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Wenn nichts Anderes angegeben ist, sind die in diesem Aufsatz durchschossen [gesperrt] gedruckten Citate dem Buch der Dornrose entnommen.
C. J. L. Almquist – Schwedens wunderbarster Dichtergenius – hat das Auserlesenste seiner Production in dem grossen Werke »das Buch der Dornrose« zusammengefasst. Die Dornrose war für ihn das Symbol der Doppeltheit des Lebens. Der Dorn und die Rose auf demselben Zweig. Aber sie war ihm auch das Symbol der Mannigfaltigkeit und Einheit des Lebens, durch die vielen Blätter, die zusammen die Blume bilden. Almquist lässt das Buch der Dornenrose auf folgende Weise entstehen: Auf seinem Jagdschloss in der Provinz Nerike in Mittelschweden lebt ein feingebildeter, älterer Edelmann, der einstige Hofmarschall Hugo Löwenstjerna. Unter seinen Kindern zeichnet sich besonders der musikalische, poetische und schwärmerische älteste Sohn Franz aus und die reichbegabte älteste Tochter Aurora. Im Hause des Hofmarschalls wohnt auch dessen Schwester Eleonora, die seinen Kindern die verstorbene Mutter ersetzt, und sein Bruder Andreas, dessen Familienleben durch die Liebe seiner Frau zu einem Andern aufgelöst ist. Andreas stirbt, aber sein Sohn, Julianus, bleibt auf dem Jagdschlosse. Die Liebe, die zwischen Julianus und seiner Cousine Aurora entsteht, führt schliesslich zu ihrer Vereinigung, und sie lassen sich auf dem Schlosse K. nieder. Bei der Hochzeit verliebt sich Franz in eine der anwesenden Damen, die Schriftstellerin Angelika Rönnquist (die in einem von Friederike Bremers Romanen wiederkehrt).
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Mit diesen Geschehnissen schliesst bei Almquist die Erzählung von der Familie Löwenstjerna. Ich habe nun die Erzählung fortgesetzt, indem ich einen Sohn von Franz und Angelika dichtete – den neuen Hugo Löwenstjerna – mit jener Natur, die, wie ich glaube, die Kinder des ersten Julianus und seiner Cousine Aurora erben mussten. Julianus hatte noch eine Schwester, die nach der älteren Eleonora Löwenstjerna genannt wurde.
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Im Buche der Dornrose lässt Almquist die Familie Löwenstjerna – die aus mehreren Mitgliedern besteht, welche jedoch in diesem Zusammenhange nicht erwähnt zu werden brauchen – sich jeden Abend versammeln, um einander nach der Reihe etwas zu erzählen. Eines Abends wird in den Kreis ein Nachbar, Rikard Furumo, eingeführt, in welchem Almquist sich selbst personificiert hat. Rikard wird nun der ständige Erzähler. Zwischen seinen Erzählungen läuft teils die Schilderung der Einwohner des Jagdschlosses und ihrer oben angedeuteten Schicksale fort, teils werden geniale Gespräche eingeflochten – zwischen Rikard Furumo, dem Hofmarschall Hugo, seinem Sohn Franz und seinem Brudersohn Julianus – über die philosophischen und ästhetischen Fragen, die durch das, was Rikard Furomo erzählt, zum Leben erweckt werden. Was vorgetragen wird, sind bald Novellen, bald lyrische Gedichte – zu denen das Buch der Dornrose auch eine wunderbare, von Almquist selbst componierte Musik enthält – bald Dramen, Abhandlungen und Romane.
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Wenn ich nun einen neuen Hugo Löwenstjerna, einen neuen Julianus und einen neuen Rikard heraufbeschworen habe, so ist meine Absicht dabei weder die anmassende gewesen, dieses einzige, geniale Werk, das Buch der Dornrose, fortzusetzen, noch auch die, in individualisierten Gestalten gewisse Zeittypen zu schildern. Ich habe das Milieu des Jagdschlosses nur deshalb gewählt, weil ich so am ungesuchtesten den Zusammenhang zwischen Almquists Ideen und meiner eigenen Entwicklung darlegen konnte, auf die er einen tiefen Einfluss genommen hat. Und ich wollte nur so viel Verschiedenheit zwischen den Meinungen Hugos und der anderen Beiden haben, dass ein Meinungsaustausch entstehen kann. Im übrigen drückt Hugo oft, Julianus und Rikard immer meine eigenen Gedanken oder Gefühle aus.
Hugo ist ein aristokratischer schwedischer Gutsbesitzer, ein subtiler Schönheitsgeniesser und Feinschmecker auf allen Gebieten. Rikard, der Maler, ist, als Künstler, seinem Instinct und Geschmack nach auch Aristokrat, ein Individualist, aber mit sozialdemokratischer Anschauung. Julianus ist, wie sein Vetter Hugo, schwedischer Gutsbesitzer, hält sich aber meistens im Auslande auf. Für ihn, den Kosmopoliten und Lebenskünstler, ist das Dasein so überwältigend reich, dass weder eine patriotische, noch eine künstlerische einseitige Thätigkeit ihn zu befriedigen vermocht hat. Die Nüance zwischen den drei Sprechenden ist die, dass Hugo eine verflossene, Rikard eine gegenwärtige und Julianus eine künftige Entwicklungsepoche in demselben Gefühlsleben repräsentiert.
Keine unehrerbietige Hand hat den edlen Stil des Jagdschlosses gestört. Der weisse Bau ruht noch in stiller Anmut auf seiner Klippe, von den hohen Bäumen des Gartens und des Parkes umgeben, die die Insel bis hinab zum See bedecken, dessen weiter Spiegel noch immer von den dunklen Linien der Föhren und den hellen der Birken eingerahmt wird. Auch das Innere des Schlosses ist wie in den Tagen des Hofmarschalls Hugo Löwenstjerna. Aber der hohe Vorsaal mit der doppelten, halbkreisförmigen Steintreppe hallt nicht länger von den Schritten und Stimmen einer Jugendschar wieder. Der silberhelle Sechsschlag der Turmuhr mahnt keinen Erzähler zu dem vergoldeten, niedrigen Sessel mit dem blauen Sammetkissen in dem schön geschmückten Historiensalon. Und keine Freunde versammeln sich dort, im eifrigen Harren auf ein Märchen mit purpurfarbenen Schwingen oder eines der schwarzgewandeten, das an den Herbstabenden bei der Flamme im grossen Kamin die Gesichter Aller erbleichen machte.
Der Historiensalon steht zumeist leer. Denn des Jagdschloss nunmehriger Bewohner aus Löwenstjernaschem Geschlecht zieht den nach Westen blickenden, gelben Salon vor, mit den drei grossen Fenstern, die die freie Aussicht über die kleinen Inseln des Sees gewähren, und dem blauen Wald, der auf der anderen Seite den Gesichtskreis begrenzt.
Das Jagdschloss, das von dem Hofmarschall auf seinen ältesten Sohn Franz überging, ist jetzt im Besitz von dessen Sohn – wieder einem Hugo Löwenstjerna – der vor einiger Zeit nach mehrjährigen Reisen in den Mittelmeerländern wieder nach seiner Heimat in Nerike zurückgekehrt ist. Als seinen Gast für den Winter hat er einen auf seinen Reisen gewonnenen Freund mitgebracht, dem der Zufall die Hälfte des Namens gegeben hat, der noch in der Luft der Säle des Jagdschlosses, der Alleen des Parkes zu zittern schien: Rikard Furumos. –
Hugo und Rikard, der Maler, erwarteten von ihrem Zusammensein Das, was der Hofmarschall eine Ahnung des Himmelreichs genannt hatte, das will sagen, einen trauten Umgang zwischen Freunden ohne alle Unterbrechung. Um in Wirklichkeit, nicht bloss nach dem Buchstaben, diese Erwartung erfüllt zu sehen, waren sie übereingekommen, sich nur bei dem späten Mittagessen zu treffen, das der Enkel ebenso wie der Grossvater liebte, zu einer Phantasie zu gestalten, während welcher alle Sinne genossen und die Rede nur um die Themen gaukelte, über die später oft noch die Mitternacht die Freunde in einem Wortwechsel begriffen fand, dessen Ruhe davon Zeugnis ablegte, dass sie Zeit vor sich hatten und sich so in keiner Weise zu ereifern brauchten.
Der Spätherbst war angebrochen, und in dem gelben Salon flammte ein grosses Feuer von Eichenscheiten. Hugo und Rikard hatten ziemlich still dem Spiel der Flammen zugesehen. Als das Feuer herabzubrennen begann und das Dunkel sich von den Ecken des grossen Raumes auch seiner Mitte näherte, sagte Hugo:
– Ich denke, wir zünden jetzt Licht an. Ich sehe gerne den Wein, den ich trinke.
– Ich auch – antwortete Rikard – besonders Rheinwein. Ich weiss nicht, welcher Sinn ihn am meisten geniesst, aber ich glaube, das Auge. Die Farbe hat etwas von dem Weissgold, das der Himmel lange vor Sonnenaufgang annimmt, dieses hellleichte Morgenklare, das sich in manchen Temperamenten findet, zum Beispiel bei Julianus.
Hugo, der ein Fruchtstück mit graugrünen und gelbweissen Aepfeln und einigen kupferroten Blättern, wie Rikard sich ausdrückte, retouchiert hatte, schob jetzt die Majolikaschale diesem zu, indem er antwortete:
– Julianus ebenso wie Eleonora haben dieses Temperament, aber sie haben es ganz für sich. Sie sind einzig. Ein Zug zeichnet sich doch aus, den man zuweilen auch bei anderen Kindern der freien Liebe findet: eine Fülle von Kräften.
– Was meinst Du? Ihre Eltern waren ja getraut?
– Ja, allerdings segnete ein Priester sie ein – aber in diesem Falle hat es gar nichts geschadet! Meine Tante Aurora, die sich als Mädchen beim Stickrahmen damit vergnügte, Scenen aus dem wunderbaren Weltengewebe auszuarbeiten, die, wenn an sie die Reihe kam, das blaue Tabourett einzunehmen, frohgelaunter in ihren Gedichten war, als die Uebrigen, und die an der Musik, welche alle Kinder des Jagdschlosses trieben, mit einer Stimme teilnahm, welche jene harmonische Fülle und jenen Klang besass, dem man den Namen seraphisch giebt – sie war, gleich ihren Geschwistern, ein wenig altmodisch geworden in Gesellschaft der Freude, dieser war ein Gleiches widerfahren! Als sie liebte, wollte sie darum die Freude verwirklichen und eine neue wunderbare Scene dem Weltengewebe einfügen. Sie hatte die besten Möglichkeiten des Erfolges. Denn sie und ihr Vetter Julianus liebten nicht nur einander: sondern ihre Liebe ruhte auch auf einer vollkommenen Gleichheit. Jede Seele war auf dieselbe Tonhöhe gestimmt, wie die des Anderen, aber das Gemüt eines Jeden hatte die Farbe, welche die Complementärfarbe zu der des Anderen war. So konnte Aurora ihre neue fröhliche Dichtung schaffen, ihre eigene harmonische Musik: ein langes glückliches Liebesverhältnis. Sie wie ihr Gatte behielten die Worte ihrer Tante Eleonore vor der Hochzeit im Gedächtnis. Sie fuhren immer fort, zu glauben, dass sie etwas thun mussten, um geliebt werden zu können, um einander zu gewinnen, zu verdienen; sie betrachteten sich nie als verheiratet, meinten nicht, einander errungen zu haben, einander ganz wert zu sein. Sie liessen stets etwas unerreicht und unerreichbar zwischen sich sein. Sie wussten, dass die Traulichkeit nicht leben, nicht atmen kann, wenn nicht etwas Geheimnisvolles weiter zwischen den Menschen besteht, die traulich miteinander leben wollen. Sie liessen nie die vollkommene Aufrichtigkeit, Klarheit und Helligkeit zwischen ihnen verletzen oder verwischen, aber sie liessen stets etwas auf dem Grund der Gefühle, der Gedanken und der Sinne zurück, das machte, dass sie gegenseitig ihre Gesellschaft wünschten. Beider Wesen behielt dadurch für den Anderen diese zum Teil unerklärte Klarheit, die man Anmut nennt, weil Beide den jungfräulichen Sinn bewahrt hatten, der nie aufhört, gefallen zu wollen. Ihre Ehe war die einzige vollkommene, die ich gesehen habe. Vielleicht ist es ihre Harmonie, die in den Kindern weiterlebt. Julianus hat mich oft dadurch erstaunt, dass das Leben selbst ihm genug ist; dass er so tief geniesst, dass er keines anderen Zieles zu bedürfen scheint.
– Ja – sagte Rikard – er beherrscht jede Situation, weil er so sorglos getrost ist und sich ihr ganz hingiebt. Er hat ein Ebenmass, das Alles schön macht, eine Regsamkeit, die Alles um ihn erweckt.
– Er ward in der Religion des Jagdschlosses erzogen: »dem Herren Rosen zu opfern!« Und nichts ist so erfolgreich wie das Glück – mag es sich nun um die Erziehung oder um das Leben handeln! Er hörte niemals einen härteren Vorwurf als: Das war hässlich! Seine strengste Strafe – deren er sich noch mit Schmerz entsinnt – war, dass, als er einmal seinem Vater sehr zuwidergehandelt hatte, dieser ihm eine Sache gab, die Julianus sich seit langem gewünscht hatte. Durch Geburt sowohl als durch Erziehung hat er etwas von dem geträumten »animal coeleste« des Jagdschlosses, hat den in himmlischem Verstande reinen Sinn, der die volle Harmonie zwischen Wesen und Wille ist. Er ist das Seltsame: ein vollkommen einheitlicher Sinn. Eine Doppelregung, eine Zersplitterung der Seele ist für ihn ein unbekannter Begriff. Er hat immer gewusst, was er wollte, immer gewollt, was er war. Er hat andere Werte, eine andere Empfänglichkeit als andere Menschen, ein anderes Dunkel, eine andere Klarheit. Er gebraucht die Zeit anders und verschwendet sie anders. Doch da kommt er selbst! War der Park schön heute Abend, Julianus?
Julianus löschte die Lichter und ging zu einem der hohen Fenster, das er öffnete. – Seht – sagte er.
Der See lag graublau im Mondlicht und spiegelte gegen den Strand zu die dunkeln herbstlichnackten Aeste der Eichen und Linden. Ein weisser Mond glitt über den Himmel und zersplitterte einmal ums andere mit seinem Silberdiscus die Wolken, die sich gegen seine Scheibe drängten und oft ihren Glanz trübten. Jedes Mal, wenn der Mond die Wolken durchbrach, denen er die Halbdurchsichtigkeit des Alabasters gab, strömte sein Schimmer in perlenweissen Fluten in den Saal und verlöschte die letzten, glutroten Streifen des Kamins. Durch das Fenster drang die mildfeuchte Luft ein, gesättigt von dem Duftgemisch welkender Blätter und feuchter Erde. Hugo atmete sie tief ein, schloss dann das Fenster, und als Alle wieder um den Kamin sassen, sagte er mit der gedämpften Stimme, die nach einem langen Schweigen gewöhnlich ist:
– Dieser Herbstduft, diese Beleuchtung hat eine wunderliche Macht, Erinnerungen zu wecken. Nichts würde mir jetzt natürlicher scheinen, als dass der Grossvater einträte, in seinem gelben Seidenschlafrock und seinen dunkelroten Sammetpantoffeln, und hinter ihm Rikard Furumo mit dem dichten schwarzen Haar, den hohen glimmenden Blicken und den freien ungebundenen Bewegungen. Ich habe beinahe ein Gefühl, wie wenn sie hier ständen und auf ihren Lehnsessel warteten ...
– Ja – sagte Julianus – die Nacht, aber vor allem die Herbstnacht, beschwört wirklich Geister! Wenn die Laute verstummen und das Dunkel alle Raumverhältnisse verwischt, ist es, als verwischten sich auch die Grenzen der Zeit, als strömte Vergangenheit und Zukunft hinein in das Jetzt, oder dieses in sie. Die Toten und die Ungeborenen werden wirklicher als die Lebenden. Und ich wünschte, dass wenigstens Rikard Furumo, der an Gespenster glaubte ...
– Das thue auch ich – unterbrach Hugo – und meine wie er, dass der Grund, weshalb wir keine Gespenster sehen, der ist, dass heutzutage Keiner einen Anderen so unaussprechlich liebt, dass er aus Sehnsucht nach einem über die Grenze des Lebens ausgedehnten Beisammensein umgeht – ebensowenig wie man jetzt so tiefen Hass hegt, dass man sich dafür die Mühe machen möchte zu spuken. Und leider gilt auch sein Schlussargument noch: dass es unmöglich Jemanden interessieren könnte, in eine Welt zurückzukehren und dort zu spuken, in der man es so ausserordentlich langweilig gehabt hat, dass der Tod zweifelsohne ein Gewinn war. Ich glaube, dass, wenn wir eine angenehmere, jugendfrischere, mutigere Zeit hätten, wenn wir Menschen hätten, grösser in der Liebe, stärker im Groll: kurz gesagt, eine interessantere Erde, um darauf zu wandeln, die Gespenster schon auch dahin kommen würden!
– Dieses – sagte Rikard – ist das einzige Spirituelle, das je über den Spiritismus gesagt wurde! Ich, der ich nie im Leben auch nur eine so weit mystische Erfahrung gemacht habe, wie die, ohnmächtig zu werden, und dem nicht so viel Aberglaube im Blut sitzt, dass ein Tropfen von einer Nähnadelspitze heraufgeholt werden könnte, ich bin jetzt sehr begierig geworden, dass Rikard Furumo sich herablassen möge, uns zu erscheinen – nichts könnte mir schmeichelhafter sein!
– Ich begreife – sagte Julianus – meine Schwester Eleonora, wenn sie sagt, dass sie nie einen anderen Mann geliebt hat, als diesen Rikard Furumo, und dass es zu den Vorurteilen gehört, dass man zu seinem Glücke eines Zeitgenossen bedürfe! Sie wenigstens hat ihr harmonisches Liebesverhältnis nie dadurch stören wollen, dass sie ein Halbglück mit irgend einem Lebenden suchte!
– Es ist für den Bestand der Menschheit gut – fiel Hugo ein – dass nicht viele Frauen Eleonoras Vorurteilslosigkeit besitzen!
– Ich bewundere sie – sagte Julianus – Die Menschen haben das Dasein dadurch zerstört, dass sie durchaus einen Zweck haben wollen – nicht nur für das Leben, sondern für Alles im Leben! Der Zweck des Erdenlebens ist die Ewigkeit, und der Zweck der Ewigkeit ist die Seligkeit. Man liebt, um sich zu verloben, und verlobt sich, um zu heiraten, und heiratet, um Kinder in die Welt zu setzen, und setzt Kinder in die Welt, um ihnen ein Amt zu verschaffen. Man studiert zu seiner Prüfung und macht die Prüfung zu seiner Beförderung. Man promeniert für seine Gesundheit und reist für seine Salonconversation. Man macht Kunstwerke, um sie zu verkaufen, und stellt sie aus, um die Menschen zu veredeln! Wann wird die Zweckmässigkeit der Ziellosigkeit weichen, die allein das Dasein verschönern kann?! Wann werden wir anfangen, einzusehen, dass wir in erster Linie, um etwas zu sein – und um etwas von dem, was wir sind, auszudrücken – lernen, lieben und schaffen?
– Das – antwortete Rikard – sehen schon jetzt Diejenigen ein, die schaffen und lieben, wenn sie Beides in grosser Weise thun. Denn dann haben sie die absolute Gewissheit der Notwendigkeit und der Selbstherrlichkeit ihres Gefühls!
– Ja – sagte Hugo – der Dichter liebt oft die Strophen am meisten, die nur er selbst versteht, und der Denker den Gedanken, dessen Tiefe eines der Geheimnisse bleibt, »die mit uns vergehen« ... Flaubert begriff die Meisterschaft der Sprache als Selbstzweck, er, der während des »Suchens nach dem Mysterium des schönen Satzes seine glücklichen Funde durch einen sublimen Schauer belohnt fühlte, der ihn mit dem Dasein versöhnte.« Der Bildhauer fühlt dasselbe vor dem Entwürfe, wenn es auch nie zu mehr kommt, als zu dem Schatten eines berauschten Schöpferaugenblickes. Der Mystiker in seiner Zelle fühlte so im Rausch der Gottesgemeinschaft ...
– Und – sagte Julianus – Goethe der alles das fühlte – und noch vieles mehr dazu – er erfuhr dasselbe auch auf dem Gebiete der Liebe, wo seine eigene erotische Lebensweisheit die sonnentrunkene Replik seiner Philine war: »Wenn ich Dich liebe, was geht's Dich an?« Den Liebenden und den Schaffenden selbst fällt es, wie Rikard eben hervorhob, nicht schwer, von dem kleinen Zweckbegriff loszukommen, der sonst das Dasein so unerhört verhässlicht, die Menschen so jämmerlich herabdrückt. Man erzieht die Jugend zur Behutsamkeit. Man soll nichts Anderes riskieren, als das Ziel, das man mit Bestimmtheit erreichen kann – denn sonst wird man lächerlich oder unglücklich! Und so wird der junge Mensch zu einem Schatz für eine Lebenversicherungsgesellschaft gemacht, aber untauglich zu dem Lebensabenteuer! Bevor wir nicht wieder, gleich unseren Vikingerahnen, die Gefahr selbst schön finden und nur den Tod auf der Streu entsetzensvoll, können wir nicht anfangen zu leben.
– Ja – sagte Hugo – unsere Resignation ist oft nur ein hübscher Name für unsere Feigheit vor dem Leiden! Als ob das Leiden das Schlimmste wäre, das wir zu fürchten haben! Wenn wir den Tod in unseren Lebensplan hineinbezögen, könnten die Lebensversuche – so wie in grossen, unruhigen Zeiten, in denen das Leben für Alle eine stete Gefahr ist – wieder wagemutig werden. Und dann würde uns auch das Schicksal unendlich viel mehr geben – denn sein Edelmut steht oft im Verhältnis zu unseren Forderungen, und das gefährlichere Leben wird in jedem Falle das reichere Leben sein! Nimm Dein Schicksal auf Dich; wenn Du den rechten Heldenmut hast, so sei froh darunter und geh zu Grunde – diese Weisheit Rikard Furumos kann uns von dem Aberglauben befreien, dass man existieren muss. Dieses ist durchaus nicht notwendig! Aber zu leben, so lange man existiert – das ist das einzige Notwendige; sich nicht vom Leben verunstalten lassen; nicht eine unnütze Bürde der Erde werden, wenn man nicht länger den Menschen etwas von Wert zu geben hat ...
– Wenn man – sagte Julianus – eingesehen hat, dass nur der, welcher das Leben noch liebt, wert ist zu sterben; dass nur der, welcher die Verhältnisse nicht umzugestalten vermag, von denen er fühlt, dass sie ihn zu einem geringeren Lebenswert umgestalten werden, ohne Feigheit aus dem Dasein scheiden kann! Wir müssen grosse Geduld haben, wenn wir auf uns selbst warten. Und dann ein wenig Aberglauben in Beziehung auf das Leben! Aber zuerst und zuletzt müssen wir es lernen, die Leiden zu lieben, die uns grösser machen. Und die Voraussetzung dafür ist, dass wir den Zweckbegriff in seiner jetzigen oberflächlichen Bedeutung ausrotten. Seine gefährlichste Wirkung zeigt er in dem Verhältnis zwischen Mann und Weib. Wie klein ist nicht die erotische Gefühlssphäre geworden, weil man als ihr ganzes Ziel jene Seite des Verhältnisses betrachtet hat, die neue Wesen schafft! Dieser, Adams – auf den Autoritätsglauben hin leichtsinnig angenommene – Zweckbegriff verhindert uns noch einzusehen, dass die Individuen auch in erotischer Beziehung vor allem für sich selbst da sind. Und dass die Stärke und Grösse ihres eigenen Gefühls für sie entscheidend sein sollte – durchaus nicht die sogenannte Erfüllung desselben! Das geliebte Wesen nie besessen oder es verloren zu haben – was bedeutet das eigentlich? Für Viele – besonders lyrische Dichter – ist es ein unschätzbarer Vorteil gewesen! Und die glückliche Liebe ist nicht nur die, die erwidert wird oder »ihr Ziel erreicht«, die tiefste Liebe ist es, welche die glücklichste ist, und die hat oft gar kein Ziel erreicht! Aus dieser ganzen Zweckanbetung – und dem Eigentumsbegriff – stammt die verletzte Eitelkeit, die kleinsinnige Eifersucht, die noch Hand in Hand mit dem Misslingen geht und so unerhört das Zusammenleben zwischen den Geschlechtern verunstaltet. Dieser Zweckbegriff hat unzählige Möglichkeiten zu feinen seelenvollen Verhältnissen zwischen Mann und Weib zerstört, entweder weil sie es sich selbst oder Andere es ihnen nicht gönnten, in Ruhe grosse Gefühle ohne Ziel, schöne Gefühle ohne Namen zu hegen, Gefühle, denen nun einer der Teile oder die Aussenstehenden die uneigentliche und grob irreführende Zweckbezeichnung gegeben haben! Nein, lasst uns ein für allemal diese ganze Theorie umwandeln und einsehen, dass weder die Liebe noch irgend etwas anderes im Leben Wert hat, wenn es nicht im stände ist, zum Selbstzweck veredelt zu werden, und erst in zweiter Linie auf andere Zwecke abzielt!
– Ich – sagte Rikard, der seinen Römer füllte – fühle sogar, dass dieser Wein Selbstzweck ist! Er ist nicht da, weil ich durstig bin – sondern ich werde durstig, weil er da ist in seiner herrlichen Vollkommenheit! Es ist ein grosser Mangel an Cultur, dass man Weine, Musikprogramme, Gemälde mischt, anstatt tief jedes Künstlers und jeder Traube Most zu schlürfen! Denn auch einem Wein muss man sich ganz hingeben, um in seine Persönlichkeit einzudringen. Es ist mir eine der kleinen Sorgen des grossen Lebens, dass es Menschen giebt, für die der Wein nur ein körperlicher Genuss, und andere, für die er nur ein verbrecherischer ist! Keiner von ihnen ahnt alle die ästhetischen, culturellen und religiösen Gefühle, die durch Alles geweckt werden, das die schönste Daseinsform der Natur in sich zusammenfasst: das Brot, die Früchte, der Wein, der Honig! Der, den Hugo vom Hymettos mitgebracht hat, giebt mir in einem einzigen süssigkeitsreichen, duftschweren, goldklaren Tropfen das ganze Sommerglück der hellenischen Erde! Ich sehe homerische Paläste, Panathenäerzüge und Perikles' Symposion, ja – wenn ich Wein dazu trinke – auch die weissarmige Hera! Die das Wesen des Weins nicht ahnen, sind dieselben Menschen, welche »aus Sokrates Geschichte ausschliessen wollten, dass er tanzte!«
– Ja – sagte Julianus – es herrscht eine wunderbare Verwirrung in den Begriffen der Menschen, die nicht einsehen, dass die Sinne seelenvoll, die Seele sinnlich ist! Sie fassen nicht einmal das Wort sinnlich, dem sie eine niedrige Bedeutung gegeben, weil sie nicht wissen, diese ätherfeinen Wesen, dass sie selbst dann noch sinnlich sind, wenn sie zu den Sternen aufblicken oder Lilienduft einatmen! Diese hermetisch conservierte Geistigkeit ahnt nicht einmal, dass jeder grenzenlose Genuss der Seele eine körperliche Wollust ist, jeder massvolle Genuss der Sinne eine Ekstase der Seele. Je grösser angelegt ein Mensch ist, desto fester ist diese Einheit in dem geistig-körperlichen Leben. Der grosse, ganze Mensch versteht es – nach Blakes göttlichen Worten – »to seize all the spirits of life and bind their warbling joys to our loud strings, bind all the nourishing sweets of earth to give us bliss ...« Bevor nicht der moderne Mensch jene religiöse Auffassung der Sinnlichkeit wiedererlangt hat, die der Antike eigen war und – allerdings weniger religiös – auch der Renaissance, muss jedes Streben, das Seelenleben zu steigern, nur in Askese, Supranaturalismus und Magie ausmünden. Die Verfeinerung des Seelenlebens muss von aussen nach innen gehen, um gesund und schön zu sein!
– Und – sagte Rikard – bis zu welchem Grade die Verfeinerung der Sinne, bei allen Berührungsverhältnissen mit dem äusseren Dasein, in Wechselwirkung mit der Anmut der Sitten steht und der Milde der Seelen, das kann man in Japan erfahren. Ein Europäer, der selbst nicht arm an Seele ist, soll dort eine Leichtigkeit des Lebens geniessen, wie nirgends anderswo. Aber er muss aus seinem eigenen Fonds Schatten in all den vielen Sonnenschein bringen! Denn die Japaner sind nicht auf europäische Art seelenvoll. Sie sind pantheistisch von der Natur aufgesogen und entbehren der eigenen Individualität. Ihre Seele ist wie ein Spiegel der Natur, während der Europäer »die ganze Natur sich als Folie unterlegt.« Aber das Verschmelzen des Japaners mit der Natur ist – um paradox zu sprechen – in dem Grade passiv, dass es activ wird! Ich bin beklommen vor der Innigkeit und Mannigfaltigkeit aller der Naturbeobachtungen gestanden, vor dem Nuancierten und Auserlesenen aller der Sensationen, die sich in so einfachen Dingen ausdrücken, wie dem Ordnen der Blumen in einer Vase! Ich bin überzeugt, dass sie eine Seligkeit aus dem Gefühlssinn, dem Farbensinn, dem Dufte, der Abwägung von Schwere- und Proportionsverhältnissen schöpfen, von der selbst wir europäischen Künstler nicht mehr als eine Ahnung haben! Ich denke manchmal darüber nach, ob wir wirklich unser Schönheitsgeniessen zu diesem Grade werden steigern können und dabei doch unser individuell selbstausgefülltes, nach innen gekehrtes, stark accentuiertes Seelenleben behalten!
– Kaum mit unseren jetzigen seelischen Ressourcen – antwortete Julianus.
– Noch ist es wahr, dass »nous n'avons rien de quoi toujours aimer, ni de quoi toujours souffrir« – wir müssen in manchen Beziehungen stumpf sein! Aber wenn wir in Zukunft ein Seelenleben haben werden, dessen gewöhnliche Daseinsform die allesumschliessende Spannkraft ist, die uns erfüllt, wenn wir einen Menschen, einen Gedanken, ein Werk, eine Gegend lieben – dann haben wir eben jene Verdoppelung der ganzen Seelenkraft erreicht, die den Sinnen die wachste Empfänglichkeit verleiht für Alles, das sie umgiebt, und der Seele die grösste Intensität in all den Empfindungen, die sie ausfüllen! Wir werden nach und nach das psychologische Gesetz aufheben, dass gewisse Eigenschaften einander ausschliessen wie Plus und Minus! Man hat ja schon gesehen, dass ein tiefes Gefühlsleben sich viel öfter mit einem starken intellectuellen Leben vereinigt als mit intellectueller Unbedeutendheit; dass – wie ich schon vorhin sagte – gerade die Seelenvollsten die Sinnlichsten sind!
– Wie es damit gehen kann – sagte Hugo – darüber habe ich keine klare Ansicht. Wovon ich viel erwarte, das ist unser neuer Blick in die Natur. Unser Naturgefühl ist jetzt in einer ebenso tiefen Umwandlung begriffen wie zu der Zeit, da die Gefühle der Menschen durch die astronomischen Entdeckungen umgewandelt wurden, die wunderliche Zeit, da der Mensch seines stolzen Glaubens beraubt ward, dass die Erde der Mittelpunkt der Welt sei, weil er sie bewohnte! Aber zugleich erlangte er damit seine ganze neue Machtstellung auf Erden. Und jetzt sind wir, indem wir den Evolutionismus in unser Bewusstsein verwoben haben, noch mehr gezwungen worden, unser Selbstgefühl umzuwandeln. Wir wissen uns aus denselben Grundstoffen geformt wie die unorganische Natur und von denselben Gesetzen gebunden wie die Tiere. Nach und nach hat sich die Demütigung in Mitgefühl mit der Allnatur umgesetzt, Mitgefühl in des Wortes allereigentlichstem Sinn! Und aus diesem Gefühl wächst jetzt – gerade wie in der Renaissance – eine neue, stolze Auffassung unseres eigenen Daseins hervor!
– Und – sagte Julianus – es hat neue, unendliche Perspectiven eröffnet! Nichts ist mehr fest für unser Bewusstsein, aber auch nichts abgegrenzt, für allezeit fertig! Alles ist ein noch fortdauernder Schöpfungsact – in uns, ausser uns, durch uns – Alle sind wir Urheber der Genesis! Diese Steigerung unseres Machtgefühls hat die Missstimmung über die Verlängerung unseres Stammbaumes nach unerwarteten Richtungen hin hundertfach aufgewogen! Neue Glücksgefühle sind schon entstanden, eine neue kosmologische Phantasie ist im Begriffe sich auszubilden eine Phantasie, die uns neue Mythen und Symbole für unsere neuen Gefühle und Gedanken gegenüber der Natur geben wird! Wir stehen mitten in einer Zeit, die in all ihren Anfängen ebenso reich ist wie die Renaissance. Und in mir erklingt oft Ulrich von Huttens Jubel über das Glück, gerade in einer Zeit zu leben, in der Alles sich erneut!
– Was Ihr Beide – sagte Rikard – von dem neuen Naturgefühl sagt, hat in der Kunst schon angefangen, Wirklichkeit zu werden. In äusserer Beziehung ist es wohl der japanische Einfluss, aber tiefer gesehen, unser durch den Evolutionismus gewecktes Gemeinsamkeitsgefühl mit der Natur, das angefangen hat, in der Landschafts- und der Tiermalerei hervorzutreten, und das bei dem Entstehen des neuen decorativen Stils unseres Jahrhunderts mitwirkt. Man ist in das Dunkel, in den Nebel eingedrungen; man hat die Mannigfaltigkeit des Sonnenlichts entdeckt; man hat Augen für den Sumpf, den Tangstrand, die Haide, die Herbstfelder bekommen! Und in der decorativen Kunst beschränken die Motive der Natur sich jetzt nicht auf eine kleine Anzahl stilisierter Menschen-, Tier- und Pflanzenformen. Der Mensch wird mit Haut und Haar herübergenommen, als Körperbewegung! Wir haben ein so viel innigeres Empfinden für das Wesen und die Formen der Natur, für ihre Art, in ihrer eigenen vollen Wirklichkeit, ihrer Unerschöpflichkeit, ihrer Wunderbarkeit schön zu sein, dass wir sie ohne weiteres in die angewandte Kunst hinüberverpflanzt haben: die Sonne und den Mond ebenso wie die Schneeflocke und das Herbstlaub; die Fische im Meer so wie die Vögel in der Luft; die Binse und die Alge, die Wolke und das Insect! Und je mehr die Kunst die Naturanschauung der Wissenschaft mit ihrer eigenen verschmilzt, desto unentbehrlicher wird sie auch für den modernen Menschen werden, der, unbewusst oder bewusst, von Ausdrucksformen des sich vertiefenden Bewusstseins unseres organischen Zusammenhanges mit dem Allleben umgeben sein will. Wir sind auf weiten Umwegen wieder bei dem Gefühl des heiligen Franciscus angelangt, dass die Lilien unsere Schwestern sind, die Vögel unsere Brüder.
– Ja – sagte Julianus – in unserer Zeit vollzieht sich etwas, das mich neidisch macht, dass ich es erlebe, anstatt Rikard Furumo und mein Vater, die zusammen darunter litten, den Weltfetzen zu betrachten, während sie sich damit zu trösten suchten, dass alles Lebende ein amabile fractum sein muss, dass ein richtiges Fragment, so wie das Leben, künstlerischer gebrochen ist, als wenn es ganz wäre! Wir teilen mit unseren Vätern das Gefühl, das den Menschen ergreift, wenn das Abendgold des Frühlings hinter blühenden Bäumen eine Ahnung der Seligkeit giebt; wenn die bläulichweissen Sterne der Sommernacht Ewigkeitssehnsucht glimmen – das Gefühl, dass unsere bewusste Seele ein zu enger Käfig ist für einen Vogel mit zu grossen Flügeln! Wir haben wie sie gehofft, dass einstmals alle Grenzen fallen werden zwischen Volk und Volk, zwischen Seele und Seele, zwischen Seele und Sinnen, zwischen Wunsch und Möglichkeit. Wir haben gleich ihnen eingesehen, dass das Geheimnis des Schmerzes in »unserer Macht, zu wünschen, unserer Nötigung, zu verzichten liegt« ... Wir wissen, dass noch jede Regung unseres eigenen Gefühls eine Curve beschreibt, die die Gefühlscurve eines Anderen tangieren, aber nie mit ihr zusammenfallen kann; dass jede Bewegung unseres Gedankens eine Linie zieht, die den Gedanken eines Anderen schneiden, aber nie mit ihm gleichlaufen kann. Doch während Rikard Furumo nur hoffen konnte, dass der Mensch die Eigenschaft habe, sich immer mehr zu entwickeln, seelisch sich vielleicht unbegrenzt entfalten zu können, – so wissen wir, dass es sich so verhält. Ein glückliches Lächeln liegt auf dem Antlitz des Lebens, seit wir einsehen, dass Alles noch bloss ein Werdendes ist! Wir haben das blinde Triebleben überwunden und sind zur Sittlichkeit vorgedrungen. Wir werden die Sittlichkeit überwinden und zur Freiheit vordringen. Wir suchen noch immer die Gesetze des Lebens, aber verzweifeln nicht an den Fragen nach dem Woher und Wohin des Lebens. Wir haben gesehen, wie der eine ethische Begriffskreis, der eine religiöse Ideenkreis sich aus dem anderen mit derselben Notwendigkeit entwickelt hat, wie die eine Serie von Organismen aus der anderen, und wie sie – unter Auswahl und Anpassung – umgebildet wurden: entstanden, weil sie unseren Bedürfnissen entsprachen und umgebildet, weil sie das nicht mehr thaten ...
– Man kann – fügte Hugo hinzu – oft in sich selbst den Umwandlungsprozess durchmachen, zu dem die Menschheit Jahrtausende gebraucht hat oder brauchen wird. Ich habe z.B. eine Zeit durchlebt, wo mein Persönlichkeitsbewusstsein die Form der intensivsten Unsterblichkeitsforderung annahm. Ich fühlte mit all der Beweiskraft der blinden Leidenschaft, dass, wenn es keine Ewigkeit gäbe, die Energie meines Willens sie sich erzwingen würde! Und jetzt – bedeutet für mich der ganze Ewigkeitsbegriff kaum so viel wie der Sommerwind, der an einem heissen Tage kühlend über meine Stirn streicht!
– Gerade das – sagte Rikard – dass Alles – Religionen, Moralgebote, sittliche Ideale – aus unseren eigenen Bedürfnissen herausgewachsen ist, macht es einem unmöglich, ernst zu bleiben, wenn die Leute den Untergang der Menschheit aus geänderten Begriffen in diesen Materien prophezeien – dieselbe intelligente Unruhe wie die, dass der Mond seinen Weg nicht finden könnte, falls wir die Gaslaternen auslöschten! Die Leute begreifen nicht, dass, nachdem der ethische Idealismus einmal ein Teil des geistigen Organismus der Menschheit geworden ist, es weder für das Individuum noch für die Gattung ein Glück geben kann ohne das Streben, ethische Ideale zu verwirklichen; denn Glück heisst ja, in Harmonie mit unserem ganzen Wesen sein, uns Lustgefühle dadurch verschaffen, dass wir alle unsere Bedürfnisse befriedigen. Und zu diesen gehört nun einmal der Idealismus! Es ist ebenso unnötig, zu befürchten, dass die Menschheit den Antrieb zu ethischer Vervollkommnung verliert, wenn sie veraltete, ethische Begriffe ausschaltet, wie sich davor zu ängstigen, dass ein Maler nicht weiter malen wird, wenn er seinen Aufenthaltsort geändert hat! Merkt er, dass die neuen Motive undankbar sind – so zieht er wieder um! Das ist sehr einfach, und für ihn wie für die Menschheit lohnen sich gewöhnlich die Umzugskosten! Das Dasein ist so herrlich vereinfacht und so herrlich vergrössert worden, seit wir unsere Erklärungen aus unseren eigenen Erfahrung schöpfen, seit wir nach unserer Kenntnis unserer eigenen Natur handeln und ausserhalb derselben weder Ursachen suchen, noch Impulse erwarten!
– Und – antwortete Julianus – dieser Gedanke ist unser neuer Reichtum, obgleich er noch mit den Bedürfnissen der Mehrzahl im Widerspruch steht. Ein neuer Gedanke geht ja immer mit der Sonne, aber gegen den Wind, der augenblicklich weht! Und nicht nur von Seiten der Religion, sondern auch von Seiten der Philosophie werden Widersprüche gegen die Lebensanschauung laut, die unsere tiefsten Forderungen versöhnen will: den Monismus und den Individualismus. Diese werden als metaphysisch unvereinbare Gegensätze hingestellt. Ich lese keine Metaphysik mehr, denn ich sehe bald meine Grenzen ebensowohl ein wie meine Stärke, und ich überschreite niemals die ersteren – ebensowenig wie ich an der letzteren zweifle! Metaphysisch kann ich also nichts beweisen. Aber ich bin überzeugt, dass man nur dann Philosoph ist, wenn man nicht glaubt, was man weiss! Und so glaube ich, obschon ich metaphysisch die Unvereinbarkeit dieser beiden religiösen Begriffe weiss, absolut an ihre endliche begriffsmässige Versöhnung, so wie sie in meinem Fühlen schon verschmolzen sind! Wir modernen Individualisten, die wir nie auf einem einzigen Punkte, in einer einzigen Sekunde das Bewusstsein unserer persönlichen Differenzierung von Allem und Allen verlieren, empfinden gleichzeitig – zuweilen als Schmerz und zuweilen als Seligkeit – dass die Individuen zu Hemisphären geschaffen sind, dass Nichts ein ehrliches und richtig vollendetes Ganzes ist, als bloss das Ganze selbst; dass jedes individuelle Wesen, ungeachtet seiner kleinen Ganzheit, im weiteren Sinne ein Bruch ist, der nur durch ein anderes Wesen in eine ganze Zahl verwandelt werden kann; dass Jeder nur durch Andere vollendet wird und das Ganze durch Alle. Diese Ahnung ist es, die unseren Individualismus umso viel wärmer macht als den irgend einer anderen Zeit, weil unser Selbstgefühl, wie Hugo eben hervorhob, auch Mitgefühl ist. Wir fangen an, alle die feinen Fäden zu sehen, die uns an das Ganze binden – die Fäden, die auf der goldenen Spindel gesponnen wurden, welche seit der Zeiten Morgen zwischen den schöngeformten, strengen Händen der Schicksalsgöttin schwingt! Mit diesen Fäden werden wir den Weltfetzen zusammenfügen, so dass er für uns wieder zum Weltgewebe wird! Der Inhalt, der jetzt in widerspruchsvolle Empfindungen, Gefühle und Begriffe zersplittert wird, kann so einstmals einheitlich werden. Die Wirklichkeit wird uns dann eine solche Fülle von Leben geben, dass wir mit jedem Atemzuge empfinden werden, dass unsere eigene Kraftentwicklung, unser eigener Lebensreichtum hier in dieser Zeitlichkeit Selbstzweck ist – was immer später aus allem dem werden möge! Wir können dann alle die kindischen Gedanken entbehren, die wir von einem Gott oberhalb der Welt gedacht haben, wenn wir sehen, dass die Welt immer mehr und mehr göttlich wird, dadurch, dass wir selbst, nach Renans tiefen Worten, Gott verwirklichen!
– Ja – sagte Rikard – es erscheint mir immer als die gedankenleerste aller Gedankenlosigkeiten, wenn Anhänger des Evolutionismus mit einem skeptischen Lächeln den utopischen Träumen von Zukunftsmenschen begegnen! Die Menschen werden sich immer gleich bleiben, sagen sie – in demselben Atemzug, mit dem sie uns schildern, woraus der Mensch sich einstmals entwickelt hat! Ihre Phantasie lässt sich – in Beziehung auf die Zukunft – von den paar kleinen psychologischen Thatsachen fesseln, die man in den wenigen Tausend Jahren constatieren konnte, seit denen man historisch etwas vom Menschen weiss! Vielmehr sollte die Phantasie beflügelt werden von dem Bewusstsein dessen, was wir erreicht haben während der hunderttausend nachtverhüllten Jahre, die vor unserer historischen Periode liegen, dieser kleinen, kurzen, kalten Morgenstunde des langen Lebenstages der Menschheit! Diese phantasielose Begrenzung der Gelehrten ist der der lutherischen Geistlichen zu vergleichen, die den Protestantismus für immer abgeschlossen halten, oder der der Droschkenkutscher, die es ironisch bezweifeln, dass wir einmal wie Vögel fliegen und wie Fische schwimmen werden, Sommeraufenthalt auf dem Meeresgrunde haben, und einen Winterséjour auf dem Mars – wo es Farbeneffecte geben soll, die ich gern studieren möchte!
– Rikard – sagte Hugo lächelnd – ist wie der französische Porträtmaler, der, als sein Beichtvater ihn auf dem Totenbette damit erfreuen wollte, dass er im Himmel Gott immer »face en face« sehen würde, betrübt ausrief: immer en face – nie im Profil?
– Ja – antwortete Rikard – was in des Himmels Namen hätte ich im Himmel zu suchen ohne meine Maleraugen! Den Mars kann ich übrigens vorderhand entbehren – denn die Erde hat noch Farben genug für meinen Pinsel! Aber ich werde rasend über die Droschkenkutscher mit ihrem dummen kleinen Taxameter! Und Droschkenkutscher sind Alle, die es nicht gelernt haben, mit Jahren für Stunden zu rechnen, mit Jahrhunderten für Jahrzehnte, mit Jahrtausenden für Jahrhunderte! Und doch – wenn wir auch nur mit den letzteren rechnen, wie weit haben wir es nicht bloss in diesem Jahrhundert gebracht! Wie hat sich nicht z.B. der Natursinn vertieft, seit Rousseau im Walde vor seinem Epheu auf die Kniee fiel! Wie ist nicht der Persönlichkeitsbegriff gewachsen, seit man die Gleichheit der Menschen proclamiert hat, in dem naiven Glauben, dass alle inwendig dieselbe Zeichnung hätten! Wie hat nicht das Gerechtigkeitsgefühl zugenommen in dem Streben, diese alten, gesegneten Menschenrechte zu verwirklichen ...
– Von denen das Recht, sich zu verdummen, am fleissigsten ausgenützt wurde – fiel Hugo ein.
– Kommst Du schon wieder mit Deinem Groll gegen die Demokratie? – sagte Rikard. – Ich gebe gewiss zu, dass sie den Mund zu voll nahm, als sie versprach, die Gesellschaft im Handumdrehen umzugestalten. Aber der Demokratie ihre Aufgaben völlig abnehmen zu wollen, bevor sie noch ernstlich versuchen konnte, sie zu lösen – das ist, als wollte man das Bein eines Kindes amputieren, weil es lange währt, bis der Balg gehen lernt!
– Es ist mir unmöglich – sagte Hugo – zu verstehen, wie Du, der Du Aristokrat bis in die Fingerspitzen bist, nicht begreifen kannst, dass Deine demokratische Aristokratie ein Selbstwiderspruch ist, eine unlogische Wirrnis, eine Phantasie der Halbbildung!
– Du weisst – antwortete Rikard – dass ich, damit unsere Freundschaft sich nicht auf Illusionen aufbaue, Dir gleich sagte: dass ich zu den Glückstreffern meines Lebens das Fehlen aller Schulbildung rechne; dass ich mit schwankenden Schritten über die Eselsbrücke ging; dass ich die Drehkrankheit bekam, als ich das erste Mal eine Logik anschaute; dass es mir in den Ohren summt, wenn Leute von Haupt- und Nebensätzen sprechen; und dass ich, wenn Du mich bätest, den Satz zu analysieren »Die Kuh ist grün«, mir damit helfen würde, zu antworten: Die Kuh ist ein Object, das einem in hohem Masse subjectiven Urteil ausgesetzt ist! Aber ungeachtet dessen hast Du – obgleich es wie Zahnweh in Deiner akademisch gebildeten Seele schmerzte – zugeben müssen, dass ich selten Zusammenhang in meinen Gedanken oder Stil in meinen Briefen vermissen lasse! Was beweist, dass man am besten das weiss, was man nie gelernt hat; was beweist, dass es unergründliche Abgründe im Menschengeist giebt; oder dass im stillsten Wasser die tiefsten Fische sind!
– Auf diese Entdeckung – sagte Hugo lachend – müssen wir trinken! Und dann lasse ich Dick los, ohne ihm etwas zu leide zu thun. Denn über Politik mit einem Individualisten zu disputieren, der dazu ein Künstler ist, das ist, als wollte man mit einem Igel Ball spielen. Wir verlassen daher die höchst schmalspurige Bahn, die zu Dicks sehr zweifelhaftem Glückseligkeitsreich führt ...
– Komm mit in meines – sagte Julianus – obgleich auch das nicht Deine eigentliche Domäne ist! Als Dick eben hervorhob, wie der Persönlichkeitsbegriff sich vertieft hat, wollte ich daran erinnern, wie dieses auf dem Gebiete der Liebe der Fall gewesen ist, seit dem vorigen Jahrhundert bloss, über dem Ninons Geist schwebte, dieser reizenden Epoche, in der es doch keine grosse Passion gab, just kein Feuer. Der Abgrund erschreckte nicht die innersten Fasern des Herzens, auch lächelte hier kein Himmel, und keine rechte Sonne schien ... Aber trotz der unendlichen Vertiefung und Verfeinerung der Liebe in unserer Zeit glaube ich, dass die Erotik der Zukunft ebenso hoch über der unseres Jahrhunderts stehen wird, wie diese über jenen Zeiten steht, da der Mann mit einem Keulenschlag freite!
– Mir kommt es wahrscheinlicher vor – sagte Hugo – dass, wenn die Menschen seelenvoller werden, die jetzt so überschätzte Geschlechtsliebe ein viel geringeres Gewicht in ihrem Dasein erhalten und ihre Macht, weit davon entfernt zuzunehmen, mehr und mehr geschwächt werden wird.
– Dieser Gedanke – sagte Julianus – sollte durch ein von allen Tanten des Landes – jungen und alten, weiblichen und männlichen – subscribiertes Ehrenalbum mit ihren sämmtlichen Porträts belohnt werden! Wenn sie, Du und Tolstoj – eine Dreieinigkeit, die Dich bedenklich machen sollte – es wirklich zusammenbrächten, der Menschheit einzureden, dass die Liebe etwas Niedriges ist, so würde es nicht viele Generationen währen, bis die Tierischkeit sich in voller Pracht entfaltete! Denn die für das Dasein unentbehrlichen Triebe können nur unterdrückt werden – was früher oder später einen Rückschlag hervorruft – oder veredelt. Die Unterdrückung kann für eine Zeit veredelnd wirken, dadurch dass der unterdrückte Trieb das Seelenleben beeinflusst. So entstand zum Beispiel im Zusammenhang mit der mittelalterlichen Askese die Marienanbetung und, nachdem diese das Gefühl des Mannes verfeinert hatte, der Frauencultus und die Liebesdichtung. Aber die unmittelbare Folge der Askese wurden auf der einen Seite die heftigen Pendelschwingungen zwischen Hysterie und Hallucination, und rohe Ausschweifungen auf der anderen. Tolstojs Streben, die Geschlechtsliebe zum blossen Geschlechtstrieb zu erniedrigen, und dann diesen letzteren so viel als möglich herabzusetzen, zeigt eine ebenso grosse Culturfeindlichkeit, als ob er vorschlüge, die Statuen der Antike zu Pflastersteinen zu zerschlagen! Denn die Geschlechtsliebe ist nicht länger ein niedriger Trieb. Sie ist für unzählige Menschen eine die Persönlichkeit steigernde, die Seele entwickelnde Kraft gewesen, die man sich nicht aus der Kunst, der Litteratur und den Sitten fortdenken kann, ohne dass diese sich wie die Relieftrümmer auf Ninives Hügeln ausnehmen müssten.
Julianus reichte nun den alten grünen Römer Hugo, damit er ihn fülle.
– Bis zum Rande – sagte er – um den Wüstensand der Gedanken fortzuschwemmen! Und willst Du, indess ich trinke, so gut sein, mir zu sagen, was Du uns als Bewegungsmotiv, als Glücksinhalt zu gönnen beabsichtigst, nachdem Eros als Unruhestifter in der Kinderstube der Menschheit in den Winkel gestellt wurde!?
– Das kannst Du fragen – antwortete Hugo – weil Du nicht ehrsüchtig oder schaffensdurstig bist, weder in der Kunst, noch in der Gesellschaft!
– Ich bin es – antwortete Julianus – nur in anderer Weise als Andere. Ich glaube weder an die Zukunft der Kunst noch an die Umgestaltung der Gesellschaft, wenn die Menschheit nicht einen grossen Zuschuss von seelischem Inhalt bekommt, um ihre neue Kunst, ihre neue Gesellschaft damit zu erfüllen! Wie sollte ich da nur einen solchen Gedanken streifen wollen, wie den, die Macht des Gefühls zu vermindern, das die Menschheit schon vom brutalen Triebe zur allseitig harmonischen Liebe entwickelt hat! Und ausserdem, Du machst die Rechnung der Liebe mit der Welt ohne den Wirt. Denn in diesem »house of life« gebietet kein Mann! Da herrscht die andere Hälfte der Menschheit, das Weib. Und sie ist jetzt dahin gelangt, dass sie die grosse Liebe will – und es wäre eigen, wenn die Menschheit ihr darin entgehen sollte! Die Frau ist, wie Du vielleicht weisst, energisch, wenn sie etwas will. Schon Eva begann den Erdenklos Adam umzuformen, und ihre Töchter werden damit fortfahren, bis ihre feinen, beweglichen Finger die Liebe des Mannes nach dem Ideal des Weibes von der Liebe umgestaltet haben. Das erotische Ideal des Weibes ist – im Verhältnis zu jedem Zeitalter – immer seelenvoller gewesen als das des Mannes. Wer weiss, ob es nur ein Symbol ist, wenn Plato einem Weibe die Worte von dem bis jetzt ungekannten Eros auf die Lippen legt, der Quelle alles Wissens, der mächtigen Schaffenskraft im Dasein? In jedem Falle ist es ein Symbol, das seine dichterische Intuition zeigt! Das Streben des Weibes war es und wird es sein, auf diesem Gebiete die Zersplitterung zwischen der Seele und den Sinnen aufzuheben und diese auch bei dem Manne zu jenem absoluten Individualismus, zu jener Einheit zu verschmelzen, die sie bei dem entwickelten, selbstbewussten Gegenwartsweibe schon erreicht haben.
– Ja – sagte Rikard – wie viel complicierter und individueller sind nicht die erotischen Forderungen der modernen Frau gegen die ihrer Grossmutter! Ausnahmenaturen hat es ja zu allen Zeiten gegeben. Aber jetzt haben auch die Frauen im allgemeinen die unklaren und meistens niedergeschwiegenen Keuschheitsimpulse der älteren Frauengeneration entwickelt. Vor dreissig, vierzig Jahren setzte ja eine Frau ihr Pathos darein, sich für das Beste ihrer Eltern zu opfern, ihnen unbedingt zu gehorchen, ihr gegebenes Wort zu halten, auch wenn alles dieses sie in eine Ehe ohne Liebe führte, ja sie zwang, sowohl sich selbst als den Geliebten zu opfern! Da zeigte sich ihr Stolz darin, ihr Gefühl bis in den Tod zu verbergen, wenn es unerwidert war. Da suchte sie, auch in einer glücklichen Ehe, ihren Ruhm darin, dass ihre ganze Geschichte nur das Lebenswerk ihres Mannes oder ihres Sohnes war; dass ihr Wesen sich bloss mittelbar in dem Mute, der Ehrlichkeit, der Kraft spiegelte, womit diese ihre Aufgabe erfüllten. Sie schnitt ihre Haarlocke ab, um sie um die Bogensehne des Mannes zu winden, und bewahrte ihre Hände weich, um mit ihnen seine Wunden zu heilen. Sie sah mit strengen Augen ihre eigenen Pflichten, mit milden die Fehler des Mannes; sie hatte stets ein mutiges Lächeln, um seine Kümmernisse zu erhellen, und ein frohes, um seiner Freude zu begegnen! Und ich hoffe – um unseretwillen – dass die Grundzüge dieses Weibideals der alten Zeit stets Frauenwesen und Frauenglück verbleiben werden. Aber ich erhoffe dabei mehr clairobscur in den weiblichen Persönlichkeiten. Es liegt schon etwas Neues im modernen Weibe – etwas, das an die Schilderung von Mlle. de Lespinasse erinnert: »fille du soleil, qui eut animé le marbre et fait penser la matière« – eine grössere Wellenbewegung, eine reichere Zusammensetzung, ein intensiveres Seelenleben!
– Und – sagte Julianus mit warmem Tonfall – darum wird das Glück durch sie mehrerheischend, aber auch mehrgewährend! Die Frau hat erst jetzt angefangen, die blasse Einfalt einzusehen, mit der sie, als gläubige Nachbeterin der Anschauung des Christentums, das grosse Naturgesetz der Fortdauer des Lebens zu dem Unreinen gemacht hat, das fortgelogen werden sollte: in der Erziehung, in dem Zusammenleben der Menschen, im eigenen Fühlen, in der Kunst, in der Litteratur.
Dennoch ist etwas Berechtigtes in diesem Impuls gewesen, der sich sonst nicht hätte erhalten können, seit die festlichen Lichter der Renaissance erloschen und der graue Nebel des Protestantismus sich über die Seelen breitete. Die Frau hat – mit jener Sensibilität, die die christliche Auffassung der Sinnlichkeit noch verfeinert hat – gefühlt, dass die Bedingungen für die Erhaltung der Gattung unschön sind, wenn sie nicht zum Ausdruck eines seelenvollen Inhalts werden – ein Gefühl, das auch unzählige Männer haben, aber vom Trieb unterdrücken lassen, vor allem in der Ehe. Diese ist darum, da wo die Liebe fehlte, oft die tiefste sittliche Erniedrigung des Menschen geworden – ein Gesichtspunkt, den die Ehebewahrer beiseite lassen, – ebenso wie alle übrigen Arten, durch die innerlich zerfallene Gatten gegenseitig ihre Persönlichkeit demoralisieren und hemmen. Ich habe in dieser Richtung Geständnisse von Männern wie von Frauen gehört, die vielleicht gewisse Sittlichkeitseifrer etwas behutsamer in ihren Verdammungssprüchen über Ehescheidungen machen würden! Aber ungeachtet aller auch weiblicher Roheit und weiblicher Stumpfheit in diesem Punkte hat doch die Frau die Widrigkeit des Geschlechtsverhältnisses, wofern es nicht durch die Liebe geadelt wird, tiefer empfunden. Und da dies in den Ehen früherer Zeiten selten der Fall war, so kann es nicht wunder nehmen, dass die Frauen in Beziehung auf das Geschlechtsverhältnis kranke Gewissen hatten und zu diesem Punkte am liebsten schwiegen. Das Weib konnte die erste Unschuld der Natur erst einsehen, als es begriff, dass es durch die Einheit des Geistigen und Sinnlichen in der Liebe, die es schenkt und empfängt, die höhere Natur schaffen kann, die auf diesem wie auf allen übrigen Lebensgebieten der grösste Sieg der Cultur ist. Diese neue, völlig natürliche, aber veredelte, menschliche Liebe hat mit dem rohen tierischen Triebe nicht mehr gemein, als die weichen Glieder eines Kindes mit der Erde, in der sein Brod gewachsen ist! Und dieselben Frauen, welche, gerade weil sie seelenvoll waren, Ekel vor dem rohen Trieb und seinem erniedrigenden Einfluss auf die Menschheit empfanden, haben, wenn sie selbst liebten, mit dem Stolz des Machtgefühls erfahren, dass sie in ihrem Wesen das sinnlich-seelenvolle Glück des Geliebten tragen!
– Von einer solchen Liebe geträumt habe ich – sagte Hugo – aber mir ist sie nicht begegnet.
– Und doch – antwortete Julianus – ist sie in unserer Zeit öfter zu finden, als in irgend einer anderen, obgleich sie zu allen Zeiten existiert hat. Sie ist sich immer gleich – und dennoch ungleich. Jedes Herzens Traum, die Wellenbewegung seiner Gefühle, seine Angst, sein Jubel, seine Thränen, sein Lächeln wird ein ewig neues Erlebnis, ein stets eigenartiges Geheimnis zwischen jedem neuen Paar von Liebenden – oder zwischen des Liebenden eigener Seele und seinem eigenen Herzen! Aber doch weist die grosse Liebe einige bei allen Menschen und in allen Zeiten wiederkehrende Züge auf. Sie ist oft augenblicklich und bedarf selten irgend welcher Erklärungen. Sie weckt Ewigkeitssehnsucht und Vollkommenheitsdrang; sie bringt eine leidenschaftliche Reinheitsforderung und ein aufopferndes Hingebungsbedürfnis mit sich. Sie schafft ein so inniges Gemeinsamkeitsgefühl, dass keine Entfernung es beeinträchtigen kann, und so tiefe Ganzheitssehnsucht, dass keine Vereinigung sie zu stillen vermag. Das sinnliche Glück wird für dieses Gefühl nur das höchste Symbol der seelischen Einheit. Dieses grosse, sympathische Gemeinsamkeitsgefühl entsteht durch tausend grosse und tausend kleine Dinge – durch alles das Unaussprechliche, das in der Freundschaft wie in der Liebe das Geheimnis der Wahlverwandtschaft bildet. Es sind glückliche Aehnlichkeiten und glückliche Verschiedenheiten, die es machen, dass Jedes bis in die feinsten Fibern seines Wesens – physisch wie psychisch – in der Nähe des Anderen Ruhe fühlt, die volle Harmonie, die vertrauensvolle Geborgenheit empfindet, die es macht, dass die ganze Persönlichkeit es wagt, sich voll zu offenbaren, weil sie sich verstanden und verklärt, befreit und gesteigert fühlt und – vor allem – einen Anderen beglückend durch dieses Sichgeben, durch das Ersehnen und Empfinden der ganzen Persönlichkeit des Anderen. Es giebt noch nicht Viele, die so lieben können. Aber nur diese haben das einzige Wort von Bedeutung über die Liebe zu sagen. Für sie wird das ganze Dasein bedeutungslos, wenn es nicht im Zusammenhang mit diesem grossen Gefühl steht; des Lebens Fülle und des Lebens Untergang sind ganz davon abhängig. Und nur von diesen Naturen wurde das unaussprechlich tiefe Wort gesagt: Was heisst zu lieben wagen? Sterben zu können ist's!
– Dass Du – sagte Hugo – Dir lange darüber klar gewesen bist, das weiss ich, der Dich darauf ertappte, wie Du mit acht Jahren einen ganzen Winter lang Tegnérs »Axel« in der Tasche trugst und gestandest, dass Du jetzt wüsstest, was »der Erde und des Himmels Wunder« sei: etwas, worüber man stürbe, oder wahnsinnig würde – oder auch sehr froh. Dass ich keine Versuche mit der grossen Liebe angestellt habe, beruht auf demselben gesunden Instinct, der mich davon abhielt, Verse zu schreiben: nämlich dass man weder lieben noch dichten soll – wenn man irgend eine Möglichkeit hat, es bleiben zu lassen. Und in dieser Meinung, denke ich, begegnen wir uns doch?
– Vollkommen – antwortete Julianus lächelnd – die grosse Liebe ebenso wie die grosse Kunst entsteht mit Notwendigkeit!
– Aber beide – sagte Rikard – werden in Zukunft häufiger sein als jetzt. Was werden die Menschen nicht alles leisten können, wenn sie allgemein das Machtgefühl der Liebe erfahren, das ihnen den vollen Besitz ihrer eigenen Persönlichkeit giebt, wodurch ihnen dann auch das ganze Dasein zufällt! Denn gerade das Machtgefühl scheint es mir zu sein, das die grosse Liebe von der kleinen unterscheidet, ein Machtgefühl, das auch als gesteigerte Schaffenskraft zu Tage tritt. Die Werke der Kunst – Dichtung und Musik in erster Linie – inspirieren ja die Liebenden, aber die Liebe inspiriert ihrerseits Kunstschöpfungen – das Dankbarkeitsgefühl dürfte daher zwischen Eros und den Musen gegenseitig sein!
– Ich leugne nicht, dass Ihr in Beziehung auf die Vergangenheit Recht haben mögt – antwortete Hugo. – Der Unterschied zwischen uns ist, dass ich nicht glaube, dass das, was gewesen ist, auch fortdauern wird. Gerade die Verfeinerung des Gefühls, von der Ihr spracht, wird nach und nach die Stärke des Triebs verringern. Und ebenso wie ich glaube, dass der unbedingteste Ausdruck des Selbsterhaltungstrieb, der Hunger, »entmaterialisiert«, auf eine viel einfachere, leichtere Art befriedigt werden wird als jetzt, so glaube ich auch, dass der Selbsterhaltungstrieb der Gattung ...
– »Angels and ministers of grace defend us!« – brach Rikard aus. – Deine Geistigkeit führt entweder zum freiwilligen Aussterben des Menschengeschlechts oder zu einer obligatorischen Menschenfabrication! Ich bin froh, dass ich diese Generation nicht malen muss!
– Ich will – sagte Julianus – mein Bild vom Menschengeschlecht der Zukunft malen. Es wird eine Generation sein, in der der Trieb nicht verachtet, aber untergeordnet ist. Er wird das dadurch, dass er wie in der Antike von Licht umgeben ist, aber von einem der Antike unbekannten Licht: dem der neuen Klarheit der Menschheit über die Natur. Der Geschlechtstrieb wird dann nicht länger die heisse Fieberkrankheit sein, die jetzt verborgen, verdammt oder verherrlicht wird, sondern die kühle Gesundheit, mit der man sich nicht so viel beschäftigt, seit man es versteht, sie zu bewahren. Und dieses wird man verstehen, wenn der Mann nicht mehr die Roheit in die Ehe bringt, die er jetzt bei käuflichen Weibern lernt, und durch die jetzt in unzähligen Ehen Glück und Würde verscherzt werden; wenn die Frau nicht länger in die Ehe mit der Unwissenheit und Kaltsinnigkeit eintritt, die ebenso grosses Unglück verschuldet hat; wenn Mann und Weib das verfeinerte Gefühl besitzen, das alles stumpfe Gewohnheitsleben in der Ehe zu einer Unmöglichkeit macht, und die Hingerissenheit des Gefühls zu der absoluten Grundbedingung aller Hingebung; wenn die Einsichten, die wir jetzt über die Gesetze der Erblichkeit, der Auslese, der Wahlverwandtschaft zu gewinnen im begriffe sind, sich auch in Gefühle und Instincte umgesetzt haben. Man wird dann diese Gesetze mit religiöser Andacht ehren und sie als unbedingte Gebote befolgen. Dann wird nicht das Kind, wie jetzt so oft, aufs Geratewohl in die Welt gesetzt werden, gedankenlos, herzlos. Das Kind wird im Gegenteil ein Gottesdienst des Lebens sein, die edelste Frucht der Cultur, der Ausdruck des höchsten Glückes und des tiefsten Verantwortungsgefühls von Mann und Weib! Es hat schon zu erwachen begonnen, dieses Gefühl vom Rechte des Kindes, seine Eltern zu wählen! Und diese dämmernde Ehrfurcht vor der Heiligkeit der Generation wird sich so weit entwickeln, bis das Himmelreich wirklich den Kindern gehört, weil sie unter den für ihre Harmonie günstigsten Bedingungen geboren und erzogen werden!
– Es scheint mir – sagte Hugo – dass in den alten Standesunterschieden, mit ihren strengen Eheverboten ausserhalb des Standes, instinctiv etwas von dem gelegen hat, was Julianus meint, aber dass gerade dieses Gute zu Gunsten Deines Abgottes Eros geopfert wurde!
– Natürlich – antwortete Julianus – so muss es immer geschehen. Die Entwicklung geht aufwärts, aber in Spiralen – und man kehrt stets zu demselben Punkt zurück, nur immer auf einem höheren Plan. Alles, was einmal gewesen ist, kommt unzählige Male wieder, aber jedesmal mit reicherem Inhalt.
– Julianus – sagte Hugo zu Rikard gewendet – kann leicht Optimist sein, er, der eine Frau hat, die ...
– Meine Geliebte ist – fiel Julianus mit einem glücklichen Blick ein – und die mich allwissend gemacht hat, wo Du nur ein Abcschütz bist, der nicht einmal buchstabieren und zusammensetzen kann. Und da es nichts Verlockendes hat, seine Ueberlegenheit Kindern gegenüber zu zeigen, lassen wir das Thema fallen!
– Ich – sagte Rikard – hätte noch etwas zu sagen. Glaubt Ihr nicht, dass die Litteraturgeschichte der Zukunft eine – wie soll ich sagen, Geologie der Gefühle werden muss? Wenigstens interessiert mich jene Art Literaturgeschichte massig, wo ich hundert Seiten Beweise dafür bekomme, dass der Kerl sein Gedicht 1772 und nicht 1771 schrieb. Aber es interessiert mich unermesslich, wenn man mir zeigt, dass das Gedicht eine Umlagerung im Gefühlsleben der Gegenwart offenbart, eine Verschiebung des einen Typus in den anderen, oder von der Neubildung eines Gefühlsstoffes Zeugnis ablegt, der ältere Lager deckt, oder die Verwitterung ethischer Begriffsformationen und tausend andere ähnliche Dinge! Ein junger dänischer Dichter legte zum Beispiel einmal dar, dass Johanne Louise Heiberg in der dänischen Literatur einer ganzen Generation den weiblichen Idealtypus gebildet, und dass dieser Typus auch in Wirklichkeit die dänische Frau umgestaltet hat. Ein anderer Dichter sagte mir, dass, sei es, dass Ibsen den Hildetypus ahnte, oder dass dieser sich nach Hilde bildete, es nunmehr von Hilden wimmelt! Eine solche Untersuchung von Typen würde zu bemerkenswerten Gesichtspunkten führen!
– Ja – sagte Hugo – es ist eine sehr interessante Frage: ob der Dichter den Typus ahnt, oder der Typus den Dichter. So hat ja die französische Litteratur – schon seit Balzac – die erotische Altersgrenze der Frau immer weiter hinausgeschoben. Aber ist es die Litteratur, die so die »Gnadenjahre« der Frau im Leben verlängert hat, oder hat das Weib die Litteratur gezwungen, die Wirklichkeit zu spiegeln?
– Ich glaube das Letztere – antwortete Julianus. – Die Erweiterung der Altersgrenze ist nur ein Moment jener ganzen Entwicklung, durch die das Seelische in der Liebe eine höhere Bedeutung, das reichere, individuellere, differenziertere weibliche Temperament eine grössere Anziehung für den Mann erhalten hat. Ich hörte einen jungen Deutschen – der seine Verlobung mit einem reizenden jungen Mädchen löste – dieses so motivieren: »Sie ist zu jung und zu schön! Man kann ja mit einem Weibe erst sprechen, wenn es über zwanzig Jahre alt ist! Und die seelenvolle Schönheit, die man selbst allein entdeckt, hat einen viel feineren Charme, als die, die alle Anderen auch gleich sehen.« Diese Aeusserung fiel mir als für unsere Zeit bezeichnend auf, wenn ich sie mit einer Abhandlung verglich, die hier in Schweden – ich glaube im Anfang der siebziger Jahre – geschrieben wurde, in der einer der tonangebenden Litteraturforscher jener Zeit im vollsten Ernst erklärte, dass das Alter der alten Jungfer mit zwanzig Jahren anfange, – und mit einem Wortwechsel, den ich als Knabe zwischen zwei gebildeten Männern hörte, von denen der eine meinte, dass man allen hässlichen Mädchen eine Kugel durch die Stirn schiessen sollte. Und als der andere erwog, ob es nicht doch schade um ein paar gute Köpfe sein könnte, war die Antwort: dass für den Mann ein guter Frauenkopf ja Nichts bedeute, ein schöner Alles! Dieser junge Deutsche ist nur eines von vielen Symptomen für jene Art »Entmaterialisierung« der Erotik, die ich meinesteils als bedeutungsvoll für die Zukunft erachte. Ich hoffe, dass immer grössere Herrlichkeiten weiblicher Schönheit und verlängerter weiblicher Jugendlichkeit das Dasein mit Freude erfüllen werden. Aber ich glaube nicht, dass Jugend und Schönheit immer die Macht behalten werden, durch »Auge, Ohr und alle Sinne« uns um die tiefsten Bedürfnisse unserer Seele, unseres Herzens zu betrügen! Ich sehe im Gegenteil, dass die Männer schon anfangen, für den neuen, wechselnderen, inhaltsreicheren, weil seelenvolleren Reiz empfänglich zu sein, den die Frau zu entwickeln begonnen hat, seit sie sich immer mehr individualisiert und cultiviert. Unser Zeit – mit ihrem unruhigeren Leben, ihren gemischten Ehen, ihrem Arbeitseifer – ist der Entwicklung der regelmässigen, statuesken Schönheit nicht günstig. Aber wer von uns würde einer tizianischen Venus mehr als einen flüchtigen Blick schenken, wenn er beispielsweise mit einer Eleonora Duse sprechen könnte! Diese venetianischen Damen waren ja sehr hübsch anzusehen – aber lieben?
– Mir – sagte Rikard – fiel jetzt gerade diese Frau im dunkelroten Kleid mit dem goldroten Haar ein, die Paris Bordone gemalt hat, sie, die mit der Hand in der Seite dasteht, fest und herrlich wie eine Marmorsäule. Ich war zuerst ganz toll mit ihr. Aber nun hat er sie auch – das Bild ist in Mailand – mit dem Kopfe an die Schulter eines Mannes gelehnt, gemalt. Und in dieser zärtlichen Situation ist sie so unmöglich, dass ich mich über das melancholische Aussehen des Burschen – ein seelenvoller Bursche – gar nicht wundere.
– Gewisse Frauen selber – sagte Julianus – haben den Mann lange verhindert zu entdecken, dass andere Frauen eine Seele haben! Aber jetzt haben diese letzteren Frauen sogar angefangen, ihn zu lehren, dass er sich in eine Seele verlieben könne; dass die feinfühlige und vielsaitige geistige Sympathie der tiefste und dauerndste Teil des Zaubers der Liebe sei. Dabei hat auch die Frau begonnen, mehr Bewegungsfreiheit für ihr Gefühl zu erhalten. Solange das Ziel, das sie erreichen wollte, nur die Ehe war, und das Ziel, das der Mann verfolgte, nur der Besitz, gebot die Natur des Weibes ihr, sich erstreben, sich erobern zu lassen. Aber seit die Seele in der Liebe mehr bedeutet, hat die Frau auch mehr Mut bekommen, ihr Gefühl einfach zu zeigen, ohne List und ohne Scheu, ohne Forderung und ohne verletzte Eitelkeit, wenn es nicht erwidert wird.
– Erinnert sich Einer von Euch – sagte Hugo – an eine feine Novelle von Jane Claine – eine seltene, seelenvolle Frau, die andere auserlesene Frauennaturen versteht – wo gerade das geschieht, aber wo der Mann zu altmodisch in seinem Gefühl ist, die Grösse ihrer Handlung einzusehen, ehe es zu spät ist?
– Ja – antwortete Rikard – ich erinnere mich daran und dachte damals, wie schon oft zuvor, dass erst wenn die Liebe sich so selbst genug ist, der Mann und das Weib wirklich wissen können, ob sie geliebt werden, ob sie selbst lieben. Wenn der Adel unseres eigenen Gefühls unser einziger Stolz ist, wenn wir einsehen, dass wir eine Verantwortung gegen diese wie gegen jede andere unserer grossen Anlagen haben, die Verantwortung, sie zu der höchstmöglichen Vollkommenheit zu entwickeln – dann werden die Menschen nicht länger, wie es noch oft geschieht, durch falsche Scham um ihr Glück betrogen werden. Und dann werden diejenigen, welche eine grössere Liebe erhalten haben, als sie annehmen konnten, nicht den Gebenden kränken, wie es jetzt noch nicht selten geschieht. Dann wird eine grosse, forderungslose Liebe nicht nur ohne Qual, sondern mit stolzer Dankbarkeit entgegengenommen werden können!
– Es scheint mir in meiner Unwissenheit – sagte Hugo – dass Du Dir selbst ein wenig widersprichst, wenn Du von unerwiderter Liebe redest? Wenigstens ist, in allen anderen Verhältnissen, die echte Sympathie immer gegenseitig.
– So ist es – antwortete Rikard – wohl auch hier. Aber es giebt ja so viele äussere Verhältnisse und innere Zufälligkeiten, die die erotische Möglichkeit verhindern können, sich zu voller Wirklichkeit zu entfalten. Und es giebt andererseits andere Verhältnisse und Zufälligkeiten, die erotische Unmöglichkeiten zur Wirklichkeit entwickeln! Die Meisten verfehlen oder überhasten noch ihre grössten Lebensentscheidungen, weil sie nicht auf sich selbst horchen, oder auf sich selbst warten können!
– Auch darum – sagte Julianus – müssen wir in diesen Dingen eine klarere Offenheit zugleich mit einer nüancierteren Feinfühligkeit haben! Das wird nicht nur zu einer erhöhten Geborgenheit und zu grösserem Glück im erotischen Leben beitragen, sondern auch verhindern, dass man infolge von Verwechslungen der Art des Gefühls grosser Lebenswerte verlustig geht. Die sympathische Freundschaft zwischen Mann und Weib wird auf diese Weise reichere, freiere Formen erhalten, nicht zum wenigsten die jetzt beinahe immer missverstandene, aber inhaltsreiche Zwischenform, die die Franzosen – diese Meister in der Definition von Seelennüancen – »l'amitié amoureuse« genannt! Und man wird noch eine Unendlichkeit von Schattierungen entdecken, die den Reichtum des Lebens erhöhen können, dadurch, dass sie alle Verhältnisse zwischen Männern und Frauen feiner, voller, freier machen, ohne dass sie doch das grosse erotische Erlebnis hindern werden.
– Je länger Ihr sprecht – sagte Hugo – desto mehr behalte ich Recht. Das Geschlechtsverhältnis selbst wird von seinen Grenzgebieten durchschnitten und schliesslich eine immer beschränktere Monarchie!
– Bloss in seinem einseitig sensuellen Sinn – antwortete Julianus – denn Mann und Weib werden immer mehr den unendlichen Reichtum entdecken, der dadurch im Dasein liegt, dass sie zwei verschiedene, aber für einander geschaffene Wesen sind und dass Jedes ein Wesen aus Sinnen und Seele ist!
– Aber – sagte Rikard – ich möchte nicht, dass die Erotik gänzlich das heisse wilde Gefühl mit einem Colorit von Rot und Schwarz einbüsste!
– Da erwidere ich Dir – sagte Julianus – mit einem anderen Worte des anderen Rikard: auch die Temperamente der Menschen haben ihr Klima. Immer wird es heisse und kalte Zonen geben, Inland- und Küstenklima, Juni- und Novemberzeiten! Ich hoffe auch, dass – in allen Entwicklungsformen – grosse, »verbrecherische« Leidenschaften auftreten werden. Denn diese wirken in der Menschheit, wie jener historische Waldbrand in Spanien, von dem die Sage erzählt, dass aus den erhitzten Bergen das Silber Flüssen gleich ans Licht strömte. Die gewaltige Leidenschaft bringt immer verborgene Gefühls- und Ideenwerte an den Tag. Es giebt keine Klage, in die ich weniger geneigt bin einzustimmen, als die, dass »man zu spät in eine Welt gekommen ist, wo der Mensch schon alle Gedanken gedacht hat.« Wir haben noch viele gar nicht gekannte Gefühle! Und mit diesen bekommen wir schon eine ganze Menge ungedachter Gedanken!
– Ich glaube, wir klingeln jetzt um Thee – sagte Hugo – mein Klima ist augenblicklich chinesisch.
– Das – sagte Rikard – brauchtest Du nicht zu erwähnen, denn Deine Sprache in diesem Gegenstande ist noch die des grossen Mongolenreichs!
Hugo fuhr fort, als hätte er nichts gehört:
– Und wenn Julianus mich dann begleiten will, spielen wir Sjögrens G-moll-Sonate? Ich sehne mich nach meiner Musik, seit Ihr in allen Tonarten ein Thema variiert habt, das mich wenig interessiert! Doch ich betrachte die letzte Stunde als eine Busse, weil ich Dick abhielt, über Politik zu sprechen. Da ist er gewiss bösartig. Aber wenn Ihr Euch zusammenthut, um über die Liebe zu sprechen, da seid Ihr entschieden ärger, als einer allein es sein kann.
Als die alten, blauen Mandarinentassen und der urnenförmige, silberne Theekessel aus den Tagen des Hofmarschalls wieder hinausgetragen waren, nahm Hugo seine Violine. Und da Rikard um ein Sjögrenstück nach dem anderen bat, wurde der Raum lange von berückenden, leidenschaftlich, mächtig jugendberauschten oder tötlich traurigen Tönen erfüllt. Als Hugo endlich die Violine weglegte, sagte Rikard:
– So, im Halbdunkel, das ist die einzige Weise, wie man Musik mit der Seele hören kann, nicht nur mit den Ohren. Ludwig von Bayern war nicht nur der Märtyrer der Schönheitsleidenschaft, sondern auch etwas wie ihr Prophet, besonders wenn er Wagners Herrlichkeiten für sich allein spielen liess! Es ist sehr zu beklagen, dass die Nevrose des Aestheticismus, die schon in dem gefühlvollen und genialen Antlitz des ersten Ludwig bebt, bei dem Zweiten zur völligen Tragik wurde – was hätte er sonst nicht für die Verfeinerung des Schönheitsgenusses thun können! Zum Beispiel den Menschen den Begriff des Concertsaals geben, eines Saales, in welchem Jeder – anstatt dass man auf Klappsesseln in einem grellen Licht zusammengepfercht wird, das die Seidenblousen beleuchtet und die Stimmung verlöscht – sein schöngeformtes Ruhesopha hätte, in einer angemessenen Entfernung von denen der Anderen, und um sich ein mildes Halblicht, das die Seelen freimachte, aber die Gesichter verhüllte! So könnte man sich ganz den Herrlichkeiten des Tonmeeres hingeben. Da würde man dann auch anderen befreiten Seelen begegnen und das Glück durch Sympathie gesteigert fühlen, während die aufgezwungene Nähe unsympathischer Wesen jetzt in den meisten Fällen den Genuss stört. Musik zusammen zu hören, ist die entscheidendste Probe der Sympathie! Ich möchte da am liebsten Alle fortjagen, die in meiner Nähe sind, damit die Geister sich nahen können, denen ich begegnen will. Hugo hat heute Abend einige heraufbeschworen. Als Du da standest, von Musik erfüllt, glaubte ich eine Erscheinung Deines Vaters zu haben, der mit derselben Hingebung hier draussen auf der Treppe seine Flöte zu spielen pflegte, die bronzebraunen Locken über der Stirn hängend. Du siehst ihm gewiss ähnlich?
– Glücklicherweise – antwortete Hugo. – Meiner Mutter würde ich weniger gerne gleichen. Mein Vater verliebte sich in Angelika Rönnquist, weil er sie für eine ebenso tief gefühlvolle und phantasiereiche Natur hielt, wie er selbst eine war. Doch er fand bald, dass sie nur empfindlich und phantastisch war – und dazwischen liegt ein Abgrund. Auch kam bald der Bruch. Ich war ihr einziges Kind und immer mit meinem Vater. Er las alle seine Lieblingsdichter und machte Musik für sich selbst. Meine Mutter machte Romane für Frauenzimmer ...
– Du begreifst jetzt – sagte Julianus – dass Hugo nicht die grosse Liebe im Blute haben kann!
– Vielleicht – antwortete Hugo lächelnd – hätte ich sie wenigstens im Herzen haben können, wenn nicht Eleonora von ihrer Leidenschaft für Rikard Furumo ausgefüllt gewesen wäre! Aber lasst uns jetzt sogleich vom Aetna, Julianus' seelischem Klima, nach Nerike zurückkehren, um noch ein wenig eben von jenem Klimatischen zu sprechen, das eine immer grössere Rolle in der Litteratur und in der Psychologie spielt. Die letztere liefert immer mehr interessante Bekräftigungen für den alten Spitznamen des Teufels – »der, der übers Wetter Gewalt hat,« – denn die satanische Einwirkung der Witterung wird immer offenbarer. Eine Freundin hat mir unter anderem erzählt, dass das Einzige, was sie abhielt, mit einem Manne durchzugehen, den sie nachher lächerlich fand, war, dass er sie an einem graukalten Vormittag darum bat. Hätte er nachmittags beim Lampenschein gefragt, so würde sie ihm gefolgt sein.
– Das war doch nun im Gegenteil eine Gnadenwirkung des Wetters – sagte Rikard lächelnd.
– Es wirkt verschieden – antwortete Hugo. – Die Psychologie zeigt, dass sowohl Himmel wie Hölle durch tausend geheime tägliche Einflüsse um uns kämpfen. Hier schlägt ein Wort, ein Blick zwischen zwei Seelen eine Brücke fürs Leben; dort öffnet sich ein grösseres Stück des Abgrunds, der schon zwischen zwei Seelen klafft, jedes Mal z.B., wenn die Lippen eines Mannes die seines Weibes streifen, das dabei einen inneren Schauer spürt. Heute giebt mir der sympathische Ton in den zufälligen Worten eines unbekannten Menschen Lebensfreude für Wochen; morgen ruft die leichte Vibration in der Stimme eines Freundes in mir den Eindruck hervor, der schliesslich unsere Freundschaft töten wird.
– Und – sagte Julianus – in einer anderen Umgebung, in einer anderen Luft würde nicht Blick, nicht Liebkosung, nicht Tonfall etwas von alledem bewirkt haben, sondern etwas ganz Anderes! Wir empfindlichen Instrumente werden von tausend kleinen äusseren Einflüssen zu Harmonie oder Disharmonie gestimmt. Ich glaube, Maupassant hat gerade das, was Du meinst, in der Aeusserung formuliert, dass das Auge, so wie das Herz, »a ses haines et ses tendresses,« und dass ein Raum, eine Person ebenso entschieden, wenngleich unbewusst, auf unsere geistige Constitution einwirken kann, wie die Luft des Waldes, des Meeres oder der Berge auf unsere körperliche. Diese Erfahrung hat ja schon zu dem Streben geführt, den Einfluss der Schönheit auf unsere ganze Umgebung auszudehnen. Aber wir brauchen etwas noch Unbegreifbareres und schwerer zu Verwirklichendes – eine Steigerung unserer sympathischen und antipathischen Instincte nach allen Richtungen hin, wodurch es uns möglich wäre, uns nach dem seelischen Klima, das uns umgiebt, so gut einzurichten, wie nach dem physischen. Ich meine etwas, das sich sehr schwer ausdrücken lässt. Es liegt nicht nur in der ästhetischen Richtung. Da kann man – ebenso wie durch übergrosse Rücksicht auf das äussere Klima – weichlich, überempfindlich werden. Es giebt jetzt beispielsweise einen Möeblcultus, dessen kleine Bekenner sich für auserlesene Seelen halten, weil sie keinen Empiresessel in einem Rococozimmer ertragen können, und auf tausenderlei Arten ihr raffiniertes, luxuriöses Aesthetisieren hinauftreiben, so dass ihre Seele bald nur mehr Stilgefühl hat, aber gar keine anderen Gefühle, und vor allem keine Ahnung davon, dass die echte Schönheit vortrefflich in der Einfachheit gedeiht. Derartige Leute würden natürlich zu einer andern Zeit anstatt dessen hässliche Möbel vergöttert haben und auf irgend eine dümmere Art überschwänglich gewesen sein. Aber gerade weil ich so fanatisch an die Schönheit als Lebensmacht glaube, möchte ich ungern, dass sie für die Menschen ein Anlass würde, in eine neue Art verfeinerter Pöbelhaftigkeit zu verfallen, nämlich in die, die äusseren Offenbarungen der Schönheit über die grossen, schönen Regungen der Seele zu stellen.
– Ich glaube nicht – wendete Rikard ein – dass die Gefahr gross ist. Denn wenn die Schönheit Aller Eigentum wird, so hört man auf, sich in übertriebener Weise mit ihr zu befassen; ganz wie wir eben von der Erotik sagten: man spricht nicht so viel von der Gesundheit, wenn Alle gesund sind. Bis auf weiteres muss man die ästhetische wie die erotische Uebersensibilität als ein unentbehrliches Moment betrachten in »der Umlagerung unserer Atome, die uns lehren wird, die Musik des Lebens zu hören.« Die seelische Verfeinerung wird so grosse neue Gebiete umfassen, dass man keine Zeit haben wird, dazusitzen und allzu subtile Analysen seiner Sensationen vor einem Tiffanyglas anzustellen.
– Und ebensowenig – sagte Julianus – wird man für die magischen Taschenspielereien Zeit finden, die jetzt ein unangenehmer Ausdruck der gesteigerten Sensibilität sind, von der wir sprechen! Hinter dieser sehen wir jedoch Phänomene hervorschimmern, die darauf deuten, dass unsere Sinne und unsere Seele wirklich mächtiger werden, als sie es jetzt sind. Die sogenannte Lévitation – der Gegensatz der Gravitation – ist zum Beispiel eines der Phänomene, Telepathie und Suggestion sind andere. Die rein wissenschaftlichen Entdeckungen von der Uebertragung des Lautes und der Sehbilder auf bis jetzt unglaublich erscheinende Entfernungen – durch bis jetzt undurchdringliche Stoffe – sind noch ein weiterer Ausdruck für die Gewissheit, dass Zeit, Raum und Materie immer plastischer für den Willen des Menschen werden müssen.
– Und – sagte Rikard – wenn diese äusseren Grenzen des Menschen immer mehr gesprengt werden, wird man dann nicht auch jene gesteigerte Macht über die Inertie der Seele erlangen können, über den Verfall des Körpers, die in dem Traume vom Jugendelixir lag? Wird nicht die unveränderlich junge Seele den Körper frisch und elastisch bewahren können, solange die Seele ihn gebrauchen will? Wie würde nicht die Ueberwindung der Unschönheit und Ohnmacht des Alters das Dasein umwandeln! Nicht der Tod, sondern das Absterben ist des Lebens grösster Schrecken ...
– Nein – sagte Julianus – sein grösster Schrecken ist die Erfahrung, dass
Each creature holds an insular point in space ...
Und werden uns nicht die jetzt noch geheimnisvollen Kräfte, von denen wir sprechen, einstmals so weit bringen, dass wir hören
Life answerig life across the vast profound ...
Werden nicht auch die Seelen ein noch ungeahntes Fernsehen, eine Fernhörigkeit für einander erhalten?
– Ich, umgekehrt, – sagte Hugo – halte es mit einem kleinen befreundeten Mädchen, das fand, es sei »so unfein von Gott, allsehend und allgegenwärtig sein zu wollen: er müsste doch verstehen, dass die Menschen auch manchmal allein sein wollten!« Und hat man dieses Gefühl schon gehabt, dann will man wahrlich nicht, dass jeder kleine Herr X-Strahlen auf unsere Seele richten kann. Wenn der armen Menschheit ein solches Unglück passierte, dann wäre der höchste Lobspruch, den man von einer Frau sagen könnte, der, dass sie doppelt undurchdringlich ist, noch immer ein dunkel lockendes Rätsel! Eine Mona Lisa wird dann unsere Madonna werden, und sie soll uns nicht einen neuen Verklärer des Lebens schenken, sondern einen Verdunkler! Ich fühle mich schon von dem Telephon unten im Werk unangenehm berührt, und wenn man in Stockholm dastände und mich hier im gelben Salon betrachtete, so ...
– Würdest Du Dich bald der Notwendigkeit fügen – fiel Julianus lächelnd ein. – Erinnerst Du Dich, wie Du im zoologischen Garten in London von dem Affenkäfig weggingst, weil es Dich aufbrachte, dass Haeckel Dir in den Affen Vettern aufdrängen wollte! Und doch sagtest Du erst vor einer Weile, dass Du jetzt das nicht missen wolltest, was der Evolutionismus Dir gegeben hat! So ginge es auch wohl mit der Durchsichtigkeit: Du fändest Ersatz. Aber Du bist immer ebenso conservativ in Deinem Fühlen in Beziehung auf eine neue Idee oder Erfindung, als Du dann, wenn Du sie acceptiert hast, in den Folgerungen Deines Denkens radical bist. Wenn ich noch hinzufüge, dass Du ebenso aristokratisch anspruchsvoll bist, wenn es Deine eigenen Handlungen gilt, als demokratisch freisinnig denen der Anderen gegenüber, so habe ich in Dir mein Ideal von einem Staatsmann charakterisiert – es ist schade, dass Dein Ehrgeiz bis jetzt nur der des Landmanns zu sein scheint!
– Und wohl nie der des Politikers sein wird – antwortete Hugo – daran hindert mich mein Individualismus – »aut Caesar« – ja, Du erinnerst Dich an Rikard Furumos Worte über die Eigenart der Schweden! Ausserdem bin ich ein im höchsten Grade moderner Mensch in meiner ungeheuren Empfindlichkeit gegen alle unangenehmen Eindrücke. Ein hässlicher Zusammenstoss, ein unsympathischer Tonfall, ein einfältiges Argument quält mich – wie sollte ich da eine einzige Woche in einer unserer Reichstagskammern ertragen? Ein rohes Wort – auch wenn es nicht mir gilt – kann mich stundenlang verstimmen. Ich verstehe so vollständig Viktor Rydberg, den ich einmal erzählen hörte, dass er einen ganzen Winter lang keine Aepfel schmecken konnte, weil eine Apfelfrau ihm eine Grobheit gesagt hatte! Man merkt am besten, wie sehr die Sensibilität sich verfeinert hat, wenn man an alle die – für Leib und Leben, Gesundheit und Verstand – gefährlichen Streiche denkt, mit denen sich die Jugend noch vor dreissig, vierzig Jahren rings auf den Herrenhöfen vergnügte und wobei der Genuss umso grösser war, je mehr man Andere erschrecken, quälen und lächerlich machen konnte! Solche Rohheiten sind unmöglich für die gebildete Jugend der Jetztzeit, von der Niemand Freude daran findet, Anderen Unbehagen zu bereiten. Ein in der Mitte des Jahrhunderts nicht ungewöhnliches Vergnügen war es auch, die Beamten zu hänseln, die die Allgemeinheit bedienten. Jetzt ist der Ton gegenseitig ein höflicher, weil man auf beiden Seiten die Unhöflichkeit intensiver empfindet. Und werde ich von einem Postfräulein angeschnauzt ...
– Du meinst, Postherrn – fiel Rikard ein – Postfräuleins schnauzen nur Damen an!
– Wer immer mich anschnauzt, es erweckt ein riesiges Unbehagen in mir. Aber das verwandelt sich bald in Grübeleien über Automaten, die den Menschen recht viel nervenaufreibende Arbeit ersparen könnten. So – meine ich – ruft unsere gesteigerte seelische Empfindlichkeit auf diesem wie auf anderen höheren Gebieten nicht nur eine erhöhte Reizbarkeit, sondern auch erhöhte Rücksichten hervor, die zu einem immer eifrigeren Suchen nach solchen Arbeitsmethoden und Verkehrsmitteln führen werden, durch die die Nervenkraft des Menschen für bessere Ziele aufgespart werden kann, als für rein mechanische Beschäftigungen.
– Ja – sagte Rikard – wenn ich nicht male, habe ich es nie angenehmer, als wenn ich mir ausdenke, wie herrlich alles werden muss, wenn jede Berührung zwischen Menschen schön und inhaltsreich sein wird. Ich – der ich das unausrottbare Bedürfnis habe, selbst einem Kohlenträger ein Lächeln abzuzwingen – habe noch nicht das Bedauern überwunden, das ich empfand, als ich in die Stadt kam, vom Lande, wo Alle sich kannten, grüssten, an einander teilnahmen, – und nun Alle kaltsinnig, in sich selbst versunken an einander vorbei stürzen sah!
– Es wäre allerdings Zeitvergeudung – fiel Hugo ein – wenn wir Alle anfingen, uns auf der Sturegasse zuzulächeln! Aber hübsch könnte es schon sein, besonders um die Promenadestunde, wo die schönsten Damen aus sind ...
– Ich weiss auch nicht – antwortete Rikard – wie es sich in Wirklichkeit ausnehmen würde. Ich weiss nur, dass ich in Hainen liegen und von einer Zeit träumen kann, in der die Menschen gegenseitig aus ihrem Tonfall, ihren Worten, ihren Blicken, ihrem Lächeln dieselbe unmittelbare Freude schöpfen werden, wie jetzt aus dem Spiel der Sonnenstrahlen, dem Wogen der Saat, den Bewegungen der Blumen, aus Vogeltönen und Schmetterlingsflattern; einer Zeit, wo Alles auch in der äusseren Berührung der Menschen miteinander einfach und doch empfindungsvoll, leicht und sanft sein wird. Wir verstehen es ja noch nicht, selbst unsere freundlichen Handlungen anmutvoll zu gestalten; wir ahnen kaum, dass es nicht genug ist, einander Gutes zu thun, sondern dass die Dinge uns, in dem Verhältnis, wie sie schön geschehen, gut thun! Wir müssen anfangen, dem Princip des Hofmarschalls nachzuleben, dass alle in dem Schönen, Guten und Frohen erzogen werden sollen. Wir müssten die Kinder lehren, dass es zur Sittlichkeit gehört, schön zu wohnen, sich schön zu kleiden, zu essen, zu plaudern, zu reden und sich zu bewegen. Als Kind empfand ich einen bitteren Unwillen, als man mir sagte, dass es nichts ausmachte, ob man hässlich sei, wenn man nur gut wäre. Und umgekehrt sollte man den Kindern jetzt sagen, dass sie in dem Masse gut sind, als sie die Anderen durch ihr Schönsein erfreuen!
– Ja – sagte Hugo – man verursacht einander nicht gerade Unbehagen, aber man hat so sehr das frohe Behagen vergessen, dass ich mich beinahe nach der Tanzmeistergrazie der alten Zeit sehne! Aber ich glaube, dass der erwachende Kunstsinn und ein klarerdenkender Individualismus zusammen das Bedürfnis steigern werden, sich auch im äusseren Sinne in dem Stil zu entwickeln, der am besten mit unserer Persönlichkeit übereinstimmt. Dieses Stilprincip war es, das halbbewusst den Pädagogen Sokrates leitete – es lag in seinem Grundsatz eingeschlossen: Erkenne Dich selbst. Ich glaube, dass es auch ein unbewusstes Stilgefühl war, das des schönen Landes schönen Sohn, Franciscus von Assisi, in seinem Heiligkeitsstreben leitete. Und dieses Stilgefühl fand sich vollbewusst bei allen erlesensten Geistern der Renaissance, ja auch bei den kleineren Göttern dieser Zeit vornehmer und rückhaltloser Selbstherrlichkeit. In unserer Epoche ist Walter Pater eines der ausserordentlichsten Resultate dieser durchgeführten, künstlerisch bewussten Selbstcultur gewesen, die in D'Annunzio einen ihrer zwölf kleinen Propheten hat.
– Der grosse Prophet – sagte Julianus – ist und bleibt wohl noch lange Goethe. Man könnte leichter seine Werke missen, als das noch wunderbarere Werk: seine vollausgeformte Persönlichkeit! Ich geniesse die Zeichnung seines Lebens, als wäre sie von Leonardo da Vinci ausgeführt.
– Dein Vater – sagte Hugo – der in unbeschreiblicher Weise von Farben eingenommen war, sah die Gemütsart der Ereignisse und die Namen der Menschen in einem gewissen Colorit. Siehst Du sie als Bilder?
– Nicht nur als Bilder, auch als Sculptur und Architektur. Ein ganzer Charakter wirkt auf mich wie das vollkommene Gebäude, das man von allen Seiten sehen kann. Und obgleich ich weiss, dass sowohl Gebäude als Persönlichkeiten mit vernachlässigten Seiten ausgezeichnete Verfechter haben, kann ich doch nie ein Gebäude oder einen Menschen, der nur Façade ist, voll gemessen! Und ich kann absolut nicht mit Bauwerken oder mit Personen verkehren, die mit unorganisch aufgesetzten Ornamenten decoriert sind! Ich ziehe Charaktere im romanischen, im Renaissance- und die äusserst seltenen im griechischen Stil vor. Aber ich kann auch mit Menschen in gothischem Stil auskommen, und selbst das Rococo hat – bei Frauen – für mich einen gewissen Zauber. Aber Leuten in schwedischem Villen- und Wirtshausstil weiche ich aus. Bauwerke dieses Stils gehören zu meinen neuen Begriffen dessen, was das Ensemble der Hölle ausmacht! In gleicher Weise verschmelzen für mich Menschen mit Bildern. Die meisten Menschen scheinen mir nicht von einem bestimmten Künstler ausgeführt, sondern von dem berühmten Maler Ignotus, der in so vielen Schulen vorkommt. Wie oft erinnern nicht zum Beispiel Frauen an die kölnische Schule oder die umbrische oder die holländische! Glücklich dünke ich mich, wenn ich es erlebe, dass mich ein Gefühl mit den Augen eines Botticellischen Engels anblickt; dass eine Handlung eine Geberde von Michel Angelo hat; dass ein Gedanke Rembrandts Helldunkel besitzt, aus dem, je länger man hineinblickt, desto mehr Geschmeide aus dem Dunkel aufblitzt! Und hat man einige Menschen gefunden, in deren Nähe man dieselbe edle, massvolle Ruhe erfährt, dieselbe sonnige Wehmut der Seligkeit wie vor Giorgiones Freiluftbildern; ist man einer Seele begegnet, die sich mit der nach Ganzheit dürstenden Intensität gegeben hat, mit der Fülle der Hingebung bis zur Grenze der zerspringenden Saite, die aus dem ewigkeitssaugenden Blick seines Orgelspielers strömt – dann gehört man zu den wenigen Auserkorenen des Lebens!
Nun entstand zuerst eine Pause, dann jedoch ein lebhafter Meinungsaustausch über die Kunstschulen, denen die Freunde angehören könnten; bis schliesslich Rikard unter der Heiterkeit der Anderen auf Hugo Walter Scotts berühmte Schilderung eines Bildes anwendete, »wo Rembrandt die helleren Partieen ausgeführt zu haben schien, aber Michel Angelos lebensvoller, kräftiger Pinsel die äusseren Conturen.«
– Ja sagte Julianus, nachdem die Munterkeit sich gelegt hatte – das klingt schwachsinnig von einem Kunstwerk. Aber es ist nicht unmöglich, dass Menschen noch unwahrscheinlichere Zusammensetzungen aufweisen. Ich habe Frauen gesehen, die Mütter in Greuzes Stil waren, aber Geliebten in dem Cranachs! Man könnte den Menschen wohl als das zusammenhanglose Tier definieren! Die Kunst hat Zusammenhang. Die ganze übrige Natur hat Zusammenhang. Wir bekommen nicht Feigen von Disteln oder Trauben von Dornen. Wir treten nicht eines schönen Morgens hinaus und finden das Gras blau oder die Bäume mit zur Erde gekehrten Wipfeln! Wir können uns auf die Natur verlassen. Und es ist vor allem die ewige Ruhe der Gesetzgebundenheit, die wir bei ihr unbewusst gemessen. Darum fliehen wir zu der Natur, wenn der Mensch uns zerrissen hat, und machen den Wald oder das Tier – das nicht wechselt – zu unserem Freund, wenn Freunde uns betrogen haben. Die Menschen hingegen – die können denken, reden, schreiben, Musik machen, Kunst schaffen wie antike Götter, während ihre Handlungen ganz jämmerlich aussehen. Man sollte doch von einem Denker, einem Dichter, einem Musiker mit einem intellectuellen Leben in edlem Stil erwarten können, dass auch seine Handlungen, wenn auch nicht mit der Liniengrösse eines Michel Angelo ausgeführt werden, so doch dieselbe Befriedigung gewähren sollten, wie ein vollausgeformter Dürer, ein feinfühliger Holbein. Aber ein solcher Mensch ist oft – wenn er handelt – ebensowenig Lebenskünstler, wie ein Höhlenbewohner, der Figuren in einen Steinknochen ritzte, der Schöpfer eines Kunstwerkes war!
– Es liegt – wendete Rikard ein – etwas Wahres darin; aber nur, wenn man auf ein Stück des Lebens eines Menschen blickt. Kann man die Gesamtheit überblicken, dann zeigt es sich, dass der Zusammenhang zwischen dem Werk und der Persönlichkeit mehr innerlich ist. Mein Werk wird doch schliesslich so gross oder so klein, wie mein innerer Mensch es war; denn wie einer meiner Freunde sich ausdrückt, »man balgt sich und singt auf die gleiche Art.« Es findet sich schon auch in der Menschennatur tiefinnerst ein Zusammenhang: die unschönen Handlungen eines Autors werden immer früher oder später zu Gespenstern in seinen Werken, und die leeren Räume in meinem Herzen müssen einmal auch aus meinen Bildern gähnen!
– Ja – sagte Hugo – für eine so einheitliche Natur wie Julianus sieht Alles zusammenhangloser aus, als es eigentlich ist. Auch mir kam es oft vor, dass die Gerechtigkeit so schutzlos auf Erden einhergeht wie ein nacktes Kindlein auf einem nächtigen Schlachtfelde! Aber wenn man warten kann, so sieht man, dass die Gerechtigkeit doch nie niedergetreten wird. Es existiert eine immanente Notwendigkeit, die schliesslich Allem seinen rechten Platz, sein rechtes Licht giebt, und diese Nemesis ist nie unausweichlicher, als auf den Gebieten, wo Menschen schaffen. Ich habe ganz einfache, naive Menschen gesehen, die anfangs kaum ein überdachtes Princip hatten, sondern den Tag so nahmen, wie er kam. Aber weil ihre Natur echt war, haben sie ein einziges Lebensgebiet ganz durchdrungen – und sind dabei successive gewachsen, so dass sie sich zum Schlüsse eine ganze Lebensphilosophie aus dem einzigen Ausgangspunkte schufen: dass sie in einer Beziehung eine starke Empfindung des Lebens hatten und dieses vorbehaltlos auf sich wirken liessen. Solche Personen haben zum Beispiel in irgend einem bestimmten Fall das befolgt, was ihre eigene Integrität verlangte; sich vielleicht in einem Streite auf die Seite gestellt, wo ihrer Ahnung nach die Gerechtigkeit war. Diese eine rechtschaffene Handlung hat ihnen dann die Augen für die Gerechtigkeit auf vielen anderen Gebieten geöffnet, sie haben es gelernt, dem Schein und dem Trug überall auszuweichen. Ich habe Andere gesehen, die dadurch, dass sie ihr Gewissen bei einer solchen Entscheidung beschwichtigten, gerade den entgegengesetzten Weg gegangen sind. Auch wenn für uns selbst eine unserer Handlungen aus Edelmut oder eines unserer grossen Gefühle ganz vergeudet scheint, so können wir es doch erleben, dass wir, vielleicht Jahrzehnte später, in einem entscheidenden Augenblick unsere Kraft zu einem neuen grossen Gefühl gerade durch das erhalten, was uns einmal vergebens dünkte, aber wodurch wir unsere Seele grösser machten. Und wir werden mit Gewissheit eines Tages die Stärke der grossen That oder des grossen Gefühls in unserem Werke wiederfinden! Oft hindert der ökonomische Druck den Durchbruch grosser Gefühle in der Seele. Und darum bleibe ich bei meinem Gedanken von einem Culturkloster, in dem productive Menschen durch Ruhe und Selbsterziehung ihre Persönlichkeit verfeinern und ihre Seele veredeln könnten.
– Aber – sagte Rikard – sie dürfen nicht zu lange dort bleiben. Denn sie können da nur ihr Gemüt und ihr Talent ausbilden. Doch – wie ich schon früher betont habe – der Charakter wird erst gestaltet, wenn wir unsere Gedanken und Gefühle in Handlungen umsetzen, wenn unser Wählen Continuität zwischen unserer Vergangenheit und unserer Gegenwart schafft. Du wirst finden, dass der Einsiedler, der sich mit den Werken Anderer oder seinen eigenen erfüllt, wenn er sein Heiligtum verlässt, wankt wie ein Trunkener, sowie er sich mit einer der Aufgaben des lebendigen Lebens beschäftigt.
– Und – fügte Julianus hinzu – er muss einem Brunnen ähnlich werden, der sich nicht unter freiem Himmel befindet. Die unterirdischen Quellenzuflüsse müssen dann sehr stark sein, wenn er nicht nach und nach austrocknen soll.
– Darum – sagte Rikard – ist diejenige Tendenz in der Gegenwartskunst eine sehr unglückliche, die dadurch Ruhe suchte, dass sie sich vom Leben der Gegenwart abtrennte, anstatt zu trachten, dieses Leben zu durchdringen und nach ihren Bedürfnissen umzuformen. Diese Richtung vom Denken zur mittelalterlichen Mystik, von der Wissenschaft zum Aesthetisieren ist damit motiviert worden, dass die Wissenschaft nicht alle Fragen beantwortet hat, vor allem nicht die tiefsten Fragen des Lebens. Aber wann versprach die Wissenschaft, das zu thun? Sie hat schon viele Antworten gegeben – und auch wenn dem nicht so wäre, würde sie doch genug für uns gethan haben, wenn sie uns lehrte, ernster zu fragen und ehrlichere Antworten zu verlangen! Wer selbst voll Zuversicht in Beziehung auf die unendlichen Möglichkeiten des Daseins ist, kann nicht viel Sympathie mit diesen vom Leben Abgewandten haben, welche glauben, ihre Seele dadurch grösser zu machen, dass sie sich eine Eremitenwohnung schaffen – die gewöhnlich einer Bric à brac-Bude gleicht, mit gothischen Räucherbecken und Porzellanhirtinnen durcheinander –, wo man sie ohnmächtig von dem Liliendufte aus dem Garten ihres eigenen Geistes finden kann! Von allen Costümen, mit denen die Wagnernatur es maskiert, dass sie keine Linie der vornehmen Gestalt der Faustnatur besitzt, ist die Mönchskutte das ärgerlichste. Als Privatvergnügen geht die Maskerade mich nichts an. Aber wenn sie in der Kunst fortgesetzt wird – mit der ich immer auch Litteratur und Musik meine – dann vertrage ich sie nicht und gedenke nichts dazu zu thun, um meine Antipathie zu überwinden!
– Ich weiss mich doch zu erinnern – wendete Hugo ein – dass wenn ein Kritiker in gleicher Weise seine Antipathien und Sympathien grosszieht, Du das Resultat nicht zu bewundern pflegst!
– Im Gegenteil – antwortete Rikard – ich liebe eine einfältige Kritik sehr, wenn sie wirklich einfältig ist, das will sagen in der ersten Person Singularis spricht, und nicht im Pluralis Majestatis! Die Kritik hat kein Recht, anders zu existieren als subjectiv. Und da jeder Künstler – vorausgesetzt, dass er eine Persönlichkeit ist, – seine Motive und Arbeitsweise mit starker Sympathie für Eines wählt und sich mit starker Antipathie von einem Anderen fernhält, so ist es ja sonnenklar, dass wenn er dann durch seine Auswahl – sein Werk – an Andere appelliert, dieses auf diese Anderen stark in einer bestimmten Richtung wirken, lebhafte Sympathien oder Antipathien erregen muss! Der Kritiker hat nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, seine Antipathien ebenso wohl wie seine Sympathien zu betonen. Aber er hat nicht – wie er oft glaubt – das Recht oder die Pflicht, die Sympathien und Antipathien des Künstlers zu leiten! Die erste Regel für den Kritiker ist, dass er nie mit einem Gedanken an den Künstler denken soll, wenn er schreibt! Er soll sich nur von dem ersten Gebot für allen Umgang mit Menschen leiten lassen: Nie über Jemanden etwas zu sagen – nicht einmal mit einem andern Tonfall – was man nicht den Mut hat, dieser Person selbst ins Gesicht zu sagen. Wenn wir Alle diese Regel befolgten, würde das Zusammenleben – auch zwischen dem Litteraturforscher und denen, die er erforscht – unendlich verschönt werden. Aber bei den jetzigen Gewohnheiten in der Kritik und den Ansprüchen an den Kritiker ist die eigentliche Wirkung der Kritik die, die Seele des Kritikers, die Seele des Künstlers, die Seele der Allgemeinheit herabzuziehen – was ich an diesem, der Seele geweihten Abend bitte, betonen zu dürfen!
– Meines Grossvaters Mahnung an den Menschen – sagte Julianus – zu jeder Berührung mit dem Menschen seiner Seele Hände weiss zu waschen, diese Mahnung zu befolgen sollte auch zu den ästhetischen Gewohnheiten des Kritikers gehören, wenn er die Persönlichkeit eines Anderen berührt!
– Ja – antwortete Rikard – das sollte das instinctive Reinlichkeitsgefühl des Kritikers sein! Aber wie kann man das von ihm verlangen, wenn ihm in dieser culturgefährlichen Maculatur, die man Zeitungen nennt, gewisse Decimeter zugemessen werden, die er füllen soll, nicht mit einem Inhalt, den er – der Kunstrichter – ein persönliches Bedürfnis hat auszudrücken, sondern damit, was die Allgemeinheit und der Künstler von der Zeitung erwarten, nämlich Urteile – und am liebsten Urteile, die sowohl dem Künstler wie der Allgemeinheit behagen! Erst wenn man endlich begreift, dass auch die Kritik ein Selbstzweck ist, eine Kunst, die mit der andern Kunst als Material arbeitet; dass die Aussprüche des Kritikers keine andere Aufgabe haben, als so voll und reich als möglich seine eigene Individualität zu spiegeln – eine Individualität, deren Eigenart es gerade ist, sich in dieser Form auszudrücken, erst dann können wir eine wirkliche Forschungsfreiheit erhalten, eine volle, würdige Selbstverantwortlichkeit, eine wirklich durchgeführte ethische und ästhetische Verfeinerung in der Kunst der Kritik, die jetzt, mehr denn irgend eine andere, durch den Zweckbegriff erniedrigt und verzerrt wird. Ist der Kritiker eine vollwertige Persönlichkeit, hat er jene Leidenschaft für die Kunst, ohne die er nicht das Mindeste mit der Kritik zu thun haben sollte; besitzt er das durch Cultur entwickelte Urteil, das ihm die Gewalt über die Technik in seiner Kunst verleiht; hat er dazu das Glück gehabt, sich seine Spontaneität zu bewahren, so dass für ihn die Kunst stets ein persönliches Erlebnis ist – Lebensgefühl, Lebensfreude, Verzweiflung oder Scham, je nach den verschiedenen Eindrücken, die sie ihm schenkt – dann mag er seinen Antipathien und Sympathien freien Lauf lassen! Dann wird er – dafür haben wir schon sprechende Beweise – gerade dadurch, dass er voll und frei, ganz und ehrlich sich selbst ausdrückt – und ohne irgend ein anderes Ziel als dieses – mittelbar nützen! Er wird dann nämlich Berührungspunkte zwischen der guten Kunst und der Allgemeinheit schaffen und die Verbindungslinien zwischen der Allgemeinheit und der schlechten Kunst abschneiden.
– Aber – wendete Julianus ein – hast Du bedacht, dass die Kritik, auch die gute, eine beständig wachsende Gefahr für die Seele des Künstlers ist, wenn sie weiter fortfährt, sich mit den Persönlichkeiten der Schaffenden zu befassen, anstatt mit ihren Werken? Die Kritik erzählt dem Künstler, was er fühlt oder nicht fühlt, was er ist oder nicht ist, bis der sensitive Künstler entweder den Weg einschlägt, seine oft hervorgehobene Eigenart zu übertreiben, oder sich aus Trotz auf Gebiete wirft, die nicht seine eigenen sind, nur weil er sich von der tragischen oder komischen Maske befreien will, die die Kritik ihm gewaltsam aufs Antlitz drückt. Es gehört schon zur Tragik des Lebens, dass die Menschen sich zuweilen selbst eine Maske verfertigen, die ihnen das Schicksal einmal in einem entscheidenden Augenblick abreisst; dass unsere Freunde uns oft irgend eine Seite in unserem Wesen als Maske vor unser wirkliches Gesicht zwingen. Aber Beides gehört noch zu dem, was irgendwie berichtigt werden kann. Hingegen wird das Temperament, das der Kritiker dem Schaffenden modelliert, nicht selten sein Fluch. Es verleitet ihn leicht zu einer Selbstbespiegelung, die seine Naivetät stört; noch leichter beirrt es ihn in der Wahl von Wegen und Zielen und greift so in oft furchtbarer Weise in sein Schicksal ein. Nur die allerstärksten Individualitäten können erlöst aus dieser Probe hervorgehen. Und das beruht darauf, dass diese in der Regel von der Kritik ihrer Zeit verkannt und verlacht wurden. So sind ein Böcklin, ein Puvis de Chavannes – um einige der nächstliegenden Beispiele herauszugreifen – für sich selbst gegangen, bis sie ganz sich selbst fanden und dadurch die Mitwelt zwangen, sie zu entdecken. Nachdem die Individualität voll ausgeformt ist, schadet ja die Kritik wenig. Aber immer ist es am heilsamsten, wenn sie nur die Persönlichkeit der Toten analysiert, bei denen ein abgeschlossenes Lebenswerk als Material für die Analyse vorliegt, nicht die der Lebenden, von welchen man, so lange sie noch atmen, Nichts mit voller Bestimmtheit wissen kann. Wunderbare Ueberraschungen sind da immer möglich!
– Ja – fügte Hugo hinzu – es giebt eine Kritik, die mich lebhaft daran erinnert, wie wir uns als Kinder darauf steiften, tauige Blätter abzureissen, ohne dass eine Tauperle hinabhüpfte. Es gelang uns nie, und ebenso wenig gelingt es dem Kunstrichter, gerade dieses Lebende, Innerste einer Künstlernatur festzuhalten – den spiegelnden Tropfen, das Künstlerelement. Es ist schon etwas Ungewöhnliches, wenn der Kritiker wirklich das sehen und aussprechen kann, was das vorliegende Werk selbst von dem Wesen des Künstlers offenbart. Aber der Kritiker sollte sich hüten, die Grenzen des Künstlers abzustecken, und vor allem nie – nie – nie durch Vergleichen ein Zeugnis ausstellen oder herabsetzen! Das wirkt wie Gift in der empfindlichen Seele eines Künstlers. Ein Anderer meiner Maler-Freunde – Richard Bergh – äusserte einmal das tiefe Wort: »dass die Kritik danach streben sollte, die Eitelkeiten zu schonen und die Gewissen zu wecken!« Und es ist vor allem der Vergleich, der die Eitelkeit anspornt und den Künstler in falsche Situationen treibt. Die allzu eingehende Analyse schadet auch in anderer Weise der Keuschheit der Künstlerseele: sie stört das Schweigen, in dem der Künstler seinem eigenen Inneren lauscht. Was hingegen dem Künstler stets frommt, gerade weil es sein Gewissen weckt, das ist der Vergleich mit ihm selbst, die Beurteilung seiner Werke nach seinen eigenen besten Verheissungen oder seinen eigenen Werken; die Forderung, dass er seine eigenen höchsten Möglichkeiten erreiche.
– Dem – sagte Rikard – stimme ich zu, vorausgesetzt, dass der Kritiker wirklich selbst ein Gewissen hat, das ihm den Instinct für den ehrlichen Willen giebt, auch wenn dieser in einem bestimmten Falle nicht das erreicht, was er erstrebt. Und dann vor allem, wenn der Kritiker selbst durch und durch cultiviert ist, so dass er die zusammengesetzten Gesichtspunkte und zugleich die einheitliche Anschauung hat, die den Zusammenhang eines Werkes mit dem Schaffenden selbst, seiner Kunstschule, seiner Zeitrichtung durchdringt; so dass er mit gutem Grunde anerkennt oder abspricht und mir dadurch unbewusst Suggestionen giebt, die mittelbar meiner weiteren Entwicklung förderlich sein können. Aber zuerst und zuletzt, wenn er jenen Sinn für Humor hat, der ihn sich enthalten lässt, im Namen des einzigen richtigen Geschmacks zu sprechen – anstatt ausschliesslich in seinem eigenen! Der Weg des Kritikers zur Hölle, in die wir Künstler ihn am liebsten schickten, ist selten auch nur mit guten Vorsätzen gepflastert, aber desto mehr mit absoluten Richtersprüchen, Richtersprüchen, die die Zukunft dann revidiert. Und nicht nur die Zukunft: man sieht ja schon in der Gegenwart, wie zwei grosse Autoritäten – und das auf eine so kleine Distanz wie Stockholm und Kopenhagen – oft ganz entgegengesetzte Meinungen über einen Kunstwert haben! Solche Erfahrungen müssen die Forderung nach subjectiver Kritik immer bestimmter machen und die Ungeduld über alle absoluten Urteilssprüche im Namen der Schönheitslehre immer berechtigter. Soll ein Kritiker irgendwelche Gewalt ausüben – wovon ich direct abrate – dann kann es nur auf sich selbst sein, um zu versuchen, sein Verständnis zu erweitern. Aber der geborene Kritiker hat immer etwas von der Proteusnatur, die Brandes als die seinige schildert! Und dann weiss er aus eigener Erfahrung, dass man zu verschiedenen Zeiten verschiedene Seelenbedürfnisse haben kann; dass Werke, die einander zu widersprechen scheinen, doch notwendige Glieder in einem Entwicklungsgang bilden und dass sie nach dem Klima der geistigen Sphäre beurteilt werden müssen, in der sie erwachsen sind, nicht nach dem Klima in der Sphäre des Kritikers, oder in des Künstlers eigener vor etwa zehn Jahren!
– Und – fügte Hugo hinzu – wenn der Kritiker sich zu diesem generösen und eindringenden Verständnis des Werkes nicht im stande fühlt, dann sollte er es unbedingt unterlassen, das Werk zu beurteilen und es der Beurteilung eines Anderen überweisen, falls man nicht überhaupt schweigen will – in sieben Fällen von zehn das Glücklichste für alle Teile! Die Forderung, dass der Kritiker Alles beurteilen soll – ihm Sympathisches oder Unsympathisches – scheint mir die grausamste von allen Gewalttätigkeiten zu sein, die gegen seine Seele begangen werden. Wenn es einen Punkt giebt, wo er energischen Widerstand leisten sollte, so ist es die Anschauung, die ihn als Gemeinweide für alles Vieh des Dorfes betrachtet. Es giebt beinahe Nichts, was mich als Privatmenschen in üblere Laune versetzt, als wenn Leute verlangen, dass ich eine fertige, unerschütterliche Meinung über das Buch haben soll, das ich gerade aus der Hand legte, die Musik, die eben verklungen ist, das Bild, vor das ich mich just gestellt habe; dass ich über Alles im Klaren sein soll, was geschieht, ja meine Ansicht über die Ereignisse fertig haben soll in demselben Moment, in dem ich das Abendtelegramm lese! Ich verlange es als mein Recht, es unterlassen zu dürfen, eine Masse von Dingen en évidence zu halten, oder eine Masse anderer zu beurteilen, die mir gleichgiltig sind; mir nicht Alles und Alle mit demselben Recht und Anspruch auf mein Interesse aufzwingen zu lassen! Mit Eindrücken wie mit Menschen muss man zugleich behutsamer und wagemutiger werden. Besonders gilt das für die unglücklichen Bewohner der Grossstädte, die – bis es uns gelingt, die Grosstädte zu zerstören – sich systematisch absperren, sich nicht Eindrücke, Verkehr, Gewohnheiten, Neigungen, Vergnügungen aufzwingen lassen sollten, wenn anders sie klare Linien in ihrer Persönlichkeit behalten wollen! In meiner eben erwähnten Irritation gegenüber den Ansprüchen auf fertige Urteile – einer Irritation, die bei mir ja nur gelegentlich ist – muss nun der unglückliche Kritiker, der eine Persönlichkeit hat, tagaus tagein leben, bis er sich die Heiligung des Selbstzwecks für seine Persönlichkeit, seine Thätigkeit erkämpft hat.
– Du hast – sagte Rikard – das Schlimmste vergessen, unsere guten Freunde und getreuen Nachbaren, die willig und bereit dastehen, uns Ratschläge über das zu geben, was wir finden sollen, und die ihre milde oder wilde Verwunderung zeigen, wenn wir uns nicht dankbar erweisen! In dieser Beziehung sündigt auch der beste Kritiker gegen die Künstler. Ich gebe gerne zu, dass man zuweilen in seiner Sympathie eine Dachluke aufthun oder ein Fenster öffnen soll. Aber es ist schon auch gut, Wände zu haben! Ich meine nicht dumme, dicke Mauern – wie z.B. dass man das Wellenbrausen der Gefühle bei Sophokles nicht hören kann, weil man auch ein Ohr für die heissen Pulsschläge unseres Jahrhunderts hat. Aber ich meine, dass ich in Beziehung auf meine eigenste Persönlichkeit, meine Ausdrucksmittel, meine Motive keine Ratschläge wünsche: Ratschläge, wie dass ich ein entgegengesetztes Ausdrucksmittel versuchen und Sympathie mit ganz anderen Motiven fassen soll, als die ich wähle; dass ich mich z.B. hüten soll, zuviel Rot und Schwarz zu gebrauchen, denn das ist eine Imitation des Symbolismus; oder zuviel Braun und Grau, denn das ist eine Reminiscenz an den Realismus; dass ich Pauls Motive oder Peters Malweise zu wählen hätte oder meine eigene von vor fünfzehn Jahren behalten sollte – denn dann würde das Publikum mich besser verstehen und ich mehr mein eigenes Selbst sein. Dass ich weder Pauls Augen, noch Peters Hand habe, noch dieselben Dinge auszudrücken habe, wie vor fünfzehn Jahren – davon lassen sich die guten Ratgeber nichts träumen. Noch weniger, dass ein wirklicher Künstler nicht bewusst wählt, sondern unbewusst von dem Geist, der in ihm ist, getrieben wird, seine Motive zu wählen und seine Mittel, sie auszudrücken! Alle derartige freundliche Bedachtheit wirkt daher auf mich aufreizend. Es thut mir bei solchen Gelegenheiten leid, dass es mir physisch unmöglich ist, Hand an eines Anderen Ohr zu legen! Aber wenn ich auch nicht handgreiflich werde, so kann ich doch recht deutlich sein, wenn solch ein alter Krippenbeisser oder ein junger Windhund kommt und mir erklärt: die Kunst sei gar nicht so schwer – wenn man sie nur so leicht nimmt, wie gewisse Herren Recensenten!
– Ja – fiel Hugo lächelnd ein – Dein einziges festes Princip ist das von dem Wert und Gewicht des heiligen Schwurs...
– Nein – antwortete Rikard – auch das von der tiefen Weisheit in dem Sprichwort: »wäre der Donner nicht, würden die Trolle die Erde verwüsten« – ausgelegt heisst dass: gäbe es nicht schon den heissen, heiligen, breitrollenden, blitzgleich niederschlagenden Zorn, – so müsste dieser grosse Schönheitswert sogleich geschaffen werden! Und nun will ich sofort das Gegenteil von dem, was ich eben sagte, sagen – was das kostbarste der Menschenrechte ist, aber eines, das man leider zu proklamieren vergessen hat. Ich bin wirklich den Menschen dankbar – den kritisierenden wie den schaffenden – die mich sehen lehren, dadurch, dass sie selbst die Liebe sehend gemacht haben. Ich habe mich so gefreut, wenn Gustav Fröding meine Sympathie mit den Verunglückten des Lebens erweiterte; wenn Gustaf af Geijerstam meinen Blick für die dunkel tragischen Verläufe schärfte, für den geheimnisvollen Einfluss des Unbewussten sowohl in gebildeten wie in ungebildeten Seelen. Ich habe geschwelgt, als Nordström und Kreuger für unsere Kunst die grosslinige, karge Natur gewannen, deren Schönheitswert man vor zehn Jahren bei uns kaum ahnte. Will man so recht das Wachstum des Natursinns ermessen, dann muss man Louis de Geers feinen, kleinen Essay über Landschaftszeichnungen lesen – aus dem man entnimmt, wie man in den Vierziger Jahren die Natur ansah. Und in gleicher Weise ist mein Blick für das Arbeitsleben, für den modernen Verkehr erweitert worden. Die Kunst hat den unheimlichen Zauber der Locomotive entdeckt, die im Dunkel dahinbraust, oder des Dampfers, der stumm und schwer über die Wellen gleitet – beides Symbole des ungewissen Schicksals, mit denen das moderne Leben die Menschen von Ort zu Ort schleudert. Aber man lasse die Künstler nur selbst umhergehen und entdecken – sie sind nicht blind geboren! Früher wurde der Künstler nach gewissen Lehrjahren als fertig angesehen; war Künstler der Profession nach und thronte in unerschütterter Ruhe und Anerkennung bis zu seinem Todestage. Aber uns Kindern einer neueren Zeit, die wir stets umhergehen und sehen, um dann Andere besser sehen zu lehren – gerade uns wollen die noch Blinden erzählen, wie die Natur aussieht! Wissen sie auch nur, wie ein Künstler die Natur ansieht? Das erste Jahr sieht er den Wald vor lauter Bäumen nicht. Im zweiten Jahr hört er die grünen Heimlichkeiten der Waldestiefen! Im dritten Jahr findet er jedes Baumes besonderen Charakter. Das vierte Jahr sieht er Pans spitzige Ohren hinter dem silbergrauen Stamm der Buche hervorlugen. Er ist ein glücklicher Mann, wenn er bis dahin nicht malen musste. Nie stehen bleiben, immer lernen, nie fertig sein; einen Standpunkt in richtiger Weise behalten und ihn in richtiger Weise verlassen; immer Dummheiten machen und aus ihnen lernen können; unverstanden sein und so gezwungen werden, neu anzugreifen, um verstanden zu werden – das ist des Künstlers Art zu leben. Denn das ist pures Geschwätz, wenn Künstler und Dichter sagen, dass sie damit zufrieden sind, nur um der Kunst willen zu schaffen. Das ist die höchste Freude, und wer es nicht fasst, hat keinen Tropfen schöpferisches Blut in sich! Aber dann will man auch Andere mit der Freude erfreuen, die Einem zu Teil geworden ist – wenigstens »the happy few.« Das Bedürfnis, schaffend mich auszudrücken, ist ja nur eine Form des Lebensgefühls, und dieses wird gesteigert, wenn mir die Sympathie Anderer mit meinen Ausdruckformen dieses Lebensgefühls zufällt. Dem Künstler, der etwas Anderes sagt, möchte ich nach einer verständnislosen Kritik in die Augen sehen.
– Für mich – sagte Hugo – hat die Kunst nur zwei Regeln. Die eine ward hier auf dem Jagdschloss mit Rikard Furumos souveränem: So male ich, denn so freut es mich zu malen! gegeben – die andere von Rahel – der ich es gönnen würde, ihn gekannt zu haben – in dem ebenso tiefen Satze: »Freiheit heisst sklavisch seiner eigenen Natur folgen.« Nur das, was den Künstler freut, gerade so zu malen; nur das, was ihm das intensivste Glücksgefühl giebt; nur das, wozu seine eigene Natur ihn zwingt; nur das, worin er seine volle Lust hat – das wird Kunst! In diesem Sinne ist ja nichts wahrer als l'art pour l'art – die Kunst nämlich, die mit voller, frommer Seele geschaffen wird – so voll, dass die Künstlerseele zerspringen müsste, wenn sie sich nicht gerade so ausdrücken dürfte; so fromm, dass der Künstler, wenn das Werk vollendet ist, ebensosehr von Demut wie von Stolz erfüllt ist. Denn ich habe nie einen echten Künstler gekannt, der nicht demütig gewesen wäre vor dem, was er erreicht, nicht stolz vor dem, was er gewollt hat; klein gegenüber dem Verständnis, hoch gegenüber dem Unverstand. Ein so geschaffenes Werk wird Lebenskraft und Saft für die Menschen, ebenso gewiss, wie die Traube Wein wird, ohne dass sie, wenn sie reift, selbst daran denkt, dass sie einmal von den Menschen gekeltert werden wird. Man kann Anatole Frances Worte, dass jene Bücher am sichersten die Unsterblichkeit erlangen, die nicht dafür bestimmt sind, so umschreiben: dass jene Werke die Menschen am meisten ergreifen werden, die nicht darauf hingezielt haben! Die, welche herkommen und davon schwatzen, dass der Künstler universell sein soll, objectiv, allgemeinmenschlich – wie es z.B. Tolstoj fordert – was verlangen die eigentlich im Innersten? Ja, dass der Künstler ihnen gleichen soll, dasselbe finden wie sie, die gleichen Gefühle haben wie sie – also gar nicht individuell, persönlich, subjectiv sein! Der Künstler darf nicht, heisst es, sein eigenes Innere zeigen, sondern soll allgemein giltige Gefühle schildern, als ob er je eine andere Art gehabt hätte, allgemeingiltig zu sein, als durch das Zeigen seines eigenen Innern! Als ob irgend eine persönliche Kunst je etwas Anderes enthalten hätte! Aber die Leute sind dessen so ungewohnt, in diesen Dingen zu denken, dass sie selbst nicht wissen, was sie eigentlich mit ihren Worten meinen. In diesem Gerede ist nämlich ein richtiger Instinct vorhanden. Und zwar der, dass der Wert des Kunstwerks durch das innere Leben entschieden wird, das der Künstler zu zeigen hatte. Denn so hoch und tief und breit, wie dieses Innere sich erstreckt, so hoch und tief und umfassend wird dann auch das Kunstwerk!
– Ja – sagte Rikard – wenn es uns nicht gelingen soll, diese Wahrheit in die Köpfe zu bringen, dass alle Kunst, die etwas Anderes sein will, als die vollkommenste Kunst, unsittlich ist; dass Kunst und Leben nicht Gegensätze sind, sondern dass die Kunst ein Ausdruck des Lebens ist und den Gesetzen des Lebens folgt; dass sie ein Selbstzweck ist, ein Kraftausbruch, eine Naturmacht mit ihren eigenen Voraussetzungen, die man von keinem anderen Lebensgebiet aus das Recht oder die Möglichkeit hat festzustellen – ebensowenig wie die Füsse über die Form der Hände entscheiden können oder das Birkenlaub den Blättern der Kastanie zum Muster dienen – dann lasst uns mit der Kunst fertig werden! Soll sie nicht länger eines Menschen voller heiliger Ernst sein, sein Traum, seine Liebe, sein Elend und seine Seligkeit; soll sie nicht meine ganze Persönlichkeit erfüllen und verbrauchen dürfen, sondern mein Spiel in freien Stunden sein, während es hingegen mein Ernst sein soll, dass ich dresche – wer will dann Künstler sein? Die Kunst wird so ein leichtfertiges Nichtkönnen, ein Dilettantismus, unwürdig erwachsener Menschen. Nein, lasst dann artige Mädchen artige Knaben malen, die ihre Wecken mit armen Knaben teilen – Bilder, welche nach Tolstojs Kunsttheorie den Infantinnen Velasquez' unendlich überlegen sein werden! Lasst uns dann Alle daran arbeiten, die glattgestrichene Schweineglückseligkeit zu verwirklichen: Serien von gleichförmigen Ferkeln einträchtiglich um dieselbe natürliche Nahrungsquelle gereiht. Soll die Kunst um der vielen noch tiefstehenden Seelen willen nicht höher wachsen dürfen als bis zum Stadium des Herzblattes – der primitiven Formen – dann lasst uns doch Alle Kartoffeln setzen, biblische Geschichten lesen, Wasser trinken und Vater Noah anhören, die universellste Tondichtung, die ich kenne – aber aufhören davon zu träumen, dass auch Käthner eines Tages Shakespeare lesen, Wein trinken, Ananas essen und Mozart gemessen werden!
– Ich glaube kaum, dass wir Worte an diesen Schwachsinn verlieren sollten – sagte Hugo – der doch leider ansteckend ist. Man weiss weder aus noch ein in diesem Hexensabbath von Absurditäten! Zum Beispiel die, die Bibel als Gegensatz zu der ungesunden erotischen und dekadenten Literatur der Gegenwart aufzustellen! Tolstoj scheint zu übersehen, dass die Bibel auch das Hohe Lied und den Prediger Salomonis enthält, diese wunderbaren Urtypen der Lyrik des Liebesrausches und des Seelenzustandes des Dekadenten! Der Prediger ist ein nie übertroffener Ausdruck für die Naturen, die es zu allen Zeiten gegeben hat und geben wird, nicht bloss in der unserigen: empfindliche Naturen, die damit enden, das Leben bloss zu betrachten, weil sie sich unfähig gefunden haben, es zu bearbeiten; Naturen, die so tief vom Dasein verwundet wurden, dass sie sich in eine eigene innere Welt einschliessen, wo sie leben, hoch und einsam, seltene Gedanken denkend und verfeinerte Gefühle empfindend! Da es ihre Eigenart ist, nicht mit Anderen Gefühle zu teilen, müssen solche Menschen zu allen Zeiten einsam, unverstanden bleiben. Sie sind weder die grössten, noch die schönsten, noch die reichsten Geister. Aber die Sonne leuchtet ja auch auf die Sanddistel, die ihre vornehm dunkelblaue Blüte und ihre schönstilisierten, scharfzackigen, silberweissen Blätter aus den Dünen hervorstreckt. Sie ist nicht daran schuld, dass man sich an ihr sticht, wenn man sie zu einem Strausse pflückt. Ich begreife, dass einige schwache Kunst – und von solcher giebt es ja zu allen Zeiten am meisten – zuweilen schwache Köpfe verleitet, in schwachen Stunden über den Zweck der Kunst zu grübeln! Aber von diesem Gedanken gilt, was der Gottesmann Luther von der Sünde sagte: man kann die Vögel nicht hindern, über seinem Kopfe zu fliegen, wohl aber, ihr Nest darin zu bauen! Und gewiss ist, dass wenn ich Justizbeamter für die Schönheit werde, ich Jeden sofort beim Kragen nehme, der über den Zweck der Kunst spricht oder schreibt!
– Ach – fiel Rikard ein – wenn sie wenigstens über den des Künstlers redeten! Da würde ich gleich antworten: er ist der Kunst wegen da!
– Schade – sagte Julianus lächelnd – dass ich mich nicht länger an Dir als einem grossen Selbstzweck freuen kann. Hast Du die Cigaretten?
Rikard reichte ihm die Schachtel.
– Was hast Du da für ein Bleichgesicht gezeichnet? – fragte Julianus.
– Einen Kritiker, der der Mitwelt dieses Kleinod der Lebensweisheit gegeben hat:
»Die Leidenschaft hat viel für sich, sie darf nur nicht übertrieben werden!«
Julianus brach in das leise, melodiereiche Lachen aus, dessen Klangfarbe unwiderstehlich mitreissend war. Nachdem die Heiterkeit sich gelegt, sagte er:
– Ich verstehe doch nicht die Ideenverbindung der Zeichnung mit dem, wovon wir eben sprachen?
– Verlange nicht, dass Dick seine Ideenverbindungen kennen soll – fiel Hugo ein. – Ein Maler denkt mit den Augen, nicht mit dem Inneren seines Kopfes.
– Ich werde sofort Deinen bleichen Witz erröten machen – sagte Rikard – denn die Ideenverbindung war vorhanden, und ich wusste sie!
– Nun habe ich sie auch gefunden – antwortete Julianus – der Künstler ist um der Kunst willen da – und muss ein übertriebener, leidenschaftsvoller, grosser Mensch sein, wenn die Kunst gross ...
– Natürlich – sagte Rikard. – Da sind wir bei dem einzigen fruchtbaren Gesichtspunkt für das Verhältnis der Kunst zum Leben! Ebensowenig wie ich durch die Erfahrung meiner Grossmutter weise oder durch die Liebesgeschichte meines Grossvaters glücklich werde, vielmehr die Idiosynkrasie habe, selber erfahren und selber lieben zu wollen, ebensowenig kann die Eingebung, die ich bloss aus den Kunstschöpfungen einer anderen Periode schöpfe, von demselben pulsierenden Blut durchströmt sein, wie die, welche mir unmittelbar aus dem Leben wird, an dem ich selbst teilnehme, aus meinen Verhältnissen zu Menschen und zu Gedanken meiner eigenen Zeit. Nur in die Schöpfungen, die warme Wirklichkeit in eines Menschen Herz und Hirn gewesen sind, kann man hineinschneiden, wie in die Aeste des verzauberten Waldes, und noch den Lebenssaft heiss und rot tropfen sehen! Hätte Dante nicht Beatrice geliebt, so stünde jetzt sein gewaltiger Dom kalt und leer. Wäre nicht Leonardos Seele durch vier Jahre hindurch in Mona Lisas Antlitz versunken gewesen, so würde uns jetzt ihr Lächeln nicht von einem wunderbaren, ungeahnten Glück träumen lassen! Und jedes Buch, jedes Bild, jedes Tonwerk, das noch mehr ist als ein Band auf einem Regal, eine Nummer in einem Katalog, das noch Grossthaten inspiriert, Lebensverhältnisse schafft, Leidenschaft weckt, Lebenswerte umwertet, jedes solche Werk ist Eines, darin ein reiches Selbst sich als Brot bricht, sich als Wein ergiesst. Aber sacramental wird man nicht, wenn man seine Impulse aus zweiter Hand geholt hat! Man muss selbst den Kreuzweg gehen, mit wunden Füssen und heissen Lippen! Damit meine ich natürlich nicht, dass ein Künstler nicht eine ältere Kunstschöpfung als Unterlage für sein eigenes Gefühl gebrauchen kann – ja, das wird sogar zuweilen den Eindruck der neuen Schöpfung noch tiefer und nachhallender machen, so wie es z.B. bei Tor Hedbergs »Joconda« oder Levertins »Flores und Blanzeflor« der Fall ist. Ich meine nichts Anderes, als dass auf alle Kunst aufgebaute Kunst, alle Reconstruction der Formen verflossener Kunstperioden von der Leidenschaft eines neuen Menschen erfüllt sein muss, und dass es eine Illusion ist, wenn kleine Menschen glauben, dass ihre Werke schon dadurch einen höheren Rang erhalten, dass sie die Motive einer verflossenen Zeit entlehnt oder als Text zu ihrer Musik ein Gedicht aufgestöbert haben, das über ein Bild geschrieben wurde. Das ist bloss ein Taschenspielerstreich mit Motiven und mit Formen. Ein solches Spiel verleiht oft grosse Fertigkeit in der Ausführung, aber führt nie zu echter, grosser Kunst mit Saft und Kraft für die Seelen der Menschen! Die Wahl solcher langgesuchten, nicht spontan gewonnenen Motive ist oft dadurch veranlasst, dass der Künstler jetzt vom Hunger gequält, von der Kritik aufgepeitscht, von der Sensationsgier des Publikums gejagt wird, mit etwas Neuem Aufsehen zu erregen. Daraus leiten die Adepten der Mystik ihre Abkunft her, sie, die keine Ahnung davon haben, dass es zur Kunst gehört, arbeiten zu können. Sie haben Alles – Zeichnung, Farbe, Perspective – aus der Tiefe ihrer eigenen Seelen gleich göttlichen Offenbarungen geschöpft! Es ist auch darnach geworden! Die ältere Kunst hatte kein Neuigkeitsfieber. Sie bewegte sich bis in die Unendlichkeit in einer beschränkten Anzahl von Motiven, und ich will das gewiss nicht unbedingt anempfehlen, denn der Manierismus blühte dort ebenso herrlich wie in der Gegenwart. Es giebt ebenso viel hohle religiöse Kunst in der Renaissance wie in unserer Zeit. Seht nur alle diese thronenden Madonnen an, von denen die meisten ausschauen, als hätten sie den Kleinen auf dem Boden aufgelesen und als taugten sie nicht einmal zu Kindermädchen! Und das Kind selbst, das auf den Knieen seiner Mutter vor dem Publikum Tanzschritte macht! Ich fühle mich jedesmal erleichtert, wenn ich eines sehe, das an der Brust der Mutter trinkt oder an seinem Daumen lutscht oder irgend etwas anderes Nützliches vornimmt. Banalität und Schablone hat es in Hellas ebensogut wie hierzulande gegeben – die werden wir zu allerletzt los, eben so wie den Dilettantismus. Indessen keines von beiden ist in einer kräftigen Kunstperiode gefährlich – das werden dann nur welke Blätter, die zu schwarzer Erde um den Fuss des grossen Baumes umgewandelt werden! Aber das Gefährliche in unserer Zeit ist, dass die echten Künstler jetzt nicht die Ruhe haben, die sie früher besassen, als die Kirche ihre grosse Abnehmerin war und sie sich inzwischen mit der kleinen Kunst erhalten konnten. Der Staat und die Schule sollten jetzt die Aufgabe der Kirche übernehmen, bis es uns gelingt, durch neue soziale Verhältnisse alles Kunstschaffen unabhängig zu machen. Das will sagen, der Staat und die Schule wären gute Mäcene, wenn man diese neuen Arbeitsgeber überzeugen könnte, dass der Künstler ihre Kochrecepte entbehren kann! Aber ich nehme an, dass sich die Kirche auch nicht völlig passiv verhielt ...
– Nein – antwortete Hugo – ich weiss mich zu erinnern, dass Michel Angelo gewisse Erfahrungen machen musste. Ich möchte übrigens auf das zurückkommen, was Du von der neuen Kunst sagtest. Es giebt Mystik und Mystik, und das Verlangen der Allgemeinheit nach Objectivität und Klarheit erinnert mich an das, was Julianus' Grossvater schrieb: Feine, sensible Darstellungen eröffnen ihren Blütenkelch nur fein fühlenden Gemütern ... Die Himmelswölbung ist vermutlich nicht »objectiv« genug in ihrer Darstellung, weil unzählige Sterne dort vom Menschengeschlecht nicht mit dem blossen Auge gesehen werden können, sondern man ihrer mehr und mehr entdeckt, wenn sich die Menschen bessere Fernrohre verschaffen. Was schlimmer ist: Die Himmelswölbung, ja, die ganze objective Natur wird überhaupt von Dem nicht gesehen, der schläft. Du musst zugeben, dass es jetzt kein Gebiet giebt, wo die Banalität so sattelfest herumreitet wie gerade in dem sogenannten »Dunkel!« Dass das Dunkel auf ihrer eigenen Gedankenträgheit oder Seichtigkeit beruhen kann – das ahnt die Banalität nie! Aber sage einem seelenvollen Menschen, er möge ins Dunkel hineinsehen – und es dauert nicht lange, so hat er entdeckt, ob der dunkle Fleck ein Brunnen ist, oder nur ein schwarzes Carreau auf dem Fussboden. Es ist eine ästhetische Tugend, dunkel genannt zu werden, aber ein ästhetisches Verbrechen, es zu verbleiben – wie dieses z. B. bei dem grössten Teil der Poesie unserer romantischen Schule der Fall ist.
– Und – sagte Rikard – wie sehr sich auch die Zeitgenossen einer gewissen Richtung oder eines gewissen Künstlers bemühen zu beweisen, dass die Rebusse einer schwachen oder gealterten Phantasie tiefsinnige Kunst sind – die Zukunft führt man nicht hinters Licht! Denn den Trost hat man doch wenigstens, dass, wenn auch die Menschen furchtbar dumm sind, die Menschheit es glücklicherweise gar nicht ist! Eine der Aeusserungen der ihr inne wohnenden Intelligenz ist der von Zeit zu Zeit wiederkehrende Ruf nach Natur in der Kunst!
– Was meinst Du da mit Natur? fragte Hugo – ich teile in diesem Falle meines Vaters Ansicht, dass mit nichts grösserer Unfug getrieben wird, als mit dem Wort Natur. Natur! Natur! ruft man, und hast Du bloss Natur, so ist Alles göttlich. Man vergisst nur, dass die Natur in ihrem unermesslichen Schosse nicht bloss das Herrliche, sondern auch all seine Gegensätze birgt ...
– Ich antworte Dir – sagte Rikard – wie Dein Grossvater damals antwortete: auf längere Theorien pfeife ich. Im Uebrigen finde ich die Sache höchst einfach: mit der Natur kann nichts Anderes gemeint sein als die Stoffe und Kräfte, die die Menschen nicht schaffen, sondern nur veredeln, umbilden und beherrschen können. Wir haben Teil an der Rose und dem Weinstock, an dem Saatenfeld und dem Park, die sowohl der Cultur als der Natur angehören, da sie ohne die erstere nicht hervorgebracht worden wären. Aber sie gehorchen dem Gesetz der letzteren: dass alles Lebende wächst, welkt und stirbt. Ueber der rohen und über der veredelten Natur – die vom Willen des Menschen nur modificiert werden kann – steht das Gebiet, wo der Mensch allein Schöpfer ist, wo er Gesetze erlässt, wo er allein Leben giebt und Leben bewahrt; wo er sich mächtiger zeigt als die Natur, denn er kann, wenn er selbst eine genug mächtige Kraft ist, seinen Schöpfungen ewiges Leben geben! Die Hervorbringungen der Cultur – Staaten, Gesetze, Religionen, Künste, Wissenschaften, Erfindungen – kannst Du auch Natur nennen, wenn das Wortspiel Dich amüsiert, denn sie sind ja auch Ausbrüche einer Naturkraft, nämlich des Menschen. Von Allem, worin er schaffend diese seine Naturkraft umsetzt, scheint mir die Kunst das Unvergänglichste zu sein. Die Wissenschaften und Erfindungen sind an Erfahrungen und Bedürfnisse gebunden, die wechseln können. Die Kunst steht ausserhalb des Gebiets der beweisbaren Wahrheit, über dem der materiellen Bedürfnisse. Wenn die Fragen des Forschers beantwortet, die Bedürfnisse des Tages erfüllt sind, sammelt sich in der Kunst der Ueberschuss der von allen Zwecken befreiten Lebensenergie der Menschheit. Die Kunst wird darum die feinste, freudvollste Aeusserung der menschlichen Naturkraft, wird, was die Farben der Blume, das Federkleid des Vogels, der Staub des Schmetterlingsflügels, die Zeichnung der Muschelschale in der Natur sind: frohe Ausdrucksformen des Lebensverlaufs! Dass dieser sich als harmonische Schönheit in den Werken der Natur ausdrückt, ist ebenso notwendig, wie dass der Mensch seinen organischen Zusammenhang mit der Natur durch Schönheitsforderungen und Schönheitsschaffen in der Welt ausdrückt, die er für seine »fröhlichen Bedürfnisse« schafft. Und je mehr Gefühlsenergie, Schaffensfreude, Vollkommenheitsstreben und Entdeckerglück ein Kunstwerk einschliesst, je voller es eine menschliche Machtempfindung und Machtausübung ausdrückt, desto gewisser macht auch dieses Werk den Eindruck harmonischer Einheitlichkeit, Vollkommenheit und Ruhe in sich selbst, ja absoluter Notwendigkeit, wie ihn auch die Natur macht. Aber das Kunstwerk teilt alles dieses in einer höheren Potenz mit, weil die Natur darin durch noch eine Natur verdoppelt wurde, die eigene des Menschen. Er kann doch nicht immer nur aus seinen eigenen Hilfsquellen schöpfen, wie der Mystiker sich vorspiegelt. Er muss stets neue Eindrücke aus der Notwendigkeit der Natur holen, aus den Mitteln, mit denen die Natur in ihren Werken die harmonische Schönheit, die sinnliche Vollkommenheit erreicht. Diese Vollkommenheit ist es, die wir als das Ethische in unseren Werken zu erstreben haben. Die Kunst erhält in alle Ewigkeit keine andere Sittlichkeit als diese! Das war die Ethik, die der Realismus besass. Und darum war er freilich nur eine halbe Wahrheit – aber doch nicht im geringsten lügenhaft!
– Du weisst – wendete Hugo ein – dass ich lieber einen grösseren Inhalt mit unvollkommeneren Mitteln ausgedrückt sehe, als einen geringeren mit grösserer Vollkommenheit.
– Ich auch – antwortete Rikard – wenn das Ding von einem Menschen gemacht ist, der sich nicht überhoben, sondern sich an eine Aufgabe herangewagt hat, die er erst später einmal lösen kann und der er sich mit heiligem Feuer hingegeben hat! Aber diese berechnenden Phantasten mit ihren kaltblütigen Fiebererscheinungen, ihrer reflectierten Naivetät, ihrer bewusst trüben Unklarheit – die wollen der sinnlichen Vollkommenheit auskneifen, weil sie nicht dazu taugen. Sie dünken sich mystisch, heilig und hoch, wenn sie zwei graue Schatten und einen schwarzen gemalt haben – der ein Muff, ein Cylinder oder eine Reisetasche sein kann – und schreiben dann mit Mönchsbuchstaben darunter
Faust, Wagner, Der Pudel.
Ein Pudel, dessen Kern ganz einfach der ist, dass der Bursche niemals gesehen hat, dass ein Hund »ein Tier mit vier Beinen ist, jedes in einer Ecke.« Und von dieser Höhe der Ungewissheit schielt er hinab auf den bedauernswerten Collegen, der einen Hund macht, welcher sowohl stehen als springen kann! Wir Realisten brauchten nicht lange, um zu lernen, dass es gar keine »Wirklichkeitskunst« geben kann – da der echte Künstler die Natur immer nach seinem Gefühl von ihr umbildet! Aber er muss stets fortfahren, sie mit frohen oder betrübten, nachdenklichen oder verliebten Augen anzusehen, eben »mit Augen sehen!«
Und das ist es, was alle unsere besten Pariser Maler gekonnt haben, diejenigen, welche ruhig, wie die Natur selbst wächst, ihre neue Kunst sich mit einer ganz organischen Notwendigkeit aus der früheren realistischen Auffassung haben entwickeln lassen. Eine mehr synthetische, grosslinige Kunst, die die Natureindrücke zur Einheit sammelt, nicht durch Detailreichtum zersplittert.
– Ein Monismus also – sagte Julianus – auch auf dem Gebiete der Kunst. Und das führt uns zu dem Ausgangspunkt zurück, von dem aus wir zu diesem Seitenblick auf die Kunst verleitet wurden, nämlich zu der Steigerung der Persönlichkeit des Künstlers aus der Fülle seiner eigenen Leidenschaft. Es will mir scheinen, als brauchte und suchte die Kunst jetzt neue Mittel, um in innigerer Weise gerade die Evolution der menschlichen Seele auszudrücken. Wir erleben jetzt ein neues Mittelalter der Kunst – denn die Kunst des Mittelalters hatte ja einen grossen Teil ihres rührenden und oft hilflosen Reizes darin, dass sie, wie die Kunst der Gegenwart, versuchte, die äussere Form von innen heraus zu bilden. Die Seelen waren es, die die starren Körper der mittelalterlichen Kunst aufbauten und sie mit ihrem reichen inneren Leben durchdrangen. Dann gab die Spätrenaissance der körperlichen Schönheit und Vollendung eine solche Macht, dass sie aufs Neue, wie in der Antike, das Seelenleben gleichsam verschleierte. Aber der grösste Geist der Renaissance, Michel Angelo, wurde doch gerade in dieser Zeit so der Offenbarer der Seele, wie Niemand vor ihm und noch Niemand nach ihm! In seinen Gestalten vibriert jeder Muskel von Seele, während jede Seelenbewegung sinnlich voll ausgeformt ist! Der Körper ist plastisch unter der Leidenschaft der Seele, doch die Seele nicht, wie in der Kunst des Mittelalters, unabhängig vom Körper oder lose mit ihm verbunden, sondern im Gegenteil mit ihm verschmolzen. Die ganze moderne geistig-sinnliche einheitliche Anschauung der Menschennatur schlummert in Michel Angelos Sculpturen, diesen Gestalten, die selten ganz von dem Marmor losgelöst wurden. Gerade das ergreift mich am stärksten: dass in seinen Werken die mächtigen Seelen noch teilweise gebunden, verschleiert sind! Denn dadurch werden diese Werke die tiefen Symbole der allerinnersten Sehnsucht unseres Lebens: der Befreiung und Vergrösserung der Seele. Dieses dass der Körper Seele werde und die Seele Gestalt – scheint mir auch der innerste Wille der ganzen neuen Kunst zu sein.
– Ich glaube – sagte Hugo – dass Du Recht hast. Noch ist dieser Wille nicht verwirklicht. Aber wie wäre das möglich? Es gilt ja die Offenbarung des ganzen Menschenwesens. Der Realist vertiefte sich mit Liebe in die Form; der Symbolist hat mit wenig Erfolg – weil mit geringerer heiliger Einfalt – die Seele zu offenbaren versucht. Die Kunst, die stets in mittelbarer Wechselwirkung mit den Zeitgedanken steht, setzt jetzt die neue physiologisch-psychologische Betrachtungsweise des Menschen in ihr Streben um, das ganze Menschenrätsel zu offenbaren und die Technik zu einem willigeren Mittel für dieses Ziel umzugestalten. Nicht nur in der Skulptur und in der Malerei – wie zum Beispiel Rodin und Carrière – sondern auch in der Dichtung und Musik sucht man, geht in die Irre, sucht wieder, um die Wege zu diesem Neuen, Grossen zu finden, das die neue, echte Kunst so ernst will: unsere flüchtigsten wie unsere stärksten Seelenbewegungen malen, so wie Liljeforss die Bewegungen der Tiere malt; die Atmosphäre in einer Seele wie in einer Landschaft entdecken; und, wie es den Japanern auf dem Gebiete des Naturlebens gelang, alle Form und Bewegung zu den Hauptlinien zu vereinfachen, dasselbe auf dem Gebiete des Seelenlebens zu erreichen. Noch ist es die Dichtkunst und die Musik, die es hierin am weitesten gebracht haben. Es ist die heimliche Verzweiflung und der heilsame Ansporn der bildenden Künstler, dass sie noch nicht das können, was sie wollen. Ihr hattet es leichter, als Ihr Realisten Euch so andächtig am ganzen Dasein freutet, dass Ihr gar keine Auswahl traft, ja es nicht einmal übers Herz brachtet, eine Planke auszuschliessen, wenn sie auch die Abendglut auf Eurem Bilde verdeckte! Ihr wisst jedoch, dass die neue Kunst eine ebenso wirklichkeitsliebende, ebenso leidenschaftlich ehrliche Kunst werden muss – aber von ganz anderen und grösseren Wirklichkeiten erfüllt; von den Problemen des Seelenlebens, die wir heute Abend berührt haben, und von vielen anderen, zu denen wir noch nicht gekommen sind – und noch zahlreicheren, die wir jetzt nicht einmal ahnen können!
Rikard, der in den letzten Minuten angefangen hatte, Julianus zu zeichnen, rief jetzt aus:
– Rühre Dich nicht; behalte den Arm über dem Stuhl – das ist gerade das Gefühl, das ich in der Bewegung haben will. Ich sah eben erst die Stellung, die ich in fünfzig Skizzen in allen diesen Wochen gesucht habe! Sitze jetzt still und blicke auf Deine eigenen Gedanken, indess wir Hugo seinen Abendzeitungen überlassen. Zeitungen lesen und sich über sie ärgern ist eine der Gewohnheiten, die Hugo nicht von seinem epikuräischen Grossvater geerbt hat, der vorsorglich allem auswich, was ihn ärgerte.
Als Rikard eise Weile gezeichnet und Hugo die Zeitungen weggelegt hatte, sagte Julianus:
– Ich musste jetzt immer an diesen herrlichen Ausspruch, von der Leidenschaft denken, die nicht übertrieben: werden darf. Dieser Ausdruck verdiente unsterblich zu werden! Denn er kennzeichnet eine unsterbliche Dummheit in der psychologischen Auffassung des Menschen. Man weiss, dass gewisse Werte notwendig und angenehm sind, zum Beispiel kühne Wagestücke, grosse Thaten, Kunstschöpfungen, mächtige Gefühle und derartiges mehr! Aber man will immer die Resultate haben, ohne ihre Voraussetzungen im Temperament. Man wünscht, dass das alles von regelrechten, pflichttreuen, ordentlichen, gesetzten Leuten gethan werde, für die ihr Werk etwas Aussenstehendes ist, wie ihr Pincenez oder ihr Cylinder. Man ahnt nicht, dass, wenn man die Sache haben will, man auch das Temperament in Kauf nehmen muss, das zu der Sache gehört; die Persönlichkeit mit ihren Extremen, Leidenschaften, Uebertreibungen und Gewaltsamkeiten; dass man diesen Schaffenden das Recht geben muss, so in des Augenblicks Jubel und Qual, Traum und Erfüllung aufzugehen, dass sie Alles und Alle vergessen! Man muss einsehen, dass ohne die Wellenbewegungen der Seele, ihre Stürme, Sonnenblitze, Gefahren und Schrecken all das undenkbar wäre – dass aus einem Chaos, nicht aus einem wohlgeordneten Laboratorium neue Schöpfungen hervorgehen! Der Erzieher hat immer eine tötliche Angst vor den Aeusserungen der Seele, wenn sie sich im geringsten von den netten Fertigkeiten, der präcisen Pflichterfüllung und dem willigen Accomodationsvermögen des Normalmenschen unterscheiden. Er ist beunruhigt, sobald ein junges Wesen Neigung zu Träumen, zu Gedanken zeigt, zu einem Sichversenken in die Natur, oder in die Schönheit, oder in die Menschen; sobald es eine Anzahl nicht »angemessen« grosse, sondern übertriebene Interessen offenbart, die die Examenochserei stören oder von den Ansichten über das Dasein abweichen, die die Erzieher sich einbilden in ihrer eigenen Jugend gehabt zu haben! Dass die Jugend jeder Zeit, insoweit sie empfänglich ist, mit den Gefühlen ihrer Zeit schwärmen, von den Gedanken ihrer Zeit bestimmt werden und ihre eigenen Missgriffe und Erfahrungen machen muss – ganz wie Vater und Mutter vor ihnen – das ist dem Menschengeschlecht noch nicht eingegangen! Die Erzieher jeder neuen Zeit schütteln ihre Köpfe über die traurige Richtung dieser neuen Zeit, sowie die Jugend auf ihre neue Weise anfängt, zu träumen, zu lieben, zu leiden, und so auf eigene Hand lebendiger Mensch zu werden. Und doch lieben die Aelteren im Innersten gerade jenes ewige Wesen der Jugend, denn sie fühlen unbewusst, dass die Seele der Jugend beweglicher ist, weil sie noch nicht von den Bürden weltlicher Sorgen bedrückt wird; weil sie leichter hinzureissen ist, da sie noch keine eigennützigen Ziele zu verfolgen hat; weil sie lebender, vibrirender ist als ihre eigenen Seelen! Und warum lieben alle Menschen die Liebe bei Anderen und bei sich selbst? Weil sie fühlen, dass auch da die Seele grösser und stärker ist als sonst! Aber gerade diese schönen Daseinsformen der Seele sollte man pflegen; jene Zustände, während derer auch der Alltagsmensch hoch über seine kleine Sphäre erhoben wird! Ausser der Begeisterung der Jugend und der Liebe kann auch die religiöse und die patriotische Begeisterung die Menschen über ihr eigenes Ich steigern, ihrem Dasein eine grössere Intensität geben, ihrer Seele einen höheren Wellengang. Aber wenn man sich in seinem Verhältnis zu Gott gefestigt fühlt, wenn man das Vaterland gerettet, wenn man den Gegenstand seiner Liebe »gekriegt« hat – dann sinkt die Seele wieder zu ihrem Alltagsniveau hinab. Das Ziel einer Evolution der Seele schiene mir zunächst das Streben zu sein, die Spannkraft, die Raschheit zu bewahren, die die Jugend ihr giebt, die Intensität, die ein religiöses oder patriotisches oder erotisches Gefühl mitteilt! Darum müssen die Seelen unablässig beunruhigt werden, bis die Menschheit zu ahnen anfängt, dass Seelenzustände, nicht Ziele, – Gefühle, nicht Zwecke den höchsten Wert haben; dass jedes grosse Jetzt wert ist, voll und ganz gelebt zu werden, unabhängig von Vergangenheit und Zukunft!
– Du scheinst mir doch – wendete Hugo ein – eine Gefahr zu übersehen, nämlich dass dieses zu einem der Unmittelbarkeit schädlichen Nachfühlen seiner eigenen Gefühle führen könnte, einem Sichselbstgeniessen und Selbstbespiegeln, das der Evolution der Seele ebenso gefährlich werden würde, wie die Stumpfheit, die Betäubung, in der die meisten Menschen jetzt leben. Wir haben ja gesehen, wie es das tragische Schicksal eines unserer grossen Geister wurde, durch ein stetes Kreisen um sich selbst sich das Dasein zu einem jener trichterförmigen Gefängnisse auszuhöhlen, in die man im Mittelalter zuweilen Opfer einschloss – auf den Zehenspitzen in dem untersten, schmälsten Teil des Folterraumes stehend, den sie selbst ganz ausfüllten...
– Aber – antwortete Julianus – ich meine nicht das Kreisen um sich selbst, sondern im Gegenteil das Verschwenden seiner selbst, das Hingeben seiner selbst. Und schon seit Dante und Petrarca und noch mehr seit Montaigne – der unter all den Alten unser erster wirklicher Zeitgenosse ist, mit dem wir jetzt zusammensitzen könnten und sprechen, ohne unsere Gedanken übersetzen zu müssen – ist das Seelenleben des modernen Menschen bewusst geworden, ohne dass er dadurch Schaden an seiner Spontaneität gelitten hat. Die reflectierende Unmittelbarkeit, die selbstanalysierende Naivetät ist bei Montaigne dieselbe wie bei uns. Wir könnten doppelt gemessen, leiden, lieben, gerade weil wir wissen, dass und wie wir es thun. Wir haben durch unser Psychologisieren an uns selbst eine bis jetzt unbekannte Sympathie und ein Verständnis für die Menschen verflossener Zeiten bekommen, und doch handeln wir im Jetzt. Ein Montaigne oder eine ihm gleichende Natur wird freilich nicht geneigt zum Handeln sein, weil er zum Grübeln geschaffen ist, weil seine eigenartige Begabung gerade in psychologischer Untersuchung und durchgeführter Skepsis besteht. Aber wenn wir zu Montaignes berühmtestem Leser gehen, zu Shakespeare, so sehen wir, wie seine ganze höhere Menschenwelt den Stempel dieses modernen Zuges trägt; scharfe Selbstanalyse im Verein mit rückhaltloser Spontaneität. Sie handeln wie Donnerkeile, diese Wesen, und secieren doch ihre Gefühle und Motive wie Anatomen! Und wenn wir annehmen dürfen – was noch Niemand bestritten hat – dass Shakespeare wirklich Blick für die Menschennatur besass, so sehe ich in diesem Factum einen der Beweise dafür, dass Deine Unruhe, die auch zeitweilig die meine war, überflüssig ist. Natürlich werden kleine, seichte Naturen in ein Nachempfinden, eine Bespiegelung ihrer selbst verfallen. Man spiegelt sich am leichtesten in einer Wasserpfütze, weniger leicht in einem See, selten im Meere, dessen Bewegtheit solchen Toilettevergnügungen nicht günstig ist! Und die Seele ist ja überdies nicht – wie soll ich mich ausdrücken? – ein Cubus mit einem gewissen gegebenen Inhalt: ein Cubus, auf dem man ein Stück Bewusstsein und ein Stück Unbewusstsein abgegrenzt hat, so dass man, je tiefer der Strich des Bewusstseins hinabrückt, desto mehr an Unbewusstheit und Unmittelbarkeit einbüssen müsste. Die Seele ist im Gegenteil eine Grube, die sich vertieft, wenn sie bearbeitet wird. Neue Möglichkeiten, neue Zuflüsse, neue Abgründe werden stets unterhalb des bewussten und reflectierenden Gebietes entdeckt! Es giebt doch z.B. Niemanden, der annimmt, dass ein Kunstkenner oder ein Künstler ein Kunstwerk weniger tief geniesst, weil er dessen Ausführung versteht und Gründe seiner Freude daran angeben kann? Jeder weiss ja umgekehrt, dass diese Freude durch unser Verständnis vermannigfacht wird, wenn wir überhaupt zu den Menschen gehören, die zur Kunst in ein persönliches Verhältnis, nicht bloss in das trockene Kennerverhältnis, treten. Und es giebt keine psychologische Verschiebung in unserer Art, uns irgend einem anderen Lebenswert hinzugeben; nichts, das uns hindern kann, einen Menschen ebenso tief und unmittelbar zu lieben – weil wir uns bewusst sind, wie wir ihn lieben und verstehen. Natürlich wird auch hier der Trockene trocken fühlen, der Kleine klein und der Grosse gross! Worin ich Dir jedoch ganz Recht gebe, das ist, dass man der Jugend nicht predigen soll, dass sie gross fühlen und dass sie die Natur oder die Kunst lieben möge. Sehr unchristliche Kinder sehr christlicher Eltern sind in dieser Hinsicht ein warnendes Beispiel. Die einzige Weise alles dieses bei der Jugend echt zu erzielen, ist, dass sie grosse Gefühle, schöne Natur, echte Kunst zu sehen bekommt und dann aus alledem soviel Nahrungsstoff schöpft als sie kann, ein Jeder nach seinen Möglichkeiten; dass sie stets alles dieses als hohe Lebenswerte beurteilt hört und sich so in ihrem Sinn bestärkt fühlt, sie selbst als solche zu betrachten. Ich glaube vor allem an die mittelbaren Einflüsse, wenn das Menschengeschlecht die neuen seelischen Daseinformen, die Tiefe der Gefühle erreichen soll, von der wir heute Abend sprachen. Aber wenn das geschehen ist, wenn die Seelen sich ganz ausdrücken, wenn eine grössere Geistigkeit das Dasein umgestaltet hat – wer weiss, ob wir dann nicht so davon erfüllt sein werden, uns selbst und Andere zu erleben, dass wir nicht mehr den Kraftüberschuss oder den Vollkommenheitstrieb haben werden, der sich jetzt als Kunstschaffen äussert? Konntest Du, Rikard, unten in Italien mit tiefer Ueberzeugung Landschaften malen? Nein, denn Du fandest dort Alles schon durchcomponiert, fertig; nichts liess sich ahnen, nichts erfinden, nichts vervollkommnen. Alles ist dort harmonische, beglückende Wirklichkeit, die man bei jedem Schritte mit allen Sinnen geniesst. Und Frühlingslieder – das beichtete ja schon Heine – werden in der Ecke am Kamin geschrieben. Liebesgedichte entstehen nicht im Arm der Geliebten ...
– Du vergisst Goethe – fiel Hugo ein:
Froh empfind' ich ...
– Still – rief Julianus – von dieser Elegie und dem Kaffeebrief an Frau von Stein und noch ein paar Sachen wünschte ich, dass Goethe sie nie geschrieben hätte!
– Sieh nun – unterbrach Rikard – meine Zeichnung an, um Dich zu vergewissern, dass zum mindesten der Maler im Augenblick des Genusses schafft!
Nachdem die Zeichnung bewundert und kritisiert worden war, fuhr Julianus fort:
– Ich las jüngst eine vortreffliche Definition der Bedeutung der Kunst, nämlich dass sie uns »ein starkes Gefühl des Glückes giebt, Mensch zu sein.« Aber können wir uns nicht denken, dass wir einmal so intensiv eine vollkommene Menschheit in und ausser uns geniessen werden, dass die Phantasie nichts umbilden können, keinen Ansporn spüren wird, die lebenden Gemälde und Dichtungen, die menschliches Leben und menschliches Glück uns darstellen, zu einer höheren Potenz zu steigern? Dass alle Lebensverhältnisse wie schöne Musik aufgebaut sein werden und unsere ganze künstlerische Schaffenslust in grosse Lebenskunst umgesetzt?
– Ich erwidere Dir – sagte Rikard – was Du vor einer Weile Hugo in Beziehung auf die Erotik erwidert hast: wenn die Menschheit einmal eine so ungeheure Steigerung ihres Daseins wie das Kunstschaffen und den Kunstgenuss erreicht hat, so ist es undenkbar, dass diese Werte nicht fortleben sollten, wenn ihnen auch neue geistige Empfindungen, neue Wünsche, neue Bedürfnisse, neue Formen gegeben werden, von denen wir jetzt noch keine Vorstellung haben können.
– Das Eine – antwortete Julianus – lässt sich ebensogut denken wie das Andere. Ich frage nur. Aber ich bin darauf verfallen, in der Richtung, die ich eben andeutete, nachzugrübeln, weil meine eigene Productionskraft von den Wirklichkeiten des Lebens aufgesogen worden ist.
– Dein Leben ist doch einfach gewesen – sagte Hugo – und glücklich.
– Vielleicht war es das – antwortete Julianus – ich weiss doch, dass es an Qual soviel eingeschlossen hat, wie ich ertragen konnte.
– Du dunkler Neinsager zu Allem auf der Welt – sagte Hugo – eben erst verneintest Du die Zukunft der Kunst, und jetzt verneinst Du Dein eignes glückliches Dasein!
– So meine ich es nicht – antwortete Julianus – doch was ich meine, ist vielleicht unaussprechlich.
– Versuche doch, es auszusprechen – bat Hugo
– Du versprachst ja einmal, uns Deine Bilder zu zeigen.
– Du hast ja oft gesagt – fuhr Julianus zögernd fort – dass ich ohne Ehrgeiz bin, und das ist wahr; dass ich ohne Schaffenslust bin – und auch das ist wahr. Ich habe nicht den Beruf gefühlt, eine der Anlagen, die mir meine Abstammung vom Jagdschloss als Erbe gegeben hat, zum Kunstschaffen emporzubilden. Aber mein Schaffenstrieb ist doch unauslöschlich gewesen und hat sich auf das Gebiet gerichtet, auf dem ich mehr als Andere sehend war.
– Das dürftest Du wohl auf vielen Gebieten sein – fiel Hugo ein – Du bist ja an einem Sonntagmorgen während des Glockenläutens geboren, und solche Menschen sollen ja »das zweite Gesicht« haben!
– Weisst Du, was ich gesehen habe? – antwortete Julianus. – Ich habe gesehen, wie jeder Mensch gleich Stucks Krieg dahin schreitet: über die toten Formen der lebenden Wirklichkeiten, die er zerstört! Weisst Du, wovon ich geträumt habe? Immer, allenthalben nur von Einem: Ahrimans Macht zu erweitern, die Macht: dass das wirkliche Innere der Dinge erwachte, wo er vorüberzog. Wenn ich sehe, wie die Menschen – sie, die das Christentum Ewigkeitswesen nennt – ihre Tage leben; sehe, wofür sie sich regen, worin sie ihr Wesen haben – auf Gassen und Märkten, in Buden und Vergnügungslokalen – und wenn ich mich erinnere, dass diese Wesen rasche Sternschnuppen sind in einem nachtverhüllten Raum – dann packt mich das Bedeutungslose in ihrem Dasein wie eine seelische Krankheit! Da wollte ich ihnen Allen zurufen, dass ihr ganzes Leben keinen anderen Zweck habe, als den Tropfen ihres Geistes zu einem Ocean zu vergrössern! Ich habe nicht einmal ahnen können, wie es in einer Seele aussehen mag, die mit ihren festen, religiösen Begriffen auch die Begeisterung der Heiligkeit verloren hat, den Jubel, sich geistig wachsen zu fühlen. Ich bin von dem Anblick der Zusammenhanglosigkeit im Menschenleben so gequält worden, wie Andere vom Wahnsinn. Warum – habe ich mich gefragt – hören diese Menschen Beethoven, warum schauen sie Shakespeare an, warum lesen sie Goethe, warum sehen sie Michel Angelo – und kommen dann heim wie zuvor, um in aller ihrer Kleinheit und Unschönheit zu leben? Diese Männer kehren ins öffentliche Leben zurück, das sie durch kleine oder niedrige Handlungen verunstalten; diese Frauen in ihr Heim, das sie durch stumpfes oder kaltes Wesen verhässlichen! Warum bricht nicht Alles zusammen, wenn sie leidenschaftliche Musik gehört oder den Untergang tragischer Gestalten gesehen haben? Warum gehen diese Frauen ruhig mit ihren Männern soupieren anstatt von ihnen zu gehen, wenn ihr Herz nicht länger vor Glück bebt, wenn sie die Schritte des Mannes hören? Warum treten diese Männer die Unehrlichkeit, in der sie leben, nicht mit Füssen? Warum nehmen diese Menschen nicht ihr Leben in die Hand, wenn die Kunst ihnen den Zusammenhang des Daseins offenbart hat, wenn sie in einem grossen Lebensschicksal die ganze Kleinheit, die ganze Zerlumptheit ihres eigenen sehen konnten. Ich habe mich an solchen zerrissenen Lebensverhältnissen, an denen ich keinen Teil gehabt, verblutet; ich bin wach gelegen, nachgrübelnd über die kleinen Gesetze, die in anderer Menschen Seelen und in ihrem Heim sich den grossen in den Weg stellen. Ich habe in Scham meine Augen abgewandt, wenn ich Seelen und Verhältnisse mir ihre kranke, schlaffe Nacktheit enthüllen sah. Ich habe nie eine Schwelle überschritten, ohne dass die Luft mir sagte, ob dort ein gesundes Glück lebe. Und wenn ich das kleine, elende entdeckte, das das grosse getötet, so habe ich so gefühlt, wie ich annehme, dass Dick vor einem halbguten Bilde empfindet ...
– Versucht, den Pinsel zu nehmen und die beinahe unmerklichen Striche zu machen, die das Halbgute zu wirklicher Kunst umgestalten, meinst Du? Ja, diese Verlockung ist leider permanent!
– Vor allem – fuhr Julianus fort – habe ich unter dem Verfahren der Familie und der Schule mit den Kindern gelitten, einem Verfahren, das dem Trampeln der Ochsen über eine Kleewiese gleicht, den Sudeleien von Bauernknechten auf der Leinwand eines Meisters! In meiner unleidlichen Qual, die Möglichkeiten des Lebens verscherzt zu sehen, habe ich es zuweilen versucht, Verhältnisse, deren Unschönheit ich verschönern zu können hoffte, zurechtzusprechen – bis ich gelernt habe, dass die Menschen ihre Hässlichkeit, ihre Roheit, ihre Pfuschwerke, ihre Armut behalten wollen; bis ich einsah, dass sie die Dämonen noch nicht sehen können, die sie in der Natur, in ihren eigenen Werken, in ihren eigenen Lebensverhältnissen umgeben, Dämonen, welche freigemacht werden müssen, damit aufs Neue eine schöne Menschheit hervortreten kann! Man hat heute keinen Blick für das Einzige, was motiviert, dass man da ist: nämlich gerade zu leben! Man hat tausend Dinge vom Morgen bis zum Abend, um seine Zeit daran zu vergeuden – aber für sein Weib, sein Kind, seine Seele hat man keine Zeit! Man macht Bücher, Kunst, Musik, Politik, Geschäfte – wofür, in aller Götter Namen, wofür? Vielleicht für die Menschheit?! Aber das einzige Stück Menschheit, das ich ganz besitzen, formen, schaffen, beglücken kann – mein eigenes Leben, meine innigsten Lebensverhältnisse – die zu einem Kunstwerk zu machen, darum kümmert sich Niemand!
– Bedenke – sagte Rikard – dass man das in dem Verkehrstaumel, der Arbeit, dem Erwerb, dem Umgang des modernen Lebens immer weniger vermag. Man ist – wenigstens in den Grossstädten – nicht in der Lage, aufzuatmen. Der Geschäftsmann, der geistig Producierende, der Staatsmann, der Gesellschaftsmensch – Alle arbeiten sie unter Hochdruck für secundäre Ziele. Und Keiner vermag zu bremsen, selbst wenn er merkt, dass die Locomotive über seine besten Lebensmöglichkeiten dahinbraust. Keiner sieht ein, dass gerade dieses: nicht die Zeit, nicht die Mittel oder die Ruhe haben zu leben, die wahnwitzige Verschwendung ist; dass wir unser wirkliches Pfund nur vermehren können dadurch, dass wir den Wert unserer Lebensverhältnisse steigern; dass schon das Streben nach ökonomischem Unterhalt – und natürlich in noch höherem Grade der Eifer, Reichtümer zu ergattern, – uns in Grund und Boden ruiniert, unseren Fonds an Lebensgefühl und Lebenswerten plündert. Eines schönen Tages bricht der Mann vor Ueberanstrengung zusammen, und wozu hat er existiert! Nicht einmal die Jugend hat jetzt Zeit, schön eine Freundschaft zu pflegen; umherzugehen und von allen grossen Dingen im Leben zu schwärmen oder einander lange Herzensergiessungen zu schreiben! Sie telephoniert, treibt Sport und lernt zu Prüfungen! Soll die Erhöhung des Menschenlebens, von der wir heute Abend sprachen, wirklich platzgreifen können, dann müssen wir die kapitalistische Gesellschaft, die Grossstadt, den Unterricht, das Verkehrsleben, die häusliche Oekonomie – alles, was jetzt die Seele zu einer Luxusware unter den tausend Nützlichkeiten macht, denen man mit trockener Fieberhitze nachstrebt, – umgestalten! Erst wenn es der Gesellschaftskritik des Socialismus gelungen ist, die Gesellschaft zu tiefgehenden Umgestaltungen zu erwecken, erst dann können wir hoffen, dass die Menschen es sich gönnen werden, zu leben, und dahin kommen können, ein individuelles Leben zu führen.
– Da – fiel Hugo ein – haben wir Dick schon wieder in der Politik, wo sein socialistischer Individualismus oder seine demokratische Aristokratie mich zur Verzweiflung bringt!
– Es wundert mich – antwortete Rikard – dass Du, der Du für die nationale Gemütsrichtung schwärmst, nicht einsiehst, dass ich nie schwedischer bin als in diesen meinen Zukunftsträumen! Dass die Stärke des Schweden nicht in logischen Systemen oder in klugen Zukunftsplänen liegt, darüber dürften wir einig sein; ebenso wie dass der Phantasiereichtum und die herrliche, kraftverschwendende Sorglosigkeit gegenüber dem morgigen Tag die Eigenart seines Temperaments ist: ein Künstlertemperament also! Und Du willst, dass ich meiner schwedischen und meiner Malerseele Gewalt anthue, indem ich ernsthaft über alle Einwände nachgrüble, die gegen die Möglichkeit erhoben werden, Socialismus und Individualismus zu vereinigen; z.B. den der Unmöglichkeit, die Productionsmittel in die Hand der Gesellschaft zu legen und doch die Unternehmungslust, die Initiative, die Bewegungsfreiheit des Einzelnen zu erhalten – Einwände, die alle darauf beruhen, dass Du in diesem Falle Deine Augen nicht ohne Vorurteile oder Deine Phantasie nicht ohne Vorbehalt gebrauchst! Sonst könntest Du rings in der Welt sehen, wie der Individualismus in voller Blüte steht, bei Arbeitsleitern allgemeiner Unternehmungen, Directoren von Gesellschaften, Disponenten industrieller Anlagen, die ebenso abhängig und ebenso unabhängig sind, wie sie sein würden, wenn die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit Arbeitgeber und Actienbesitzer wäre! Und Du könntest ausserdem bei jedem Socialistencongress die vortrefflichste Gelegenheit haben zu beobachten, wie gerade diese Verschmelzung von Socialismus und Individualismus schon überall vor sich geht, in einem eigenen Entwicklungsprocess des Socialismus, der seine Verfechter immer mehr von der revolutionären Denkweise abgehen und sich der evolutionären zuwenden lässt; der die Theorie des Socialismus ebenso modificiert wie seine praktische Politik, und der schon die psychologische und historische Einsicht hervorgerufen hat, dass irgend ein fertiggebackener Idealstaat nach dem früheren socialistischen Grundplan niemals eingeführt werden wird, sondern dass neue ökonomische Verhältnisse in der Weise eintreten werden, dass der Socialismus seine Neugestaltungen unter einer steten Umgestaltung seiner eigenen Reformpläne durchführt, einer Umgestaltung, in erster Linie dadurch hervorgerufen, dass man immer mehr das Gewicht und den Wert des Individualismus in jeder Production und Arbeitsleitung einsieht! Und ferner durch all die vielen neuen ökonomischen und psychologischen Zustände, die man jetzt ebensowenig voraussehen kann, wie man vor hundert Jahren all die neuen Verhältnisse und Seelenzustände vorhersagen konnte, durch die die Wirkungen der französischen Revolution neutralisiert und ihre Resultate gleichzeitig assimiliert wurden! Und was haben wir nicht schon in der nächsten Zukunft zu neutralisieren und zu assimilieren! Zu allererst die Forderungen des ganzen vierten Standes und seine Kräfte, wobei der Individualismus gleichzeitig sein Recht behaupten und sich zu einem grösseren Gemeinsamkeitsgefühl mit dem Ganzen entwickeln muss. Und dann das ganze befreite Frauengeschlecht, das von allen Seiten als eine neue kräftige Rasse in die männliche Welt eindringt. Wir haben schon davon gesprochen, dass die Frau unserer Tage, dadurch dass sie sich individualisierte und cultivierte, eine längere Jugend erhalten hat; es ist das in ebenso hohem Grade dadurch der Fall gewesen, dass sie allseitig befreit wurde, nicht zum geringsten von einem grossen Teil der früheren häuslichen Plage. Aber sie hat sich vor allem durch die Freude verjüngt, die das Spiel befreiter Kräfte schenkt! Was wird ihr Einsatz nicht noch in Beziehung gerade auf die Umbildung der ökonomischen Motive unserer Kraftentwicklung vermögen, der Motive, die man noch für unauflöslich mit dem Individualismus verbunden hält!
– Ja – fügte Julianus hinzu – wenn wir einmal einsehen, dass die Kraftentwicklung selbst das Glück ist, dann wird man nicht mehr kommen und von dem Eigentumsrecht an den Productionsmitteln als der Grundlage individueller Selbstherrlichkeit sprechen! Dann wird man die tiefe Weisheit in Jesu Lehre einsehen, dass der Reiche geringe Aussichten auf seiner Seele Seligkeit hat; dass weder Reichtum, noch Armut, sondern eine geborgene Unabhängigkeit die schöne Lebensbedingung der Seelen ist, dass unsere volle individuelle Freiheit erst anfängt, wenn wir keine Sorgen um andere Werte haben, als um unsere geistigen Lebenswerte. Es ist mir unbegreiflich, dass Hugo – und Viele mit ihm – nicht einsehen, dass unzählige neue Gefühle, neue Lebensmotive, neue springende Punkte während der Entwicklung entstehen. Diese sind es, die den organischen Zusammenhang zwischen Socialismus und Individualismus, zwischen Demokratie und Aristokratie bilden werden, – ja die es schon thun in der Umwandlung, die wir täglich vor unseren Augen sehen, einer Umwandlung, die uns nicht bloss unerschöpfliche Möglichkeiten, unendliche Tiefen in der geistigen Natur des Menschen ahnen liess, sondern auch Möglichkeiten, die auf den Bedürfnissen und Wünschen unserer physischen Natur begründeten Nützlichkeiten umzugestalten. Denkt bloss an die Folgen des jetzt in der ganzen Welt ertönenden Rufes nach Vereinfachung des Daseins, nach Ruhe!
– In tausend Jahren könnt Ihr vielleicht Recht haben – sagte Hugo – aber Ihr sprecht schon jetzt so optimistisch von den Möglichkeiten der Menschheit, als ob es nur darauf ankäme, sie zu gebrauchen? Glaubt Ihr wirklich, dass wenn das Joch von den nächsten Generationen genommen wird, diese sich erheben und bewegen werden wie freie Seelen? Nein, sie würden neue Dinge erfinden, um sich daran zu zersplittern, um von sich selbst fortzukommen! In der Begrenzung der menschlichen Persönlichkeit liegt wenigstens jetzt noch die tiefste Tragik! Wir können aus Anderen nicht herausholen, was nicht in ihnen liegt; wir können hoffen, glauben, lieben, harren – aber weder Andere noch uns selbst können wir über die Grenze der Persönlichkeit bringen. Und wo diese ist, das wissen wir weder bei Anderen noch bei uns selbst! Wie sind wir nicht überrascht, wenn wir geglaubt haben, dass unsere Seele nach einer gewissen Richtung hin nur durch einen niedrigen Wall abgeschlossen sei, und wir anstatt dessen finden, dass da eine himmelhohe Mauer ist? Oder wenn wir vor einer undurchdringlichen Wand zu stehen wähnten, und sich dort eine weite Aussicht eröffnet? Man kann eine Seele nicht gewinnen, nicht wecken – es mag den Anschein haben, als hätte man es gethan, aber da ist sie sich bloss durch mich ihrer eigenen Quellen bewusst geworden: ich war das Licht, das in ihre eigene Schatzkammer geleuchtet hat. Aber ganze Fluten meines Lichts hätten einen leeren Raum nicht zu füllen vermocht. Der ganze Ocean kann über einen Eimer dahingehen, und er fasst doch nur sein eigenes Mass. Die kleinen Seelen sind solche Eimer, und wenn auch für die Ausnahmenaturen die Lebensmöglichkeiten verhundertfacht werden, ich fürchte, dass die Alltagsmenschen neue Mauern finden werden, ihre Seele darin einzuschliessen!
– Bis auf weiteres hast Du natürlich Recht – antwortete Julianus – und so bleibt es eben noch den Ausnahmenaturen vorbehalten, die Empfindung für das, wessen sie bedürfen, zu steigern, sich energischer zur Wehr zu setzen und sich die Ruhe, die Einfachheit, die Ehrlichkeit in allen Lebensverhältnissen zu erobern, die für das Wachstum und für die Werke der Persönlichkeit unentbehrlich sind. Wir könnten schon jetzt viel gewinnen, wenn wir unsere Wahlverwandtschaft gewissen Menschen, gewissen Lebensgewohnheiten gegenüber zur Bewusstheit entwickelten und uns nicht gegen unsere Instincte und Sympathien in Lebensverhältnisse und Situationen zwängten, die uns nichts schenken können. Es giebt so unendlich viel an Eingebungen, Antipathien und Sympathien, auf das wir zu achten hätten und das wir jetzt versäumen, übersehen, niederstimmen. Dieses meinte ich, als wir früher davon sprachen, uns nach unserem geistigen Klima einzurichten.
– Ja – fügte Rikard hinzu – ich habe es immer bereuen müssen, wenn ich eine Antipathie besiegte. Ich habe stets – freilich manchmal erst nach Jahrzehnten – ihre tiefliegenden Motive gefunden, nachdem ich sie lange als unvernünftig oder ungerecht zu unterdrücken gesucht hatte. Und obgleich ich einerseits gefunden habe, dass je mehr wir von Menschen erwarten, je mehr wir ihnen zutrauen, desto mehr wir erhalten, so bin ich andererseits überzeugt, dass es, vorausgesetzt, dass man eine Individualität ist, immer viele antipathische Erscheinungen für einen geben muss. Und es ist ein Kraftverlust, seine Zeit, seine Fähigkeiten an solche zu verschwenden!
– Gewiss – sagte Hugo – entstehen all die tiefsten Conflicte des Lebens daraus, dass wir nicht still genug waren, wenn unsere innerste Stimme sprach; dass wir unsere Fensterläden vor dem Lichte mancher Blitze verschlossen; dass wir uns selbst anklagten, wenn wir einen unsympathischen Eindruck empfingen; dass wir ihn wegvernünftelten, weil so viel Anderes bei demselben Wesen uns sympathisch war.
– Hier – sagte Julianus – habe ich mein Fegefeuer und meine Hölle – sowie auch hierin mein Himmel liegt. Mit stummen Fragen in den Augen bin ich unter den Menschen gegangen und, ihnen unbewusst, habe ich von ihnen meine Freuden und meine Qualen empfangen. Ich habe jeden Funken eines grossen Gefühls, einer starken Handlung, einer tiefen Gerechtigkeitsglut, eines edlen Freisinnes, einer sonnigen Arbeitsfreude geliebt – mit einer Intensität geliebt, die mich ganze Nächte im Jubel über eine reiche Seele wach erhielt; die mich in Thränen ausbrechen liess über einen schönen, seelenvollen Blick, ein altes Antlitz, das vom Feuer der Seele jung bewahrt wurde, ein junges Antlitz, das schon den Stempel der Hoheit der Seele trug! Und andererseits litt ich Todesqualen, wenn ich einen edlen Typus sinken, ein Antlitz sich verhärten, vergröbern und erschlaffen sah. Nicht, weil ich etwas mit diesen Menschen zu thun hatte, sondern weil ich Seelen mit meiner heissen, unsterblichen Liebe liebe. Ich war ein kleines Kind, als ich schon jedes Spiel verliess, um in den Anblick eines schönen Menschen zu versinken; ein kleines Kind, als ich Eleonoras Hände vor Entzücken über die hohe Würde küsste, mit der sie eine Beschuldigung von mir zurückwies. Ich lebte mit einer Intensität, die alles Spiel für mich arm machte, in einem Reich der Phantasie, wo ich meine Königsgewalt dazu gebrauchte, alle Verhältnisse und alle Menschen schön und glücklich zu bilden! Ich bin als erwachsener Mann vor einem Kinde, das spontan den Adel einer hohen Seele offenbarte, von so grosser Andacht ergriffen worden, dass ich oft weggehen musste, um nicht in Anbetung vor der Göttlichkeit eines solchen Wesens niederzusinken! Und wenn ich wüsste, dass das absolut einzige Mittel, die Grundzeichnung dieser Kinderseele in ihrer ursprünglichen, Herrlichkeit zu bewahren, wäre, den Menschen zu töten, der sie zerstören müsste, da thäte ich es ohne Zaudern – so viel bedeutet für mich ein Ausnahmegeschöpf, die Verheissung eines vollkommen schönen Menschenwesens! Des Kindes – sowie des Volkes – vornehme Seelengrösse wirkt wie die Schönheit der Natur selbst: echt, zuverlässig, notwendig, weil sie wie eine Naturkraft hervorquillt, ohne die Vermittelung und die Stütze der Reflexion und der Cultur. In gleicher Weise reisst mich der Durchbruch der genialen Begabung, des grossen Gefühls hin. Es traten Segenswünsche auf meine Lippen, jedesmal wenn mir Menschen das schöne Schauspiel ihres grossen Glückes oder ihrer echten Güte zeigten. Segnungen ertönten in meinem Herzen, wenn in den entscheidenden Augenblicken des Lebens – in solchen, in denen man spontan handelt, spricht, blickt, und nicht Zeit hat zu überlegen eine Seele sich in edlen Linien offenbart hat. Mit tötlicher Angst habe ich geharrt, mit Schmerz das Entgegengesetzte beobachtet. Und all das hat doch nur Menschen und Schicksalen gegolten, die mein eigenes nicht berührten.
Julianus verstummte, und nach langem Schweigen fuhr er mit noch leiserer Stimme fort:
– Mein Grossvater Andreas war einer der wenigen Menschen, die sich zu Tode gegrämt haben. Ihn, wie Rikard Furumo, hatte die Blume seines Herzens mit einem Dorn verwundet, und von seinem Blute hätten ihre Blätter den Purpur. So wurde es für ihn Wahrheit, dass der Tod die Rose aus der Knospe der Erdenblüte ist. Auch mein Vater war einer der seltenen Menschen, die verbluten können. Solche Menschen sind die einzigen, die ich ganz lieben kann. Ehrgeiz, Machtlust, Schaffenslust waren für sie Nichts, Verhältnisse zu Menschen Alles. Je mehr Facetten wir Menschen neuerer Zeit in unserem Gefühlsleben entwickeln, desto mehrfacher werden auch unsere Verhältnisse zu Menschen. Schon die äusserlichen Berührungen durch eine oder ein paar Seiten in unserem Wesen bringen Leiden ebensowohl wie Freude mit sich. Und in den wenigen grossen Lebensverhältnissen, in denen man zu stehen vermag, – denn derjenige, für den solche Verhältnisse alles absorbieren, kann ihrer nicht viele haben – da habe ich wie mein Vater und wie mein Grossvater in einer so hohen Sphäre gelebt, dass sehr wenige Menschen auch nur ahnen können, was wir mit der Hingabe unserer Seele an eine Seele meinen. Das ist ein Geben gewesen, darin alle gewöhnlichen Grenzen – wie sie Klugheit, Stolz, Sparsamkeit, Selbsterhaltung auch zwischen verbundenen Seelen aufzurichten pflegen – gar nicht denkbar waren. Und nicht nur für Menschen hat das gegolten: Auch die Natur, das Buch, die Kunst, die wir einmal ganz geliebt haben, wird für uns unerschöpflich; und Alles, was wir verloren, ist mit Gewalt unseren im Starrkrampf festhaltenden Herzen entwunden worden. Für die Menschen, welche so lieben können, birgt das Leben den schwärzesten seiner Schrecken; die Erfahrung, dass die grösste und zugleich die edelste Probe, auf die man einen Menschen stellen kann, ist, ihn zu lieben. Wenige halten dieser Probe stand. Schon mein Grossvater schrieb, dass die Ruine eines schönen Bauwerks Wehmut einflösse, aber die Ruine eines schönen menschlichen Verhältnisses, das in den barbarischen Hang übergegangen ist, mit ausgesuchter Kälte das zu verletzen und zu kränken, was früher wert und teuer war, verursacht einen Schmerz ganz anderer Art. Dass der Gott in der Zelle, vor dem ich angebetet habe – denn lieben ist für mich anbeten – nur ein Götze gewesen ist; dass eine einst von meiner Seele gewählte Seele – mir ein springender Quell ewigen Lebens – mich hat fortschleudern können wie eine ausgepresste Frucht, – solche Erlebnisse sind für mich nicht bloss der gewöhnliche tiefe Menschenschmerz gewesen, die Freude und den Glauben an einen Menschen zu verlieren; ich habe ausserdem einen Teil meiner Religion verloren, deren Götter grosse Seelen sind. Ich habe gelitten, wie der Künstler vor seinem von rohen Händen zerstückelten Meisterwerke leiden würde. Ich habe mich gegrämt, wie der Forscher sich über den Brand der Urkunden grämen würde, durch den unerforschte Schätze für ewig verloren gehen. Mit allen diesen Schmerzen habe ich den Verlust von ein paar Menschen erlitten. Menschen verlieren, nicht durch den Tod, sondern durch das Leben, das ist des Lebens einzige unerträgliche Qual. Denn es kann unser Dasein nur verringern, nicht steigern. Und nachdem ich Euch das gesagt habe, könnt Ihr begreifen, dass das Glück über schöne Lebensverhältnisse und schöne Menschen und der Schmerz über gestörte Lebensverhältnisse und gesunkene Menschen nicht bloss über mein ganzes Dasein, sondern auch über meine Lebensanschauung entschieden hat. Dieses mein Glück und dieser mein Schmerz sind so intensiv gewesen, dass sie – wie ich Euch früher sagte – in mir die Ahnung erweckt haben, dass die Kunst vielleicht unmöglich, entbehrlich sein wird, wenn einmal Alle in sich ein solches Helldunkel bergen, dass sie das ganze Dasein darin sehen. Und wenn die Seelen befreit sind, wenn die Lebensverhältnisse bedeutungsvoll werden, werden wir dann noch der Kunst bedürfen als der Vermittlerin zwischen dem Menschen und der Natur, zwischen Menschen und Menschen? Wie sollte die Kunst höhere Lebenswerte ausdrücken, als den Wert, den das Leben selbst bedeutet? Wie sollte sie uns mehr verbinden können, als wir schon sympathisch verbunden sind? Wie sollte sie vermögen, unser Glück, Mensch zu sein, zu steigern, wenn wir dieses Glück schon mit jedem Pulsschlag fühlen? Von einer Segelfahrt im Raume – wo wir mit klarem Auge durch die tiefen Räume Alles sehen und Nichts fürchten; wo der Sinn lächelnd im Ernst ist, kraftvoll und harmonisch in der Verzückung; wo wir in Phantasieen schweben, gleichwohl nicht blind, sondern sehend – träumte mein Vater. Von dieser schönen Kunst sagte er, dass sie noch nicht existiere. Und vielleicht war es die Ahnung dessen, was ich die Kunst der Wirklichkeit nenne, die ihn zu dem dunklen Neinsager bei den Schönheitsspielen des Jagdschlosses machte, bis meine Mutter sein Leben zu einer grossen Bejahung gestaltete. Für mich steht höher als alles Andere die schöne, die echte Lebensweise. Alles andere Schaffen ist halb, nur dies ist vollgerundet. Die Kunst, auch die herrlichste, ist für mich bloss das Sinnbild des wirklichen Wesens der Dinge, in das wir einstmals versinken werden. Wenn ich tausend Erdenjahre erlebte, würde ich doch niemals die Stunde in meiner frühen Jugend vergessen, in der der jetzt so oft ausgesprochene, aber von mir damals nie vernommene Gedanke – dass das Leben selber Kunst werden könne – in mir tagte. Die Offenbarung kam nicht unter mystischen Verhältnissen, sondern an einem hellen Sommerabend, gerade als ich von einem Kirschbaum hinunterstieg! Aber sie wirkte mit der ganzen Begeisterung einer Vision. Seine Persönlichkeit nach seinem eigenen Ideal bilden – so wie die Bildsäule nach der Skizze des Künstlers ausgemeisselt wird – auf dem Gebiete dieser Kunst allmächtig sein: der Stoff ich selbst, der Künstler ich selbst, die Allgemeinheit, für die ich schaffe, ich selbst! Die bedeutungsvolle Schönheit, die das Leben mit diesem einen Gedanken erhielt, war so überwältigend, dass ich hinab ins Gras sank, berauscht von Seligkeitsthränen. Ich hatte jetzt meine Schaffungsgabe, mein Ausdrucksmittel gefunden. Und Alle konnten dasselbe finden; auch des geringsten Menschen einfaches Leben wurde so bedeutungsvoll, schön und gross. Ich hatte in dieser Stunde ein Bild dessen, was das Leben werden könnte, wenn einstmals Alle von demselben Ziel beseelt wären; wenn auch die Werke des Alltags gleich marmorschönen Propyläen stünden auf dem Wege hinan zu der Götterwelt weissstrahlender Schönheit, in der des Lebens grosse Festesfreude und grosse Andacht gefeiert wird. Ich sah Geschlechter steigen und Geschlechter versinken wie Welle um Welle, bis sie endlich mit einem Seufzer der Seligkeit Ruhe am Strande des Gedankens fanden, dass der Mensch selbst des Menschen Mass ist, dass in seiner eigenen Seele alle seine Machtmittel ruhen. Und seit dieser Stunde habe ich Alles – Staatskunst, Religionen, Denken, Erziehung, Geschichte, Litteratur, Kunst – auf diesen einen Gedanken hin geprüft, Alles ist für mich bedeutungslos gewesen, wenn es nicht auf die eine oder andere Weise dazu beigetragen hat, für den Einzelnen, oder noch besser für Viele, dazu, irgend einem Teil des Daseins den Rhythmus der vollkommenen Dichtung zu geben, die Linien des grossen Sculpturwerks, die Farbenglut des herrlichen Gemäldes, die Festigkeit des edlen Gebäudes, die Harmonie unsterblicher Musik! Die ganze Welt zu einem freien Platze umzubilden, auf dem die Seele sich in nackter Herrlichkeit und voller Kraftentwicklung bewegen kann, – wie hellenische Jünglinge sich auf der Rennbahn bewegten – das ist der Sinn! Alles Andere ist nur: Tote, die ihre Toten begraben, – die Lebensmöglichkeiten, die sie selbst zertreten. Eine neue Art zu leben, in der Alle mit neuer, glühender Gewissheit die ewige Wahrheit des Christentums fühlen: dass es dem Menschen Nichts nütze, die ganze Welt zu gewinnen, wenn er dabei Schaden nimmt an seiner Seele – das ist es, was ich träumte!
– Ja – sagte Rikard – das ganze moderne Leben – Politik, Industrie, Ehen, Geburten, Erziehung – geht jetzt aufs Geratewohl, ohne einen grossen Grundsatz, ohne durchgeführten Plan. Man glaubt das Getümmel und Geschrei eines Kinderspielplatzes zu hören!
– Und so – fügte Hugo hinzu – wird es weitergehen, bis Physiologie und Psychologie, Sociologie und Philosophie alle zu einer neuen grossen Wissenschaft verarbeitet worden sind! Diese Verarbeitung geht schon täglich vor sich; die Physiologie liefert stets neue Gesichtspunkte für die Sociologie und umgekehrt; die Analogien zwischen dem Organismus der Gesellschaft und dem des Menschen werden immer beweisbarer; so tritt z. B. die Bewegungsfreiheit und Selbstthätigkeit des »Individuums« – der Zelle – immer mehr an den Tag, und ein mir befreundeter Psycholog steht nicht an zu behaupten, dass »die Zellen in unserem Organismus meistens ebenso selbstständig in ihren Handlungen sind, wie die Reichstagsabgeordneten in einem Parlament!« Wenn diese neue einheitliche Wissenschaft als Gesellschaftskunst wirksam wird, dann erst kann Julianus' geträumte Einheitswelt Wirklichkeit werden, so wie Rikards socialistischer Individualismus!
– Ja – sagte Julianus – auf allen Wegen gelangen wir zu der einen grossen Idee der Zeit, der Einheitsidee: Einheit der Kräfte, Einheit der Entwicklungsgesetze, Einheit der Gedanken – von Osten und Westen, von Norden und Süden kommen ja täglich Beweise für das Entstehen desselben Gedankens in von einander gänzlich unbeeinflussten Gehirnen 1 Und, endlich, die Einheit der individuellen Seelen! Die Umgestaltungen, welche Platz greifen sollen, müssen jedoch sowohl den Gedanken der Einheit als den der Persönlichkeit ausdrücken. Denn jede Neuschöpfung, die nur die Einheit fördern, aber den Seelen weniger Spielraum, weniger Bewegungsfreiheit geben würde, die die Familien auflöste, die Individuen gleichförmig machte – jede solche Neuschöpfung würden wir nachher unter unsäglichen Leiden ungeschehen machen müssen! Niemand kann jetzt sehen, was uns die grosse Umgestaltung nach und nach geben wird, wir wissen nur, wovon sie uns befreien muss. Was uns jetzt am meisten not thäte, das wäre eine divinatorische Synthese unserer ganzen suchenden, strebenden Zeit; nicht diese zusammenreflectierten, socialen Reformpläne, von denen es gilt, dass die sich Schritt für Schritt weiter tastende äussere Klugheit selten fehlgreift ausser – in Beziehung auf das Ganze! Aber wenn der grosse Geist käme, nach dem die Zeit dürstet, er, der nicht bloss die Liebe der Menschen zum Leben selbst entflammen, sondern sie auch lehren würde, wie es gelebt werden könnte, der Alltag wie der Festtag, in einer höheren Güte, einer grösseren Herrlichkeit, sobald ihre eigenen Seelen nur anfingen, sich in grösseren Bahnen zu bewegen, – ob wir dann, ich komme immer wieder auf meinen Zweifel zurück, noch das Leben im Gedichte, im Bilde, in Tönen schildern würden? Wir versuchen ja nicht, das Meer zu schildern, wenn wir in seinen Wellen schwimmen, das grosse, wunderbare, entsetzliche Meer, das Meer, das tanzt, wenn es tötet, und schluchzt, wenn es singt ...
Julianus ging zum Fenster, und im Raum wurde es ganz still. Nach einer Weile trat auch Hugo an das geöffnete Fenster. Die Nacht war weit vorgeschritten. Ueber dem jetzt wolkenreinen Himmel und der herbstlich nackten Erde
Zitterten des Mondes Strahlen
himmlisch weiss umher ...
und spannten Silberstege zwischen den dunklen Inseln des Sees. Als Julianus sich endlich umwandte, sah Hugo, dass er bleich war, aber seine Augen flammten wie grosse Sterne.
– Du denkst? – fragte Hugo gedämpft.
– Ich denke, dass meine Mutter Aurora Celia hiess – antwortete Julianus leise.
Verständnis leuchtete in Hugos Blick auf. Fein lächelnd, aber mit warmem Tonfall sagte er:
– Und dass Du so ein Geschöpf des Himmelslichtes bist, dass Du den Kindern der Morgenröte angehörst.
Julianus antwortete nicht, aber streckte ihm, mit einer raschen, schönen Gebärde, beide Hände entgegen.