:
»Es ist schwer, sich das vorzustellen, daß das alles nicht sein soll, weil man von Jugend auf das Zeugnis des Gewissens verspürt hat. Aber ich will es mir einmal vorstellen. Also es gäbe kein Gericht nach dem Tode, es gäbe kein Gewissen, warum ärgern sich denn die Leute, wenn man ihnen sagt: »Herr Rat, Sie sind ein gewissenloser Mensch? Halt, bitte, ärgern Sie sich nicht«, setzte er schnell hinzu, als sein Gegenüber wirklich auffuhr. »Was würde aus dem Beamtentum werden, was aus dem ganzen Staat, wenn es kein Gewissen und kein Gericht gäbe? Es müßte ja alles übereinanderstürzen, wenn jeder tun könnte, wozu ihn seine schlechten Triebe reizen. Wenn es kein Gewissen gibt und kein Gericht, dann weiß ich nicht, warum ich Sie für wenig Taler im Monat hier pflegen und hegen soll, dann vergifte ich Sie lieber heute Mittag mit der Suppe.«
Jetzt unterbrach der Rat ihn aber doch und sagte:
»Sie können sich das eben nicht vorstellen. Die Sache liegt einfach so: weil die tierische Natur des Menschen kein edleres Gut, keine höhere Entwicklung aufkommen ließ, da hat ein genialer Ahnherr des Menschengeschlechtes die Geschichte mit dem Gewissen und der Vergeltung nach dem Tode ersonnen und hat es verstanden, diese Lehren seinen Zeitgenossen beizubringen. Seither ist das so fortgeerbt von einem zum anderen, und es ist vollständig in Fleisch und Blut übergegangen, daß man gegen die Macht solcher Vererbung gar nichts mehr machen kann.«
Hurtig sah ihn aufmerksam an sagte dann nach einer kleinen Pause:
»So wäre das? Und da glauben Sie nicht an das Gewissen? Wenn Sie doch das geerbt haben, daß Ihnen das durch die Vererbung zur zweiten Natur geworden ist, woher sind Sie denn solch ein Wunder, daß Sie sich von der Vererbung losgemacht haben? Wenn Sie ganz aufrichtig gegen sich selbst sind, dann werden Sie doch zugestehen, daß Sie weder mit dem lebendigen Gott, noch mit dem Gewissen, noch mit der geheimen Angst vor dem Tode fertig sind. Sie kriegen immer wieder solche Augenblicke, wo Sie heimlich gruseln vor dem Allen. – Und sehen Sie, darum haben wir Christentum; wir haben gesucht nach dem Trost, der unser Gewissen still macht und haben ihn nirgend anders gefunden als in Jesu Christo allein. – Und wenn ich Ihnen einen guten Rat geben könnte für Ihre einsamen Stunden, kommen Sie mal heute mit um zehn Uhr in die Kirche, da werden sie schon manches hören können, worüber sich nachher denken läßt, denn wir haben einen tüchtigen Pastor. Und wenn Sie gestatten, komme ich am Nachmittag wieder einmal zu Ihnen, und da plaudern wir weiter. Oder aber, Sie kommen lieber zu uns in die Wohnstube, da kommt nämlich der alte Herr Lehrer Rechter zu uns, und da gibt es manche ernste und heitere Unterhaltung. – Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei. Sie kommen in allerlei Trübsal und Grillen. Bitte, verschmähen Sie unsere einfache Gesellschaft nicht. Wenn es Ihnen recht ist, dann trinken Sie heute Nachmittag den Kaffee bei uns in der Wohnstube.«
Nach einer kleinen Weile wandte sich der Rat mit gerührtem Gesicht um, reichte Hurtig die Hand und sagte:
»Sie sind ein guter Mensch; ich danke Ihnen für Ihre Einladung und will heute Nachmittag einmal herüberkommen.« –
Es war Sonntag Nachmittag, und man hatte den Kaffee in Hurtigs Wohnung getrunken. Als einzigen Gast hatte Herr Kniebig noch den alten Lehrer vorgefunden.
Während die Frau mit den Kleinen dabei war, hatte man über gleichgültiges gesprochen und erst als sie ihr unruhiges Volk in die Schlafstube hinübernahm, der alte Lehrer seine Pfeife angezündet hatte, und Hurtig eine Zigarre, kamen die Männer auf tiefere Fragen.
Vielleicht hatte Hurtig dem Lehrer schon etwas von seiner Aussprache mit Kniebig gesagt, so daß er vorbereitet war, kurz, es gab noch keinen eigentlichen Disput.
Der alte Lehrer rühmte, wie es alte Leute gern tun, die alte Zeit und meinte schließlich:
»Wir haben doch zu teuer bezahlt, wenn man für die Erfindungen und das bischen größere Bequemlichkeit mit Sitte und Tugend des Volkes zahlen muß. Als ich jung war, war es wohl an vielen Orten in Deutschland mit dem lebendigen Glauben auch schlecht bestellt, – gab es doch viele Pastoren, die man Rationalisten nannte, und die darum dem eigentlichen Bibelglauben sehr entgegenstanden. Dafür hatte sich aber das lebendige Christentum in den Häusern um so mehr befestigt. Der eigentliche Unglaube war höchstens bei »Gebildeten«, allenfalls beim Bürgerstande in den Städten zu finden, auf dem Lande herrschte noch alte Zucht und Sitte. Heutzutage ist es anders geworden, jetzt ist der Unglaube bis herunter in das Volk gekommen. In unserm Dorf gibt es Menschen, die hier geboren und konfirmiert sind, seit dreißig Jahren nicht mit ihrem Fuß aus der nächsten Nachbarschaft herauskamen, und die doch vom modernen Unglauben angesteckt sind. Ich kann mir das nur so erklären, daß der jetzige Unglaube ein ganz anderes Ding ist, wie damals der sogenannte Vernunftglaube. Damals hielt man noch an Gott und Ewigkeit, an Tugend und Gebet fest, heute wirft man alles über Bord, und gerade diese Entschiedenheit macht die Leute auch ganz los von allem Respekt und aller Autorität. Es soll eben gar nichts mehr gelten, nur was sie reden, das muß vom Himmel geredet sein, und weil sie scheinbar so fest an sich glauben und so frech auftreten, läuft ihnen der Pöbel zu wie Wasser. Aber es ist auch nur Pöbel, kein eigentlich denkender, vernünftiger Mensch, der ein bischen Lebenserfahrung gesammelt hat, wird sich solchem Treiben anschließen.«
»Sie irren«, antwortete Kniebig finster, »ich habe die Ehre, mich Ihnen als einen solchen Menschen vorzustellen. – Ich habe als Kind auch geglaubt, vielleicht so treu und echt, wie nur einer von Ihnen, und mit dem Glauben an Gott hing mir der Glaube an die Menschheit zusammen. Wie ich nun größer wurde und an meinen eigenen Eltern, die doch zu den Christen gehörten und täglich beteten, Sünden und Fehler bemerkte, die mit ihrem Glauben in Widerspruch standen, da wurde ich kopfscheu. Dazu kam das Lesen von wissenschaftlichen Werken, die mit fester zwingender Beweisführung mir zeigten, daß nur geschehen könne, was mit den Gesetzen der Natur und der wissenschaftlichen Erfahrung übereinstimme. Da war ich mit sechzehn Jahren schon an der Grenze des Unglaubens. Der Pastor, der mich zu konfirmieren hatte, verstand mich nicht, hielt seine Lehrstunden sehr langweilig und oberflächlich ab, so daß ich mich abgestoßen fühlte und mir heimlich vornahm, sobald ich von dem Joch des Elternhauses los sei, nie mehr die Kirche zu besuchen. Ich kam auf die Universität und da ist mir im Verkehr mit meinen Kameraden auch der letzte Rest des sogenannten Kinderglaubens weggeblasen worden. – Dann machte ich schwere Erfahrungen, Menschen die ich liebte, verrieten mich, überall sah ich Selbstsucht, Lieblosigkeit, Neid und Eigennutz; wollte ich vorwärts kommen, mußte ich es machen, wie die anderen, und rücksichtslos mein Ziel zu erreichen suchen. Endlich bekam ich eine Anstellung im Staatsdienst. Befriedigt hat mich die Arbeit nie, ich habe sie mit Zähneknirschen und geheimem Grimm getan, und immer und immer wieder schwebte es mir vor: wenn doch erst die vorgeschriebenen Jahre herum sind und du deine Pension bekommst. – Freude und Genüsse des Lebens habe ich im Wein und an der Tafel nie gesucht; mit Weibern hatte ich nichts zu schaffen, seit jene Erstgeliebte mir untreu wurde. Kleine Liebhabereien, wie andere Menschen sie pflegen, habe ich nicht gekannt. Ich tat meine Pflicht und habe mäßig und vorsichtig gelebt, weil das meinem Körper am besten war; die Zeit nach meiner Pensionierung sollte mich für alles entschädigen. – Und jetzt, ja jetzt habe ich es erreicht – und bin unglücklicher als je; mir fehlt die Arbeit, mir fehlt der Ärger, an den ich mich gewöhnt hatte. Ich kann mit meiner freien Zeit doch nichts rechtes anfangen und da grübelt der Mensch und sinnt mehr als sonst. Und da habe ich manchmal an den Spruch eines meiner Freunde denken müssen, der mir vor Jahren sagte: Du wirst unglücklich werden, wenn Du nicht glaubst an Gott und wenn Du die Menschen nicht liebst. Aber wie soll man das Eine tun, oder das Andere, wenn man in sich für beides auch nicht die leiseste Anlage findet? Glauben Sie mir, meine Herren, ich habe gesucht, ich habe allerlei Bücher für und wider gelesen, ich habe berühmte Kanzelredner gehört und so manches weitgepriesene, christliche Liebeswerk mir darauf angesehen, – in allen stak ein Wurm. An diesen Rednern merkte ich oft genug Eitelkeit und Selbstberäucherung, und das stieß mich auf das tiefste zurück. Und in den christlichen Anstalten gibt es neben manchem Guten soviel Heuchelei und jammervolles Treiben, das nur für oberflächliche Besucher eingerichtet ist, daß ich mich schließlich von allem enttäuscht zurückgezogen habe. Also den Vorwurf, oberflächlich der allgemeinen Zeitrichtung nachgegeben zu haben, den Vorwurf weise ich zurück. Ich habe gesucht und nicht gefunden, ich habe gewollt und es ging nicht. Jetzt bin ich mit allem fertig und weiß nur nicht, wozu ich noch leben soll.«
Hurtig sah den Lehrer an, als wollte er sagen: »Da haben Sie es, so ist er.« Der Alte aber sagte langsam und mit Betonung:
»Sie haben eins vergessen in Ihrer Geschichte oder uns verschwiegen.«
»Was sollte das sein?« fragte Kniebig erstaunt.
»Das ist Ihre eigene Sünde«, erklärte der Alte und fuhr dann lebhafter fort: »Von Anderer Sünden haben Sie sich abstoßen lassen und von Ihrer eigenen Sünde sagen Sie keine Silbe und doch steht geschrieben: eure Sünden scheiden euch und euren Gott von einander. Ich kann es nicht glauben, daß irgend ein ehrlicher Mensch an seinem Unglauben ganz unschuldig sein soll; irgendwo und irgendwie muß ein Augenblick gekommen sein, wo Sie die Wahl hatten zwischen etwas gutem und etwas bösem, und damals haben Sie vielleicht schon als Knabe oder Jüngling gegen Ihr besseres Wissen das Böse gewählt. Das nennt die Schrift den Betrug der Sünde. Das legt sich wie Schleier über die Augen und das drückt einem das Denken in eine ganz bestimmte Richtung, denn was der Mensch gern will, das glaubt er auch leichter. Zuerst spürten Sie im Gewissen ein Unbehagen gegen diese neue Gedankenrichtung: das war das Zeugnis dagegen. Wer dieses unbehagliche Gefühl leugnet und tot tritt, hat damit einen Riß zwischen Vernunft und Gewissen bekommen, der schwer verheilt. Gewissen ohne Vernunft wird Aberglaube, – Vernunft ohne Gewissen Unglaube, denn was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden. Und da wurden Sie hineingezogen in immer mehr solches vom Gewissen abgelöstes Denken hinein, und so mag es denn zuletzt gekommen sein, daß es mit Ihrer inneren Krankheit soweit kam, wie etwa mit einem Trunksüchtigen, der zuletzt gar nicht mehr loskommen kann von seiner Sünde. Denken Sie nur einmal darüber nach, an welcher Stelle Ihres Lebens war die Sünde, die Ihnen immer wieder einfällt, wo Sie immer wieder das Gefühl bekommen, hätte ich nur das eine nicht getan?«
Der Rat rückte unruhig in der Sophaecke umher und sagte als der Lehrer schwieg:
»Also Sie meinen, ich wüßte selbst, was mich eigentlich in die Bahn des Unglaubens gedrängt habe, und Sie meinen, daß das irgend eine bestimmte Sünde sei?«
»Jawohl, in den meisten Fällen ist es so«, antwortete der Alte. – »Du hast aber, Anton, diesmal die Pfeife schlecht gestopft, lang mir mal den Tabakkasten her.«
Als die Pfeife wieder in Ordnung war, und er sie frisch angebrannt hatte, hob er gemütlich an:
»Sie müssen sich darauf besinnen, Herr Rat, ob Sie einen schweren Ungehorsam gegen Ihre Eltern begangen haben, ob Sie sich eines Unrechts bewußt sind gegen irgend eins der Gebote Gottes, abgesehen davon, wie Sie glauben. Stellen Sie sich vor, Sie ständen auf meinem Standpunkte und hätten sich selbst und Ihr ganzes Leben zu beurteilen, wäre Ihnen dann nicht manches klar, das man Sünde nennen müßte? Können Sie denn mit sich selbst ganz zufrieden sein? Denn das ist ein eigentümlich Ding, entweder sind die Ungläubigen mit sich selbst nicht zufrieden, oder aber, wenn sie sich für gerecht halten, sind sie mit ihrem Leben nicht zufrieden und schieben die Schuld an ihrem Unglück auf Gott und die Menschen. Sie haben vorher schon gesagt, daß Sie unglücklich seien, woran liegt denn das? Sie haben nur an sich gedacht und ließen neben sich vielleicht andere, für die Sie sorgen sollten, zu Grunde gehen und können den Vorwurf der Lieblosigkeit nicht los werden. Aber ich bleibe dabei, an irgend einer Stelle muß bei Ihnen selbst der Fehler liegen. Ohne eigene Schuld kommt keiner, der in seiner Jugend geglaubt hat, zum Unglauben.«
Der Rat schwieg und sah nachdenklich vor sich hin.
Hurtig aber meinte: »Etwas davon spüren wir Christen ja selbst alle Tage. Sowie wir irgend eine Untreue gegen unsern Herrn auf dem Herzen haben, die nicht bekannt und abgebeten ist, wird unsere Stellung zu Jesu dunkel; man spürt es gleich beim Gebet und beim Lesen oder Hören des Wortes, ob man ihn noch so lieb hat oder nicht. Ich möchte immer sagen, es ist wie zwischen meiner Frau und mir. Wir haben uns lieb und wenn nichts dazwischen kommt, ist alles in Ordnung. Sobald aber der eine Teil unfreundlich oder ungerecht ist, scheint es einem gleich, als ob man höchst unglücklich verheiratet sei; das Essen schmeckt einem nicht, die Arbeit geht schlechter von der Hand, und man möchte schier verzweifeln. Ist das Unrecht wieder abgebeten, und man hat sich versöhnt, dann sind auch mit einem Schlage all diese bösen Gedanken verscheucht. So ist es mit uns und unserm Gott auch; es verträgt sich nicht, daß wir Sünde und Unrecht lieb haben und festhalten wollen, dann zieht er sich zurück.«
Da machte der Herr Rat wieder eine ungeduldige Bewegung und sagte etwas heftig: »Eigentlich begreife ich Sie nicht. Das ist doch eine Beleidigung, die Sie mir an den Kopf werfen, wenn Sie einfach aus meinem Unglauben schließen, ich müsse irgend ein Unrecht getan haben. Wer gibt Ihnen das Recht dazu, solche Behauptungen aufzustellen?«
»O«, lächelte der alte Lehrer gemütlich, »da brauchen Sie sich nicht aufzuregen. Mein Nachbar Christian war in der Stadt gewesen, hatte viel Geld eingenommen und sich beim Nachhausefahren einen gehörigen Rausch angetrunken. Wie er nun betrunken auf die Pferde losschlägt, daß diese durchgehen und den Wagen umwerfen, hatte er sich den Arm gebrochen und ein gehöriges Loch in den Kopf gekriegt. Wie er den andern Tag so wehleidig im Bett liegt und über sein Unglück jammert, da bin ich zu ihm gegangen und habe ihn gefragt, wer daran schuld sei. Da hat er es erst auf die Pferde geschoben, dann auf den Hausknecht im Gasthof, wo er eingekehrt war, der hätte nicht gewußt, was er, der Christian, für Pferde hätte und hätte sie zu kurz angeschirrt, – und was dergleichen Flausen mehr sind. Da habe ich ihm gesagt: »Christian, wenn Du nicht betrunken gewesen wärest, dann wäre nichts passiert, denn Du hast Kraft genug, Deine mageren Gäule mit einem Ruck in Ordnung zu bringen, aber der Rausch hat Dich verkehrt und schwach gemacht. Das hat er denn auch schließlich eingestehen müssen.«
»Ich weiß aber wirklich nicht, Herr Lehrer«, antwortete Kniebig schnell, »wie dies Beispiel auf mich passen soll.«
»O, ich meine, es sei gar nicht so dunkel«, gab der Alte zurück. »Wenn keine Sünde Sie berauscht hat, sind Sie Manns genug, mit ruhigem Denken und Beurteilen von Natur und Leben sich selbst zu sagen, es muß ein Gott dahinter sein, der den Tieren den Instinkt gab, der den Menschen das Gewissen gab, und der in der Geschichte des Einzelnen wie der Welt seine wunderbaren Lenkungen und Fügungen offenbart. Es ist ja freilich nicht angenehm, sich sagen zu müssen: Du bist schuld. Aber ehe Sie soweit kommen, das einzusehen, daß Sie Ihres eignen Unglaubens Schmied sind, und daß Sie sich selbst für Zeit und Ewigkeit damit unglücklich machen, solange gibt es keinen Balsam in Gilead für Sie. Der Trost des Evangeliums haftet nur in solchen Herzen, die zerschlagen und demütig am Boden liegen. Glauben Sie mir, es ist heute noch wahr, was geschrieben steht: Wer den Willen dessen tun will, der mich gesandt hat, der wird inne werden, ob diese Lehre von Gott sei. Wenn Sie den Willen Gottes wirklich getan haben, dann muß Gott sich Ihnen auch offenbart haben. Weil Sie sich von ihm abgewandt haben, ließ er Sie Ihre eigenen Wege gehen, und da sitzen Sie nun im Elend. Sie sind freilich ein bischen alt für einen verlorenen Sohn, aber dafür ist niemand zu alt. Sehen Sie zu, daß Sie in der Einsamkeit, die Sie jetzt vom lieben Gott wie ein Rezept bekommen haben, das Eine lernen: in sich selbst hineingehen, sich ehrlich erforschen. Und wenn Sie dabei den Splitter gefunden haben, der das ganze dumme Geschwür des Unglaubens verschuldet hat, dann sagen Sie es mir auch, dann wollen wir mit Gottes Hilfe Ihnen helfen, den Splitter herauszukriegen, und dann sollen Sie sehen, wie schnell der Unglaube verschwinden wird.«
Am selben Abend noch bat sich Herr Kniebig eine Bibel aus, – es sei wohl über vierzig Jahre, daß er aufgehört habe, in dem Buch zu lesen, jetzt wolle er einmal die alten Geschichten ganz kaltblütig an seinem Auge vorübergehen lassen.
In seiner treuherzigen Weise meinte Anton, als er ihm die Bibel einhändigte:
»Lesen Sie den 32. und den 51. Psalm, Lukas 15 und Römer 7 und 8.«
»Wollen schon sehen«, meinte der Herr Rat, der die Verlegenheit noch nicht überwunden hatte, daß er überhaupt nach der Bibel gefragt und zog sich zurück.
Während der Woche kam Anton kaum daran, sich im Lauf des Tages mit seinem Mieter zu beschäftigen, von morgens früh bis Abends spät galt es zu arbeiten und sich anzustrengen, und da blieb kaum für die eigene Frau soviel Zeit übrig, daß man beim Essen wenigstens mit ihr geplaudert hätte. Nur ein paar mal beim Schlafengehen mußte Hurtig an den alten Ungläubigen gedenken und betete dann wohl auch darum, daß ihm der Aufenthalt in seinem Hause gesegnet sei für sein inneres Leben.
Am nächsten Sonntag war wieder freie Zeit, und Kniebig schien nicht warten zu wollen, bis ihn Hurtig aufsuche, sondern er kam schon um neun Uhr morgens herüber und fragte:
»Was haben Sie eigentlich für einen Pastor?«
»O«, sagte Hurtig, »einen sehr guten, er macht es so, wie es Jeremias 15 geschrieben steht, ich will es Ihnen gleich aufschlagen. Hier im 19. Vers heißt es:
»Wo Du Dich zu mir hältst, so will ich mich zu Dir halten und sollst mein Prediger bleiben. Und wo Du die Frommen lehrest sich sondern von den bösen Leuten, so sollst Du mein Lehrer sein. Und ehe Du solltest zu ihnen fallen, so müssen sie eher zu Dir fallen.« – Sehen Sie, das gefällt uns an ihm, daß er eine reinliche Sache macht, daß doch jeder spüren und merken kann, Kinder Gottes sind die Leute, die sich an den wirklichen lebendigen Jesum halten, und die andern sind eben Welt.«
»Schade«, sagte der Rat langsam.
»Wie so schade? fragte Hurtig verwundert.
»Nun«, meinte der andere, »dann ist es eben ein Fanatiker, ein Orthodoxer, und diese Leute können mir alle nicht helfen; sie verstehen mich nicht. Wer selbst im Reichtum sitzt, der kann sich nicht hineindenken in die Lage eines verschämten Armen; wer selbst so groß und stark in seinem Glauben und so reich an religiösen Erfahrungen dasteht, der hat kein Mitleid und Verständnis für die Leute, die scheu und schüchtern noch um die Grenzen herumstreifen und einen Eingang suchen.«
»Aber das stimmt doch nicht ganz, Herr Rat« lächelte Hurtig. »Wer hat mehr von Religion, von Reichtum im geistlichen gehabt, als Jesus, und wie barmherzig war der gegen all diejenigen, die doch zu seiner Zeit gar nichts hatten! Er hat doch einmal sogar gesagt: wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen. Also er hat nichts anderes verlangt, als daß man wirklich sehnsüchtig begehren soll nach seiner Hilfe und mit gläubigem Herzen zu ihm kommen soll. Und so meine ich, steht es heute mit all denjenigen Pastoren oder Christen auch: nur wer wirklich für sich Frieden und Trost gewonnen hat, wer selbst versöhnt ist mit seinem Gott, nur der hat ein Verständnis für die andern, die da noch suchen, und nur der kann ihnen etwas geben. Was wollen Sie denn lieber, daß Sie einen Pastor hätten, der ebenso wenig wie Sie Frieden und Trost gefunden hat, aber sehr gern mit Ihnen zusammen suchen gehen will, ohne daß Sie beide ihn je finden können? Ich denke, es ist doch schöner, wenn jemand Ihnen den Weg zeigen kann, weil er ihn selbst gegangen ist und darum kein Irrtum mehr möglich ist.«
»Wissen Sie, lieber Hurtig«, sagte der Rat schnell, »diese Gewißheit, daß kein Irrtum möglich ist und man so alles vom Christentum fix und fertig haben kann, hat für mich etwas abstoßendes und aufregendes. Wie soll man denn das auf diesem Gebiet jemals fest und gewiß sagen können, daß man zum Beispiel, wie Sie das ausdrücken, ein Kind Gottes sei oder bei Gott in Gnaden stehe oder selig sterben könne? Mir klingt es fast wie lästerlicher Hochmut, wenn ein Mensch so etwas ausspricht.«
»Kann ich Ihnen nicht nachfühlen, Herr Rat«, war die Antwort. »Mir scheint es im Gegenteil die allernatürlichste Sache von der Welt zu sein. Entweder sind Sie der Herr Rat Kniebig, oder Sie sind es nicht, und darüber kann gar kein Zweifel weiter bestehen. Es gibt denn auch nichts drittes: entweder bin ich eben Gottes Kind und weiß das und bin dessen gewiß, – oder ich bin es nicht. – Aber weshalb fragten Sie heute nach unserm Pastor? Wollten Sie vielleicht mit mir in die Kirche gehen?«
»Ja, wissen Sie, es muß doch etwas Abwechselung hinein in das eintönige Leben bei Ihnen im Dorf. Hätten Sie Konzerte oder Theater hier, würde ich vielleicht dahin gehen. Nun haben Sie nichts anderes als die Kirche und die Schenke. In der Schenke wird mir zuviel schlechter Tabak geraucht und ist zuviel Lärm, da gehe ich nicht hinein. Nun will ich es einmal mit der Kirche probieren. Wenn Ihr Pfarrer so ein arger, verbissener Mucker ist, – dann einmal und nicht wieder.«
Hurtig lachte laut auf.
»Sie kommen mir heute so vor, Herr Rat, als ob Sie sich vor sich selbst entschuldigen wollten und vor mir auch, daß Sie überhaupt zur Kirche gehen. Na, mag sein, wie es will, versuchen Sie es nur einmal, ich glaube, es wird Ihnen gefallen.«
Zum großen Erstaunen der Hausgenossen und des kirchlich gesinnten Teiles der Dorfbewohner schritt der Herr Rat in seinem graubraunen Radmantel neben Hurtig her der Kirche zu.
Es war ihm selbst höchst peinlich, daß so viele Augen auf ihn gerichtet schienen. Als er eintrat, kam es ihm doch vor, als klagten sie ihn an, wie die Augen seiner verstorbenen Mutter: warum bist Du so lange nicht gekommen?
Er setzte sich und sah sich zuerst ziemlich gleichgültig um.
Die einfache ländliche Kirche gefiel ihm nicht.
In ganz unkünstlerischer Weise war die eine Wand mit drei viel zu hohen Fenstern verhunzt, während an der gegenüberliegenden Wand kein einziges Fenster war, sondern eine große dunkle Nische, in der das Wappen der gräflichen Familie sich befand, die früher das Patronat über diese Kirche inne gehabt hatte. Auch die buntem Verzierungen an Kanzel und Altar gefielen ihm gar nicht.
Als nun die Orgel anfing zu spielen, ärgerte es den verwöhnten Städter, daß der Stümper von Dorfkantor so jammervoll schlecht mit dem sonst guten Instrument umsprang.
Auch der Gesang der Gemeinde kränkte ihn. Hinter und neben ihm sangen einige Bauern viel zu laut und schreiend, andere sangen falsch – kurz, dem Herrn Rat war es mehrmals so zu Mut: bist doch ein rechter Narr, daß du hergekommen bist.
Als der Pastor auf die Kanzel kam, mußte der arme Mann das Los seiner Kirche teilen. Er gefiel dem Rat gleich nicht, – er hatte ein zu gewöhnliches Gesicht und machte gar nicht den Eindruck, als stünde ihm irgend etwas von Geisteskräften und Geistesgaben zu Gebote.
Nichtsdestoweniger wurde der Rat interessiert und beschäftigt durch die Predigt.
Der Pastor ging davon aus, wie alle seine Zuhörer doch schon oft in dem Waldgebirge das Echo versucht hätten. So schlafe in jeder Menschenbrust auch eine Stimme, die Gott wachruft durch sein Wort. Irgend einen Widerhall muß es geben.
Und nun behandelte er seinen Text: Jeremia 31, 3. Ich habe dich je und je geliebet, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte – von diesem Gesichtspunkte aus, wie der liebe Gott je und je uns sucht und einen dankbaren, freudigen, seligen Widerhall in uns wecken wolle.
Es waren weniger einzelne überraschende Gedanken und Redewendungen, die den Rat gefangen nahmen, sondern das Gefühl: der Mann hat einen Auftrag von Gott an dich; du bist in die Einsamkeit geführt worden, damit du wieder hören sollst, was dein Gott zu dir spricht.
Alte Erinnerungen aus seiner Kindheit stiegen ihm auf, und er verließ am Schlüsse des Gottesdienstes die Kirche mit tiefbewegtem Herzen.
Am Nachmittag folgte er der Aufforderung seines Wirtes, den Kaffee bei ihm zu trinken, und da der alte Schullehrer auch gekommen war, plauderte man sehr bald ähnlich wie am vorigen Sonntag.
Heute war auch von der Predigt die Rede und der Rat mußte zugestehen, daß solch eine einfache und dabei doch lebendige und kräftige Predigt nicht ohne Eindruck auf den Menschen sein könne. Ja, er verstieg sich sogar zu dem Lob:
»Solche Predigt von der Liebe Gottes lasse ich mir gefallen. Das sollte nur überall besser gepredigt werden, von der Liebe, daß Gott uns sucht Und Gott uns alles verzeihen will. Da ärgere ich mich, daß es soviele andere Christen gibt, die immer nur auf Andersgläubige schelten oder wer weiß was für Sittenrichter spielen wollen. Nur Liebe predigen, das würde mehr Eindruck machen.«
Der alte Lehrer lächelte und meinte:
»Sind Sie aber doch klüger wie der Herr Jesus! Als der gekommen ist, da hat er lange vor sich her Buße predigen lassen durch den Johannes, und er selbst hat es manchem ungeschickten und ungerechten Menschen sicherlich deutlich gesagt, was ihm fehlt. Früher lassen sich die Leute ja gar nicht helfen. Ihnen hätte heute die Predigt sicher nicht so gefallen, wenn Sie nicht schon die ganze Unterrichtsstunde vom Heiland in den einsamen Wochen hier oben empfangen hätten, und wenn wir nicht neulich über das Gewissen und Ihre Schuld Ihnen so manchen Wink gegeben Hütten.«
»Ja, und Psalm 51«, warf Hurtig ein, »den haben Sie doch gelesen?«
Der Rat schien nicht recht antworten zu wollen. Nach einer Pause fragte er bedächtig:
»Meinen Sie, daß das, was jetzt in mir vorgeht, eine Schwachheit, eine Einbildung, oder ein wirklich religiöser Vorgang ist? Wirkt Gott durch Sie, durch meine ganze Stimmung, durch das Bibelbuch, das ich wieder gelesen habe, heute durch die Predigt – wirkt Gott an meinem Herzen, oder ist es Schwachheit, daß ich mich in der Einsamkeit einfach hinziehen lasse von anderen oder von anderem? Ist es Einbildung, gegen die ich in anderer Stunde wieder das schwere Geschütz meiner wissenschaftlichen Zweifel kann auffahren lassen? Ich weiß es wirklich nicht. Es ist eine wunderbare Sache, wenn man anfängt, an sich selbst irre zu werden, wenn man sich so in den Vordergrund geschoben sieht und einem dann bei der Betrachtung des eigenen Lebens es däucht, als wäre man immer sein eigener schlimmster Feind gewesen und hätte sich das meiste Unglück selbst geholt. Hört man nun in solcher Stimmung der Selbstvorwürfe solch eine Predigt von der liebenden, suchenden Fürsorge eines freundlichen, himmlischen Vaters, dann kann es doch nicht unverständlich sein, daß man völlig unklar über sich selbst wird und nicht aus noch ein weiß.«
»Lieber Herr Rat«, sagte der Lehrer, »ich bin erstlich ganz davon überzeugt, daß das bei Ihnen, wie Sie es ausdrückten, ein religiöser Vorgang ist, das heißt, daß Sie jetzt gerade anfangen, wieder so zu werden, daß Sie etwas von Gott erleben können. Das ist das Eine. Und das Andere ist, daß dieses unruhige, ungewisse Bangen Ihres Herzens nicht eher zur Ruhe kommen wird, als bis Sie Jesum Christum selbst nehmen.«
Wieder machte der Rat eine ungeduldige Bewegung.
»Ich will schon gern an Gott glauben und an seine Liebe, aber lassen Sie mich mit Ihrem Jesus in Ruhe. Das war schon in der heutigen Predigt mir schwer zu tragen, daß Ihr Pastor schließlich alles so darstellte, als gäbe es gar keinen barmherzigen Gott ohne Jesum.«
»Gibt es auch nicht, Herr Rat«, sagte der alte Lehrer schnell. »Niemand kommt zum Vater, denn durch mich, hat der Herr gesagt. Und wenn Gott einmal beschlossen hat, nur auf diesem einen Wege zu helfen, – weiter für diesen einen Weg keine Unkosten scheut, das größte Opfer bringt, dann kann er doch auch wohl verlangen, daß die armseligen Menschlein, die ja doch nur auf das Betteln um Gnade angewiesen sind, sich bequemen, den Weg zu gehen, den er bereitet hat.«
»Aber warum kann man so schwer Jesum annehmen?«
»Das will ich Ihnen sagen: um des Hochmutes willen, den jeder Mensch im Herzen mit herumträgt. So in Bausch und Bogen etwas allgemeine Liebe von einem lieben Gott annehmen, den sich jeder verschieden vorstellt und von dem niemand etwas genaues weiß, das läßt man sich schon gefallen, besonders in solch einer Zeit, wo das Herz sonst schwach geworden ist und traurig. Mit dem Herrn Jesu ist es aber eine andere Sache. Da tritt uns eine Persönlichkeit entgegen, ein Stück aus der Weltgeschichte und aus unserer eigenen Geschichte. Da kommt einer und sagt: ich bin deinethalben auf die Erde gekommen, um Dir von Deinen Sünden zu helfen; so wahr, wie mein Leben wirklich gewesen ist, so gewiß wärst Du verloren gegangen in all Deinen Sünden, und nun laß alles andere fahren und wirf Dich ganz in meine Arme, ich will Dir alles werden; ich will Dich leiten und führen. Aber Du darfst auch kein Geheimnis vor mir haben wollen, Du darfst nichts mehr vor mir verbergen, Dein Leben muß aufhören und mein Leben in Dir anfangen. – Herr Rat, das ist eine heillos schwierige Geschichte, dabei so persönlich und so praktisch, fordert so viel von uns, will uns ganz haben, daß das freilich nicht jedermanns Ding ist und es sehr leicht verständlich wird, daß sie von einem wirklichen und lebendigen Jesu am liebsten nichts wissen wollen.«
»Sie mögen Recht haben«, sagte der Rat. »Es ist etwas ganz Bestimmtes von Vorurteil gegen einen Heiland und Erlöser in meinem Herzen. Ich habe das schon seit meiner Konfirmation nicht herunter würgen können, daß ich gar nichts sein soll und er solle alles sein, daß meine Persönlichkeit gewissermaßen sollte aufgegeben werden. Ich möchte es einfach so ausdrücken: man hat das unsichere Gefühl: da verlangt einer von uns alles, und wir wissen nicht, was wir dafür von ihm haben werden. Ja, ja, es steckt etwas dahinter, daß der Glaube an einen Gott unaustilgbar in allen Menschenherzen lebt. Aber den Glauben an Jesum, als den Heiland und Mittler, den bringen Sie keinem bei, der nicht, na, ich weiß nicht, was für besondere Erfahrungen macht.«
»Da möchte ich Ihnen den Rat geben«, sagte der alte Lehrer, »die vier Evangelien durchzulesen. Vergleichen Sie die Bilder, die die Erzähler dort entwerfen, untereinander, achten Sie auf alle seine Taten und seine Worte, und dann fragen Sie sich: wie war das möglich, daß solch ein Mensch erstens mal so gewesen ist, wo kam dergleichen her? Zweitens fragen Sie sich: wenn es doch einen gerechten Gott gibt, wie konnte er einen solchen Gerechten so schmählich sterben lassen? Und endlich fragen Sie sich: wie ist es möglich, daß achtzehnhundert Jahre nach seinem Tode es noch Millionen Menschen gibt, die sich für die Wahrheit der Tatsache totschlagen lassen mögen, daß dieser Jesus lebt, liebt und Gebete erhört.«
Die Unterhaltung wurde unterbrochen, denn es kam ein Bauer von auswärts, um mit Hurtig Geschäftliches zu bereden. Kaum hatte er aber die ersten Worte von der größeren Bestellung, die er machen wolle, gesagt, da unterbrach ihn der Meister kurz:
»Lieber Freund, heute ist Sonntag, und heute will ich nichts vom Geschäft wissen.«
»Auch nicht, wenn ich eine größere Bestellung bringe?« fragte der Bauer verwundert.
»Nein. Ich habe sechs Tage, wo ich nichts tue als arbeiten. Einen Tag brauche ich für meine unsterbliche Seele: geht mir der Sonntag aus der Woche verloren, dann habe ich in kurzer Zeit auch meinen Glauben aus dem Herzen verloren, und was wird dann meine ganze irdische Arbeit wert sein? Ich bin dann leicht so weit, daß ich meine Kunden betrüge und zu allem fähig bin. Das einzige, was meine Schränke und Tische gut macht in der Fuge und im Winkel, das ist der Sonntag und mein Christentum.«
»Bravo!« rief der alte Lehrer. »Das war ein gutes Wort, Anton. Das sollte jeder Handwerker so halten, dann würde es auch mit dem viel beklagten Notstand des Handwerkers nicht halb so schlimm stehen. Aber erst haben sie den lieben Gott verlassen und den Sonntag ihrer Seele gestohlen; nun wundern sie sich, wenn der liebe Gott sie auch verläßt und aller Segen fehlt.«
»Einerlei«, murrte der Bauer, »das ist mir noch nicht vorgekommen, daß ein Geschäftsmann am Sonntag nichts von einer Bestellung wissen will.«
»Mir auch nicht«, meinte der Rat.
»Da habe ich für Sie beide keinen anderen Trost«, sagte Hurtig gelassen, »als das eine: es muß eben halt alles einmal zum erstenmal vorkommen.«
Mit diesem Eindruck ging der Rat heute Abend in seine Wohnung.
Als aber gegen Mitternacht Hurtig, durch das Bellen des Hundes aufgeweckt, aus dem Fenster sah, da sah er den Rat noch über der Bibel sitzen, sinnen und lesen. Unwillkürlich faltete Anton die Hände und betete bei sich:
»Herr, segne Du ihm diese Nachtarbeit an seiner Seele.«
Am nächsten Sonntag war der Herr Rat unwohl, er blieb im Bett liegen und vom Kirchengehen war keine Rede.
Als Hurtig ihn besuchte und auf dem Stuhle neben dem Bett Platz nahm, murrte der alte Herr über die Krankheit und meinte mit sauersüßem Lächeln:
»Daß mir dergleichen jetzt passieren muß! So lange ich in dem regelmäßigen Geleise meiner dienstlichen Arbeit stand, bin ich nie krank gewesen. Es kamen wohl kleine Erkältungen oder Kopfschmerzen mal vor, aber des Dienstes ewig gleichgestellte Uhr ließ es mir gar nicht von weitem aufkommen, daß ich mich hätte schonen sollen. Und ich habe mich oft über die Beamten geärgert, die bei jedem kleinen Unwohlsein sich von ihren Kollegen vertreten lassen. Jetzt, wo meine Ruhe da ist, muß ich krank werden. – Ich fürchte, ich habe den großen Fehler gemacht, daß ich mich habe zu früh pensionieren lassen. Der Mensch braucht eben seine Portion Plage, um gesund zu sein.«
»Es ist etwas daran«, nickte Hurtig nachdenklich. »Wir haben hier im Dorf schon, mehrere solcher Beispiele gehabt, daß ein Bauer, der bis zum sechzigsten Jahr fleißig und angestrengt geschafft hatte, ohne je etwas von Krankheit zu wissen, im ersten Jahre, nachdem er sich zur Ruhe gesetzt hatte, zusammenbrach. Ja, Arbeit ist ein gut Stück zur Gesundheit, aber doch nicht alles. Sie haben hier auf einmal ein ganz anderes Leben als bisher, und daher mag es auch gekommen sein, daß Ihr Körper sich nicht da hinein schickt. – Nur könnten Sie vielleicht die Krankheit auch anders ansehen. Unser Gott hat bissige Schäferhunde, die ein säumiges Schäflein mit scharfen Bissen zur Herde treiben, und es hat schon mancher vom Schulmeister »Not« auf dem Krankenbett mehr gelernt, als sonst in seinem ganzen Leben; vielleicht werden Sie noch Ihre Krankheit segnen.«
Der Rat lächelte unwillkürlich und sagte dann: »Ihr Christen seid verkehrte Leute. Alles mögliche faßt Ihr immer von einem anderen Ende an, als man sonst tut. Darauf wäre ich mein Lebtag nicht verfallen, solch ein Übel wie Krankheit als etwas Heilsames und Gutes anzusehen.«
»Aber es steht doch geschrieben«, gab Hurtig ernst zurück: »ich will dich in eine Wüste führen und freundlich mit dir reden.« – »Allein will der Herr die Herzen haben, ungestört von andern. Und klein will er sie haben, daß sie sich nicht auf ihre Kraft und auf ihre Kunst stützen können, dann kann er erst recht mit ihnen umgehen. – Übrigens bedarf der Leib auch seine leibliche Pflege; wollen Sie, daß wir nach einem Doktor schicken? In Heimthal, eine Meile von hier, wohnt ein Arzt, und wenn man ihm heute durch einen der Kirchgänger, die doch aus Heimthal oft hierher zur Kirche kommen, sagen läßt, daß Sie krank sind, können Sie morgen seinen Besuch haben.«
»Nein«, wehrte der Kranke mit beiden Händen, »nur ja nicht. Ich glaube den Ärzten auch nicht viel, und wenn ich sollte hier bei Ihnen in der Einsamkeit sterben, ich hätte wahrhaftig nichts dagegen. Was habe ich vom Leben, und wer fragt nach mir?«
»Haben Sie wirklich niemand von Ihren Verwandten, der sich um Sie kümmern würde?« fragte Hurtig teilnehmend.
Der Rat sah ihn fast erschrocken an, und es schien, als wolle er Hurtig die Antwort schuldig bleiben. Nach einer Weile sagte er seufzend: »Ja und nein. Eigentlich habe ich eine Schwester, um die ich mich seit Jahren nicht gekümmert habe, und als Sie neulich, – ich glaube, Sie waren es oder der Lehrer, – davon sprachen, daß ich irgendwo ein besonderes Unrecht getan haben müsse, fiel mir eben diese Schwester ein. Ich hätte mich schon längst um sie kümmern müssen, aber zwei harte Steine malen selten reine. Als die Eltern gestorben waren, hatte ich als der ältere für sie zu sorgen und hätte sie gern als meine Haushälterin mein Leben lang bei mir behalten; Einnahmen genug hatte ich ja dazu. Sie aber heiratete gegen meinen Willen einen leichtsinnigen Musiklehrer, hat von ihm ein Häuflein Kinder, und eines schönen Tages legte der gewissenlose Mensch, der für die Seinen so wie so schlecht gesorgt hatte, sich auf das Sterbebett, und nun steht die arme Witwe mit fünf Kindern, von denen das älteste noch nicht zwölf Jahre alt ist, ohne Schirm und Schutz in der Welt da. Vermögen ist keins vorhanden, und wie es ihr gehen mag, das weiß Gott allein. Sehen Sie, Hurtig, das ist mir in den letzten Wochen arg auf die Seele gefallen. Und wie ich nun krank wurde, dachte ich bei mir, es könnte mit mir zu Ende gehen, und da mußte ich Ihnen doch gleich alles sagen, damit Sie meiner Schwester doch noch schreiben können, daß ich ihr mein Unrecht abbitte und das Wenige, was ich erspart habe, ihr vermachen möchte.«
Er war offenbar während dieser Erzählung bewegt geworden und wandte sein Gesicht zur Wand, weil ihm der Anblick des andern peinlich sein mochte.
Hurtig hatte das Gefühl: Gott arbeite an diesem Mann, da darf man nicht plump dazwischenfahren. Darum schwieg er auch eine Weile still und betete innerlich: »Herr, hilf du ihm doch zurecht, daß er ganz und gar sich dir übergebe und zum Frieden komme.«
Dann fragte er: »Wäre es nicht besser, Sie würden mir angeben, wo Ihre Schwester wohnt, damit man ihr jetzt schon schreiben könnte? Und vielleicht läßt sich das so einrichten, daß Sie jetzt gleich Ihr Unrecht damit gut machen, daß Sie zu Ihrer Schwester ziehen.«
Kniebig seufzte.
»Das habe ich mir auch in den letzten Tagen gedacht, das wäre doch eine Gnade von Gott, wenn ich wieder gesund würde, um meiner Schwester nicht nur mit meiner Pension, sondern auch mit meiner Person bei der Erziehung der Kinder zu helfen. – Aber, da ich doch schon mit Ihnen ganz offen spreche: es ist ein schreckliches Gefühl, was sofort über mich kommt, wenn ich etwa solche Wünsche in Gebetsform kleiden will. Der Zusammenhang zwischen mir und Gott war so lange Jahre zerrissen, und es fällt jetzt schwer, den Faden wieder anzuknüpfen.«
»Ja, ja,« meinte Hurtig, »es steht nicht umsonst geschrieben: was nimmst du meinen Bund in deinen Mund, so du doch Zucht hassest und wirfst meine Worte hinter dich? – Sehen Sie, Herr Rat, jetzt lernen Sie aus Erfahrung, daß Sie einen Heiland brauchen, der das wieder verbindet, was Sie zerrissen haben, der Sie mit Ihrem Gott vereinigt, durch seine Gnade, der alle Ihre Sünden auslöscht und der Sie so vertritt beim Vater, daß Sie vollen Frieden finden können. Versuchen Sie es doch zum Heiland zu beten, der steht den gebeugten und zerknirschten Herzen am allernächsten.«
»Aber, Mensch,« fuhr der Rat auf, »begreifen Sie auch, was Sie da sagen? Ich glaube noch garnicht, daß Jesus, der einst auf Erden gelebt hat, Gottes Sohn ist; ich glaube garnicht, daß er lebt und mich erhört und soll doch zu ihm beten? Das ist doch unmöglich!«
Hurtig sah ihn schier erschrocken an; dann faßte er sich und sagte: »Der Ertrinkende greift nach jedem Strohhalm und was Sie von Jesu gehört haben und über ihn gelesen haben, das ist doch mehr als ein Strohhalm. In all den dunkeln Gewässern Ihres Unglaubens und Ihrer inneren Not ist Jesus das einzige Sichere, das Ihnen zugeworfen wird. Schwimmen lernen kann man nicht anders als im Wasser und beten lernen nicht anders als durch das Gebet! Fragen Sie nicht, wer Jesus ist; fragen Sie nicht, was er kann, sondern fragen Sie höchstens: wo bist du, von dem die andern sagen, daß du allein mir helfen kannst? Und dann will ich Ihnen seine Adresse sagen: er wohnt in der Höhe und im Heiligtum und bei denen, so zerschlagenen und demütigen Geistes sind. Sie müssen in das ganze, Ihnen ungewisse und dunkle Gebiet hinein Ihr Gebet wie eine Angel hineinwerfen. Was gilt es, Sie werden Erfahrungen seiner Hilfe machen. – Doch, da höre ich schon die Glocken läuten; entschuldigen Sie für einen Augenblick, ich will es nur meiner Frau sagen, daß ich heute nicht mit zur Kirche gehe, und dann komme ich zu Ihnen zurück.«
»Nein,« drängte der Rat, »gehen Sie nur zur Kirche; Sie haben sicherlich so viel von Ihrem Gottesdienst, daß Sie dergleichen nicht entbehren sollen.«
»Wiederum steht geschrieben,« lächelte Anton, »daß Witwen und Waisen in ihrer Trübsal besuchen, der beste Gottesdienst sei. Also lassen Sie mich heute nur bei Ihnen sitzen; ich will Ihnen, wenn Sie es vertragen, etwas vorlesen.«
Und richtig, während die andern zur Kirche gingen, ließ sich Kniebig es gern gefallen, daß ihm Hurtig eine Predigt von Münkel vorlas. Es war eine Predigt, in der der Kampf zwischen Fleisch und Geist beim Christenmenschen so erschütternd dargestellt war, daß der Kranke wiederholt erstaunte Blicke auf den Vorleser warf.
Hurtig wurde selbst ganz bewegt und hielt hin und her ein wenig an, um seiner Bewegung Herr zu werden. Wie sie fertig waren, bat Kniebig: »Lassen Sie mir doch dieses eigentümliche Buch hier. Der Mann hat eine psychologische Schärfe der Beobachtung, wie sie mir bei Predigern sonst nicht begegnet ist. Und dann bitte ich Sie, halten Sie sich nicht für verpflichtet, aus purer Gutmütigkeit Ihren einzigen freien Tag in der Woche bei mir altem Krüppel zuzubringen.«
»Doch, doch,« meinte Hurtig schnell, »das ist mir selbst die größte Freude und die beste Erholung, wenn ich mit Ihnen über solche Sachen reden darf, die meiner eignen Seele zur Erbauung und Erfrischung dienen.«
»Bin ich noch Herr meines Zimmers oder nicht, mein Herr Hurtig?« scherzte der Kranke. »Ich verbiete Ihnen, sich heute weiter um mich zu kümmern. Nur wenn Ihre Frau es versteht, eine Haferschleimsuppe zu kochen, dann schicken Sie mir die noch heute Mittag, und abends möchte ich nichts als Tee und Zwieback!«
»Nun, dann komme ich gegen Abend noch einmal sehen, wie es Ihnen geht. Darf ich auch unsern alten Freund, den Lehrer mitbringen? Denn, wie Sie wissen, ist er ja Sonntags immer unser Gast.«
»Wird mir sehr lieb sein«, sagte der Rat, und Hurtig verließ die Stube.
Gegen Abend brachte er seinen alten Lehrer mit. Rechter ging mit freudestrahlendem Gesicht auf das Krankenbett zu, drückte dem Rat die Hand und sagte: »Das hat der liebe Gott wieder einmal meisterhaft eingerichtet; ich gratuliere Ihnen zu Ihrer Krankheit. Wenn er der Seele recht helfen will, dann lockert er durch Krankheitstage oder allerlei Leiden des Fleisches die Bande, die auf ihr lasten. Möchte, was er jetzt an Ihnen wirkt und was er von Ihnen will, voll und ganz in Ordnung kommen, dann werden Sie es später selbst eingestehen: Die Krankheit war nicht zum Tode, sondern zur Ehre Gottes.«
Der Rat lächelte schwach und sagte: »Nun, wenn Ihr Euch denn alle so ungemein über meine Krankheit freut, will ich es auch versuchen, ihr diese beste Seite abzugewinnen. Aber ein merkwürdiger Weg bleibt das dann doch, daß man zur Gesundheit der Seele durch Krankheit des Leibes kommen soll.«
»Na, eins zum andern, Herr Rat. Erst Langeweile in der großen Einsamkeit hier, dann das Gespräch mit solch einfachen, plumpen Christenmenschen, wie wir zwei sind, dann die Bibel, dann die Krankheit und allerlei Gedankengänge, wo Sie seit Jahren keine geistigen Fußstapfen mehr stehen hatten, – es sollte mich nicht wundern, wenn aus dem allen eine Gottestat herauswächst, so rund und richtig, so voll und fertig, wie unser Gott nur je eine getan hat. Ich will es Ihnen auf den Kopf sagen: der Herr hat vor, Sie jetzt zum lebendigen Glauben zu bringen. Und seit vierzehn Tagen wenigstens bete ich darum, daß Hurtig oder ich den Schlüssel zu Ihrem Herzen finden möchte, der lange verloren gewesen sein muß.«
Der Kranke bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen und fing an zu schluchzen.
Rechter setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett und fuhr freundlich fort: »Nur noch ein ganz klein wenig Vertrauen zu dem, der Sie so lange schon geliebt und gelockt hat. Sie fangen schon an, in sich selbst hineinzugehen: jetzt kann es nicht mehr weit von dem Augenblick sein, wo Ihnen die Augen aufgehen für des Heilandes ganze Liebe und Treue.«
Offenbar war der Rat so bewegt, daß er nicht sprechen mochte, und da winkte Rechter seinem jungen Freunde und sagte aufstehend: »Komm, Anton, wir sind hier überflüssig. Wenn der Vater sein Kind wiederfindet, wenn der Meister neue Saiten auf des Herzens Harfe ziehen will, dann braucht er keine Gehilfen weiter dazu. Wir wollen jetzt gehen. Da ich aber die ganze Woche nichts zu tun habe, als meine Pfeife zu rauchen und in der Bibel zu lesen, werde ich mir erlauben, hier den Krankenpfleger zu spielen. Morgen früh zieh ich zu Ihnen herüber, und wenn es nötig sein sollte, daß Sie nachts jemand um sich haben wollen, läßt mir der Anton die Stube nebenbei heizen, und ich schlafe hier, dann können wir weiter miteinander reden.«
So geschah es denn auch wirklich, und die vierzehn Tage, die der alte Rechter bei dem ältesten Schulkinde, das ihm Gott je bescheert hatte, zubrachte, waren nicht vergeblich. An der Hand der einschlägigen Schriftstellen nahm er mit dem Kranken, der sich übrigens bald bedeutend besserte, den ganzen Gnaden-Ratschluß Gottes durch, und mehr als einmal kam es vor, daß er aus der erklärenden Besprechung unaufgefordert in ein freies Gebet überging.
Wie in der Mitte des Dezembers kalte Frosttage einfielen, war der Rat soweit hergestellt, daß er wieder spazieren gehen konnte. Aber auch im geistlichen war er soweit gekommen, daß er selbst zum Heiland beten konnte.
Nun litt es ihn aber nicht länger.
Er schrieb seiner Schwester einen ausführlichen Brief, worin er seine innere Umwandlung anzeigte und das jahrelange Unrecht abbat, das er ihr getan. – Dann sandte er ihr eine Geldsumme und meldete sich bei ihr zu Gaste an. »Er wollte zu Weihnachten schon bei ihr sein und ihr helfen, ihre Kinder in der rechten Weise zu erziehen; alle Nahrungssorgen wären für die angefochtene Frau damit überwunden und er verlange für sich nur eine Häuslichkeit, worin er sich bis an seinen Tod zu Hause fühlen dürfe.«
Mit Wehmut und doch dankbaren Herzens, daß der Herr an ihrem Gaste so viel getan, ließen Rechter und Hurtig ihn ziehen. Der letztere brachte ihn mit des Nachbars Federwäglein selbst zur Bahnstation, und der Abschied der Männer gestaltete sich sehr herzlich.
»Ich werde es Ihnen niemals vergessen,« sagte der Rat bewegt, »daß Sie in Gottes Hand das erste Werkzeug geworden sind, mich wieder meinem Heiland zuzuführen.«
* * *
Vierzehn Tage später war Weihnachten, und in der Wohnstube Hurtigs brannte der Christbaum.
Der alte Lehrer saß mit seinem Käppchen auf dem Silberhaar und der unvermeidlichen Pfeife neben dem Baum, und sie plauderten so traulich und gemütlich, wie eben nur christliche Freunde es können, – als plötzlich an die verschlossene Haustür geklopft wurde. »Das ist nur der Sturm,« meinte Frau Hurtig.
»Nein, nein, es klopft jemand,« sagte Rechter.
Hurtig nahm ein Licht und ging hinaus, und da stand der Landbriefträger, der sich heute über den vielen Weihnachtsbesorgungen arg verspätet hatte und gab ein Packet ab.
Kopfschüttelnd über diese unerwartete Sendung brachte sie Hurtig in das Wohnzimmer. Als man die Papierhülle entfernt hatte, kam zuerst ein schönes Predigtbuch heraus, es war in Pracht-Einband »Münkel, das angenehme Jahr des Herrn.«
»Ach richtig,« lachte Hurtig, »der alte Rat hat mir mein zerlesenes und verlumptes Exemplar mitgenommen, als er fortging, er wollte sich von dem Buch nie mehr trennen, und da schickt er mir ein neues.«
Für Frau Anna lag ein wertvoller Kleiderstoff dabei: weiter waren für die Kinder schöne Spielsachen, wie man sie auf dem Lande nicht bekommt, und eine Schachtel mit Süßigkeiten, für Rechter war ein Pfund duftenden Pfeifentabaks beigelegt, und an sie alle ein Brieflein von unbekannter Hand.
»Ich dachte doch, es wäre vom Herrn Rat«, meinte Anton, »und hier steht ein ganz fremder Name darunter.«
»So lies doch vor, mein Junge«, drängte Rechter.
Und Anton las:
»An die lieben Freunde in Wollingen!
Sie haben mir durch Ihr Zeugnis von Christo und alle die treue Hülfe, die Sie meinem Bruder zuteil werden ließen, das schönste Weihnachtsgeschenk bereitet, das ich auf Erden je mir hätte träumen lassen können. Ich bin versöhnt mit dem Bruder, der seit Jahren mir grollend fernstand, und meine Kinder haben einen väterlichen Erzieher in ihm bekommen. Statt der bittern Not, die sonst bei uns herrschte, dürfen wir zum ersten Mal seit meines Mannes Tod wieder glücklich gesegnete Weihnacht feiern. Das möge Ihnen Gott an Ihren Kindern segnen und an Ihren eignen Herzen, was Sie dadurch an mir getan. Mein Bruder läßt Sie herzlich grüßen und entschuldigt sich, daß er nicht selbst geschrieben hat; er hat es zweimal versucht, aber, wie er sagt, sei immer etwas Nasses zwischen ihn und das Papier gekommen, er wird immer noch zu Tränen gerührt, wenn er von Ihnen spricht.
So Gott will, mieten wir uns alle für die Sommermonate in Ihrem schönen Wollingen ein, und dann erlauben Sie mir persönlich meinen innigsten Dank auszusprechen.
Berta Herchenthal, geb. Kniebig.«
»So, also von der Schwester«, schmunzelte Rechter.
»Na, das lasse ich mir gefallen. So macht es der Heiland. Erst schenkt er einem die Freude, daß man andern Leuten etwas helfen kann, zu ihm zu kommen. Und dann ist er wieder zu großartig, um solch einen Dienst umsonst von uns anzunehmen; er schenkt uns außerdem die Liebe dieser Leute und mir ein Pfund Tabak.« –