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Victoria Benedictson (Ernst Ahlgren)

Victoria Benedictson

6. März 1850 – 21. Juni 1888

Erstes Kapitel

Unter den Märchenschätzen der Völker befindet sich eine tiefsinnige Dichtung, die in einer je nach dem Volkscharakter wechselnden Tracht die zu allen Zeiten und in allen Ländern gemachte Erfahrung von der Unberechenbarkeit des Lebens im Guten wie im Bösen einkleidet. Es ist das Märchen von den guten und den bösen Schicksalsmächten, die sich an der Wiege eines Kindes begegnen, wo die eine ihre herrlichsten Gaben niederlegt, während die andere an jede derselben einen Fluch knüpft.

Victoria Benedictson war in seltenem Grade ein Gegenstand dieses unheilvollen Wettbewerbs der Schicksalsmächte.

Sie wurde geboren mit den tiefen Forderungen einer Dichterseele an Entwicklung, Wechselwirkung mit verwandten Naturen, Sympathie, reiche wechselnde Eindrücke, Bewegung – mit einem Worte: Leben in großen Formen. Und sie war genötigt, beinahe ihr ganzes Leben im »Winkel des Kleinsinns« zu verbringen, eingepreßt in die engen Alltagsverhältnisse einer schwedischen Provinzstadt.

Sie war von Freiheitsliebe durchglüht, und sie stieß all ihr lebelang mit der Stirne gegen Vorurteile und Zwang; sie liebte die Wahrheit und wurde von Kindheit an in Verstellung hineingedrängt. Sie war eine spontane Natur, die die Erziehung nötigte zu verstummen und zu erstarren; sie war ein einheitlich angelegtes Wesen, und beinahe jedes ihrer Lebensverhältnisse ward ein zersplittertes.

Ihr Ideal von Glück war die Liebe in der Ehe – und die Ehe wurde für sie eines, die Liebe ein anderes; die körperliche Mutterschaft eines, die Mütterlichkeit des Herzens ein anderes.

Sie war ein bewegliches Freiluftgeschöpf, ein aktiver Tatenmensch, und sie wurde jahrelang an das Krankenbett, fürs Leben an ein paar Krücken gefesselt. Sie hatte einen ungestümen Arbeitsdrang, und die Arbeitskraft ließ sie im Stiche; sie wollte vollendete Schöpfungen bilden, aber sie erreichte nie ihr eigenes Maß, und ihre liebsten Dichtergedanken wurden Fragmente.

Sie hatte den Hang des Künstlertemperaments zu unmittelbarem, generösem Lebensgenuß, sie liebte es, Behagen und Freude um sich zu verbreiten, und sie wurde von kleinlichen Nahrungssorgen gequält, von der Furcht, ihren Lebensunterhalt nicht sichern zu können. Sie war dazu angetan, die Verhältnisse zu beherrschen, und sie wurden ihr übermächtig. Sie liebte das Leben mit einer tiefen, gesunden Liebe und beschloß es in unheilbarer Lebensmüdigkeit. Sie bebte vor der Qual des Todes zurück und gab sich selbst einen qualvollen Tod.

Die Ursache zu diesem Ende liegt teilweise in dem Konflikt zwischen all diesen unversöhnlichen Gegensätzen.

Ein Arzt hatte einmal Stärke genug, den Verlauf seines selbstgewollten Todes Stunde für Stunde, im Interesse der Wissenschaft aufzuzeichnen.

Victoria Benedictson versuchte etwas Ähnliches zu tun. Aber die Kraft verließ sie, und von der begonnenen Schilderung finden sich bloß einige Zeilen vor. Dort äußert ein Mann, daß sein ganzes vorhergehendes Leben ihm nur eine Vorbereitung zu dem Ende durch eigene Hand schien, das nun kommen sollte. Dieses selbe tiefe Gefühl des Schicksalsbestimmten ist allen Mitteilungen Victoria Benedictsons über ihren Seelenzustand in den letzten Jahren aufgeprägt. Es ist eine fixe Idee, die lange ihre schwarze Kette um den güldenen Faden der Künstlerfreude und den roten der Lebensliebe schlingt, bis sie beide ganz verdunkelt.

Aber dieser Seelenzustand beruhte nicht allein auf einer tiefen, im Temperament schlummernden Schwermut. Er beruhte auch auf dem Lebensverlauf selbst.

Victoria Benedictson fürchtete, daß nach ihrem Tode ihr Leben der mythenbildenden Phantasie anheimfallen würde, die gern um tragische Schicksale tätig ist. Sie hegte den allgemein menschlichen Wunsch, von der Gegenwart – oder der Zukunft – nicht mißverstanden zu werden. Aber Victoria Benedictson hatte dabei das Gefühl der produktiven Persönlichkeit, daß ihr Leben der Mitwelt gehörte. Ihre Lebenserfahrungen wollte sie – so weit ihre Kräfte reichten – am liebsten in die Form der Dichtung umsetzen.

Aber als die Kräfte zu der heftigen Seelenanstrengung, die jene höchste Form des Selbstbekenntnisses erfordert, nicht hinreichten, hegte sie den brennenden Wunsch, daß die Erfahrungen ihres Lebens der Mitwelt zugute kommen möchten; und sie teilte sie darum sowohl schriftlich wie mündlich ihren Freunden mit.

In diesen Mitteilungen liegt etwas von der unbestechlichen Ehrlichkeit einer Sterbenden; und sie sind aus der vehementen Lebensliebe der zum Tode Verurteilten entstanden. Diese Liebe war es, die es ihr ebenso wie jenem sterbenden Arzt zu einem Bedürfnis machte, der Nachwelt ihre Erfahrungen als Erbe zu hinterlassen Das Tagebuch, worin sie den tragischen Konflikt ihrer letzten Lebensjahre geschildert hat, vermachte sie Axel Lundegård mit dem Auftrag, es – in der Form, die ihm gut dünkte – zu veröffentlichen. Erst vierzehn Jahre nach ihrem Tode konnte Lundegård sich entschließen, diesen Auftrag auszuführen. Er tat es durch das Buch »Elsa Finne«, in dem er selbst den Rahmen um das Dokument – d. h. die Tagebuchaufzeichnungen gedichtet hat. – Diese gehören an und für sich zu den ergreifendsten und psychologisch bedeutungsvollsten Selbstbekenntnissen, die die Frauenliteratur besitzt. Aber in welchem Grade die Beichte objektiv wahr ist, kann nur einer entscheiden: der Mann, der der Mittelpunkt des Tagebuchs ist, und dieser Mann stellt ihren objektiven Wahrheitswert mit Entschiedenheit in Abrede. Aus diesem – und noch anderen – Gründen will ich den durch »Elsa Finne« erhaltenen neuen biographischen Stoff nicht benutzen. Dieser enthält nämlich keine Tatsachen, die den Wahrheitswert dieses meines gleich nach ihrem Tode gezeichneten Bildes beeinträchtigen können. Allerdings sehe ich ihr Schicksal jetzt noch tragischer und ihre Natur noch problematischer, als sie sich in dieser Zeichnung darstellen. Aber wenn mein Bild auch unvollständig sein mag, so gibt es sie doch so wie sie – in ihren besten Momenten und ihren besten Möglichkeiten nach – war. Und ich folge J. P. Jacobsens Regel: wenn man einen Menschen beurteilen will, muß man ihn so vor sich sehen, wie er in dem Augenblicken war, in denen man ihn am meisten liebte.

 

Victoria Benedictson bemerkte einmal in der ihr eigentümlichen, wortkargen, langsamen und leisen Art, die einem solche ihrer Worte für immer ins Gedächtnis eingrub: »Der Lebensüberdruß ist schon seit meiner Geburt und durch sie geheimnisvoll mit meiner Natur verwoben. Ich kam unmotiviert auf die Welt; darum kann das Leben mich nicht recht packen. Der Faden, der mich ans Dasein knüpft, ist gebrechlicher als der, der andere bindet.«

Und dann erzählte sie von ihrer Geburt. Ihre Eltern hatten durch ungefähr zwanzig Jahre jedes in einem anderen Teil des Hauses gelebt und sich nur im Speisezimmer getroffen. Aber als man die Verlobung ihrer ältesten Schwester feierte, wurde Friede geschlossen. »Ein sehr kurzer Friede, denn als ich bald darauf zur Welt kam, hatte sich der Unfrieden schon wieder eingestellt.«

Im März 1850 hielt die Kleine ihren Einzug. Und sogleich zankten sich die Eltern über den Namen des Kindes, später über seine Erziehung.

Der Vater, Thure Bruzelius, aus einer bekannten Pastorenfamilie, hatte seinem Wunsch, den militärischen Beruf zu erwählen, nicht folgen dürfen und war anstattdessen ein Landwirt wider Willen geworden. Er hatte etwas von jener Anlage, die dann verstärkt bei der Tochter wiederkam, ein cholerisches und melancholisches Temperament, mit einer unbefriedigten Sehnsucht in der Tiefe. Die Mutter war ein streng religiöser, willensstarker Prinzipienmensch, von dem die Tochter die Energie des Wesens und eine seltene Kraft der Selbstbeherrschung geerbt hat, zum Teil auch den dichterischen Sinn: die Mutter schrieb nämlich religiöse Poesie.

Schon in frühester Jugend bekam das Kind Einblick in den Unfrieden des Heims. Der Vater, der sich für die fehlende eheliche Einigkeit anderswo getröstet hatte, kam zuweilen, von dem Wunsch nach einer Versöhnung angetrieben, zu seiner Frau, die ihn, ohne daß sich eine Miene in ihrem Gesichte regte, zu ihren Füßen weinen ließ. Das Kind vergaß diese Auftritte nie, auch nicht das brennende Gefühl der Scham, mit dem sie die Bestechungen – in der Form von Fünfundzwanzigörestücken oder Ähnlichem – entgegennahm, durch die die Mutter die Tochter von der Seite des Vaters und der Frau zu locken suchte, die die Nebenbuhlerin der Mutter war. In der Seele des Kindes wurden all diese unklaren, widerstreitenden Eindrücke von lebensbestimmendem Einfluß. Sie riefen einerseits Mißtrauen, andererseits die ungestüm auf die Spitze getriebene Selbstbetrachtung hervor, wie man sie fast nur bei jenen Menschen findet, die eine einsame und gedrückte Kindheit hinter sich haben.

Zwischen diesen Eltern, die diametrale Gegensätze waren, sollte das Kind sich teilen; sechs Stunden des Tages war sie das Eigentum ihrer Mutter; und da diese eine für jene Zeit ungewöhnlich gute Erziehung erhalten hatte, unterrichtete sie die Tochter selbst. Aber, erzählt diese:

»In meiner freien Zeit stahl ich mich immer fort, um mit meinem Vater zusammenzusein. Er hatte zwei Eigenschaften, die mich unwiderstehlich lockten: Sinn für Freiluftleben und die Gabe zu erzählen. Er lehrte mich reiten, ringen, Pistolenschießen und andere männliche Übungen; er behandelte mich im ganzen genommen wie einen Jungen.« – Bei seinen melancholischen Erzählungen weinte das Mädchen unaufhaltsam, aber sobald sie befürchtete, daß die Mutter sie und den Vater sehen könnte, glitt sie von seinen Knieen, und wenn die Mutter sie fragte, warum sie geweint hatte, antwortete sie: »Wegen nichts.«

»Doch meistens,« fuhr sie fort, »lag über dem, was er erzählte, ein unwiderstehlicher, hinreißender Humor; und das humoristische Element zog mich immer mehr an als das tragische. Meine Mutter war immer tragisch, streng tragisch, ohne Tränen. Als Kind hörte ich sie manchmal sagen, daß sie in ihrer Jugend geweint hatte. Ich glaubte ihr nicht; es erschien mir ebenso unmöglich wie die Wunder in der biblischen Geschichte, die ich auch nicht glaubte. Die Feindlichkeit meiner Eltern machte meine Stellung zu beiden schief: ich wollte mit beiden gut stehen – und ich war genötigt, sie beide zu belügen. Diese Kindheitserfahrung hat, als ich einmal erwachsen war, meine Wahrheitsliebe beinahe brutal gemacht. Im ganzen haben die eigentümlichen Verhältnisse, unter denen ich aufwuchs, tiefe Spuren in meinem Leben hinterlassen – – –«

»– – Als ich ein Kind war, wurde ich gezwungen, wie ein alter Mensch zu sein, darum ist etwas von der Kindernatur tief drinnen in mir stecken geblieben. Ich kann in meinem Benehmen konventionell sein, aber in meinen Gefühlen und meinem Gedankengang nie.«

Auch durch andere Schilderungen in novellistischer Form hat sie einen Einblick in die Leidenschaften und Leiden dieser verschlossenen Kinderseele gegeben. Dazu gehörten die unaufhörlichen Hindernisse, die sich gegen ihre Wünsche erhoben, indem man sie immer wieder daran erinnerte, daß sie ein Mädchen war. Der Unterschied in der Auffassung der Rechte und Möglichkeiten eines Mädchens und eines Knaben quälte das Kind schon, als es noch umhersprang und »Vaters Junge« zu sein vorgab; der Gegensatz zwischen dem Rechte- und Pflichtenkreis des Mannes und dem der Frau wurde dann für ihr späteres Leben verhängnisvoll. Ihre letzte Beichte, »Aus dem Dunkel«, ist der gesammelte Ausdruck all des Leidens, das sie nur erfahren, weil sie ein Weib war, d. h. »ein Paria, der sich nie aus seiner Kaste erheben kann.«

Der Ort, wo Victoria Benedictson ihre Kindheit verlebte, ein altes Haus in der flachen Trelleborger Gegend, war auch nicht so, daß die Natureindrücke befreiend wirken konnten. Der Schönheitssinn fand keine Nahrung an jenen Naturreizen, die zu Träumen locken und lyrische Stimmungen wecken. Der Natursinn wird bei Bewohnern der Ebene häufiger pittoresk als poetisch. Sie bekommen eine klare und bestimmte Beobachtungsgabe, einen entwickelten Sinn für Beleuchtungen, für Form und Farbe, gerade durch die Einförmigkeit dessen, was dem Auge begegnet. Und diese Art Natursinn wurde der Victoria Benedictsons. In ihren Landschaftsschilderungen ist nichts vom Lyriker, doch so manches vom Maler. Die Naturschilderung ist jedoch nicht die stärkste Seite ihrer Dichtung. Ihre reichsten Eindrücke entstanden nicht in der Kontemplation, sondern in der Bewegung. Der Sport war für sie das beste Mittel, in lebendige Berührung mit der Natur zu kommen. Aber ihre Eigenschaft als Frau schloß sie in gewissem Maße immer von einem ungezwungenen Freiluftleben ab, und später wurde die Krankheit das große Hindernis, das sich ihrem Naturgenuß entgegenstellte, der durch die Krankheit von einer weicheren, mehr kontemplativen Art wurde. Aber nach und nach raubte ihr das Leiden die Empfänglichkeit für den ruhespendenden Einfluß der Natur. Es ist eine der traurigen Folgen des Leidens, daß es uns nicht nur von den Menschen isoliert, sondern auch die Verbindung mit der Natur abschneidet, indem es uns taub und blind macht. Sie war sich dieser Veränderung bewußt und empfand sie als einen Teil der großen Leere, über die sie klagte. Der Sinn für das Leben der Menschen und Tiere war doch stets bei ihr stärker als jeder andere. Sie konnte sich von der herrlichsten Landschaft abwenden, um irgendeine ganz alltägliche Erscheinung menschlicher Art eifrig zu verfolgen. Und dieser Grundzug tritt schon in der Kindheit zutage. Die fröhlichsten Stunden, deren sie sich außer dem Freiluftleben mit dem Vater erinnerte, waren die, wo sie sich gegen das ausdrückliche Verbot hinab in die Leutestube, dem Raum, wo die Arbeitsleute des Landguts aßen und schliefen, schlich. Durch diese gestohlenen Freuden entwickelte sich frühzeitig bei ihr jenes Verständnis des Volkslebens, das Victoria Benedictsons Volkslebensbildern jene geniale unmittelbare Auffassung des Volkscharakters verleiht. Sie brauchte die Roheit nicht fortzuidealisieren, um echtes Mitgefühl mit dem echt Menschlichen des Volkes hervorzurufen, denn ihr sympathischer Blick hatte das Wesentliche entdeckt, das andere über dem Unwesentlichen übersehen. – Sie war selbst überzeugt, daß ohne diese Kindheit und Jugend auf dem Lande, wo die wenigen Eindrücke um so viel tiefer werden, und ohne diese Streifzüge in die Gesindestube ihrer Dichtung einer der charakteristischsten Züge gefehlt haben würde. Und nicht nur ihrer Dichtung, sondern ihrem ganzen Temperament, nämlich seine echte, volkstümliche Richtung. Sie konnte das Herzensvertrauen der kleinen Leute gewinnen, sie betrachtete deren Verhältnisse nicht von oben herab; sie fühlte sich im Gegenteil dem Tagelöhner mehr als ihrer eigenen Gesellschaftsklasse geistig verwandt. Ihr, besonders der Frauen, müßiges Dasein war für sie eine akute Qual. Arbeit und Entbehrung, bis man sich durch die Arbeit Mittel zum Genuß verschafft hatte, das war ihre Lebensweisheit. Sie fürchtete die Genußsucht im Zusammenhang mit ökonomischer Unselbständigkeit. »Das wird das Unglück der jungen Generation«, sagte sie oft. »Auf diesem Wege werden sie in Versuchung geführt, ihren Ansichten untreu zu werden. Und darum werde ich diese Schwäche bis in ihre Schlupfwinkel verfolgen – falls ich am Leben bleibe.«

Sie schreibt 1887 in einem Briefe:

»Ich fühle, daß ich »Volk« bin, auch wenn ich nicht darnach aussehe; ich bin roh von Natur, aus Neigung, aus Opposition gegen die ganze väterlicherseits und mütterlicherseits ererbte Beamtenhoffart, darum – wenn ich mit Menschen zusammenkomme, die nur Schönheit und Harmonie lieben – bäumt sich etwas in mir auf. Im Herzen und in der Seele bin ich Demokratin.

*

Wenn ich ohne Modifikationen meinen eigenen Neigungen folgen sollte, würde ich sehr spartanisch sein; meine Zimmer würden wie klösterliche Studierkammern aussehen. Aber jetzt ist es nicht so. Ich habe Geschicklichkeit im Arrangieren, und ich suche alles so zierlich, so weich und so einschmeichelnd ich kann zu machen. Warum? Ich habe Farbensinn und all das. Ich verabscheue den Luxus, und doch könnte ich mich damit umgeben, wenn ich die Mittel hätte. Das ist eine kleine Inkonsequenz, über die ich selbst lache. – Ich hasse es, die Seide an meinem eigenen Körper rauschen zu hören – und ich trage sie doch. Ich habe ein solches Bedürfnis, es denen, die ich lieb habe, behaglich zu machen.«

Sie wäre wohl keine Künstlernatur gewesen und kein Weib, wenn ihr diese Inkonsequenz gefehlt hätte.

Es war die Natürlichkeit, die Gesundheit und Einfachheit, es war vor allem die Herrlichkeit des Arbeitslebens, die sie bei den Landleuten ergriff. Denn sie liebte die Arbeit nicht nur, weil sie des Lebens Brot gab, nein als das Brot des Lebens selbst liebte sie sie. Die Arbeit war für sie der große ernste Erzieher zu echter Lebensfreude. Sie hat die Arbeit überall verherrlicht, doch nirgends so wie in »Frau Marianne«, einem Buch, das sie weniger zum Preis der Liebe als der Arbeitsliebe gedichtet hat. Die Unterströmung dieses Buches ist nur von den wenigsten genügend beachtet worden.

Zusammenarbeit in Liebe – das war Victoria Benedictsons Auffassung vom Glück in der Ehe. Und sie war in dieser Hinsicht der Mehrzahl weit voraus, denn sie forderte eine Umgestaltung der bestehenden Verhältnisse. Sie hoffte, daß vieles von der alten Romantik im Verhältnis zwischen den Geschlechtern einer wirklichen Gemeinsamkeit der Bestrebungen Platz machen würde. Die Arbeit sollte dieser Umgestalter der Ehe werden, in der sie »ein gesundes, starkes, inneres Glück finden wollte, das auch das Häßliche, das Prosaische verträgt und dennoch blüht und gedeiht, sobald nur die Sonne scheint.«

Victoria Benedictsons Glaube an die Macht der Arbeit grenzte beinahe an Aberglauben. »Du wirst sicherlich glücklich, denn du Hebst die Arbeit«; »du kannst nicht ganz unglücklich sein, denn du vermagst zu arbeiten« – solche Worte äußerte sie oft. Und wenn ihr selbst die Arbeitskraft erhalten geblieben wäre, dann hätte sie wohl auch Lebenslust genug bewahrt, um leben zu können.

 

Dieser hier angedeutete Grundzug von Victoria Benedictsons Temperament sprach sich in ungewöhnlich bestimmter Weise bei ihr aus, als sie noch kaum den Kinderschuhen entwachsen war. Sie wollte eine eigene Arbeit, ein Lebensziel haben. In Schweden zu Ende der sechziger Jahre war das ein sehr ungewöhnlicher Wunsch bei einem jungen Mädchen aus wohlhabendem Hause. Außer der ihr innewohnenden künstlerischen Anlage und dem energischen Arbeitsdrang trugen noch andere Verhältnisse dazu bei, ihren Sinn so früh nach außen zu richten. Sie träumte nicht wie andere Mädchen vom Glück der Liebe und des Heims. Die Freude und Ruhe eines Heims hatte sie nie gekannt, war ihr doch selbst die Elternliebe durch Zersplitterung und Zwietracht zerstört worden. Sie glaubte nicht, daß ihr Liebe beschieden sein würde. Sie war in dem Glauben erzogen, daß sie abstoßend häßlich sei; ihre lange, magere Gestalt in den geschmacklosen Kleidern – in der Kindheit halb Knaben-, halb Mädchenkleider – war ihr eine stete Pein, die ihre außerordentliche Scheu und Verschlossenheit noch erhöhte, Eigenschaften, die sie ihr lebelang nicht verließen. Sie schrieb noch 1885:

»Ich leide unter einem wirklichen Unglück: ich kann nicht sprechen. Sie können nicht glauben, wie ein solcher Naturfehler einen Menschen zu isolieren vermag. Aber wäre es ein Naturfehler, so wäre es vielleicht erträglich, denn dann würde er wahrscheinlich mit meinem Charakter übereinstimmen. Nun ist es jedoch so, daß diese qualvolle Scheu nur ein Pfropfreis ist, das sich während einer besonders unglücklichen Kindheit in meinem Wesen stark gewachsen hat. Und dieses Pfropfreis widerstreitet meinem offenen, unerschrockenen Charakter.« »Aber« – schließt sie – »wer weiß, ob mich nicht dieses Gebrechen meiner Zunge zur Schriftstellerin gemacht hat?«

Diese nie besiegte Scheu war in den ersten Jugendjahren so außerordentlich, daß das Gesellschaftsleben für sie zur Tortur wurde, und obgleich sie sich leidenschaftlich danach sehnen konnte, frei und froh zu sein, wie andere junge Mädchen, kam es ihr nicht in den Sinn, daß sie sich je durch etwas anderes glücklich und frei fühlen könnte, als durch das, was ihre Gedanken Tag und Nacht beschäftigte: die Kunst. Ihre jungen, naiven Träume hat sie selbst in »Geld« geschildert, wo Selmas getäuschte Hoffnungen nach ihren eigenen Erfahrungen gezeichnet sind. Denn als Victoria Bruzelius ihren Eltern die Bitte vortrug, ihre zeichnerischen Anlagen an der Malerakademie oder wenigstens an der Kunstgewerbeschule in Stockholm ausbilden zu dürfen, da stieß sie wieder auf das Hindernis, das sie seit ihrer Kindheit so wohl kannte, das Hindernis, das sich zwischen sie und so manche unschuldige Freude gestellt: sie war ein Mädchen. Und noch dazu ein Mädchen aus guter Familie, in günstiger Vermögenslage. In solchen Familien pflegen die Töchter keine Künstlerinnen zu werden. Sie pflegen ihren Eltern das Haus angenehm zu machen, bis sie selbst ein neues Heim gründen. Das war das Passende, folglich auch das Rechte für ein Mädchen, darum auch das Natürliche und Beglückende für sie.

Aber dieses junge Mädchen war nicht damit zufrieden, »aus guter Familie« zu sein. Sie antwortete ihren Eltern, als sie ihr die Mittel zu ihrer Ausbildung verweigerten, daß sie sich das Geld für ihr Studium selbst verdienen wolle. Denn sie hoffte noch, daß der Widerstand wesentlich auf der Geldfrage und auf dem Zweifel an dem Ernst ihres Willens beruhte. Sie verschaffte sich in einer bekannten Familie eine Stelle als Lehrerin und begann mit frischem Mute für ihre künstlerische Zukunft zu arbeiten.

In diesen drei Jahren – von siebzehn bis zwanzig – begann ihre Jugend.

Sie machte jetzt verschiedene Erfahrungen, die die Meinung, die sie von sich selbst hatte, modifizierten. So z. B. erzählte sie, wie ihr Selbstüberdruß die erste Linderung erfuhr, als sie einmal bei einem Besuch in Malmö ein paar vorbeigehende Jünglinge flüstern hörte: »Was für ein schönes Mädchen!« Sie fühlte sich ganz schwindelig, so, als hätte die Gasse geschaukelt und die Häuser um sie getanzt. War vielleicht ihr ganzes peinvolles Gefühl, aller weiblichen Reize bar zu sein, die Folge eines der vielen Mißgriffe in ihrer Erziehung? War sie wirklich nicht anders als andere Frauen? Würde auch sie Liebe erwecken, Glück spenden können?

Von dieser Stunde an war sie gleichsam in eine wärmere Zone versetzt.

Sie begann etwas weniger scheu zu werden; sie wagte in ihrer verschämten Art ihren jugendlichen Sinn für Freude und Freundlichkeit zu zeigen. In dieser Zeit durchlebte sie eine erotische Erfahrung, die in Mißverstehen schloß, ohne daß eines der beiden über das Gefühl des anderen – vielleicht nicht einmal über das eigene – zu Klarheit kam. Er fuhr nach Amerika; sie glaubte – wie alle jungen Mädchen bei ihrem ersten Schritt in die Vorhöfe zu Eros' Heiligtum – die Geschichte ihrer Liebe für immer abgeschlossen zu haben. Und um so fester konzentrierte sich nun ihr Sinn auf die künstlerische Laufbahn.

Aber als sie wieder zu den Eltern kam, ihnen zeigte, daß sie sich wirklich selbst die Mittel für das erste Jahr eines Aufenthalts in Stockholm verdient hatte, und die Hoffnung aussprach, daß dies sie von dem Ernst ihres Entschlusses überzeugen würde, begegnete sie ganz derselben Antwort wie das erstemal.

Sollte sie also nie ein Ziel für den Arbeitsdrang, für die Tatkraft erhalten, die in ihr lebte? Ja, sie mußte sich um jeden Preis einen Lebenszweck schaffen, sie mußte die Freiheit erringen.

Und beides glaubte sie zu gewinnen, als ein beharrlicher Freier ihr wieder seine Liebe und sein Heim anbot.

Er war 28 Jahre älter als sie, ein Witwer mit fünf Kindern, und galt allgemein für einen ehrenhaften und tüchtigen Mann. Sein Alter und seine Erfahrung hatten sicherlich der jungen, in voller Entwicklung begriffenen Lehrerin imponiert, die sich mit wirklichem Vertrauen an ihn anschloß. Und gegen die Einwendungen der Familie – die sich gegen den Altersunterschied richteten – gab sie ihm endlich ihr Jawort. In einem Falle hatte man sie gehindert, über ihre Zukunft und ihre Entwicklung zu bestimmen; nun wollte sie selbst entscheiden.

Was während der kurzen Verlobungszeit die Gedanken der Braut vor allem beschäftigte, war, daß sie jetzt von all dem Druck befreit sein sollte, den ihr eigenes Heim geübt, daß sie eine reiche Tätigkeit, ein warmes Heim haben würde; und sie war voll der innigsten Vorsätze, gut zu sein und sich nützlich zu machen. Daß die Ehe eine andere Art von Zwang mit sich bringen würde, daran dachte sie nicht, um so weniger, als sie gar keine Vorstellung von der Ehe hatte. Sie war in der gewöhnlichen, für Unschuld gehaltenen Unwissenheit über die großen natürlichen Bedingungen des Lebens erzogen worden. Und da sie über das, was nicht verfehlen konnte, ein Gegenstand ihres Nachdenkens zu werden, keine ehrliche Aufklärung erhalten konnte, hatte sie sich eine phantastische Erklärung zurechtgemacht, die der Wirklichkeit wenig entsprach.

Im Herbst 1871 vermählte sich Victoria Bruzelius mit dem damaligen Bankdirektor und Postmeister Benedictson in Hörby. Ihr Seelenzustand nach der Erfahrung einer Ehe ohne volle persönliche Hingebung wird durch die Tatsache gekennzeichnet, daß ihr erster Selbstmordversuch in die ersten Jahre ihrer Ehe fiel, und auch durch ihre Äußerung, daß sie, als sie das eine der beiden Kinder begrub, die sie in ihrer Ehe geboren, keinen Schmerz fühlte – nur Erleichterung.

Victoria Benedictson konnte nie ein Thema, das an das Gebiet dieser persönlichen Erfahrungen grenzte, berühren, ohne daß ihre Stimme von so tiefer Leidenschaft erfüllt wurde, daß sie beinahe erlosch; der Blick verdunkelte sich, und die Linien der Lippen wurden eisenhart.

Ihr ganzes Wesen schien in solchen Momenten Haß zu sein: Haß gegen die konventionelle Prüderie, die ein Lebensschicksal wie das ihre möglich gemacht hatte, und dieser Haß fand seinen stärksten Ausdruck in »Geld«. Die Empörung, die da endlich aus Selmas erstarrtem Wesen hervorbricht, war der gesammelte Ausdruck des tiefsten Leidens der Verfasserin, war eine so starke Lebenswirklichkeit, wie sie nur je in einer Dichtung pulsiert hat.

Für eine monogamische Natur – und so nannte sich Victoria Benedictson – ist es jedoch unmöglich, einen Teil ihrer Persönlichkeit gegeben zu haben, ohne zu versuchen, das Zusammenleben in Harmonie mit der Ahnung dessen zu bringen, was eine Ehe sein soll. Eine solche Bemühung ist oft bei so mancher verkehrten Verlobung, die mit der Ehe schließt, so mancher Ehe, die nicht mit der Scheidung endet, der Grund der Treue. Meistens ist es die Frau, die sich am längsten an die Möglichkeit klammert, ein Verhältnis umzugestalten, in das sie sich begeben, ohne darin eine ganze Liebe schenken oder empfangen zu können.

Und auch Victoria Benedictson suchte ein reicheres Zusammenleben zustande zu bringen. Um wenigstens eine Art von gemeinsamem Interesse zu schaffen, nahm sie ihre Zuflucht zu ihrem Universalmittel, der Arbeit. Sie wurde die Helferin des Mannes in seiner Banktätigkeit, und sie gewann dadurch eine vielseitigere Menschenkenntnis und einen Einblick in praktische Verhältnisse, der später ihrer Dichtung zugute kam.

Doch sonst blieb alles beim alten. Unvereinbare Gegensätze können nicht durch guten Willen verschmolzen werden. Wäre ein einziger Berührungspunkt des Verständnisses und der Sympathie vorhanden gewesen, so würden die energischen Bemühungen der Gattin das Verhältnis vielleicht doch nach und nach umgewandelt haben.

So jedoch vergrößerte sich der Abstand von Jahr zu Jahr. Victoria Benedictson füllte die Leere durch Arbeit, Studien, Zerstreuungen aus – alles war besser, als Zeit zu haben, dazusitzen und über das immer aufreizendere Bewußtsein der Erniedrigung, das stets wachsende Gefühl der Empörung nachzugrübeln.

Doch die besten Helfer waren die Stiefkinder. Sie war ihnen Freundin, Kameradin, Erzieherin, sie suchte das Heim für sie und ihre Freunde froh und freundlich zu machen; sie war selbst noch so jung, daß sie auch für ihre eigene Person mit Lust und Liebe an den einfachen Vergnügungen, die sie ihnen veranstalten half, teilnehmen konnte. Sie malte und zeichnete noch immer, obgleich es ihr klar zu werden anfing, daß ihre eigentliche Anlage sie nicht auf diese Richtung hinwies. Sie glaubte später doch, wie A. Ch. Leffler, daß ihre Malerei nutzbringend für ihre Dichtung gewesen, weil sie ihre Beobachtungsgabe ausbildete.

Das große Landstädtchen Hörby mit mehreren Herrenhöfen in der Nähe brachte ziemlich viel gesellschaftlichen Verkehr mit sich. Wo die stattliche Frau Benedictson sich zeigte, erregte sie Respekt und Bewunderung. Sie war nicht nur in äußerlichem Sinn einen Kopf höher als die anderen, auch im inneren Sinne zwang sie die Menschen zu ihr aufzusehen, eine Situation, die bei feineren Naturen Zuneigung hervorruft, aber bei gröberen Widerwillen.

Wer jedoch Victoria Benedictson bei einem oberflächlichen gesellschaftlichen Zusammentreffen als steif, stolz, kalt verurteilt hatte, wurde von der Herzensgüte ihres Wesens durchwärmt, wenn er durch irgendeinen Schmerz oder eine Freude, die sie teilen konnte, mit ihr in Berührung gebracht wurde.

Klatschinteressen hingegen teilte sie niemals, und sie pflegte sich bei Gesellschaften aus dem von diesen Interessen belebten Kreis der Frauen zur Jugend hinauszuretten. Dort ließ sie sich am Klavier nieder und spielte unverdrossen Tanzmusik, zur dankbaren Freude der jungen Leute. Fröhlich saß sie dann selbst unter der Jugendschar, die sie umdrängte und um die Wette bestrebt war, ihr ihre Bewunderung und Zuneigung zu zeigen. Ihre Macht über die Jugend war grenzenlos. Ihre Stiefkinder beteten sie an und waren stolz auf sie. Sie war ein gerade durch ihre geheimnisvolle Verschlossenheit bezauberndes Wesen, das mit einem Worte lenken, mit einem Blicke Einhalt gebieten und durch eines ihrer seltenen Lobesworte oder ihre noch selteneren Liebkosungen Glückseligkeit erregen konnte. Ihr Mißfallen war vernichtend; ihre Güte rührte immer in innigerer Weise als die anderer.

Nicht nur Kinder und Jugend empfanden die unwiderstehliche Anziehungskraft dieses stillen, tiefen Wesens. Die junge Gattin des gealterten Mannes war oft der Gegenstand der Huldigung anderer Männer, einer Huldigung, die wenigstens einmal auf der Grenze zu einem ernsteren Gefühl stand. Diese Freundschaft brachte einen Reichtum von Sympathie, von entwickelndem Gedankenaustausch, von Wärme in ihr Leben. Als erotische Verwicklungen drohten und sie ihren Mann um Schutz bat, ließ er sie ebenso einsam wie immer. Und diese Erfahrung erweiterte gleich einem Erdbeben die Kluft zwischen Mann und Frau.

Zweites Kapitel

Noch etwas anderes hatte angefangen, das Zusammenleben stark aufzuwühlen. Der dichterische Schaffensdrang war in Victoria Benedictson erwacht. Und der stieß jetzt, nur verstärkt, auf das Hindernis der Kindheit und Jugend.

War sie nicht Gattin und Mutter? Durfte eine Frau um eines unweiblichen Ehrgeizes willen ihre nächsten Pflichten vernachlässigen, fragte ihr Mann. Die Schreiberei war im allgemeinen für eine Frau unpassend, und sie war der Frau, die den Beruf einer Gattin hatte, unwürdig. Sie sollte nicht nach den Auszeichnungen eines Blaustrumpfs trachten. Sie würde vielleicht außerdem eine verunglückte Schriftstellerin werden, die nur ihren Mann lächerlich und das Haus unbehaglich machte, ohne doch einen einzigen literarischen Erfolg zu erringen.

Und so kämpfte sie zum zweitenmale ihren Freiheitskampf, einen härteren Kampf als den ersten, aber einen schließlich siegreichen. Die künstlerische Persönlichkeit hatte jetzt ihr richtiges Ausdrucksmittel gefunden, und damit auch neue Kräfte zur Selbstbehauptung.

 

In demselben niedrigen, damals strohgedeckten einstöckigen Hause, in dem die Familie Benedictson wohnte, befand sich außer dem Postamt des Mannes auch ein kleiner, von den weiblichen Mitgliedern der Familie verwalteter Buchladen; vor allem war die Hausfrau eine eifrige Leiterin, denn was Victoria Benedictson selbst im Laufe des Jahres an solchen Büchern beziehen durfte, für die es in dem Landstädtchen nur eine einzige Käuferin – sie selbst – gab, hing davon ab, wie groß die Prozente von den verkauften Kalendern, Katechismen und anderer in der Provinz gangbaren literarischen Ware waren.

In diesem ländlichen Diminutivum einer Buchhandlung stand an dem einen Fenster ein Tisch, und hier war der Lieblingsplatz der jungen Frau Postmeisterin. Hier fühlte sie sich als Herrscherin über all die Bücherschätze, hier wurde jedes neuangelangte Buchpaket begierig geöffnet – es konnte schon damals passieren, daß eines oder das andere wertvolle Buch mitgekommen war. Zum letzten, doch nicht zum geringsten: hier konnte sie sich in ungestörter Ruhe den sprachlichen und literarischen Vorstudien widmen, die dann ihr – der Autodidaktin – Auftreten in der Literatur ermöglichten.

Alle ersten belletristischen Arbeiten Victoria Benedictsons sind dort drinnen im Buchladen entstanden. Dort sind die meisten der Erzählungen von »Aus Schoonen« und der größte Teil von »Geld« geschrieben; da sind die ersten heftigen Kämpfe zwischen Gedanken und sprachlichem Ausdruck ausgefochten; da sind unter gespannter geistiger Anstrengung eine unglaubliche Menge jener Erstlingsversuche geboren worden, die das Maß ihrer Selbstkritik nicht erreichten und darum nie veröffentlicht wurden, oder die in der Unsicherheit der literarischen Gärungszeit aufs Geratewohl in die Welt geschleudert worden waren, um von einem unbekannten, strengen Richter verworfen zu werden.

Hartnäckiger Mißerfolg begegnete der beginnenden schriftstellerischen Tätigkeit Victoria Benedictsons. Er hat sicherlich in ihrer Entwicklung tiefe Spuren hinterlassen. Die Künstlersehnsucht, die sich in den Jahren, wo sie vom Kinde zum Weibe heranwuchs, noch halb schlaftrunken gereckt hatte und damals durch den Machtspruch des Vaters erstickt wurde, kam jetzt wieder, nur stärker, intensiver und bewußter. Auch jetzt stieß sie auf Widerstand von außen, aber ebensowenig wie früher war ihr Mut durch Widerstand zu brechen. Es war eine Zeit der fehlgeschlagenen Hoffnungen, aber auch eine Zeit der energischen Willenserziehung und der harten Arbeit, und in diesen Jahren der Mißerfolge reifte Victoria Benedictsons dichterische Anlage durch Arbeit, Seelenkampf und Leiden.

In diesem Lebensabschnitt trat auch die Krankheit ein, die für Victoria Benedictsons Zukunft von so durchgreifender Bedeutung werden sollte.

Eine Knieverletzung, wie sie glaubte, durch einen Stoß verursacht, entwickelte sich im Frühjahr 1881 zu einem gefährlichen Leiden, das sie zwei Jahre ans Krankenbett fesselte. Sie ertrug in diesen Jahren mehr physische Qualen, als die meisten anderen in ihrem ganzen Leben durchmachen. Einmal ums andere mußte sie sich den schmerzhaftesten Operationen unterziehen; der Arzt riet Narkose an, aber sie wollte – infolge einer gewissen Idiosynkrasie gegen künstliche Betäubungsmittel – nie einwilligen; und während das Messer seine Arbeit verrichtete, lag sie still mit zusammengebissenen Zähnen, ohne eine Klage. Einmal ums andere brachte sie das Fieber an den Rand des Grabes, doch sie bewahrte vor dem großen Mysterium dieselbe Ruhe, die dann, in der langen Genesungszeit, ihrem Gemüt jenen Grundton der Ergebung und des Gleichmuts verlieh.

Die Nähe des Todes ließ sie das Leben wärmer lieben als zuvor. Axel Lundegård hat ihre Stimmung in der Skizze »Glück« geschildert. Da liegt eine todkranke Frau in ihrem Bette und sieht durch das Fenster hinaus in den alten halb verwilderten Garten dort draußen; und in diesen müden Augen spiegelt sich die Natur mit einem Glanz wie nie zuvor. Jeden Sonnenstrahl, jedes Farbenspiel, jede wohlbekannte Kontur in diesem Garten, der viele Jahre hindurch der Horizont ihres Lebens gewesen, schlürft sie jetzt mit einer so tiefen Empfindung für die Lieblichkeit der Natur ein, wie sie sie nie zuvor erfahren. In dieser Empfindung ist nur ein kleiner Schimmer der Wehmut der Vergänglichkeit; die einzige leise Disharmonie in ihrem Seligkeitsgefühl ist der Gedanke daran, daß die Schönheit dieser Natur mit ihr selbst sterben soll, denn kein anderer wird sie so tief, so befreiend fühlen können, wie sie, die Sterbende.

Aber in ihren vom Leiden gefurchten Zügen liegt doch ein Schimmer von stillem Glück. Sie hat die Rechnung mit dem Dasein abgeschlossen; die Krankheit hat ihr das gegeben, wonach sie dürstete, die Freiheit, und nun kommt der Tod zur rechten Zeit als Abschluß eines verfehlten Lebens. Sie träumte, sie auch, einmal von einem Lebenswerk, von etwas, wofür sie leben, oder doch wenigstens wofür sie sterben konnte, aber sie fand weder das eine noch das andere, und sie konnte es nie finden; sie war ja eine Frau.

 

Jedoch nicht den Tod sollte Victoria Benedictson die Krankheit bringen. Sie entwickelte zwischen ihr und ihrer jüngsten Stieftochter, die ihre Krankenpflegerin war, ein persönliches Zärtlichkeitsverhältnis, ein Verhältnis, das dann die Leere im Leben der Stiefmutter teilweise ausfüllte.

Die Krankheit war es vor allem auch, die ihre dichterische Veranlagung reifen ließ; die Krankheit gab ihrer Dichtung den tiefen Unterton des Leidens.

Nun erwachte die Schaffenskraft wie nie zuvor, mit einem Reichtum von neuen Stoffen, ausdrucksvollen Szenen, Bildern, die ungesucht Form und Farbe annahmen. Dies war der Frühlingsanbruch des Seelenlebens; von dieser Zeit an war sie eine Dichterin.

Sie arbeitete während der Krankheit gerade so, wie sie später bewußt weiterarbeitete: in sich veranschaulichte sie sich ihre Persönlichkeiten, sprach mit ihnen, versetzte sie in alle möglichen Situationen – um sie bis auf den Grund kennen zu lernen –, malte sich Episode für Episode aus, knüpfte Replik an Replik, konzentrierte die Schilderung, so daß sie das Charakteristischste herausbekam – bevor sie noch die Feder eintauchte, um den Stoff auszuarbeiten. So war z. B. »Geld« in allem wesentlichen während ihrer Krankheit fertiggeworden, obgleich es erst später niedergeschrieben wurde.

Erst nachdem die Krankheit ihr die Ruhe verschafft hatte, ihre eigentümliche, äußerst langsame Arbeitsmethode zu finden und zu entwickeln – deren sichtbare Resultate zuweilen nur fünf bis sechs Zeilen am Tage sein konnten –; nachdem diese Krankheit der Dichterbegabung selbst eine von persönlichen Konflikten ungestörte Zeit zum Reifen gegeben, erst dann wurde Victoria Benedictson Ernst Ahlgren, die schriftstellerische Persönlichkeit mit der stark ausgeprägten Eigenart. Dieser Name wurde späterhin ihr selbst und ihren Freunden die liebste Benennung; und nur für fremde Menschen war sie Frau Victoria Benedictson. Dieser Name bezeichnete für sie die Spießbürgerlichkeit und Kleinlichkeit; Ernst Ahlgren hingegen war die Freiheit, der weite geistige Horizont, der Dichterberuf.

Im Jahre 1883 kehrte sie als Rekonvalescentin nach Hause zurück, doch mit einer in vieler Beziehung gebrochenen Gesundheit und an jene Krücken gefesselt, die sie nur in den letzten Jahren für kürzere Zeiten entbehren konnte.

Sie hatte jetzt ihre ganze Kraft zu einer Entscheidung über ihre persönliche Stellung in der Familie gesammelt. Sie verlangte das Recht, unter dem Dach des Mannes zu leben, ohne seine Gattin zu sein, eine selbständige Tätigkeit, aber mit der Verpflichtung, ihre persönlichen Ausgaben selbst zu bestreiten.

Eine öffentliche Scheidung wünschte, der Kinder wegen, keines von ihnen, und das Ehepaar blieb daher bei diesem privaten Übereinkommen.

 

Im Mai 1881 hatte Hörby einen neuen Pfarrer bekommen, der wie so mancher andere in diesen Zeiten den Geist der Verneinung in seinem eigenen Fleisch und Blut verkörpert sah.

Zu Ernst Ahlgrens Krankenbett drang das Gerücht von dem ältesten Sohn des Pfarrers Lundegård, einem jungen Studenten, der rücksichtslos gegen alle Provinzstädtchenetikette war, aufrührisch gegen alle überkommenen Ansichten. Er seinerseits hörte von der kranken Postmeistersfrau sprechen, von deren literarischen Interessen damals wohl noch niemand sprach, wohl aber von ihrer Malerei. Eine persönliche Bekanntschaft wurde eigentlich erst im Frühling 1884 angebahnt, als Axel Lundegård – der nach einem Bruch mit seinem Vater versuchte, sich in Stockholm auf eigene Hand durch literarische Arbeit durchzuschlagen – von Ernst Ahlgren einen Brief erhielt, der mit dem Worte: Kamerad! anfing und in dem sie ihr Interesse für sein Streben aussprach, mit dem sie sympathisieren konnte, nachdem sie selbst »acht Jahre unter fünf verschiedenen Pseudonymen in fünf verschiedenen Zeitungen« gegen literarische Widerwärtigkeiten angekämpft hatte. Sie fährt fort:

»Ich weiß, daß unsere Ansichten in vielen Fällen dieselben sind, und daß wir beide, wenigstens teilweise für dieselbe Sache kämpfen werden, denn Sie sind ja ›einer der Unsrigen‹ – des verketzerten ›Jungschwedens‹. Aber wenn dies auch nicht der Fall wäre, so würde mich das nicht hindern, Ihnen diesen kameradschaftlichen Handschlag anzubieten, denn Zunftgeist ist mir das Aller verhaßteste. Ehrlichkeit, das ist die Hauptsache! Eine ruhige, besonnene Ehrlichkeit und ein unermüdliches Streben nach Wahrheit, das müssen wir vor Augen haben. Es ist gar schwer, seinem eigenen Selbst nicht untreu zu werden, aber darauf muß alle Selbsterziehung hinzielen.«

Dieser erste Brief zeigt schon die Art des Freundschaftsverhältnisses, das – nachdem Axel Lundegård Waffenstillstand mit seinem Vater geschlossen hatte und wieder Hörby besuchte – im Sommer 1884 begann und die kleine Buchhandlung zum Schauplatz hatte.

Jetzt kam Ernst Ahlgren zum ersten Male in lebendige Berührung mit den Gedanken der neuen Zeit, äußerst radikal in jeder Hinsicht, so wie sie sich in der Seele eines Jünglings gestalten. Nun fand sie einen Ausdruck für die Opposition gegen allen Konventionalismus, alle Heuchelei im Zusammenleben der Menschen, die sie selbst empfunden, aber gegen die so loszustürmen sie sich nie hatte träumen lassen; jetzt wurde sie von gewissen weiblichen Vorurteilen befreit, durch die rückhaltlosen Aussprüche eines jungen Mannes darüber, wie das Leben sich dort draußen unter den Männern ausnahm. Zugleich fand sie diese männliche Individualität sympathisch genug, um ihm ihre weiblichen Anschauungen ohne Scheu entwickeln zu können. Jeder fand in dem anderen eine verwandte Natur, die in vieler Hinsicht dasselbe liebte, dasselbe haßte und vor allem dasselbe hoffte: eine Zukunft als Dichter. Wie wesentlich für ihre Entwicklung ihr diese Freundschaft erschien, geht aus dem folgenden hervor:

»Ein einsamer Mann oder eine einsame Frau entwickelt sich immer einseitig. Es ist nun einmal so, daß die zwei in irgendeinem Verhältnis zueinander stehen müssen, ich meine, einem Verhältnis der Seelen, wenn die Entwicklung so reich werden soll, als die Möglichkeiten des Individuums es gestatten. Das ist meine bestimmte Überzeugung, ja mehr als das, meine ganze Lebenserfahrung. Darum ist es auch mein geheimes Steckenpferd. Ein Mann, der nie gefühlt hat, daß er einem weiblichen Wesen wirklich nahe steht: einer Mutter, Schwester, Gattin, Tochter, Freundin, Geliebten, was es nun sein mag, ich meine, ihr in dieser Weise nahe gestanden hat, daß sie wirkliches, ruhiges, wahres Vertrauen zueinander hatten, ein solcher Mann wird sich nie so harmonisch entwickeln, als er es sonst gekonnt hätte; es gibt feine Schattierungen in seinem Seelenleben, die nie hervorkommen. Und so ist es auch mit uns Frauen, ja vielleicht in noch höherem Grad; denn unsere Erziehung ist von Anfang an darauf angelegt, uns einseitig und beschränkt zu machen. Ich kenne alte Fräuleins, ja ich kenne sogar Frauen mittleren Alters, die immer nur Freundinnen hatten, die ebenso einseitig waren wie sie selbst. Was sind das doch für wunderliche Geschöpfe! Verschrumpft und hartherzig in ihrem Urteil, mit einer eigentümlichen Trockenheit der Seele behaftet. Sie kommen mir immer wie halbe Menschen vor. Es ist nichts Ganzes und Vollständiges in ihnen. Solche Menschen kann ich ihrer guten Eigenschaften wegen schätzen, aber ich kann ihnen nicht gut sein, und nie in alle Ewigkeit kann ich mich ihnen gegenüber anders als fremd fühlen.«

Daß sie beide um diese Zeit einen solchen Freund brauchten, mit dem sie Arbeitspläne, Ideen, Bücher, Lebenserfahrungen auf ganz kameradschaftlichem Fuß besprechen konnten, hatte zur Folge, daß der Briefwechsel einige Jahre hindurch auf beiden Seiten gleich eifrig fortgesetzt wurde.

Dieser Briefwechsel birgt nicht nur rückhaltlose Mitteilungen über die Entwicklung und die Lebenserfahrungen dieser beiden: er ist ein Teil dieser Entwicklungsgeschichte. Ernst Ahlgren zählte allerdings zehn Jahre mehr als ihr Freund und fühlte sich überdies durch Krankheit und Leiden älter als sie war. Aber sie gestand, daß sie dessen ungeachtet manches von dem jüngeren Freunde zu lernen hatte, so wie dieser in anderer Hinsicht von ihr lernen konnte. Schon ihr zweiter Brief, der die Antwort auf ein sehr mutloses Schreiben von Axel Lundegård ist, zeigt, in welcher Richtung ihr Einfluß sich geltend machte. Sie schreibt da unter anderem:

»Das Schicksal ganz und gar zu bezwingen, steht nicht in menschlicher Gewalt, aber gerade ein Stückchen Terrain gewinnen zu können, betrachte ich als einen Sieg, wenn auch neue Kämpfe harren, ja sogar eine Niederlage. Kann man leugnen, daß Austerlitz ein Sieg war, obgleich Waterloo nachfolgte?«

Und sie fährt fort, als Antwort auf die Erinnerung des Freundes an das Ibsensche Wort, daß der Einsame der Stärkste ist, daß auch sie diesen Gedanken verstehe, daß sie wohl das Bedürfnis nach Zusammenwirken fühle, aber nicht in der Art, daß die literarische Linke »eine kompakte Partei bilden solle und das Individuum verpflichtet wäre, das Programm der ganzen Partei zu akzeptieren. Umgekehrt: wir sollen gerade das Recht und die Pflicht des Individuums, es selbst zu sein, verfechten. Dies ist wenigstens für mich das Alpha und Omega.«

In ihrem ersten Briefe hatte sie den jungen Schriftsteller ermahnt, sich eine feste ökonomische Stellung zu verschaffen, »denn bei schwedischen Schriftstellerhonoraren muß man oft seine Überzeugung preisgeben, wenn man nicht verhungern will.« Er antwortete: »Um sich Brot zu verschaffen, ist es in den meisten Fällen nötig, zu heucheln oder seine eigene Überzeugung zu ersticken. Ich würde das tun, wenn ich das Leben eines solchen Opfers wert hielte, aber das finde ich nicht.«

Und mit Bezug auf diese bitteren Worte schreibt sie:

»Ich weiß nicht, was ich darum gäbe, Dir darin widersprechen zu können. Aber ich kann nicht – ich kann nicht. Es ist so, daß man sich selbst zerreißen könnte, wenn man nur daran denkt, wie auch der Wahrheitsliebendste manchmal dazu getrieben wird zu heucheln.

Aber sollen wir darum alles aufgeben? Nein, tausendmal nein! Ich will es wenigstens nicht, nicht so lange ich noch ein bißchen Kraft übrig habe.

Und Du – Du Junger, Freier, Starker – Du solltest zu Kreuze kriechen, wie ein artiges, gezüchtigtes Kind, Dich hinlegen und von allem wegsterben, weil das Leben es nicht wert ist? Aber wenn Du das tust, dann kenne ich Dich nicht, dann verstehe ich Dich auch nicht, und dann weißt Du nicht, was Ibsen mit der »Arbeitsfreude« meint.

Ich gehöre gewiß nicht zu jenen, die meinen, man müsse lieber das elendeste Leben weiterschleppen, als ihm ein rasches Ende machen; aber das bei der geringsten Widerwärtigkeit zu tun, ist jämmerlich.

Du müßtest fragen, was mich ans Leben fesselt. Ich glaube, es ist die Indignation; wenigstens ist es weder Furcht vor dem Tode, noch Liebe zu meinem eigenen Dasein. – – – – – – – – – – – – –

Hast Du nie den schwarzen Trotz gefühlt, der die Hände ballt und sagt: ich kann alles, ich kann mich sogar zur Erde hinab beugen, nur um der Freude willen, mich aufrichten zu können, wenn man es am wenigsten erwartet? Fühlst Du nicht, wie gerade unsere Erbitterung uns zwingt, in den Gang der Ereignisse einzugreifen, wenn die Gelegenheit zur Hand liegt? Siehst Du nicht, daß wir uns das elende Geld erkämpfen müssen, weil es uns Macht gibt und weil Macht Freiheit schenken kann? Und empfindest Du niemals den Einfluß der Naturmächte, die die Griechen Dämonen benannten? Ich meine, diese geheimnisvollen Verwandtschaftsverhältnisse, die zwischen unserem eigenen Wesen und der Arbeit bestehen, die wir auszuführen haben, und die uns ihr mit der Kraft der Naturnotwendigkeit entgegentreiben. An sich ist diese Kraft weder gut noch böse, aber unsere besten Handlungen und unsere schlimmsten fließen aus dieser selben Quelle.

Siehst Du nicht ein, daß man zuzeiten um seiner Überzeugung willen die Zähne zusammenbeißen kann, gerade weil man sie einmal so hinausrufen will, daß sie gehört werden muß? Kannst Du es verwinden, daß jemand von Dir sagte, Du taugtest zu nichts, und ihm dennoch nicht zeigen, daß er damals ein Lügner war? Wenn in einem nicht der Stoff zu Gutem sowie zu Bösem liegt, dann taugt man wahrlich nicht für diese Welt; es bedarf einer gewissen Bosheit, um den Kampf mit dem Leben recht aufzunehmen. Und dann – schließlich – hast Du nie eine so schreiende Ungerechtigkeit gesehen, daß Du weder Rast noch Ruhe fandest, bis sie geahndet war?«

Dieser Brief ist ein charakteristischer Ausdruck für Ernst Ahlgrens Seelenleben in der Zeit, in der ihre schriftstellerische Laufbahn beginnt, und gleichzeitig auch für die ethische und literarische Wechselwirkung, die zwischen den beiden Freunden vor sich ging.

Sie hat selbst gesagt, daß sie niemals Männer in jener lebenswirklichen Art hätte schildern können, die ihre Arbeiten von denen der meisten Schriftstellerinnen so wesentlich unterscheidet, wenn ihr das Leben nicht außer der vielseitigen Kenntnis verschiedener Männercharaktere die Möglichkeit der Zusammenarbeit mit einer männlichen Intelligenz auf der Grundlage vollkommener Gleichheit gegeben hätte. Dieser Kamerad hatte ihr gegenüber weder männliche Arroganz noch männliche Galanterie gezeigt, und dies flößte ihr von Anfang an jenes große Gefühl der Sicherheit ein, das sie wagen ließ, sie selbst zu sein. Er war ebenso streng ehrlich in seiner einsichtsvollen Kritik wie freigebig mit seiner Aufmunterung, und sie fühlte, daß ihr beides not tat, aber vor allem Aufmunterung, um ihr von den vielen Mißerfolgen geschwächtes Selbstvertrauen zu stärken.

Ruhig und frei fuhren sie fort, die Fragen der Zeit, die Bedingungen der Arbeit, die Aufgaben der Ausdrucksmittel der Dichtung zu erörtern. Und sowohl die Art dieser Zusammenarbeit wie des persönlichen Verhältnisses zwischen Ernst Ahlgren und Axel Lundegård – ein Verhältnis, das so ungewöhnlich war, daß es Mißdeutungen nicht entgehen konnte – ist durch das von Lebenswirklichkeit strotzende Werk »Die Mutter« ausgedrückt.

Diese starke Wechselwirkung hätte möglicherweise bei anderen Naturen für die Freiheit beider hemmend werden oder das geistige Wachstum eines der beiden verkrüppeln können. Aber in diesem Falle kam der glückliche Umstand dazu, daß eines jeden Natur gerade das verlangte, was die des andern zu geben hatte, und daß beider Entwicklung so parallel lief, daß keiner um des andern willen den Schritt beschleunigen oder hemmen mußte; ja, sogar wenn jeder für sich ein Stück Weges zurückgelegt hatte, trafen sich beide doch später auf demselben Punkt. Und diese seltene Gleichheit und Gemeinsamkeit der Entwicklung, diese nie versagende Erfahrung eines schließlichen vollen Verstehens – trotz des einen oder anderen Konflikts oder Meinungsunterschiedes, wie er bei ausgeprägten Individualitäten nicht zu vermeiden ist – nährte das Gefühl geistiger Verwandtschaft, das beide immer fester aneinander knüpfte. Diese Freundschaft fand ihr schönes Denkmal in »Die Mutter« und eine Fortdauer auch nach dem Tode in Ernst Ahlgrens literarischem Testament an Axel Lundegård. Diese Hinterlassenschaft des Kostbarsten, das ein Mensch dem andern geben kann – seine Gedanken zu deuten, seine Arbeiten auszuführen, sein Lebenswerk zu vollenden – wurde in dem großen Vertrauen zu des Empfängers Willen und Fähigkeit, die Aufgabe würdig zu lösen, gegeben.

Oftmals, besonders gegen das Ende zu, sprach Ernst Ahlgren ihre Freude darüber aus, daß dieses Lebensverhältnis wenigstens das geworden, was es sein sollte, das gegeben, was es geben konnte. Es hatte keinen tragischen Konflikt, keinen unlösbaren Widerspruch geborgen, sondern von Anfang bis zu Ende die Färbung bewahrt, die sie in ihrem ersten Brief durch das Anredewort Kamerad angab – die Anrede, die auch ihren letzten Brief an den Freund einleitet, der in vollem Verständnis ihre Arbeitsfreude auf dem Erntefeld geteilt, auf dem sie ihn nun allein zurückließ. Keiner hatte für den andern je der erste und einzige sein wollen. Vielleicht war es gerade dadurch möglich, daß sie einander so viel wurden?

 

Die Zeit von 1883-1886 war Ernst Ahlgrens glücklichste Arbeitszeit. Im Frühling 1884 kam »Aus Schoonen« heraus und spannte die Erwartungen in bezug auf das nächste Buch der Verfasserin sehr hoch. Und dieses war »Geld« (1885) – von vielen noch als Ernst Ahlgrens bestes Werk betrachtet – das mit einem Schlage ihre Popularität begründete. Der Erfolg war um so echter, als er im wesentlichen von der Kritik unbeeinflußt war; das Publikum nahm sich – sowie später bei »Frau Marianne« – die Freiheit, enthusiastisch zu sein, bevor noch ein angesehener Kritiker die Erlaubnis dazu gegeben. Und leider ist das Lesepublikum nicht oft so wagemutig.

Drittes Kapitel

Es war ein Gesellschaftsabend in Neu-Idun im Herbst 1885. Ein lebhaftes Gespräch war in vollem Gang, als sich unter all den wohlbekannten Gesichtern eine hohe, schwarzgekleidete Gestalt zeigte, eine Gestalt, um die das Gemurmel mit einem Male gedämpft wurde. Wer war diese Fremde?

Ein edler Kopf, klein, feingeformt wie der einer antiken Statue – wie schön saß er auf der schlanken, gutgewachsenen Gestalt. Das dunkle Haar war zu einem einfachen, griechischen Knoten aufgenommen. Die starken, wie mit Kohle gezeichneten Brauen, die offene, intelligente Stirn, die kräftig geformte Nase, der Mund mit den lieblichen und zugleich energischen Linien – all dies verriet Mut und Lebenskraft. Aber eine tiefe Furche war zwischen die einander naheliegenden Augenbrauen gegraben; sie mußten sich oft in Schmerz zusammengezogen haben; feine Falten, so wie sie nur jahrelanges Leiden zeichnet, zeigten sich um den Mund; und Melancholie lag auf dem Grunde dieser beobachtenden, stahlblauen Augen. So müßte die tragische Muse dargestellt werden oder Elektra – ein Lächeln lockte gerade da einen so schönen Ausdruck auf die strengen Züge, daß man gleich hinzufügte: »oder Antigone.«

»Frau Victoria Benedictson, das heißt, Ernst Ahlgren!«

Sah sie so aus, die Postmeistersfrau aus dem schoonischen Kleinstädtchen, sie, die sich hinter dem männlichen Pseudonym verbergen sollte?

Dann mußte ihre eigene Leidensgeschichte noch ergreifender sein als irgendeine der Leidensgeschichten, die sie geschildert.

Etwas von dieser ihrer eigenen Geschichte erfuhr man gleich, als sie die neben ihr lehnenden Krücken ergriff und sich zu einem Sofa begab. Und doch geschah das mit so elastischer Anmut, daß man kaum bemerken konnte, daß der Weg mit Hilfe der damals unentbehrlichen Stützen zurückgelegt wurde. Freiheit und Kraft war in so hohem Grade der Gesamteindruck, den Ernst Ahlgren mitteilte, daß die Krücken nie zu ihr zu gehören schienen, sondern jedesmal gleichsam nur zufällig gebraucht wurden. Ein andrer disharmonischer Zufall schien es auch, daß dieses Wesen aus der Antike in breitem schoonischen Dialekt sprach. Doch nachdem man es gelernt, den gebrochenen Klang der Stimme zu deuten, nachdem man vernommen, wie das Herzklopfen bei der geringsten Bewegung diese Stimme erzittern ließ, da wurde der schoonische Dialekt gleichsam zur Linderung: er gab dieser empfindsamen Scheu wenigstens eine Maske der Alltagsruhe und Zuversicht.

Das einfache und stilvolle Kleid, das sie trug, war ein Trauerkleid. Etwas anderes zu tragen, war ihr in den letzten Jahren eine wahre Selbstüberwindung, so stark war damals ihr Bedürfnis, auch durch das Äußere ihr Inneres auszudrücken.

Wer sich in einer Gesellschaft Ernst Ahlgren in der Hoffnung auf ein Gespräch näherte, wurde enttäuscht. Niemand schwieg bei größeren Zusammenkünften unerschütterlicher als sie; und auch bei kleineren mischte sich ihre Stimme nur selten in ein lebhaftes Gespräch. Nur unter vier Augen war sie imstande, sich reich mitzuteilen. Aber wie verstand sie es dafür zu lauschen! Mit welch klugem Blick folgte sie der Wechselrede; mit welch blitzschnell verstehendem Lächeln begegnete sie einem echten Gefühl, einem eigenartigen Gedanken; wie dankbar und wie leicht war es, das halblaute, aber kindlich perlende Lachen hervorzulocken, das so rührend war, weil es all die unterdrückten Freudequellen verriet, die auf dem Grunde ihres Gemüts verborgen lagen.

Ernst Ahlgren besaß eine seltene Gabe, einen Kreis um sich zu versammeln. Als sie sich in Stockholm ein kleines Heim für längeren Aufenthalt eingerichtet hatte, war es nur selten leer in ihren zwei kleinen Zimmern, wo die Einfachheit ein solches Gepräge ruhiger Vornehmheit und warmer Gemütlichkeit durch die Hausfrau selbst erhielt, die oft auf einer Chaiselongue halb ausgestreckt lag – die für ihr krankes Knie linderndste Stellung – während irgendeine kleine Gruppe oft sehr verschiedener Personen um sie plauderte.

Sie machte keinen Versuch, Salon zu halten oder zu geistigen Turnieren anzuspornen, um selbst als Preisrichterin aufzutreten. Sie belebte den Kreis nur, weil sie selbst so ganz mit darin war; weil sie ein so echtes Interesse für die Persönlichkeit eines jeden hatte, daß sie Mitteilungen hervorlockte, durch die das Beste in jedem Charakter ungezwungen zum Ausdruck kam. Sie besaß eine so geschmeidige Sympathie, eine solche Freiheit von liberalen oder konservativen Vorurteilen und Dogmen, daß weitgetrennte Ansichten bei ihr wohlwollende Aufnahme fanden. Aber wer sich dadurch verleiten ließ, an volle Gesinnungsverwandtschaft zwischen sich und ihr zu glauben, trug selbst die Schuld. Denn Ernst Ahlgren kämpfte fanatisch dafür, nie zu irgendeiner Partei gezählt zu werden; Freiheit war ihr Lebensbedingung, und sie suchte ihren Freunden stets klar zu machen, in welchem Grade sie ein Mensch des augenblicklichen Eindrucks war, wie ganz sie in dem Gegenwärtigen aufging, welches Vermögen sie hatte, das Wesentliche jedes Gedankengangs aufzunehmen, der ihr den Eindruck einer echten Überzeugung machte.

Daß es den Menschen so schwer fiel, dies von ihr zu glauben, beruhte hauptsächlich auf ihrem äußeren Wesen, das die feurige, impulsive Künstlernatur unter ruhiger, kühler Selbstbeherrschung verbarg, sie so gut verbarg, daß man nicht leicht ahnte, daß unter dieser äußeren Erscheinung – die so augenscheinlich einer ungewöhnlich gesammelten, in sich einigen Persönlichkeit, einem unbestechlichen und unerschütterlich überzeugten Prinzipienmenschen anzugehören schien – eine unermeßliche Tiefe unmittelbarer Leidenschaft mit stündlich wechselnden, aber immer intensiven Stimmungen wogte. Sie charakterisiert sich selbst mit großer Klarheit in folgendem Brief:

»Ich sage jetzt und ein für allemal, daß ich zu ausschließlich Künstlerin bin, um »Fragen« theoretisch nehmen zu können. Für mich wird alles relativ, ich betrachte jede Theorie von verschiedenen Seiten, aber immer in einem bestimmten Verhältnis zu dem oder dem Individuum oder einer so und so beschaffenen Situation. Wollte ich als Moralphilosophin auftreten, dann wäre das ein furchtbarer Mangel an mir, aber meine Aufgabe ist es nicht, meiner Zeit zu predigen, sondern sie abzubilden. Ich habe die leidenschaftlichste Liebe zu Fleisch und Blut. Was soll ich mit Dogmen!

Meine Sympathie für alles, was menschlich ist, verleitet mich so leicht, mit den Augen des Menschen zu sehen, mit dem ich spreche, ich gerate in seinen Gedankengang, natürlich am allermeisten, wenn es ein Mensch ist, den ich lieb habe. Das ist nicht Falschheit gegen die Abwesenden. Es ist auch nicht so recht Unselbständigkeit, denn ich kann ja manchmal einsam einer Übermacht gegenüberstehen, das habe ich ja bis in die letzten Jahre getan; aber da handelt es sich nicht um allgemeine Sätze, da handelt es sich um Taten, es handelt sich um das lebendige Leben. Ich will auch nicht nach gewissen Menschenformen gegossen sein; ich bin so ganz davon ausgefüllt, die lebenden Menschen, jeden für sich, als Individuum zu studieren, ich schreibe nicht für eine Tendenz, ich kann meine ethischen Prinzipien nicht als System aufstellen, ich will es nicht, es kommt mir nicht zu; will man ein solches System aus meinen Äußerungen, so wie sie flüchtig gesprächsweise auftauchen können (und ich spreche nie so leicht wie brieflich), destillieren, so wird das System keinen Pfifferling wert sein. Ich habe ja Meinungen und Grundsätze, aber die sind gewissermaßen für den Privatgebrauch. Ich handle danach und nach meiner Natur, aber ich fühle durchaus nicht das lebhafte Verlangen, sie anderen einzuimpfen. Alles andere wird von meinem Durst verschlungen, die Persönlichkeit, mit der ich spreche, fassen zu können. Ich will etwas herausholen und nicht geben. Meine Natur ist so beschaffen. Ich brauche Stoff, Stoff, Stoff! Ich brauche Mannigfaltigkeit, Schattierungen, Leben. Sowie es gilt, für oder gegen eine abstrakte Idee zu kämpfen, bin ich vollkommen wertlos. Als Parteimensch bin ich untauglich. Ich finde, daß beinahe jeder Mensch, von seinem Gesichtspunkt betrachtet, recht hat, und so werde ich mitgerissen, und sehe die Sache solange ich in dem Gedankengang dieses Menschen bin, aus diesem Gesichtspunkt an. Das ist nicht Wankelmut. Wenn es sich darum handelt, für meine eigene Rechnung einen Entschluß zu fassen, so sehe ich auch mit meinen eigenen Augen.«

Besonders bedeutungsvoll ist ihre Parteilosigkeit in der Frage des Verhältnisses zwischen den Geschlechtern – einer Frage, die in ihren letzten Lebensjahren einen so hervorragenden Platz in der öffentlichen Diskussion einnahm und in der man glaubte, daß Ernst Ahlgren einen äußerst radikalen Standpunkt hätte.

Sie schreibt über diesen Gegenstand:

»Es interessiert mich ungeheuer, beide Teile zu hören, aber glauben, daß es ein absolut Rechtes gibt, das in allen Lagen und auf alle Individuen angewendet werden kann, wenn es sich um die Geschlechtsfrage handelt ... nein, das kann ich nicht. Wenn man mich totschlagen wollte, könnte ich nicht sagen, zu welchem »Lager« ich gehöre. Ich lebe wie eine Asketin, und ich verabscheue Unsittlichkeit. Jawohl. Aber ich glaube nicht, daß jeder Mann, der zu einem käuflichen Weibe gegangen ist, ein liederlicher Gesell sein muß, und ich weiß, daß so mancher, der nur mit seiner Frau lebt, einer sein kann. In solchen Dingen kann ich anders sehen als die meisten Frauen. – – Die sind beinahe immer so einseitig, dogmatisch, konventionell.« – –

Ihre relative Auffassung aller Fragen machte sie jeder theoretischen Aussprache, sei es in der Form der Zustimmung oder des Protestes, äußerst abgeneigt Sie motiviert ihre Abneigung folgendermaßen:

»Über meine Handlungen bin ich Herr, kälter Herr als die meisten Menschen, aber mein Sinn wechselt wie Wind und Wellen, ich kann nicht wie ein Wegweiser immer gleich dastehen, den anderen die Richtung zeigend. Ich habe zuviel von der gesetzlosen Natur meines Vaters in den Adern. Das macht mich vielleicht zur Schriftstellerin. (Ich meine, Darstellerin des Lebens, nicht Predigerin.) Den meisten Menschen fehlt die Fähigkeit, etwas zu erleben, ich meine, mit solcher Intensität zu erleben, daß das Erlebte die Lebenskraft hat, sich zu selbständigen Bildern weiterzuentwickeln. Ich habe diese Intensität. Und dann bin ich nicht feig; ich habe keine Angst vor dem Ungewöhnlichen, es lockt mich. Ich meine, bei andern. Selbst tue ich, was ich kann, um wie eine aus dem Dutzend zu werden.«

 

Während dieses selben Stockholmer Aufenthalts, wo sie so gierig wie eine lange dürstende Erde das Wasser aufsaugt, neue Eindrücke zu trinken schien, und zwar mit einer so frischen Teilnahme an den Interessen anderer, daß man ihre persönliche Geschichte für immer abgeschlossen und sie selbst für die Zukunft ganz ihrer Dichtung hingegeben glaubte – damals kämpfte sie schon bewußt gegen die Versuchung zum Selbstmord an. Sie war in der Krankheit der Freiheit durch den Tod so nahe gewesen, daß die Freiheitssehnsucht noch immer um die Todesgedanken kreiste.

Eben der Eifer, mit dem sie in Stockholm Verbindungen mit Menschen anknüpfte, Bekanntschaften suchte, sich Eindrücken hingab, war – wie stets bei ihr – der Versuch, sich aus vielen feinen Fäden hier im Leben ein Nest zu bauen. Sie wollte kein »windgejagter Sturmvogel« bleiben, sie wollte das Gefühl der Leere überwinden, das sie als tödlich empfand.

Wenn Ernst Ahlgren am Leben geblieben wäre, so würde sie wahrscheinlich dauernd zur Stadtbewohnerin geworden sein; und welche Eindrücke dann ihre Dichtung vorzugsweise wiedergegeben hätte, läßt sich jetzt unmöglich entscheiden. Immer mehr und mehr fürs Theater zu schreiben – das sie leidenschaftlich liebte – war eine der Aufgaben, für die sie sich ausbilden wollte. Aber daß sie sich in ihrem damaligen Entwicklungsstadium wesentlich als Schildererin der Provinz fühlte, steht fest. Sie betrachtete diese als ihr eigentliches Gebiet, weil sie in den Jahren, wo sich die Eindrücke am schärfsten fixieren, den Jahren der Kindheit und der Jugend, von dort ihre stärksten Eindrücke menschlichen Lebens empfangen hatte. In dieser Beziehung sowie in manchem anderen – z. B. der strengen Arbeitsmoral, dem tiefen Verständnis alles Menschlichen, dem herzlichen Humor und dem optimistischen Glauben ans Leben – glich sie George Eliot, mit deren früherer Entwicklungsgeschichte die Ernst Ahlgrens auch verschiedene Ähnlichkeiten aufweist. Aber George Eliot wurde zur rechten Zeit all das zuteil, was Ernst Ahlgren ihr ganzes Leben lang entbehren mußte. Wer weiß, wie nahe Ernst Ahlgren sonst jener Schriftstellerin gekommen wäre, deren Arbeiten sie erst in den letzten Jahren ihres Lebens kennen lernte, aber die dann die einzige Dichterin war, welche ihr leidenschaftliche Bewunderung und Verehrung einflößte.

Was die Weltliteratur im übrigen betrifft, so hatte sie das Gefühl, von Shakespeare und Dickens, Flaubert und George Sand, Turgenjew und Tolstoj am meisten gelernt zu haben. Unter den Gründen, die sie einige Monate vor ihrem Tode dafür anführte, daß sie es versuchen wollte, zu leben, war der, Goethe zu lesen, der auf ihrem Regal stand, aber den sie sich noch nicht hatte aneignen können. Sie litt tief unter ihrer unvollständigen literarischen Bildung, darunter, daß ihr sowohl die Mittel fehlten, sich Bücher anzuschaffen, als die Zeit, die, welche sie besaß, gründlich zu studieren. Denn auch in der Aneignung der Produktion anderer arbeitete sie langsam.

In bezug auf ihre eigene Produktion erkannte Ernst Ahlgren, daß ihre Stärke in der Schilderung dessen liege, worin sie sich gründlich eingelebt, hingegen nicht darin, eine flüchtigere Stimmung festzuhalten, einen oberflächlicheren Eindruck wiederzugeben. Und was die Arbeitsmethode selbst anlangt, so verwarf sie ganz und gar die Manier, das Erlebte ohne Auswahl zu schildern. Sie komponierte ihre Arbeiten ungemein genau. Und sie schilderte ihre besondere Art, den Gegenstand anzupacken, als sie sagte, sie liebe es, eine Aussicht zu eröffnen, dann das Laub einen Teil davon verdecken zu lassen, dann wieder eine Aussicht zu schaffen – nur ungerne führe sie den Leser über einen offenen Weg, wo alles gleich deutlich zu sehen ist.

Auch in der Ausarbeitung war sie die sorgsam prüfende und suchende Künstlerin. Sie kämpfte mit den Worten, bis sie den treffendsten Ausdruck fand; sie fügte hinzu und nahm weg, bis sie die lebenswirklichste Darstellung erreicht hatte. So wie der Maler seine Mappe mit Skizzen füllt, von denen die wenigsten nachher Bilder werden, so hatte Ernst Ahlgren ihr »großes Buch«, in dem sie Gespräche, Naturbilder, Charakteranalysen unmittelbar nach dem Leben aufzeichnete, alles als Vorstudien zu ihren Arbeiten, denen sie ohne dieses gewissenhafte Festhalten der Eindrücke keinen so echten Wirklichkeitsgehalt hätte geben können, während sie gleichzeitig dadurch, daß sie den Stoff mit genialer Unterscheidungsgabe umbildete, das Gepräge der Zufälligkeit entfernte und ihren Dichtungen den Stempel des Künstlertums aufdrückte.

Folgender Ausspruch von ihr selbst gibt das allerbeste Bild ihrer Arbeitsweise:

»Meistenteils bekomme ich die ganze Geschichte eines Charakters, ich bekomme sie blitzartig, wie als Geschenk. Aber dann entfaltet sie sich nach und nach, ich weiß kaum wie, und bildet von selbst Szenen und Situationen, die gleichsam Ruhepunkte – Fakten – werden, wenn ich zu schreiben anfange. Diese erste Arbeit im Kopfe, ohne alle äußeren Mittel, das ist etwas so Gesundes und Stärkendes, das lenkt die Gedanken von den eigenen kleinen Sorgen ab, das erweitert den Blick fürs Leben. Aber wenn dann die Feder aufs Papier gebracht wird, dann brauche ich meine ganze Willenskraft, denn ich bekomme nicht immer die Worte geschenkt, ich muß sie aus meiner eigenen Seele hervorpressen. Das ist Arbeit und Selbsttortur, aber diese Arbeit liebe ich doch. Wie kann ich unter meinem Wortvorrat suchen und tasten und wägen, wenn es gilt, den richtigen Ausdruck für das Eigentümliche im Wesen eines Menschen zu finden! Meine Erinnerung des Erlebten ist eine Stimmgabel, aber wie schwer ist es nicht, unter all den Worten gerade das herauszubekommen, das den richtigen Ton gibt! Ich muß das Ohr anlegen und horchen und wieder horchen. Aber wenn es dann stimmt – welcher Genuß! Das kann nur ein Autor begreifen. Für gewöhnliche Leute ist ein Synonym so gut wie das andere; mir ist es nie so, unter allen Worten kann es nicht mehr als eines geben, das das richtige ist, und manchmal ist selbst dieses einzige nicht vorhanden. Ich bin verzweifelt, wenn eine fremde Sprache einen vollgültigen Ausdruck für das hat, was ich sagen will, während er meiner eigenen Sprache fehlt, »s'acharner à« – ist ein Ausdruck, den ich, was eine gewisse Art von Sinnlichkeit betrifft, mit Gold aufwiegen möchte, weil er mit »chair« – Fleisch und Blut – verwandt ist; durch eine unbewußte Ideenassoziation gibt er ein wildes und kräftiges Etwas, das ich im Schwedischen nicht herausbringen kann. Und ich ärgere mich krank, daß ich für den kleinen Mund meiner jetzigen Heldin Frau Marianne. keinen solchen Ausdruck wie »boudeuse« finden kann; alle unsere entsprechenden Worte sind so schwerfällig; ich habe im Lexikon nachgeschlagen und nichts gefunden. Darum sollte es erlaubt sein, gewisse gute Provinzialismen aufzunehmen, um mehr Schattierungen zu bekommen.«

 

Diese überaus gewissenhafte Arbeitsmoral war Ernst Ahlgrens einziger Beitrag zur – Lösung der Frauenfrage.

Ihre eigenen Lebenserfahrungen hatten sie zu einer warmen Anhängerin jeder Bestrebung gemacht, die auf ökonomische und rechtliche Gleichstellung der Frau mit dem Manne abzielt.

Aber sie war der Ansicht, daß man durch eine solche Befreiung noch sehr wenig gewonnen hätte, wenn ihr nicht eine innere Befreiung der Frauen folgte, in erster Linie von Vorurteilen, aber auch von unberechtigten Ansprüchen. Und zu diesen unberechtigten Ansprüchen rechnete sie die Meinung, daß nur die Verhältnisse, nicht auch die Naturanlagen, den Unterschied zwischen der geistigen Produktivität des Mannes und der Frau so groß gemacht haben. Sie glaubte, daß die Frau auf dem Gebiet der geistigen Arbeit sich nur ausnahmsweise mit dem Manne auf gleicher Höhe halten könne.

Alle Verherrlichung der Frauenarbeit als solcher war ihr widerwärtig; erst wenn die Arbeit der Frau unparteiisch beurteilt würde, wie die der Männer, erst wenn die Frauen dieselben Ansprüche an sich selbst stellten, wie sie die Männer in bezug auf gewissenhafte, produktive Arbeit aneinander stellen, erst dann, fand sie, könne von Gleichheit die Rede sein. Als Schriftstellerin mit Rücksicht darauf beurteilt zu werden, daß sie eine Frau war, empörte Ernst Ahlgren wie eine Beleidigung, selbst wenn das Urteil lobend war. Und weiblicher Pfuscherei gegenüber war sie selbst ein unbarmherziger Richter.

Diese Arbeitsmoral Ernst Ahlgrens ging bei ihr bis in die Fingerspitzen; sie drückte sich sogar in ihren Manuskripten aus, die in jedem kleinsten Detail Schönheitssinn und Gewissenhaftigkeit verrieten, und in denen die perlrunde, feste Handschrift so gleichmäßig und klar dahinfloß. Auch in dieser Hinsicht sprach sich Ernst Ahlgrens innere Entwicklung in der äußeren aus. Ihre frühere Handschrift war deutlich, aber fast kindlich und gar nicht ungewöhnlich; je mehr sie im Schreiben Herr über Inhalt und Form wurde, desto charakteristischer wurde auch die Handschrift, sie wurde breit und kräftig mit einer ganz besonderen Individualität in den geraden Buchstaben, die so leicht leserlich waren wie Druck.

Einen noch tieferen Abscheu, als ihr Pfuscherei und leere Ansprüche einflößten, empfand Ernst Ahlgren gegen Konventionalismus und Halbheit, vor allem bei Frauen, aber im übrigen, wo immer sie sie antraf. Jeder anderen Lebenserscheinung bot sie mitfühlend die Hand; diese allein ließen sie zu den Waffen greifen.

Ganz oder halb – in der Arbeit und in der Liebe – das war für sie die Frage, wenn es sich um den Charakter eines Menschen handelte. Das entschied über ihre Sympathie, während die Ansichten so verschieden als nur möglich sein konnten, ohne daß dies ihre Freundschaft beeinträchtigte, vorausgesetzt, daß man nicht bevormundend und dogmatisch ihrer eigenen individuellen Freiheit Fesseln anlegen wollte.

Hatte sie zwanzig Jahre hindurch vergeblich daran gearbeitet, so wie andere zu werden, so wollte sie jetzt, sagte sie, ihr übriges Leben wagen, sie selbst zu sein.

Bei der Anknüpfung jedes persönlichen Verhältnisses war sie in der Regel langsam. »Scheu und Warmblütigkeit lagen miteinander im Kampfe.« Die Furcht vor der Kühle anderer, auch vor einem Umschlag in ihrer eigenen Gesinnung veranlaßte sie, eine aufkeimende Zuneigung zurückzudrängen und es der Zeit zu überlassen, das Verhältnis zu festigen, ehe sie sich frei gab. »Man kennt nicht einmal seine eigene Natur, bis sie sich in Handlungen umgesetzt hat,« ist eins ihrer vielen tiefsinnigen Worte. Aber wenn sie endlich jemandes Freundin wurde, war sie wie selten jemand offen und dankbar für Freundlichkeit. Äußerst charakteristisch für ihre Natur ist, was sie einmal von einer beginnenden Zuneigung sagt: »Jemanden lieb haben heißt aufs neue zum Kinde werden, und jung sein, das heißt fühlen, daß man arbeiten kann.«

Die Arbeit – das war für sie das erste und letzte in ihrem ganzen Leben außer einigen persönlichen Verhältnissen.

Man steht da vor einem neuen Gegensatz in Ernst Ahlgrens Persönlichkeit. Während sie intellektuell so modern angelegt war, so geschmeidig, sich vielen abweichenden Temperaments- und Meinungsschattierungen so gut anpassen konnte, war sie in ihrem eigenen, innersten Gemüt eine sehr exklusive Natur, ganz ohne die Möglichkeit, ihre gewaltsam starken Gefühle zu teilen oder zu dämpfen, eine Natur ohne Ersatzmöglichkeiten.

Ein kleiner Zug beleuchtet diese ihre Fähigkeit, sich einem einzigen Verhältnis leidenschaftlich hinzugeben. Sie hat in »Die alte Sèvresporzellangruppe« ihren eigenen Schmerz geschildert, als dieses kleine Kunstwerk aus dem Heim fortverkauft wurde. »So lange diese Gruppe da war, sah ich das, was im Hause unbehaglich und unschön war, kaum; die Gruppe gab allem ein festliches Gepräge; ich suchte, so gut ich konnte, alles zu einem würdigen Hintergrund für dies eine Kunstwerk zu ordnen. Als das weg war, ließ ich alles sein; es lohnte ja nicht mehr die Mühe.«

Es waren jedoch nicht viele, die bis auf den Grund von Ernst Ahlgrens Natur sahen und dort diesen Wesenszug entdeckten.

Sie machte umgekehrt im allgemeinen den Eindruck, von vielen nehmen und sich nach vielen Seiten teilen zu können. Von außen gesehen, war dies auch der Fall; im Innersten bedeuteten sehr wenige Menschen etwas Wesentliches für sie. Sie konnte anderer Freuden teilen und ihre Schmerzen fühlen, so tief, daß auch dies ihre Widerstandskraft gegen ein Dasein aufbrauchte, das viele Möglichkeiten zum Mitleiden, doch wenige zur Mitfreude gibt. Aber ihr innerstes Wesen war von jener Art, wie es in »Die Mutter« geschildert wird. Selbst schrieb sie:

»Solche Menschen wie ich sollten bei der Geburt totgeschlagen werden, sie passen nicht unter die anderen. Sie sind nur Menschenhälften. Wo andere Haut und Knochen haben, da haben sie nur ein ganz dünnes Häutchen, und ihr Herz hängt sich an eins, ein einziges Verhältnis, werden sie daraus losgerissen, so verbluten sie daran.«

Der Kreis, an den Ernst Ahlgren sich in Stockholm am innigsten anschloß, war jene Gruppe von Schriftstellern, die man »Das junge Schweden« nannte; sowohl ihre Lebensanschauung wie ihre persönlichen Sympathien führten sie dorthin. Und namentlich mit Gustaf af Geijerstam, »dessen helle und offene Natur,« wie sie fand, ihre eigene »düstere und verschlossene« in so wohltätiger Weise ergänzte, stand sie seit 1885 in einem vertrauten Freundschaftsverhältnis. Aber obgleich sie Jungschweden am nächsten stand, wollte sie doch ebensowenig in einer Schar mit ihren Gesinnungsgenossen im Kampf gegen die alte Lebensanschauung auftreten, als sie von den Alten gegen die Jugendgruppe ausgespielt werden wollte, der sie am nächsten stand. Diese Einsamkeitsleiden der Selbständigkeit hatten keinen geringen Anteil an ihrer wachsenden Unlust, das Leben zu leben.

 

Nachdem Ernst Ahlgren im Spätwinter 1886 von Stockholm nach Hörby zurückgekehrt war, begann sie an »Frau Marianne« zu arbeiten und genoß einen der relativ glücklichen Zeitabschnitte, wo sie über eifriger Arbeit und auf langen, einsamen Wanderungen auf ihrer lieben Heide oder in einer schattigen Allee des hochgelegenen Kirchhofs, von dem man eine weite Aussicht über die schöne Gegend mit dem Ringsee hatte, kleinliche Unbehaglichkeiten, die fehlende Sympathie ihrer Umgebung, die Enge der Kleinstadtverhältnisse vergessen konnte. Aber sie sehnte sich stets nach größeren Weiten.

»Ich fühle,« schreibt sie, »ein unbändiges Verlangen. Ich wollte auf einer Höhe hausen, mit weitem Blick und Sonne über der Ebene. Ich wollte das Meer wie eine scharfe Messerschneide unten am Horizont sehen, das ist es, woran ich von Kindheit an gewöhnt war. Und wir Menschen der Ebene brauchen eine grenzenlose Fläche, um uns frei zu fühlen, es darf nichts geben, was den Blick hemmt. Da ist es, als würde zugleich der Gedanke abgeschnitten. Und ich will, daß der meine weit, weit fliege – so weit er kann.«

Eine Gabe, die sie zu dieser Zeit von einem weiblichen Mäcen empfing, ermöglichte es ihr, sich ein paar kleine Zimmer in einem Seitengebäude einzurichten. Bei jener frischen Genußfähigkeit, jenem Vermögen zu kindlicher Freude, das in ihrer düsteren Natur lag, so wie Sonnenglitzern über Meerestiefen, konnte ein solches Ereignis eine reiche Freudenquelle sein. Ein wirkliches Schreibzimmer zu besitzen – ein Zimmer mit Bücherborden, Ruhesofa, Teppich und Hängelampe, aber vor allem mit einem richtigen Schreibtisch – war ein so heißer Wunsch von ihr gewesen, daß seine Erfüllung ihr traumhaft herrlich dünkte.

In einem Briefe, den sie aus Hörby schreibt, nachdem sie aus Stockholm zurückgekommen ist, konzentriert sich gleichsam alles, was ihr in den häuslichen Verhältnissen wohltut und was sie quält. Sie spricht von der Zuneigung der Kinder, des Mannes und der Dienerin, von deren Bemühungen, ihren Wünschen zuvorzukommen; vom Garten mit seinen Tannen im Hintergrunde, »durch die der Himmel wie durch eine dunkle, durchbrochene Spitze sichtbar wird und wo sonst alles wogendes Grün ist«; sie spricht von ihrem Entzücken an der Stille, die sie als ihr wahres Element liebte; von ihrer ungestörten Arbeitsruhe und der Freude, allen Widerstand gegen ihre literarische Tätigkeit besiegt zu haben.

Aber sie spricht auch von ihrer Unruhe, nicht von ihrer Arbeit leben und nicht arbeiten zu können; von dem großen Einsamkeitsgefühl, das dadurch hervorgerufen wurde, daß niemand in ihrer Umgebung dasselbe liebte wie sie, und was sie liebten, dafür hatte sie ihnen die Augen geöffnet. Das gab ein Gefühl der Armut und des Stillstands. Und dann die Alltäglichkeit der Typen ihrer Umgebung, und das Bedürfnis nach »etwas von außen, etwas Neuem, Neuem, Neuem,« darnach, Leben durch alle Poren einzusaugen. Aber vor allem quälte sie ein Widerwille gegen den Ort selbst, der daher kam, daß sie dort »zu einer Zeit, wo sie jung und froh sein sollte, soviel gelitten hatte.«

Dieses Anziehende und Abstoßende in den häuslichen Verhältnissen macht Ernst Ahlgren in den letzten Jahren so veränderlich. Bald hört man warme Ausdrücke des heimischen Behagens, bald heftige Unwillensausbrüche gegen Hörby, das sie »erstickt«; bald sehnt sie sich hin, bald kann sie nicht rasch genug von dort wegkommen. Diese wechselnden Stimmungen stehen ganz gewiß im Zusammenhang mit dem immer mehr zunehmenden Seelenleiden, das die geänderten Verhältnisse in erheblichem Grade gesteigert zu haben scheinen. Es war, als hätte sie nicht Seelen- oder Körperkräfte genug gehabt, um die neuen, reichen Eindrücke zu ertragen, nach denen sie sich stets gesehnt; sie brachten sie aus dem Gleichgewicht, sie überanstrengten und lockten sie zu gleicher Zeit.

Die Überanstrengung trieb sie nach Hörby zurück, wo sie stets für eine Zeitlang die Ruhe wohltuend empfand.

Aber dann wurde sie wieder fortgetrieben durch die Schwere der sie umgebenden Luft, durch die Pein der Nadelstiche, die sie mit jedem Male, wo sie nach längerer Abwesenheit zu kurzem Besuch wiederkehrte, immer reizbarer empfand. Sie hatte ihre Natur solange unterdrückt, daß deren Forderungen, auf ihre eigene Art zu leben, nun heftig, wenn man will, egoistisch hervorbrachen.

Denn sie hatte in dem alten Heim noch unabgeschlossene Mutterpflichten, die sie einsah. Aber sie sah zugleich ein, daß es nun galt, ihr eigenes, geistiges Dasein, ihren Dichterberuf zu retten – und diese beiden Mutterpflichten vermochte sie nicht zu erfüllen. Außerdem gehörte sie nicht zu den Menschen, bei denen die natürlichen Bande Einfluß auf das Gefühl oder das Pflichtgefühl haben. Nicht die Liebe hatte sie zur Mutter gemacht. Und darum empfand sie für das Kind, das sie ohne die eigene freie Wahl ihres Wesens geboren, keine mütterlichen Gefühle.

Familienbande hatten für sie, nach ihren eigenen Worten, stets jeder Bedeutung entbehrt.

Daß für ihr Gefühl der dichterische Beruf die heiligste Mutterschaft war, dürfte aus folgendem Ausspruch hervorgehen:

»Alles, was mich nicht in meiner Arbeit hindert, was es mir nicht versagt, unter den Gestalten zu leben, die meine eigene Welt bevölkern, ist für mich leicht zu tragen. Wenn ich mich zerrissen fühle, wie ein gejagtes, gehetztes Tier, dann ist es für mich Ruhe und Frieden, in meine Arbeit zu versinken oder stundenlang auf dem Friedhof herumzugehen und Szene um Szene von dem, was kommen soll – wenn ich am Leben bleibe – sich vor meinen Augen entrollen zu sehen, diesen wohlbekannten Stimmen zu lauschen. Dadurch werde ich wieder ruhig und stark. Kein Unglück wäre größer, als wenn jemand mir das nehmen könnte. Glaube nun nicht, daß ich überspannt oder eigensüchtig bin. Ich bin es sehr wenig, und ich habe auch nicht so sehr viel Ehrgeiz. Meine Schreibsucht ist nicht groß, ich arbeite langsam, beinahe mit Anstrengung. Aber es regen sich Menschen in meinem Innern, Menschen, die ich gesehen, oder Menschen, die sich, ich weiß nicht wie, geformt haben; ich höre sie, ich sehe sie, für mich sind sie lebend wie aus Fleisch und Blut. Der bloße Gedanke, sie sterben zu lassen, will mich selbst ersticken, es ist, als legte ich Hand an etwas wirklich Lebendes, an alles, was mir teuer und lebenswarm gewesen, es wäre für mich dasselbe wie für Hedwig, die Wildente zu töten.

Verstehe mich nun recht: ich glaube nicht, ein Genie zu sein; ich kümmere mich ganz einfach nicht darum, was ich bin, wenn ich nur meiner eigenen Natur folgen darf, und die besteht darin, alles umzuschmelzen und neu zu formen, was meine Sinne auffassen. Ob ich in meinem Beruf hervorragend oder unbedeutend sein werde, das weiß ich nicht. Aber daß dieser Beruf der meine ist, das weiß ich. Und meines eigenen, redlichen, festen Willens bin ich sicher. Im übrigen möge kommen, was da wolle. Ich bin ein kleiner Radzahn an seinem bestimmten Platz. Der Radzahn fragt nicht warum, sondern gräbt sich ein, solange er selbst zusammenhält.«

Wäre ihre einzige Leidenschaft wirklich die Arbeit gewesen, dann hätte sich ihr Leben von jener Zeit an immer mehr vereinfachen können. Aber sie hatte daneben die leidenschaftlichste Sehnsucht nach persönlichem Glück, den jugendlichsten Glauben an den Reichtum des Lebens, zugleich mit dem Gefühl, daß sie zu altern anfing, ohne etwas von all dem besessen zu haben, wofür sie mehr als die meisten geschaffen war und wonach sie sich darum sehnte.

So wurde ihr Leben im Gegenteil immer komplizierter und das Gefühl der Leere immer tiefer.

Viertes Kapitel

Vom Herbst 1886 wohnte Ernst Ahlgren eigentlich in Kopenhagen. Eine Unterbrechung bildeten nur die kurzen Besuche in Hörby, sowie ein zweimaliger Aufenthalt in Paris, ein paar Monate im Frühling 1887 und ein paar Wochen im Frühling 1888. Aber gleichzeitig brachte eine erotische Lebenserfahrung Konflikte mit sich, die für ihre stolze und ganze Natur besonders aufreibend waren. Denn der geniale Mann, der der Gegenstand derselben war, sah in ihr nur eine der vielen Frauen, die die Luft rings um ihn durch ihre Liebe erwärmt hatten. Und während sie ihm so ihre ganze Seele gab, war sie nur etwas Nebensächliches in seinem Dasein, ein vorübergehendes, kein wesentliches Erlebnis. In diesen Jahren begann auch ihr brennender Durst nach ästhetischer Entwicklung, verfeinertem künstlerischen und intellektuellen Verkehr, Abwechselung und Lebensreichtum befriedigt zu werden. Dazu kam, daß neben ihrer erhöhten Verfeinerung, ihren gesteigerten Lebensansprüchen wie eine Drohung ihr ökonomisch unsicheres Dasein stand, seit sie nicht länger in Hörby bleiben wollte.

Wäre Ernst Ahlgren gesund gewesen, würde sie besser gestellt gewesen sein, als die meisten unserer jüngeren Autoren; denn sie bekam relativ hohe Honorare und alles, was sie schrieb, wurde überall mit Eifer angenommen. Aber ihre körperliche Schwäche, die angestrengte Arbeit unmöglich machte, ihre langsame Art zu arbeiten, ihr unabweisliches Bedürfnis nach zeitweiliger, vollkommener Ruhe machte sie abhängiger vom ökonomischen Druck als andere. Der ist daher auch das stets wiederkehrende Gespenst, das sie in den letzten Jahren verfolgt. Sie wollte, sie konnte nicht ums Brot schreiben; sie mußte auf ihre eigene ruhige Art arbeiten, um etwas Tüchtiges zu produzieren.

Daß das für die meisten Schriftsteller unseres Landes typische Schicksal, die Armut, bei ihr mit einer außergewöhnlich intensiven Leidensfähigkeit und mit unheilbarer Kränklichkeit zusammenfiel, ist mehr als hinreichende Ursache zu ihrem tragischen Geschick.

Von all den vielen Äußerungen aus dem letzten Halbjahr von Ernst Ahlgrens Leben dürfte die folgende am klarsten den Anteil beweisen, den die ökonomische Frage an diesem Schicksal hatte.

»Wer doch die Mittel hätte, nur dann zu schreiben, wann man es könnte, und es in der Zwischenzeit bleiben zu lassen! Aber diese furchtbare Angst, den Zwang zum Schreiben zu fühlen, die Notwendigkeit, Geld zu schaffen – sie zu fühlen, wenn man nicht schreiben kann, wenn man sich ausruhen müßte!

Aber es lohnt nicht, darüber zu sprechen. Das Finanzielle wird mich knicken, wie es alle schwedischen Schriftsteller bricht. Ich kann nicht zur Überproduktion greifen, ich bin dazu zu stolz und zu wahr. Also werde ich mich nicht erhalten können. – – –

Es ist wunderlich, so einsam zu sein, so ohne Wurzeln; treiben oder sinken, wie man es eben kann. Aber ich will das lieber, als unfrei sein. Es gibt kaum irgendeine Zeit in meinem Leben, die ich gegen diese eintauschen möchte. Ich habe es jetzt besser als ich je gehofft. Ich bin frei, ein wirklich freier Mensch, und das ist besser als alles andere. Besser als reich sein und sich ausruhen können. Ich möchte die Zeit nicht wieder haben, wo ich die Hände voll Geld hatte, ich möchte sie nicht wieder haben, nicht für eine ganze Million.

*

Ich bin so müde, das es in meinen Ohren läutet wie zwei große Kirchenglocken. Aber ich werde mich aufraffen. Ich will noch nicht schachmatt werden. Ich habe es manchmal schlechter gehabt als jetzt und bin ebenso müde gewesen.

Die armen Reichen! Die wissen nicht, wie herrlich die Ruhe schmecken würde – ganz sorglose Ruhe. Denn sie sind nie gejagt worden, wie wir anderen geldgehetzten Sklaven. – – – – – – – – – – –

Die anderen armen Schriftsteller, die männlichen, die so wie ich keine Männer haben, von denen sie leben können, haben es wohl ebenso schwer wie ich. Und niemand kann sich wundern, wenn sie schwache Arbeiten hervorbringen. Es bedarf übermenschlicher Kräfte, um etwas Tüchtiges zu leisten.«

Keine Umnachtung der Lebensanschauung wirkte bei Ernst Ahlgrens Lebensüberdruß mit. Im Gegenteil, ihre tiefe Liebe zum Leben spricht noch aus ihren letzten Worten; das Leben war mild, war reich und voll Glücksmöglichkeiten, obgleich es sie zermalmt hatte, die »zu weich war, um zu leben«; die Menschen waren nicht böse, das Dasein nicht verzweifelt; und mit stummer Innigkeit, rührend wie die Dankbarkeit eines kranken Tiers, nahm sie jedes bißchen Zärtlichkeit entgegen. Nichts, was ihr inneres Dunkel erhellen konnte, wies sie ab; sie wollte sich von dem einzigen kranken Punkt ihrer Seele befreien; sie wollte »nicht sterben müssen,« und es findet sich in allen ihren Mitteilungen nicht ein Wort, das die geringste Koketterie mit ihrer eigenen Schwermut zeigt. Diese war im Gegenteil so wesentlich im Widerstreit mit ihrer Persönlichkeit, daß sie sie selbst richtig beurteilt und behandelt, wenn sie sie eine fixe Idee nennt, durch das Leiden hervorgerufen, und schließlich ganz unabhängig vom Willen.

Nichts – also auch nicht ihre eigenen Aussprüche – können eine solche Seelenkrankheit erklären. Man kann versuchen, ihre Äußerungen zu verfolgen, aber die innerste Ursache, aus der sie herstammen, vermag man nicht zu entdecken; die geheimnisvollen Tiefen der Menschennatur gehören dem Gebiete des »Unfaßbaren« an. Die immer mehr zunehmende Selbstanalyse, das fieberhafte Bedürfnis nach Abwechselung; der Mangel an Übereinstimmung zwischen ihren Worten und Handlungen; das ganz rückhaltlose Aufgehen in der Pein des Augenblicks, mochte diese nun ihre Arbeit, die Geldfrage oder irgendein menschliches Verhältnis berühren, und andere ähnliche Züge deuten auf jene Abnahme der Macht des Willens und der Reflexion zugleich mit dem Zunehmen der Gewalt der zufälligen Impulse und der nervösen Empfindlichkeit, die mit gewissen Erscheinungen der seelischen Erkrankung zusammenhängen. Solche Symptome sollen in ihrer Familie vorgekommen sein; ob sie selbst in gewissem Grade davon heimgesucht wurde, oder ob ihr seelisches Leiden ausschließlich durch den Druck der Verhältnisse hervorgerufen war, ist schwer zu entscheiden. Jeder ihrer einzelnen Aussprüche aus der letzten Zeit ist vollkommen zusammenhängend; der Mangel an Zusammenhang macht sich nur in der Intensität fühlbar, mit der sie sich voneinander wesentlich verschiedenen Stimmungen oder Motiven zu Handlungen hingibt. Sie streut Briefe aus, Briefe voll Widersprüche, je nach ihrer Stimmung und je nach der Person, an die sie schreibt. Denn sie schlägt unbewußt – vielleicht auch bewußt – den Ton an, der mit dem Seelenzustand des Empfängers zusammenklingt. Man steht vor Widersprüchen, die man in dem Maße zu verstehen sucht, in dem man die tiefe und komplizierte Persönlichkeit selbst geliebt hat. Vor ihren letzten Handlungen muß man ihrer eigenen Worte eingedenk sein:

»Ein Motiv ist nie – nie eines; es ist nur ein Faden; ein kleiner Fiberfaden ist nie stark genug, die kleinste, winzigste Handlung in Gang zu setzen. Nein, ein Motiv ist immer aus vielen kleinen Fäden zusammengesetzt, so wie es ein starkes Seil ist, und wenn man zusieht, gehen diese gedrehten kleinen Fäden nach verschiedenen Richtungen; gerade das macht es, daß das Seil zusammenhält. Der Menschensinn ist eine wunderliche Maschinerie, deren Räder von vielen solchen Seilen getrieben werden.«

Nach ihrem Tode hörte man die Äußerung: Ernst Ahlgrens Mangel an Religiosität hätte es ihr unmöglich gemacht, die Lasten des Lebens zu tragen.

Wenn man unter Religiosität die Fähigkeit versteht, sich etwas Höherem als man selbst ist, hinzugeben, dann besaß Ernst Ahlgren die Arbeit als ihren Kultus, und das Leben selbst in all seiner Mannigfaltigkeit war der Gott dieser Religion.

Wenn man aber unter Religion die Hingabe an eine bestimmte Religionsform versteht, dann war bei Ernst Ahlgren nichts derartiges vorhanden. In keiner Epoche ihres Lebens ist sie in diesem Sinne religiös gewesen; sie hatte sich den kirchlichen Formen ohne Qual unterworfen, aber an die christliche Lebensanschauung weder im tieferen Sinne geglaubt, noch daran gezweifelt. Sie nahm selbst in ihren späteren Lebensjahren die Möglichkeit des Daseins Gottes an, und ihre ganze innere Stellung in dieser Hinsicht beleuchten diese Worte in ihrem letzten Brief:

»Ich glaube nicht, daß ich an Gott glaube, aber ich werde doch wohl, wenn es zu Ende geht, zu ihm beten,« nämlich um dann, »die Nähe eines lebenden Wesens zu fühlen.«

» Lebendes Wesen« – dies ist hier das bedeutungsvolle Wort. Für sie war die Frage nach einem Gott nicht die Frage nach Hilfe, Trost, Gnade oder Versöhnung, sondern die Frage, ob ein größeres, intensiveres Leben als das unsere durch dieses Dasein pulsierte oder jenseits desselben war. Entwicklung und Lebenserfahrungen hatten sie mehr und mehr nicht nur von der christlichen Welterklärung, sondern auch von den ethischen Idealen des Christentums entfernt. Nicht als hätte sie die Schönheit der Selbstverleugnung übersehen, der Hingabe an die Wohlfahrt anderer, der Geduld und Treue im Kleinen, des unweltlichen und demütigen Gemüts, das nicht nach Eigenem trachtet. Ihre Dichtung hat im Gegenteil oft gerade solche Züge verherrlicht. Aber ihre eigene, innerste Natur stand nicht in Harmonie mit den ethischen Forderungen des Christentums, sondern war in einem bei modernen Menschen ungewöhnlich hohen Grade dem Heidentum verwandt, dem Lebens- und Schönheitskult der Hellenen sowohl wie der Kraftanbetung der Nordländer.

Die folgende Äußerung gibt einen sehr richtigen Eindruck, wie sie in dieser Beziehung veranlagt war:

»Ich bin zu sehr Heidin, um die Selbstverleugnung anbeten zu können. Alles Verkrüppelte und Unnatürliche erweckt zwar mein Mitleid, aber es ist mir unsympathisch – es ist unschön – es ist nicht das große Herrliche, das natürlich Gesunde, das meine Religion ist. Ich kann über jemanden, der allem entsagt und dennoch gut ist, gerührt sein – aber dieser Mensch ist nicht von meiner Rasse und nicht von meinem Glauben. Ich spreche natürlich hier nicht von dem relativen Verzicht, der von der Gewalt des Willens über die Triebe kommt; ich meine die sich alles abschlagende Entsagung, die die Selbstquälerei als eine Art Verdienst auffaßt, gleichviel, ob sie einem anderen Menschen nützt oder nicht. Die feige Selbstaufgabe, die niemals wagt, nach etwas zu greifen und zu sagen: ›Das ist mein‹. Kleine Seelen mit patentierter, allgemeingültiger Seminaristenmoral, ich kann sie ganz gut leiden, so wie man Ameisen und Ähnliches leiden mag, das interessant anzusehen ist und seinen kleinen Zielen nachstrebt, aber mich ihnen verwandt fühlen, das kann ich nie!«

Doch wie gesagt, ungeteilt Heidin war sie nicht, ebensowenig wie ungeteilt Christin. Ihre Lebensanschauung war vielleicht eher die des zwanzigsten Jahrhunderts, von dem ich hoffe, daß die Probleme der Versöhnung des Rechts des Altruismus und des Egoismus, der Vereinung der Ideale der Antike und des Christentums ihrer Lösung näher gekommen sein werden.

Ich sage vielleicht. Denn die neuen Gedanken und Gefühle des Jahrhunderts, die die Brücke zwischen diesen Gebieten bilden – das Solidaritätsgefühl mit dem mitlebenden Geschlecht, das Verantwortlichkeitsgefühl gegenüber dem kommenden Geschlecht usw. – hatten für sie beinahe ebensowenig allgemeingültige Bedeutung wie andere Wahrheiten, die zu dem Gebiet der religiösen oder philosophischen gehören. Sowohl die tieferen Probleme wie die oberflächlicheren Streitfragen bedeuteten auf diesem Felde wenig für sie; sie leugnete ebensowenig als sie glaubte. Für sie war das Leben nicht das Leben der Gedanken, das Leben war nur »Bewegung, Gefühle, Handlungen,« wie sie kurz vor ihrem Tode schrieb.

Und solche Menschen gibt es, Menschen nicht ohne Bedürfnis nach Religion, wohl aber ohne das Bedürfnis nach einer positiven Welterklärung, Menschen, für welche die mit dieser Materie zusammenhängenden Fragen nie eine entscheidende Bedeutung erlangen. Aber sie sind so selten, daß sie von allen Meinungsgruppen mehr oder weniger mißverstanden werden.

Zu Ernst Ahlgrens, wenn man so will, heidnischer Lebensauffassung gehörte ihre unerschütterliche Gewißheit, daß man, wenn des Lebens Qual nicht mehr zu ertragen ist, das Recht hat, dieser Qual durch einen Freitod ein Ende zu machen. Die Grenze der Möglichkeit des Ertragens fiel für sie mit der Möglichkeit zusammen, sein besonderes Lebenswerk zu vollbringen. Solange die Kräfte der Seele und des Körpers zur Arbeit hinreichten, wollte sie zu leben versuchen; dann beabsichtigte sie zu sterben. Sie sprach jahrelang von diesem Tode wie von einer beschlossenen Tatsache in ihrem Leben; sprach davon, so wie Seneca oder irgendein anderer der Stoiker zu sprechen pflegte. Niemandem, der sie in dieser Hinsicht nicht voll verstand, niemandem, der etwas anderes als seine Zuneigung in die Wagschale der Entscheidung legen wollte, gestattete sie, ihr nahe zu kommen. Dieser stets bewußte, um der Arbeit willen bekämpfte Todesgedanke ist der dunkle Hintergrund, von dem sich ihre intensive Fähigkeit zu sonnenheller Lebensfreude so klar abhebt. Sie wollte vom Leben alles nehmen, was sie konnte, sie wollte nicht sterben, bevor sie gelebt hatte.

Dieser Gegensatz von Lebenskraft und Todesmut – sowie von Lebensüberdruß und Todesfurcht – ist nur ein scheinbarer Widerspruch. Die Krankheiten der Seele wie die des Körpers brechen die Starken am leichtesten. Wenn das Seelenleiden sich einer lebenskräftigen Natur bemächtigt, wendet sich die Stärke – die unausrottbar ist – auf die Vernichtung. Und für Ernst Ahlgren gab es in der rein animalischen Lebenslust keine Hilfe, denn die hatte die Kränklichkeit zerstört. Sie sagte oft, niemand könne auch nur die Summe täglicher Qual ermessen, die ein Freiluftmensch wie sie dadurch empfand, daß die Krankheit sie der vollen Bewegungsfreiheit beraubt hatte; oder die unerhörte Kraftsumme, die es erforderte, den Mut unter dem Druck der Krankheit aufrecht zu erhalten. Schließlich waren die Kräfte aufgebraucht, und das wenige, was an Lebensenergie übrig war, verschärfte nur die Energie des Leidens.

Wer kann übrigens in irgendeiner Hinsicht das Leiden eines andern ermessen? Jeder Mensch leidet auf seine Weise, aber Künstler leiden mit den Leidensmöglichkeiten vieler Menschen zusammengenommen, und ein Stich, der einen gewöhnlichen Menschen kaum verletzt, kann bei ihrem Temperament eine unheilbare Wunde fürs Leben werden.

Während ihres Aufenthaltes in Kopenhagen kam Ernst Ahlgren dort sowie in Stockholm in Berührung mit der Literaturgruppe, die die moderne Lebensanschauung repräsentierte. Sie empfing so viele starke Anregungen sowohl für ihre künstlerische wie ihre menschliche Entwicklung, ein reiches Maß von Bildungsstoffen zu verarbeiten, aber auch von Widersprüchen zu lösen. Besonders bedeutungsvoll für ihre Dichtung wurden die strengen Urteile, die von dänischer Seite ihre schriftstellerische Tätigkeit trafen. Sie erhöhten ihr durch die früheren Mißerfolge hervorgerufenes Mißtrauen gegen sich selbst, ohne doch ihre Selbständigkeit erschüttern zu können:

»Ich muß so schreiben, wie ich schreibe, und wenn man mich auch zu Tode höhnt. Ich habe dabei keinen freien Willen. Es ist, als nähme mich die Arbeit und sagte: Gehorche! – – –

Wenn ich mich auch zu einer Kopie umformen wollte, so würde es mir doch nicht möglich sein, es auszuführen. Ich glaube überdies, daß die Frische gerade darin liegt, daß jeder er selbst ist und eine bestimmt ausgeprägte Individualität hat.«

Und auch in bezug auf die ethische Richtung, die ihre frühere Dichtung hatte, hat sich kein neuer Gesichtspunkt geltend gemacht. Einige Monate vor ihrem Tode äußerte sie z. B. in der Frage, in der ihre Ansicht am umstrittensten war:

» Meine Natur, meine Auffassung, meine Erfahrung, alles weist auf die Einehe als Ideal hin

Wenn also ihre starke, schriftstellerische Persönlichkeit sowohl in bezug auf den Inhalt wie auf die Darstellungsweise ihre Selbständigkeit zu behaupten wußte, hatte sie hingegen einen anderen, wirklich kranken Punkt, das Mißtrauen gegen sich selbst, entstanden in den vielen Jahren, wo sie dem dichterischen Trieb »wie der ärgsten Schmach« entgegengearbeitet hatte, und wo die Mißerfolge zu beweisen schienen, daß dieser Beruf nicht der ihre war.

Die immer stärker hervortretende Frage für sie wurde nun die, ob sie es je zur vollwertigen Künstlerschaft bringen würde? Sie, die in der Kunst alle Pfuscherei haßte, – war ihre eigene Arbeit vielleicht nichts anderes?

Je mehr Anerkennung ihr wurde, desto höher setzte sie ihr eigenes Ziel, desto mehr schärfte sie ihre unerbittliche Selbstkritik. Vom Sommer 1887 an begann sie zu fürchten, nie das Große in der Kunst zu erreichen, und mit dieser Furcht kehrt sie wieder zum Todesgedanken zurück. Daß dieser schließlich – aus dem einen oder andern äußern Anlaß – Macht über sie erlangen würde, wußten all ihre besten Freunde. Der entscheidende Grund war der, daß das Leben ihrer großen erotischen Forderung nur eine niedrige kleine Erfüllung zu geben hatte; daß sie sich ganz gegeben, aber das empfangen hatte, was für sie nichts war. Aber in diesem wie in andern ähnlichen Fällen war der im Augenblick entscheidendste Grund nicht die wirkliche Ursache: diese lag in der Gemütsart, die ich oben anzudeuten versucht habe, in der angeborenen Disharmonie zwischen Lebenswillen und Lebenskraft. Sie stand schon in diesem Sommer vor dem Selbstmord, mit einem so gereiften Entschluß, aber dabei mit so hartnäckiger Lebensliebe, daß ein gelegentlicher Lichtstrahl sie diesmal an der Gefahr vorbeiführen konnte. Das Gedicht, das sie in der Nacht zu dem Tage schrieb, an dem sie zu sterben beschlossen hatte, »Verbrecherblut«, ist der Tiefe eines bebenden Herzens entsprungen.

Ein Sommeraufenthalt in Gustaf af Geijerstams Heim und ein Herbst in Stockholm verscheuchte für eine Zeitlang den hartnäckigen Kreislauf der Gedanken um die Todesruhe als das einzig Ersehnenswerte.

Im Herbst dichtet sie aus ihrem Innersten das Stück »Lebensüberdruß«. Da vibriert in jeder Zeile ihr eigenes, gequältes Leben, von dem sie schreibt:

»Die Hand des Todes ist stark, auch wenn sie nicht schlägt; mein ganzes Inneres ist wie eine einzige blutende, zitternde Masse, nur von der leichten Berührung dieser Hand, die uns alle treffen soll.– – – Hie und da kommt noch wie eine lange Schlagwelle ein Selbstmordgedanke. Der geringste Zufall könnte meinen schwachen Entschluß zu leben wieder umstürzen.«

Drei Briefe – der erste aus dem Sommer 1887 an ihre jüngste Stieftochter – scheinen mir nach so vielen Seiten hin charakteristisch, daß ich sie hier fast vollständig mitteile.

»Kind – wie nahe sind wir nicht einander in letzter Zeit gekommen! Du hast dich entwickelt, Du bist ein Mensch, und Du verstehst das, was menschlich ist. Wie ich Dich lieb habe! Warum? Weil Du nicht verlangst, daß ich leben soll. Ich will so lange unter euch herumgehen, als Arbeit für mich da ist. Ich will euch lieben und mich des Beisammenseins freuen. Aber wenn ich so recht müde bin – zufrieden wie nach einem langen Tag wechselnder Beschäftigung – dann will ich schlafen, süß schlafen, ohne diese furchtbare Angst vor Qualen.

Einmal wird das Menschengeschlecht in der Entwicklung so weit kommen, daß dies als das Natürliche und Vernunftgemäße betrachtet werden wird. Man bereitet den Tieren den schmerzlosesten Tod, den man sich ausdenken kann, aber dem Menschen – – –

Nicht Ruhm, nicht der größte Erfolg, nicht Reichtum noch aller Menschen Achtung, nichts von all dem, wonach Menschen streben und trachten, könnte mir so viel wert sein, als ein stilles, schmerzloses Einschlummern ohne Furcht.

Glaube nicht, daß ich jetzt melancholisch bin. Ich bin jetzt froher und zufriedener als ich – Arme – in Deinem Alter war. Und nicht einmal damals war ich unglücklich.

Ich habe keine Wurzeln im Leben. Ich bin nur eine Zuschauerin, auch wenn ich mit der größten Intensität liebe und lebe. Darin liegt das Geheimnis.

So wird der, der vom Leben alles zu fürchten, aber nichts zu hoffen hat. Schlechter als jetzt kann es mir jeden Tag gehen, aber nie, nie besser.

Arbeite und freue Dich des Lebens, mein Kind! Das Leben ist nicht arm. Glaube das nie! Es ist so mannigfach, so wechselnd; jede Arbeit birgt eine heimliche Quelle des Reichtums und der Befriedigung für den, der sie lieben gelernt hat.

Ich bin Jahr für Jahr umhergegangen und habe eine große Leere in mir getragen. Eine Leere ist nie zu etwas nütze. Und nichts macht einen so müde wie das Bewußtsein, daß das, was man herumträgt, ganz unnütz ist und es in alle Ewigkeit bleiben wird. Darum wird man von dem Verlangen gepackt, dieses große, leere Ding von sich abgleiten zu lassen, und selbst am Wegesrand niederzusinken und einzuschlummern.

Wenn Du Sorgen und Leiden hast – und das wirst du manchmal haben – dann denke nur, wie froh Du doch sein kannst, daß Du nicht umhergehen und solch eine unsichtbare, verzauberte Bürde mit Dir schleppen mußt, solch eine große Leere.

Ob ich diese verzauberte Bürde ein bißchen länger oder kürzer trage, tut nichts zur Sache, wenn ich nur weiß, daß ich sie schließlich abwerfen kann.

Und ich habe noch eine Menge zu schreiben. Ich muß mir Luft machen, ehe ich gehe.

Frischen Mut!«

Die beiden anderen Briefe sind vom Dezember 1887:

»Eines weiß ich – ich werde das Leben immer lieben. Ich meine, alles was lebt, das Ganze. Auch in jener Nacht, wo ich dastand und das Gefühl hatte, als könnte ich nicht leben, auch da liebte ich all das, was nach mir bleiben wird; alles, was nach mir leiden und sich freuen wird.

Ich glaube, ich werde ohne Bitterkeit sterben können.

Wie sagst Du: ›Das Leben trifft immer den verwundbaren Punkt in unserem Herzen, an dem wir am leichtesten verbluten.‹

Ja, aber hat es nicht das Recht dazu? Es findet ja auch den Punkt, wo alle Freude liegt und wächst. Ich bin so arm gewesen, ich meine, so einsam arm, und dennoch werde ich von allem mit einem großen, warmen Dank scheiden, wenn ich weiß, daß ich schmerzlos sterben darf. Dieses Bewußtsein ist für mich das Größte und Reichste. Wer mir Morphium gab, der hat mir die größte Wohltat erwiesen, die ein Mensch dem anderen erweisen kann. Es ist, als gradete sich mein ganzes Wesen nach einer langen Tortur aus und arbeitete sich langsam zu Gesundheit und Kräften hindurch. Wenn das Leben für mich zu hart ist oder ich zu weich für das Leben – es ist ja gleich, welches von beiden – so küsse ich seine Hand und gehe. Aber ich bin froh, gelebt zu haben, wenn ich ohne Furcht sterbe.– – – – – – – –

Ich bin ruhig, glücklich, harmonisch und von den Gedanken an meine Arbeit ausgefüllt.

Ich bin jetzt ausgeruht, so herrlich ausgeruht. Aber ich kann mich nicht mit der Arbeit eilen, denn sie würde darunter leiden, und ich würde überanstrengt und seelisch krank werden. Jeder, der mich kennt, weiß, daß ich nicht träge bin. Es liegt nicht in meiner Natur, nervös und gehetzt zu sein; Ruhe und Gleichgewicht des Gemüts, das ist das Normale für mich, darum ist diese stetige, langsame Arbeitsweise die einzige, die für mich taugt. Kann und will man in meinem Vaterland zur Sicherung der nächsten Jahre etwas für mich tun, so nehme ich es ohne ein Gefühl der Unfreiheit oder Demütigung an, denn mein Streben, dies durch künstlerische Reife, unerschrockene Wahrheitsliebe und feste Ehrlichkeit zu verdienen, ist so ohne jeden Vorbehalt, daß ich mich gleichsam als ein Eigentum der Literatur ansehe. Alles, was ich leide, lebe und erfahre, ist meines Landes Eigentum, sowie der Honig, den eine kleine Biene in ihrem Körper destilliert hat, dem ganzen Bienenkorb gehört.

Ich bin so einfach glücklich. Ich möchte sagen, so kindlich glücklich oder so andächtig. Es hat nicht lange gedauert und es wird vielleicht kurz dauern. Das Leben kann mit mir machen, was es will. Ich bin wie eine Traube in einer großen Hand – des Lebens warmer, starker Hand – und diese Hand hält mich einen Augenblick hinauf zur Sonne. Die Traube weiß nicht, daß die Hand sich schließen, pressen und zermalmen kann, und der dann den Wein trinkt, denkt auch nicht daran.«

Zu Beginn des Jahres 1888 wurde die Todessehnsucht soviel stärker als die Lebenslust, daß Ernst Ahlgren einen Selbstmordversuch machte, der mißlang. Wie stark der Lebensüberdruß nun geworden, zeigte sich in dem Schmerze, mit dem sie von diesem Mißlingen sprach, das ein weniger tiefes Grauen vor der schweren Aufgabe des Lebens geheilt hätte. Von dieser Stunde an waren die Körper- und Seelenkräfte dahin.

In der nächstfolgenden Zeit schreibt sie:

»– – – es wird gewiß sehr lange dauern, bis ich imstande bin, fürs Brot zu arbeiten. Ich möchte so gerne leben. Ich bin nicht unglücklich, aber ich bin gebrochen. Der Körper ist der Überanstrengung und den inneren Konflikten unterlegen. Man muß bedenken, wie sehr mich meine langjährige Krankheit geschwächt hat.

Wenn ich in Worten beschreiben könnte, wie Axel Lundegård gegen mich war und noch ist! Er weiß alles, alles von mir, wir sind ja so alte Freunde, wir haben wie Kameraden gelebt, bevor noch irgend ein Mensch Ernst Ahlgren kannte, bevor »Aus Schoonen« herauskam, und jetzt erst fühle ich, wie tiefe Wurzeln die Zuneigung hat.– – –Könntest Du hören, wie er sagt, daß ich meine Freiheit haben soll, wenn das Leben zu schwer ist, aber wie er durch die zarteste Güte die Fäden wieder zu knüpfen sucht, die zwischen mir und dem Dasein gerissen sind!– – – Ja, ja; ich will leben, wenn ich kann, ich meine, wenn eine Möglichkeit vorhanden ist, daß ich je noch arbeiten kann. Aber es wird wohl lange Zeit vergehen, bevor ich wieder Kräfte und Lebensmut habe. Ich wünschte, ich könnte meinem treuen Kameraden die tausend Wohltaten vergelten, die er mir in dieser kurzen Zeit erwiesen hat.– – – –

*

Ich kann nicht die Hälfte von all der Zuneigung verdient haben, die an mich verschwendet wird, und doch fühle ich mich so wunderlich arm. Wie ungenügsam man ist. Ich bin für so viele die Nächstnächste! Die Nächste? Niemals! Das ist wohl, weil ich nichts anderes haben soll, als meine Arbeit.

Könnte ich nur so sehr der Form wie dem Sinne nach Künstlerin sein, dann würde ich gerne soviel leiden, als ich schon gelitten, wenn mir nur das Leiden die Fähigkeit gäbe, alles Menschliche zu verstehen und wiederzugeben. Ich liebe die Kunst mehr als mich selbst, mehr als das Leben, mehr als alle, die mir nahe gestanden. Wenn ich könnte! Ich wollte zufrieden sterben, wenn ich nur wüßte, daß ich so wahr, so wahr und so recht aus Fleisch und Blut geschrieben habe, daß es lange nach mir selbst fortleben wird.«

Über einen im Gange begriffenen, erfolgreichen Versuch, ihr ein privates Stipendium zu verschaffen – auf das auch der vorhergehende Brief anspielt – schrieb sie:

»Nur wer nach allen Seiten frei ist, kann eine gute Arbeit machen. Freiheit ist eines Künstlers Lebensluft.

Mein Freiheitsverlangen ist unbändiger denn je. Keine Partei! Keinen Knebel in den Mund! In mir liegt das Gesetz des Ebenmaßes, und das ist das einzige, dem meine Feder sich beugen will.

Ich bin auf dem Wege der Besserung. Ökonomische Verzweiflung darüber, nicht »vielschreiben« zu können lag dem Ganzen zugrunde.«

Mit der Angst des zum Tode Verurteilten suchte sie sich an das Leben anzuklammern, jede ausgestreckte Hand zu ergreifen, die sie zurückhalten wollte. »Ich gehe herum wie ein Hund, der weiß, daß er sterben soll, aber gerade deshalb den Menschen Liebkosungen abbettelt«, sagte sie kurz vor dem Ende. Alles wurde ihr in dieser Zeit zu so intensiver Qual, daß man kaum zu fassen vermag, wie sie sich über unwesentliche Dinge so ungeheuer aufregen konnte, wüßte man nicht, daß es ein Leiden gibt, das sich wie das Feuer auf die Späne ebenso wie auf den Wald stürzt, das überall Nahrung sucht. Der letzte große Versuch zur Selbstverteidigung gegen den Tod war die Reise nach Paris in Gesellschaft einer Freundin.

Bevor sie fuhr, schrieb sie:

»Ich lebe wie ein Eremit, und bei meinem nach Freundlichkeit lechzenden Sinn kann mich das fast gemütskrank machen. Darum reise ich jetzt nach Paris, wo ich Freunde habe, unter anderen Jonas Lie und Frau – prächtige, prächtige, herzensgute Menschen, die freundlich sein können; das können Schoonen fast nie. Ich bin im Begriff, geistig zu verhungern, wenn ich nur diese reservierten, schoonischen Gesichter, so ähnlich meinem eigenen, gesehen habe. – – – Es bedarf bloß eines herzlichen Wortes, und all meine Steifheit ist verschwunden, und ich selbst bin ein anderer Mensch. – – – –

Ach, wer doch den ganzen Sommer ohne einen Gedanken an Arbeit leben könnte!«

In Paris begegnete sie der Freundlichkeit, die sie zu finden gehofft hatte, aber alles, worin sie in dieser Zeit Hilfe suchte, erwies sich als ohnmächtig gegen die Seelenqualen. Sie schreibt auch aus Paris, unmittelbar bevor sie zurückkehrte:

»Mein bösartiges Herzklopfen mit den gleichzeitig auftretenden Erstickungsanfällen hat sich in bedenklichem Grade verschlimmert. Ich bin nicht imstande zu arbeiten. Ich versuche und versuche; es geht nicht ... Meine Arbeitsfähigkeit ist total gebrochen. Wenn wir uns wieder treffen, so frage mich nie nach meiner Arbeit oder ›wie es heute mit dem Schreiben gegangen ist‹ oder sonst etwas, was das betrifft. Ich klexe auf Papier, weil es gewissermaßen ein kleiner Trost ist, nur Buchstaben schreiben zu können. Aber meine seelische Spannkraft ist dahin. Ich bin nur ein Arbeitspferd, das sich das Rückgrat gebrochen hat. Mich zu fragen, ob ich mich nicht aufrichten kann, heißt mir nur in aller Wohlmeinung unsägliches Leiden zufügen. Laß das alte Pferd noch ein bißchen im Sonnenschein herumwanken, wenn es kann; daß es zu nichts mehr taugt, quält das arme Geschöpf selbst am meisten!

Befreie mich von der Pflicht zu ›hoffen‹ und von der Pflicht, froh auszusehen. Ich traure um das, was mir am teuersten war: meine Arbeit.

Sprich nicht mehr davon. Erwähne es nie. Alle Fragen peinigen mich. Ich kämpfe gegen eine Seelenkrankheit, und je einsamer ich mit ihr sein kann, desto besser.– – – – – – – – – – –

Ich sollte hierbleiben; als ich abreiste, gedachte ich vielleicht nie zurückzukehren. Hier aus dem Dasein gelöscht zu werden, hieße so leicht vergessen sein. Das wäre am besten für die Meinen. Aber ich hoffe noch auf eine Genesung. Und mein Geld ist noch nicht zu Ende. Niemand kann glauben, wie stark ich am Leben hänge, oder richtiger an der Hoffnung, wieder mit dem Leben verknüpft zu werden.

Ich habe hier einen ganzen Haufen geschrieben. Ich will zeigen, daß ich nicht aus Faulheit nichts produziere. Es ist so wunderlich, das zu lesen. Worte, Worte, Worte! Das Leben fehlt. Ich kann massenhaft schreiben – es taugt nicht, gedruckt zu werden. Es ist nicht wirr, aber es zeigt einen geistigen Starrkrampf. Es ist wie die Arbeit eines Blinden: ordentlich, aber ohne Farbe. Es ist wie Holz – ausgeschnittenes, unbemaltes Holz. – – –

Wenn ich sage, daß ich seelisch krank bin, so bedeutet das nicht, daß ich verwirrt bin oder auch nur ›nervös‹. Es ist eine Künstlerkrankheit, und ich glaube, man sollte sie Arbeitsangst nennen.«

Sie hielt sich in den letzten Wochen in Kopenhagen auf, unter verzweifelten Arbeitsversuchen und Versuchen zum Widerstand, bis zu allerletzt. Aber der Todesgedanke schlich sich immer näher, lockend, erschreckend. In ihrem Abschiedsbrief sagt sie, sie sei »von übermenschlichen Seelenqualen hinab in die schwarze Tiefe gezwungen worden«, Seelenqualen, die nun endlich ihre Furcht vor der Qual des Todes und ihren Willen zum Leben besiegt hatten. Ihre Selbstbeherrschung war doch noch stark genug, um nicht zu verraten, daß der Beschluß unwiderruflich gefaßt war, nicht einmal Axel Lundegard gegenüber, der sie am letzten Abend besuchte.

Einsam wie sie gelebt, starb Ernst Ahlgren durch eigene Hand in der Nacht zum 22. Juli 1888.

 

Einige Tage früher hatte Ernst Ahlgren einige Worte »an die Überlebenden« geschrieben. Diese letzten Worte schließen so:

»Ich bin nicht in der Gemütsstimmung, meine Gefühle für all die, die mir Wohlwollen und Güte bewiesen haben, in Worten auszudrücken. Ich bitte alle, die mir nahe gestanden, nicht zu glauben, daß dies aus Herzlosigkeit geschieht. Es tut mir weh, daß ich Kummer verursachen muß. Aber tut den Lebenden all das Gute, das ihr mir gönntet, all das Gute, das ich selbst hätte vollbringen wollen, wenn es mir möglich gewesen wäre, zu leben.«

Sie ruht in Kopenhagen auf dem Westfriedhof nahe dem Meer. Der Denkstein trägt nur den Namen Ernst Ahlgren und zwei italienische Worte, die eine eigene Aufzeichnung von ihr zur Grabschrift bestimmt hat:

Implora pace.

Diese Bitte war schließlich die einzige, die Ernst Ahlgren an das Leben richtete. Aber auf diese Bitte gibt das Leben keine andere Antwort als den Tod.

For in the veindrawn, ashencoloured palm
Death's hollow hand holds water of sweet draught
To dip and slake dried mouths at, as a deer,
Specked red from thorns, laps deep and loses pain.


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