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In dem Buchowschen Landhause Lalaiken standen an diesem Novemberabend die Schatten besonders groß und schwarz an den weißen Wänden des Kinderzimmers. Eine einzige Kerze brannte auf dem niedrigen Kindertisch und die Wärterin, Frau Müller, hatte sie nahe zu sich herangezogen; dann, die Hornbrille auf der Nase, nähte sie. Die beiden Kinder saßen auf den Kinderstühlchen. Der siebenjährige Uli war schläfrig, er legte seinen Arm auf den Tisch, stützte den Kopf, der mit den ungeordneten blonden Locken ganz groß erschien, auf den Arm und blinzelte mißmutig in das Licht. Die zwei Jahre ältere Isa spielte mit Holzpüppchen. Die grauen Augen schauten wach und aufmerksam vor sich hin, und die schmalen Lippen bewegten sich tonlos.

»Jetzt ist Schlafenszeit,« sagte Frau Müller und ließ ihre Arbeit sinken. »Geht jetzt euern Eltern gute Nacht wünschen.«

Uli jedoch verzog weinerlich sein Gesicht. »Heute geh ich nicht,« sagte er, »heute geh ich nicht durch die dunklen Zimmer. Heute stehen sie alle in den dunklen Ecken und es ruft an den Fenstern.« Frau Müller zuckte die Achsel. »Du weißt, was dein Vater sagt, wenn du dich fürchtest.« Jetzt weinte Uli. »Nein, heute geh ich nicht,« wiederholte er. Erschrocken sah Isa auf, sie zog die Augenbrauen zusammen, als fühlte sie einen Schmerz, und die Mundwinkel bogen sich nach unten, was ihr einen ältlichen kummervollen Ausdruck verlieh. Sie konnte es nicht ertragen, daß Uli weinte. Sie stand auf. »Gut, dann gehe ich allein,« meinte sie. Auf der Türschwelle zögerte sie einen Augenblick, dann lief sie in die dunkle Zimmerflucht hinein. Auch sie fürchtete sich. Aber sie ertrug es mit der Resignation des Kindes, dessen Leben nun einmal ganz von Unheimlichkeiten umstellt ist. Am Ende der Zimmerflucht schimmerte ein Licht, dort waren die Eltern.

Ulrich von Buchow hatte vorgelesen, jetzt lehnte er sich im Sessel zurück und rauchte. Ihm gegenüber in der Sofaecke saß seine Frau. Wie frierend drückte die schmale Gestalt sich wie in sich selbst zusammen; den blonden Kopf hatte sie zurückgelehnt und das junge Gesicht schien vor Müdigkeit wie erloschen. Als jedoch Isa auf der Schwelle erschien, ging ein Lächeln über das Gesicht der jungen Frau, das es wunderbar erhellte. »Meine Tochter,« sagte sie. »Wo ist Uli?« fragte Buchow streng. »Uli kommt heute nicht,« beichtete Isa, »er fürchtet sich.« »Ach ja,« sagte Irma von Buchow, »heute ist es auch zum Fürchten, ich gehe zu ihm.« Buchow zog unwillig die Augenbrauen zusammen, schwieg jedoch. Isa ging jetzt zu ihrem Vater und bot ihm ihre Kinderstirn dar, dann zu ihrer Mutter, und endlich ging sie in die Ecke des Zimmers, wo im großen Lehnsessel der Großvater, der Graf Pax, saß und schlief. Vorsichtig küßte sie ihn auf die weiße Perücke, dann ballte sie in einem festen Entschluß ihre Hände und lief wieder in das Dunkel hinein.

»Wenn wir dem Jungen das durchlassen,« versetzte Buchow, »dann werden wir keinen Helden erziehen.« »Ach Gott,« meinte Irma und zog die Augenbrauen empor, »wozu Helden? Heute ist auch ein Tag zum Fürchten. Uli kam schon heute nachmittag zu mir und sagte: ›Ich weiß heute nicht, was ich spielen soll,‹ und wirklich, ich hätte auch sagen können: ›Ich weiß auch nicht, was ich spielen soll.‹«

»Ja, spielen!« bemerkte Buchow.

Eine leichte Röte stieg in Irmas schmales Gesicht. »Ja, spielen; ich weiß, du denkst, das Leben ist ernst, und man hat seinen Pflichtenkreis. Ach ja, natürlich, aber man will doch auch seine kleinen Freuden haben, denn die großen kommen ja doch nicht. So, und jetzt gehe ich zu meinem Sohn.« Sie stand auf, reckte einen Augenblick die Arme in die Höhe, wie um der schwankende Gestalt Haltung zu geben, und verschwand dann in der Dunkelheit.

Buchow lehnte seinen Kopf in den Sessel zurück. Das Gesicht mit der vorgewölbten Stirn, den tiefliegenden grauen Augen, dem starken Kinn, schien wie von einer inneren Energie zusammengedrückt, der Mund schloß sich so fest, daß die schmalen Lippen weiß wurden.

Die großen Freuden, dachte er – sie wartet auf die großen Freuden, woher sollten die kommen? Er hatte das Leben stets als etwas betrachtet, das bezwungen werden mußte, damit es uns nicht in den Rücken fällt. Diese Novembertage mit ihrem Nebel und ihrem Sturm, sie spannten etwas in ihm an, sie erhöhten seine Lust am Tun und Schaffen. Er war nun einmal solch eine Nebelkrähe, und von ihm erwartete dieses lichte und kostbare Geschöpf die großen Freuden. Woher sollte er sie nehmen?

Der Großvater war in seinem Lehnsessel erwacht; er richtete sich auf und schaute noch ein wenig traumverloren um sich, dann lächelte er, und das kleine Gesicht unter der weißen Perücke wurde ganz kraus von Falten. »Ich habe geschlafen,« sagte er. »Ja, du hast geschlafen, Vater,« bestätigte Buchow. »Ich habe aber auch geträumt,« fuhr der Großvater fort. »Mir träumte, ich ging, ich weiß nicht mit wem, die Hauptallee des Bois de Boulogne entlang, da waren Menschen und Wagen und Pferde, sehr lustig. Eine Equipage sah ich mit gelben Pferden, eine Dame saß darin, na, lassen wir das. Die Hauptsache war das Gehen. Ich sag dir, meine Beine waren so gelenkig, so leicht, es war ein Genuß das Gehen, das Gehen, wie ich's in jungen Jahren konnte. Ja, das war famos, nun will ich schlafen gehen – vielleicht kann ich weiter träumen.« Er erhob sich und ging mit tänzelnden Schritten, welche die Schwäche seiner Beine verdecken sagten, hinaus.

 

Es war schon spät am Nachmittage, als Buchow hinausging, seine Äcker zu übersehen. Der Wind wühlte in den Hängebirken, warf ihre dünnen Zweige durcheinander wie Peitschenschnüre, er riß Löcher in den dichten Nebel, so daß dieser wie große, graue Fetzen über dem Erdboden hing. Die Natur macht uns heute nichts vor, sagte sich Buchow und steckte die Hände tiefer in die Taschen seines Überziehers. Am Rande eines Feldes blieb Buchow stehen. Dort pflügte ein Mann. Der lange Mensch ging langsam und verdrossen hinter dem Pfluge her. Der Wind zerrte an seinem Kittel und dem roten Bart, er warf die Mähnen des vor Feuchtigkeit struppigen Pferdes bald nach vorn, bald zurück. Die aufgeworfenen Schollen hatten einen matten Metallglanz, und nasse, aufgeblasene Krähen gingen auf ihnen hin und her. Der Mann blieb stehen, sah zum westlichen Horizont hinüber, wo ein welker, rosenfarbiger Streif die grauen Wolken säumte, dann stellte er die Pflugschar hoch und fuhr auf dem Wege hinauf. Er grüßte seinen Herrn. »Andre,« fügte Buchow, »du weißt, deine Frau ist bei mir gewesen, um über dich zu klagen, weil du sie schlägst.«

»Ich weiß,« erwiderte Andre verdrossen, »würde sie Ruhe geben, so würde ich sie nicht schlagen.«

»Sie will nicht, daß du das Geld in den Krug trägst,« meinte Buchow. Andre zuckte die Achsel. »Wenn man am Sonnabend nicht in den Krug gehen soll, was hat man dann, das ist doch noch das einzige.« Damit trieb er sein Pferd an, ging auf der nassen Straße ein wenig steifbeinig weiter, verschwand, eine graue Gestalt im grauen Nebel.

»Die kleinen Freuden,« klang Irmas Stimme Buchow in den Ohren. Wenn dieser Knecht in seine dunkle Häuslichkeit zurückkehrte, waren die Kleider naß, die Glieder steif, die Frau weinte, die Kinder schrien, nun, dann ging er zu den kleinen Freuden.

Buchow war auf der Landstraße weitergeschritten, bis er an eine Brücke gelangte, auf der er haltmachte. Die Brücke führte über eine sumpfige Schlucht zu dem Marktflecken Drixen. Im Sommer standen hier grellgrüne Tümpel beieinander, Kiebitze liefen zwischen ihnen auf und ab, einzelne Kühe weideten hier, die Füße tief im Sumpfboden eingesunken. Jetzt waren die Tümpel schwarz, und dunkle Wasserlachen breiteten sich zwischen ihnen aus. Buchow stand auf der Brücke und schaute hinab. Wie er diesen Sumpf haßte! O, er würde ihm schon beikommen; wenn man den kleinen See über dem Ort niedriger legen könnte, dann würde auch dieses unnütze, giftige Sumpfland verschwinden. Nächsten Sommer wollte er ihm zuleibe gehen. In Drixen wurden die Lichter in den Häusern bereits angesteckt, zitternde, gelbe Flecken im Nebel. Buchow fror. Er ging durch die Dunkelheit nach Hause, und die nasse Landstraße hatte noch einen matten, blinden Glanz.

Vor seinem Hause angekommen, bemerkte er, daß die Fenster des großen Saales erleuchtet waren. Im Flur hörte er, daß auf dem Klavier ein Walzer gespielt wurde. »So, so,« sagte er und lächelte. Im Saal fand er den Großvater am Klavier, einen Walzer spielend. Irma tanzte mit Uli, Isa stand, die Hände in den Seiten, still da. »Tanz doch,« rief Irma ihr zu, dann begann sie sich langsam zu drehen. Als Irma an Buchow vorüberkam, nickte sie ihm zu und sagte: »Wir tanzen, es war sonst zu traurig.«

»Gut, gut,« meinte Buchow und ging in das Wohnzimmer. Er setzte sich an den Kamin; er war müde, die Wärme tat ihm gut, es war angenehm, die Beine vor sich hinzustrecken; aus dem Saal kamen die durch den schwachen Anschlag des Großvaters matten Töne des Walzers und das leise Geräusch der tanzenden Füße. Buchow schloß die Augen, ein tiefes Behagen erwärmte ihn. Ja, dachte er, solche Augenblicke gibt es eben auch.

 

Der Wind hatte sich gelegt; es fror, und ein wenig Schnee war gefallen. Er lag auf den Dächern, in den Ackerfurchen und legte grellweiße Flecken in die fahle Landschaft. Es dämmerte bereits, als Buchow nach Drixen hinüberging, um seinen Anwalt, Dr. Viervogel, zu sprechen.

Viervogel war Buchows Schulkamerad gewesen, hatte sich dann als Anwalt im Flecken niedergelassen, und da er jede Gelegenheit versäumte, weiterzukommen, saß er noch heute dort. Mit seinem Schimmel und Jagdwagen fuhr er in die Stadt, um seine Injurien- und Hausmieteprozesse zu führen, wohnte bei der Witwe Weidemann, von der er sich beköstigen ließ. Er saß oft stundenlang in der reinlichen Wohnung und sah der stattlichen Frau mit den schönen Armen, wie sie eifrig schaffend hin und her ging, zu. Die wenigen Laternen im Marktflecken wurden schon angesteckt, im ersten Hause war Licht in den Fenstern, es war das Anwesen des Gärtners Kappelmeier, und dort war immer Bewegung und Lärm, denn die großen, blonden Töchter schafften unermüdlich. Die eine wusch den Flur, die andere sah Buchow durch das Fenster am Backtrog stehen; sie riefen einander zu mit hellen Stimmen und lachten. Der alte Kappelmeier aber, der Wiedertäufer, ein großer Greis, ging im dämmerigen Garten zwischen den mit Tannenreisig bedeckten Beeten hin und her. Buchow kannte sie alle. Da war jetzt der Kramladen, vor dem es nach Fellen und Pfeffergurken roch, und durch die Glastüre konnte man die Krämerin sehen, mit ihrem großen, blassen Gesicht, geduldig und böse; endlich die Apotheke, hell und sauber. Der Apotheker mit dem langen, grauen Bart, stand wie ein Priester zwischen den weißen Büchsen und bauchigen Flaschen. Der schöne Provisor Glaiksner war nicht zu Hause. Ihn fand Buchow an der Hausecke mit dem Postfräulein zusammenstehen, das ihn liebte. Sie stritten miteinander. »Aber Glaiksner,« sagte das Mädchen, »das ist doch keine Mühe, zum Fenster hinaufzusehen, wenn du vorübergehst; ich habe so darauf gewartet.«

»Immer diese Dummheiten,« erwiderte Glaiksner, »ich habe auch an anderes zu denken; ob ich nun da hinaufsehe oder nicht.«

»Aber Glaiksner,« erklang die weinerliche Stimme des Mädchens, »ich warte den ganzen Vormittag darauf.«

Jetzt kam Fräulein Christa Hassel, die Lehrerin an der Volksschule, Buchow entgegen. Sie ging mit kleinen, harten Schritten über das knisternde Pflaster, drehte dabei ihre untersetzte, flache Gestalt hin und her; das runde Gesicht mit dem breiten Munde und den guten, braunen Hundeaugen war von der Kälte gerötet. »Ah, Herr von Buchow,« sagte sie. »Guten Abend,« erwiderte Buchow, »ich mache noch einen Geschäftsgang.« – »So,« meinte Fräulein Christa, »und wie geht's bei Ihnen zu Hause?«

»Ich danke, gut,« berichtete Buchow, »man feiert bei uns ein Fest, Sie wissen, man feiert bei uns immer Feste. Es ist, glaube ich, des ersten Schnees wegen. Man sitzt am Kamin, ißt Bratäpfel und erzählt sich Märchen.«

»Das ist hübsch,« sagte Fräulein Christa und bog den Kopf zurück, um Buchow anzuschauen.

»Gehen Sie doch hin, Fräulein Christa,« schlug dieser vor. »Hingehen,« versetzte das Fräulein nachdenklich, »das ist eine Versuchung. Denn ich habe zu Hause einen ganzen Stoß Hefte liegen, die ich korrigieren muß. Aber Gott, wozu ist die Nacht da, also ich gehe hin, auf Wiedersehen.« Damit ging sie weiter mit ihren kleinen, harten Schritten.

Jetzt war Buchow am Hause der Witwe Weidemann und stieg die dunkle Treppe hinauf. Auf sein Klopfen erscholl ein heiseres »Herein«. Er fand den Doktor am Schreibtisch über Akten gebeugt.

»Guten Abend,« sagte Buchow. Die kurzsichtigen Augen des Doktors erkannten ihn nicht sogleich, als jedoch Buchow näher kam, sprang der Anwalt auf. »Ah, du bist es,« rief er, »eine unerwartete Freude.« Die beiden waren stets sehr höflich miteinander. Viervogel half Buchow aus seinem Überzieher, stellte ihm einen Sessel zurecht, bot eine Zigarre an, holte eine Flasche Portwein hervor und Gläser, die er vollschenkte. »So,« sagte er, »bei dieser Kälte wird das gut tun; der Winter kommt.« Und als er Buchow gegenübersaß, sah er ihn erwartungsvoll an.

»Ich komme zu dir,« begann Buchow, »um dich zu bitten, mir wieder einen Kontrakt zu einem Holzverkauf zu machen. Du weißt, mein Bruder hat mich voriges Jahr ein wenig stark in Anspruch genommen, und so muß wieder verkauft werden. Die Bedingungen sind dieselben, nur bitte ich, den Kontrakt ein wenig schärfer zu fassen, denn Aronsohn erlaubte sich voriges Jahr allerhand Freiheiten. Besonders wollen wir ihn, was die Lagerplätze und die Zeit des Abführens betrifft, fester binden.«

»Wird gemacht,« erwiderte Viervogel, »wir wollen dem Knaben ordentlich die Hände binden; morgen schon mache ich den Entwurf und lege ihn dir dann vor.«

»Danke,« sagte Buchow und nippte vorsichtig am Portweinglase. »Guter Wein, wie geht es sonst?«

»Gott,« erwiderte Viervogel, »bei mir ist es immer das gleiche. Das ist das Charakteristische in meinem Leben, und so ist's mir recht. Siehst du, in diesen dunklen Tagen ist es seltsam, daß ich es fast körperlich fühle, wie die Zeit verrinnt; sie verrinnt ganz langsam und stetig und trägt mich mit. Ich fühle das.«

»Sie trägt dich?« fragte Buchow, »wohin?«

»Ans Ende,« erwiderte Viervogel, »einmal muß es ja doch zu Ende sein und dann kommt vielleicht etwas andres und das ist es, was mich zuweilen beunruhigt. Es gibt Augenblicke, in denen ich mich vor dem Tode fürchte und nur aus Trägheit, weißt du. Es kommen vielleicht andre, ganz andre Verhältnisse, und ich bin an mein Hinstumpfen so gewöhnt, daß mir das unbequem erscheint. Das kommt davon, wenn man sich an solch ein zweckloses Leben gewöhnt [24] hat; du natürlich wirst auch das jenseitige Leben frisch in die Hand nehmen. Du hattest schon als Knabe immer Ziele und Zwecke.«

»Nun ja,« versetzte Buchow nachdenklich, »es ist ein fatales Gefühl, wenn es uns plötzlich klar wird, daß, was wir treiben, keinen Zweck hat. Schon als Kind überkam es mich zuweilen, man spielte, man stand auf einem Brett, das auf einer Wiese lag, und das Brett war ein Schiff und die Wiese ein Meer. Doch plötzlich wurde man sich bewußt: es ist nur ein Brett, auf dem du stehst, und kein Schiff, und ringsum ist nur eine Wiese und kein Meer, und dann mußte man gewaltsam weiterspielen, um nicht jede Lust am Spiel zu verlieren. Solche Augenblicke habe ich auch heute noch.« Viervogel lachte. »Nun, ich weiß immer, daß ich auf einem Brett stehe, das auf einer Wiese liegt. Was ich tue, hat vielleicht keinen Zweck, aber ich bin zufrieden; ich wollte da einmal etwas Farbe in mein Leben bringen und fing an, der Agnes Kappelmeier nachzustellen, ich dachte mir, es würde so etwas wie eine Liebschaft herauskommen. Aber die Kappelmeierschen Mädchen sind ja hübsch, aber für mich zu laut, zu intensiv – so gehe ich denn lieber zu meiner Witwe Weidemann hinunter und sehe zu, wie sie Brot bäckt.«

»Aber du arbeitest doch?« wandte Buchow ein.

»Man muß eben leben,« versetzte Viervogel, »nun ja, zu etwas wird mein Leben vielleicht gut sein, und ich habe meine Stelle in der großen Welteinrichtung; aber eine Stelle wie das ›und‹ in einem Manuskript, es ist nicht zu entbehren, die Rolle aber, die es spielt, ist nicht sehr bedeutend.«

Sie schwiegen beide eine Weile. Buchow betrachtete nachdenklich das Gesicht seines Freundes, dieses ein wenig fette Gesicht mit der großen Adlernase, den blauen Augen, die hinter den blanken, runden Brillengläsern hervorschauten, und dem hübschen, weichlichen Munde. »Es ist eigentlich schade um dich,« sprach er vor sich hin.

Viervogel lächelte. »Meinst du – ja, vielleicht ist es schade um mich, aber mein Fall ist hoffnungslos, denn ich bin zufrieden. Ich hatte Zeiten der Unruhe, aber das ist vorüber. Ich schlafe jetzt sehr gut, das ist doch ein Zeichen inneren ›Friedens‹.«

»Ja, Schlaf ist eine gute Sache,« meinte Buchow und stand auf, »ich will dich aber nicht länger von deinem Stammtisch fernhalten.«

»Gott, der Stammtisch,« erwiderte Viervogel, »es ist wohl gleichgültig, ob ich früher oder später höre, wie der Doktor von der Camorra erzählt, er spricht am liebsten von der Camorra, oder was der Apotheker von den Streichen seines Provisors berichtet,« er half Buchow in den Überzieher. »Also auf morgen,« sagte er und leuchtete die dunkle Stiege hinab.

Buchow trat wieder in die Frostnacht hinaus, das Gespräch mit Viervogel hatte ihm die Brust eng gemacht, drum tat ihm die scharfe, kalte Luft wohl.

 

Es war in den Weihnachtsfeiertagen, als Achaz, Ulrichs Bruder, nach Lalaiken kam. Er war jünger als Ulrich und diente im Auswärtigen Amt. Mit klingenden Schellen fuhr sein Schlitten vor das Haus. Schon im Flur hörte man seine helle Stimme zu dem Diener Klaus sagen: »Guten Tag, Klaus, hier riecht es ja nach Familienweihnacht.«

Als er in das Zimmer trat, erwartete ihn die ganze Familie und lachte ihm entgegen, lachte, nur weil sein Erscheinen so jugendlich und heiter war. »Ah, die ganze Familie,« rief er, »wie hübsch ihr alle seid. Sie nicht am wenigsten, lieber Graf,« sagte er zum Großvater, »und Uli hat sich entwickelt, er zeigt Anlagen zum bel homme, und wie hell es hier ist und wie gut es nach Tannen und Lebkuchen riecht! Ich bin froh, bei euch zu sein. Irma ist noch immer schön wie die ewige Seligkeit.«

Irma lachte. »Wie er die Komplimente ausstreut, wie Weihnachtszuckerwerk.«

Daun saß man im Wohnzimmer, die Kinder standen neben Achaz und schauten ihn erwartungsvoll an, ob er etwas Lustiges sagen würde.

Der alte Graf hatte seinen Stuhl nahe zu Achaz herangezogen, legte die Hand ans Ohr, hörte mit Behagen die schönen Titel, die in Achaz Erzählungen vorkamen, die Namen der Theater und großen Restaurants, sog begierig die Großstadtluft ein, die von dem jungen Mann auszugehen schien. Auch Irma hatte sich vorgebeugt, ihre graublauen Augen glitzerten, und ihr Gesicht nahm den hübschen, strahlenden Ausdruck an, den es zu zeigen pflegte, wenn's um sie her hell und heiter war. Buchow in seiner Sofaecke sprach wenig, allein auch er lächelte zufrieden. Er bewunderte diesen Bruder, dessen bloßes Erscheinen die Menschen glücklich und fröhlich zu machen schien. Achaz war größer und schmäler als Ulrich, er glich ihm, aber sein Gesicht war klarer, die Augen weit auf, und der Mund lächelte ein ausgelassenes Knabenlächeln. Als Buchow aufstand und in sein Arbeitszimmer ging, flog ein Schatten über Achaz Züge, er zog schmerzlich die Augenbrauen zusammen, und ein hilfloser Ausdruck zeigte sich auf seinem eben noch so heitern Gesicht. »Ich muß mit Ulrich sprechen,« sagte er, stand auf und folgte dem Bruder.

Im Arbeitszimmer schloß er sorgfältig die Tür, und als er sich Ulrich zuwandte, war sein Gesicht bleich und trug noch immer den knabenhaft hilflosen Ausdruck. »Ulrich, ich muß mit dir sprechen,« sagte er, »es ist besser, es geschieht gleich, sonst verdirbt es mir die schöne Zeit hier.«

»Was gibt es denn?« fragte Ulrich und wandte sich ab und sah zum Fenster hinaus.

Achaz ging nervös im Zimmer hin und her. »Da ist wieder so eine dumme Geschichte,« begann er, »ich weiß selbst, wie unverantwortlich das ist, aber es ist nun einmal geschehen. Ich habe mich da in einem Kasino wieder zum Spiel verleiten lassen; ich weiß nicht, was diese Nacht über mich gekommen war, aber ich spielte wie ein Wahnsinniger. Natürlich verlor ich.« Er schwieg einen Augenblick.

»Wieviel?« fragte Ulrich vom Fenster her.

»Fünfzehntausend!« erwiderte Achaz. Eine Pause entstand.

Endlich wandte sich Ulrich wieder dem Bruder zu. »Und du willst,« sagte er seltsam deutlich, die Worte vor sich hinzischend, »du willst, ich soll sie dir geben?«

»Natürlich war das meine Hoffnung!« erwiderte Achaz und errötete, »eine andere Hoffnung habe ich doch nicht.«

»Du überschätzt meinen Etat,« fuhr Ulrich fort, »ich habe eine Familie, ich kann mich nicht deiner Spielschulden wegen ruinieren. Voriges Jahr ging das ganze Geld für den Holzverkauf auf deine Schulden drauf und jetzt wieder.«

»Du hast ganz recht,« unterbrach ihn Achaz, »und ich wundere mich nicht, wenn du ungehalten bist, es ist unverantwortlich von mir, ich könnte mich schlagen; wie eine Verrücktheit ist es über mich gekommen; ich sage dir offen, ich verachte mich, verachte mich tief, aber nun es einmal geschehen ist … Der Ertrinkende greift nach allem, was ihn retten kann, und du weißt es ja, bezahle ich die Schuld nicht, dann ist es aus mit mir, ganz aus, dann bleibt mir nur die Kugel. Das ist nicht eine geschmacklose Drohung, sondern eine Selbstverständlichkeit. Aber komme ich diesmal noch durch, dann spiele ich nie mehr, dann beginnt ein neues Leben.«

Ulrich hatte unbeweglich zugehört. Sein Gesicht schien kleiner geworden, wie zusammengedrückt, und seine Lippen waren wieder ganz fest geschlossen. Als er jetzt zu sprechen begann, war seine Stimme leise und ein wenig heiser.

»Es ist erst dann Aussicht, daß du deine guten Vorsätze verwirklichst, wenn du dir bewußt wirst, daß du allein für dein Leben verantwortlich bist, daß du, bei allem was du tust, dich und nur dich einsetzest. Jetzt hast du das Gefühl, ich stünde hinter dir und müßte für dich aufkommen, aber, mein Lieber, der Augenblick kommt, in dem ich das nicht mehr kann und nicht mehr will. Solange ein Mensch die Verantwortung für sich selbst nicht trägt, ist er ein Gespenst.«

»Du hast ja tausendmal recht,« rief Achaz, »ich sage mir das alles selbst, aber jetzt soll es anders werden, du wirst sehen. Natürlich ist das Geld, das du mir gibst, nur geliehen, ich erstatte es dir zurück, sobald ich kann. Meine Aussichten sind gut, ich stehe mich mit meinen Vorgesetzten ausgezeichnet und ich habe Talent zum Diplomaten, ich fühle es, ich bin der geborene Diplomat. Ich denke, ich lasse mich nach Rom versetzen; von den Italienern kann man viel lernen, und du wirst sehen, ich gehe wie ein Licht in die Höhe. O, darum ist mir nicht bange, und an jenem Morgen nach der Spielnacht fühlte ich, daß es wie eine Krankheit von mir abfiel, mein ganzes, dummes Leben. Ich bin kein Spieler, aber es kommt zuweilen wie ein Rausch über mich, aber das ist vorbei.«

»Gut,« sagte Ulrich, trat an den Tisch und klopfte mit dem Finger hart auf die Tischplatte, »wie dem auch sei, du wirst dich künftig daran gewöhnen müssen, deinen Rausch selbst zu bezahlen. Wenn ich dir diesmal noch helfe, so bin ich damit an die Grenze der Möglichkeit, dir zu helfen, gekommen.«

»Ich danke dir, mein Alter, du bist mein Retter. Du bist wie ein Vater für mich, aber du wirst sehen, mit dem unsoliden Leben ist es jetzt aus, ich werde ein ernster Mensch, das Buchowsche in mir kommt heraus, du wirst noch Freude an mir erleben. Und weißt du, was du mit den wenigen Worten: ›Ich werde dir diesmal helfen!‹ tust? Du rettest einen Menschen vor dem Tode, ganz einfach, du rettest einen Menschen vor dem Tode.«

Ulrich erwiderte nichts. Er setzte sich müde ans das Sofa und schaute mit den tiefliegenden, grauen Augen sinnend vor sich hin.

»Du sagst, sich selbst einsetzen,« fuhr Achaz fort, »das ist gut gesagt, aber das ist es eben. Wenn ich etwas Verwegenes tue, eine Dummheit meinetwegen, etwas, wobei es sich um die Existenz handelt, eine Summe setze oder so etwas, dann ergreift mich ein angenehmer Schwindel, ich spüre deutlich, daß ich mich selbst einsetze, und es ist eine köstliche Spannung in mir, ob ich gewinne oder verliere. Ich muß da an unsre Knabenjahre denken. Erinnerst du dich noch, wie wir uns auf der Wippschaukel schaukelten: du saßest auf dem einen Ende, ich stand auf dem andern. Es war nicht leicht, dort zu stehen, aber es gab eine angenehme Spannung: werde ich fallen oder werde ich nicht fallen. Aber das ist jetzt vorüber, tempi passati, ich bin ein andrer Mensch geworden, wirklich, ich fühle die Exzellenz schon in mir keimen,« und er lachte ein offenes, frohes Lachen.

Drüben vom Saal her tönten Ulis kleine, schrille Freudenschreie, auf dem Klavier wurde ein Walzer gespielt. »Was tun sie dort?« fragte Achaz. Er öffnete die Tür und schaute zum Saal hinüber, dann war auch er hinausgeschlüpft, und Buchow hörte bald, wie Achaz's Lachen sich in Ulis Freudenschreie mischte. Buchow stand auf, schloß die Tür und setzte sich wieder auf seinen Platz zurück. ›Ja, sprechen kann er,‹ dachte er, ›sprechen können sie alle,‹ aber der Zorn in ihm war verraucht, ein mitleidiges Bangen ergriff ihn um diesen jüngern Bruder, von dem er, der schwerblütige, so viel Heiterkeit und Sonnenschein empfangen hatte. Einmal mußte der Augenblick kommen, in dem er nicht mehr helfen konnte, was wurde dann aus Achaz! – Dann wäre es aus, ganz aus, hatte Achaz gesagt, und an diese Worte zu denken, schmerzte Buchow. Das Leben schien solche sorglose und glänzende Wesen nur zu schaffen, um sich eine Weile damit zu schmücken, und um sie dann als unnütz beiseite zu werfen.

Drüben vom Saal her hörte er Irmas und Achaz' Lachen, Ulis Jubeln, der Großvater spielte seinen Walzer. Ein bitteres Gefühl der Einsamkeit ergriff Buchow. Ja, die konnten heiter sein, die Sorgen waren auf ihn abgeladen, und er hatte sich mit ihnen zurechtzufinden. Es wurde an die Tür geklopft und der Inspektor trat ein, um über die Arbeit des Tages zu sprechen.

 

Es war ein Feiertag. Die Wintersonne beschien hell das dicht mit Schnee bedeckte Land. Auch die Zimmer waren voll goldnen Lichtes. Irma saß in ihrem Eßzimmer am Frühstückstisch, ganz in der Sonne, und kniff behaglich die Augen zusammen. »Ja, so ist es dir recht,« sagte Achaz, der im Zimmer auf und ab ging, »sich so ganz in der Sonne zu baden, wie eine Libelle, die in der Luft mitten in einem Sonnenstrahl in ihrem Fluge innehält.«

»Ja,« sagte Irma, »wenn die Sonne scheint, dann weiß man doch, wozu man da ist.«

»So, das weißt du,« meinte Achaz, »da weißt du viel. Aber das ist richtig, dieses Licht gehört zum Feiertage. Die Natur sieht aus wie ein Zimmer, das für den Feiertag aufgeräumt worden ist, und wenn ich an die Sonntage meiner Jugend denke, so sehe ich die Zimmer immer gelb von Sonnenschein.«

»Ohne Sonnenschein,« versetzte Irma nachdenklich, »geht man doch nur wie ein Gespenst herum.«

»Gut,« begann Achaz wieder und blieb vor Irma stehen, »die richtige Umwelt wäre da, nun kommt es darauf an, ein Programm zu entwerfen, was wir in dieser Umwelt tun.«

»Ach ja,« sagte Irma und lächelte erwartungsvoll zu Achaz auf.

»Zuerst natürlich die Kirche,« fing Achaz seine Aufzählung an, »ich liebe diese Landkirchen, die Leute haben ihre Sonntagskleider an, setzen andächtige Gesichter auf, und das Klappern der Sonntagsschuhe hallt in dem hohen Raum wider; man friert ein wenig, das ist der Anfang der Andacht; dann kommt die Orgel und der Gesang; die Leute singen und machen den Mund weit auf und sehen mit ein wenig leeren, tiefberuhigten Augen vor sich hin; sie ruhen aus in dem Unbegreiflichen, das sie anbeten. Nun und nach der Kirche kommt das sonntägliche Mittagessen; hoffentlich gibt es eine Bouillon mit Fleischpiraggen, das war so gewohnte Sonntagssuppe. Haben wir diese?

»Christa kommt,« erwiderte Irma.

»O Fräulein Christa,« rief Achaz, »die paßt hier herein, sie sieht selbst aus wie ein Lebkuchenweibchen und sagt einem so unterhaltend taktlose Dinge. Ich glaube, Fräulein Christa war eine Zeitlang in mich verliebt.«

»O nein,« widersprach Irma, »die hat immer nur ihren Viervogel geliebt.«

»So,« meinte Achaz, »es wäre eine Verschönerung ihres Lebens gewesen, in ihrem einsamen Gouvernantenstübchen zu sitzen und sich nach mir zu sehnen. Aber, mein Gott, alle können einen ja nicht lieben.«

»Ja, willst du das denn?« fragte Irma.

»Nein, nicht gerade,« erwiderte Achaz, »aber es ist immerhin ein angenehmes Gefühl, auf ein weibliches Wesen zu wirken wie ein elektrischer Funke. Gleichviel, nachmittags fahren wir spazieren, ich fahre mit dir, und wir nehmen Uli mit, Ulrich fährt mit Fräulein Christa und Isa, wir fahren durch den Flecken, sehen die hübschen Gärtnerstöchter vor der Tür stehen, dann geht es weiter in den Wald, der heute wunderbar geheimnisvoll sein wird.«

Buchow trat ins Zimmer. »Ah, Ulrich,« begrüßte ihn Achaz, »du machst heute auch dein Sonntagsgesicht, das ist recht, heute denken wir nicht an Geschäfte, das Programm für den Tag ist schon fertig.«

 

Am Nachmittag fuhren die beiden Schlitten mit hellem Schellengeläute von Lalaiken über die Brücke durch den Marktflecken. Die Drixner Mädchen gingen in langer Reihe auf der Hauptstraße nebeneinander her mit kleinen, vorsichtigen Schritten; sie trugen neue Kleider und neue Pelzkappen. Vor ihrer Haustüre standen die hübschen Gärtnerstöchter und lachten, als Achaz sie grüßte. In der Türe des Lehmannschen Gasthauses lehnte Viervogel und blinzelte gelangweilt zur Sonne auf. Auf dem Bürgersteig aber ging der schöne Provisor neben dem Postfräulein einher; er machte ein mißmutiges Gesicht und hob nur langsam seine langen Beine. Jeder Schritt schien eine Gnade zu sein.

»Ein hübscher, festtägiger Ameisenhaufen,« sagte Achaz.

»Wenn die Sonne scheint,« meinte Irma, »und die Mädchen neue Kleider anhaben, dann ist es hübsch, aber wenn ich in grauen Herbsttagen durch den Ort gehe, an den Dächern hängen Tropfen, hinter den kleinen, trüben Scheiben stehen die Menschen mit bleichen, traurigen Gesichtern, und die Hunde, mein Gott, die Hunde, struppig und naß gehen sie gelangweilt durch die Pfützen, das ist dann so alltäglich, so herzbrechend alltäglich, daß ich weinen könnte.«

»Ach,« versetzte Achaz, »ich glaube, die Leute hier sind ebenso glücklich wie anderswo. Sie lieben und hassen, sie verdienen Geld, sie haben ihre Schicksale. Sieh doch den Provisor, sieht er nicht aus wie ein leibhaftiges Schicksal? Die Hunde, nun ja, Kleinstadthunde können die alltäglichsten Geschöpfe der Welt sein. Sie haben ja eine so überlegene Art, ihre Langeweile zu zeigen.«

Hinter dem Marktflecken begann der Lalaikensche Forst, und große verschneite Tannen säumten den Weg ein, sie hielten ihre Schneelast wie auf gespreizten Riesenhänden. An ihnen vorüber sah man in das Innere des Waldes. Überall erglänzte das grelle Weiß, weiße Plätze, weiße Ecken, weiße Brautstuben, weiße Klosterzellen, und all das ganz still, ganz regungslos. Ein Hase setzte über den Weg in den Wald hinein. Der tiefe Schnee machte ihm Mühe, er versank bei jedem Satz fast bis zu den Löffeln.

»Der geht jetzt in seine weiße Welt,« sagte Irma nachdenklich, »das muß gut sein, solch eine Welt, ganz weiß, ganz hell, ganz rein.«

»Nun, ich denke,« warf Achaz ein, »wir würden uns bald in solch einer Welt nach etwas Dunkelheit sehnen.«

»Ich habe immer gefunden,« fuhr Irma fort, »daß in solch einem glänzenden Weiß etwas wie ein unhörbares Lachen steckt. Mein Vater hat mir einen Morgenrock aus weißem Samt geschenkt. Wenn ich den anziehe, ist es mir, als kleide ich mich in Schnee, und das unhörbare Lachen geht in mich über, ich muß lächeln, und selbst meine Kammerjungfer Minna lächelt dann.«

»Das muß hübsch sein,« meinte Achaz.

»Ich will nicht, daß alles weiß ist,« ließ sich plötzlich Ulis Stimme vernehmen, »es soll so sein wie Schnee, aber schön rot.«

»Du siehst,« meinte Achaz, »mein Junge, der Wald gehorcht dir.«

Die Sonne ging unter. Ein purpurnes Licht floß an den weißen Baumgestalten nieder, es lag auf der Schneedecke wie Blutlachen, ein plötzliches wunderbares Erglühen des Waldes. Ein Vogel flog aus einer Tanne auf, ein schwarzes Flattern in all dem Rot. Uli jubelte. »Bravo,« sagte Achaz, »auf solche Überraschungen versteht sich die Natur.«

»Ja,« versetzte Irma, »ihr fällt immer etwas Hübsches ein, aber Ulrich sagt, er liebt das Graue; an grauen Tagen fühlt er sich tatkräftig und frisch, dann ist er auch besonders heiter. Nun ja, er hat seine Arbeit, seine Gedanken, ›Pflichtenkreis‹, wie er sagt.«

»Pflichtenkreis,« wiederholte Achaz, »das Wort riecht schön nach Schulstuben, schimmliger Tinte und feuchten Kleidern.«

»Nein, Ulrich ist gut,« sagte Irma verträumt. »Ulrich ist sehr gut, ich wollte, ich wäre so gut wie er.«

»Warum willst du denn so gut sein?« fragte Achaz leise.

Das Abendrot war verglommen, sie bogen jetzt vom Waldwege auf die Landstraße ab, an dem kleinen See entlang. Auf der weißen Fläche dämmerte es bereits und der Schnee wurde bläulich. Auf der andern Seite aber lag der Marktflecken, in dem bleiche Lichter erglommen; oben im dunkelwerdenden Himmel erwachten einige unruhig blitzende Sterne. »Jetzt ist es wieder traurig,« erklang Ulis Stimme.

»Nein, mein Junge,« sagte Achaz, »es ist schön, aber du bist noch nicht reif für die Dämmerung, das mußt du erst lernen.«

»Ich finde es traurig,« sagte der Knabe, schmiegte sich eng an seine Mutter und schloß die Augen.

»Ich könnte ewig so fortfahren,« versetzte Achaz, »in dieses Dämmern hinein, Sterne über dem Kopfe, und man ist beieinander, ganz nah beieinander.«

Irma schwieg und sah träumend in die Dämmerung hinein.

Ulrichs Schlitten, der hinter ihnen her fuhr, kam ihnen jetzt ganz nahe, und sie hörten durch das Schellengeläute hindurch Fräulein Christas laute Stimme, die Ulrich etwas sagte. Achaz trieb sein Pferd an. »Nein, das wollen wir nicht,« sagte er, »wir wollen das Gefühl haben, daß wir in dieser weichen Dunkelheit ganz allein sind.«

 

Zu Hause war es hell und warm; der Großvater ging unruhig durch die erleuchteten Zimmer, denn seine Einsamkeit drückte ihn schon.

Im Kamin brannte das Feuer, Irma lehnte sich in einem großen Sessel zurück und schloß halb die Augen. Die Luft hatte sie müde gemacht. Fräulein Christa saß ihr gegenüber und erzählte aus dem Marktflecken, erzählte von der Witwe Weidemann und von den Gärtnerstöchtern, von der Schule, ruhige Geschichten, von denen Irmas Gedanken oft abschweiften, um wieder an den verschneiten Wald und die dämmerige Welt zu denken.

»Ich habe auf Sie gewartet, lieber Achaz,« sagte der Graf Pax, »denn wir wollen Piquet spielen.«

So setzten sich die Herren an den Spieltisch. Ulrich ging ab und zu, sah dem Spiele zu, sprach mit Fräulein Christa, ging dann wieder, saß still in seinem Zimmer. Er liebte es, wie alle guten Arbeiter, die Ruhe des Feiertags auszukosten. Auch Irma fühlte sich wohl. Vom Kartentisch schallte bisweilen Achaz' helles Lachen oder der süß duftende Hauch der türkischen Zigarette wehte herüber.

So war es gut und morgen war alles vorüber.

»Heute muß ja Abschied gefeiert werden,« rief Graf Pax.

»Klaus, bringen Sie von meinem Wein, und eine Ananas ist noch da, natürlich eine Bowle muß getrunken werden; daß ich das vergessen konnte,« und der alte Herr war ganz Geschäftigkeit im Bereiten seiner Bowle.

Als man dann um den Tisch herum saß, jedes Glas vor sich, da wurde der Graf ganz Weltmann, sprach vom Herzog von Urach und dem Duc de Brollie, von Diners bei Véfour, von Bällen und schönen Damen. »Ach Gott, meine Jugend,« sagte er; damals war noch Würde in der Jugend; schon das Tanzen, nicht das regellose Herumstürmen wie jetzt.« Er stand auf. »Bitte, Fräulein Christa, einen Augenblick,« sagte er, ergriff Fräulein Christas Hand und tanzte mit unendlicher Würde einige Figuren der Française, küßte Fräulein Christa dann die Hand und führte sie an ihren Platz zurück. »Seht,« sagte er, »das war élégance.«

»Ja, das können wir nicht mehr,« versetzte Achaz, »in jenen Zeiten mischte sich etwas Heiliges in das gesellschaftliche Leben.«

»Das ist es, das ist es,« bestätigte der Graf, und in diesem Zimmer beim Duft der Ananasbowle und der türkischen Zigaretten, in der Wärme des Kaminfeuers und dem lässigen, heiteren Gespräch erschien allen das Leben freundlich und warm.

 

Achaz reiste ab. Er küßte Ulrich und sagte: »Ich danke dir, mein Alter, du bist wie ein Vater für mich; nein, du bist mehr als ein Vater, du hast mich zweimal gerettet, wie man einen Ertrinkenden rettet, ich werde dir das nie vergessen.«

Ulrich machte ein sehr ernstes Gesicht. »Wenn ich dir helfen kann,« versetzte er, »so werde ich es immer tun, aber du weißt, so geht es nicht weiter, und es kommt der Augenblick …«

»Du brauchst mir nichts zu sagen,« unterbrach ihn Achaz, »denn ich habe mir selbst all das viel schärfer gesagt. O, ich habe mich nicht geschont, ich bin ein andrer Mensch geworden, das wirst du sehen, also leb wohl, mein Alter, noch einmal vielen vielen Dank, du hast mir sozusagen das Leben gerettet.«

Leichtfüßig ging er hinaus. Er fand Irma in ihrem Schreibzimmer am Fenster stehen, neben ihr Uli, der weinte. Es war ihr recht, daß Uli weinte, denn sie konnte und wollte nicht weinen, und doch war ihr kläglich zumute. »Also lebe wohl, Irma,« sagte Achaz, »es war hübsch bei euch, es ist verdammt, daß ich fortfahren muß; nun wirst du dich wieder in dein weißes Winterleben einspinnen, am Fenster bei den Hyazinthen sitzen und auf den Schnee hinausschauen. Ja, hübsch ist das, aber es ist zuviel Schatten in deinem Leben.«

»Ich lebe mich in den Schatten schon hinein,« erwiderte Irma matt lächelnd.

»Nein,« entgegnete Achaz, »manche Blumen sind für die Sonne da und andre für den Schatten. Ich möchte dich aus dem Schatten herausheben, hoch in die Sonne hinein, dort, wo das Leben blank und lachend ist.«

»Laß mich nur in meinem Schatten,« meinte Irma trübselig.

»Nun, Uli, mein Junge,« rief Achaz, »du weinst um mich? Das ist hübsch von dir. Ein Abschied ohne Tränen ist wie die Suppe ohne Salz; mit den Lerchen komme auch ich wieder; lebt alle recht wohl, ihr guten und schönen Menschen.« – Damit ging er.

Als Uli am Fenster stand und weinend dem davonfahrenden Schlitten nachschaute, sagte er kläglich: »Jetzt fahren die Festtage fort!«

»Ja, die Festtage fahren fort,« wiederholte Irma.

 

Uli wurde in die Kinderstube geschickt und Isa befohlen, ihn zu erheitern; der Großvater saß auf seinem gewohnten Platze am Fenster, schaute auf die Vorübergehenden und auf die Hunde oder blickte die Landstraße hinauf, ob nicht Besuch käme, Ulrich stand auf dem Hof und sprach mit dem Inspektor. Die Zimmermädchen trugen die Tannenbäume hinaus und fegten den Goldschaum vom Fußboden. Der Alltag, dachte Irma, nimmt unerbittlich vom Hause wieder Besitz. Sie mußte wohl auch in ihren Pflichtenkreis, wie Ulrich sagte, zurück, aber was war doch ihr Pflichtenkreis? Der Haushalt? O, den besorgte die Mamsell besser als sie. Sie setzte sich, wie Achaz es gesagt hatte, an das Fenster und schaute auf den Schnee hinaus, unschlüssig, was sie tun sollte.

 

Am Nachmittag kam Fräulein Christa, um den Kindern Unterricht zu erteilen. Irma hörte vom Nebenzimmer auf das eintönige und stockende Lesen der Kinderstimmen, sonst war das Hans ganz still, nur ab und zu prasselte das Feuer in einem Ofen. Die Stuben waren voll weißen Schneelichtes, und draußen begann es ganz leise zu schneien.

›Das ist doch hübsch,‹ sagte sich Irma, ›das ist doch gemütlich,‹ und dennoch ergriff sie eine unbändige Sehnsucht, Achaz' helles und leichtsinniges Lachen zu hören, eine Sehnsucht nach dem süßen Duft seiner türkischen Zigarette, und sie ärgerte sich darüber, es war unrecht und lächerlich für eine Frau, jemanden so stark zu vermissen. Es muß etwas unternommen werden, entschloß sie sich, und nach dem Unterricht sagte sie zu Fräulein Christa: »Wir gehen nach Drixen hinein, du sagst, Lehmann hat eine neue, weiße Stube eingerichtet, mit Marmortischen, wo man Schokolade trinken und Apfelkuchen essen kann, da gehen wir hin.«

»Muß das heute sein?« fragte Fräulein Christa und sah mit ihren guten Hundeaugen Irma besorgt an.

»Ja, es muß sein,« erwiderte Irma.

So machten sie sich denn auf. Es war erfrischend, durch den niederfallenden Schnee zu gehen, an den verschneiten Häuschen vorüber; ein blasses Abendrot hing am Himmel, und Krähen flogen schwarz und eilig durch das lautlose, weiße Niederrinnen. Bei Lehmann war es warm und behaglich; sie saßen vor ihren Schokoladentassen und Fräulein Christa sprach von Viervogel. Als dieser Gegenstand erschöpft zu sein schien, begannen sie von Achaz zu sprechen.

 

Der Winter war in diesem Jahre hart, klares Frostwetter, der Schnee blieb bis in den März hinein liegen, unverändert dehnte sich die weiße, weite Fläche vor den Lalaikenschen Fenstern aus unter dem bleichen Winterhimmel. Die Bauernschlitten mit den struppigen Pferden, die sich mühsam durch den Schnee arbeiteten, sahen aus wie abgegriffene Spielzeuge. Ulrich war viel draußen bei seiner Landwirtschaft, ab und zu kam er angeregt herein und verlangte einen Schnaps. Der Graf Pax ging mit kleinen Schritten durch die Zimmer, schaute in die brennenden Öfen, oder stand an den Fenstern und wartete auf Besuch. Irma suchte ihren Pflichtenkreis; sie ging zu der Mamsell und wunderte sich über die vielen Würste und Schinken. Sie schaute nach den Kindern, allein Uli war in diesen Tagen schwierig; wenn er auch seine alte Frau Müller mit einem bunten Tuch und roten Plaid verkleidet hatte und Isa an einer Leine kutschte, so wurde er des Spieles doch bald überdrüssig, ging dann mit schlaff niederhängenden Händen durch die Zimmerflucht und fragte seine Mutter weinerlich: »Was gibt es zu Mittag? Es ist jetzt nichts, worauf man sich freuen kann.«

»Man freut sich auf jeden Tag,« belehrte die Mutter, aber sie empfand es tief, wie recht der Kleine hatte. Nein, es war nichts da, worauf man sich freuen konnte. Selbst wenn ihr Vater herangetrippelt kam und angeregt verkündete: »Ein Schlitten hält vor der Tür!« so erhoffte sie sich davon nichts. Es war die Baronin Brünner, die dann in weitläufigem Seidenkleide hereinrauschte, behangen mit klingenden Goldsachen, sie saß am Teetisch, strickte mit klappernden Elfenbeinnadeln, erzählte aus der Nachbarschaft von zweifelhaften Ehen und von hohen Partien im Klub des Städtchens, von Dienstboten und Gouvernanten, oder es waren Herren, dann roch es nach guten Zigarren im Zimmer, und die Herren sprachen von Gründüngung und von Leuten, die ihre Güter schlecht bewirtschaften. Nein, das waren keine Ereignisse, dachte Irma. Achaz hatte gesagt, nur wenn das Leben uns wie die Welle im Seebad hochhebt, dann ist es des Lebens wert. Mein Gott, sie war nun einmal dazu bestimmt, die Hyazinthe im Fenster des adligen Hauses zu sein.

Abends kam Ulrich nach Hause, wärmte sich am Kamin und fühlte sich sehr behaglich. Er erzählte viel von seiner Arbeit und von den Leuten. Irma lag in ihrem Sessel und hörte ihm mit halbgeschlossenen Augen zu.

»Dich interessiert das alles wohl nicht?« fragte er schroff.

»Doch,« erwiderte Irma, »erzähle nur deine grauen Geschichten.«

»Grau?« wiederholte Ulrich verwundert.

»Ja,« erwiderte Irma, »diese Männer sind grau, und die Frauen sind grau, und die Stuben und die Kinder, alles ist grau.«

Ulrich schwieg eine Weile und dachte nach. Endlich sagte er: »Ich meine, du solltest dich mehr mit den Leuten abgeben; da sind kranke Frauen, kranke Kinder; eine Gutsfrau sollte so etwas wie eine wohltätige Göttin sein, das würde dir auch wohl tun –«

»Das kann ich nicht,« unterbrach ihn Irma, »ich kann keine Wunden sehen, ich verstehe nicht Kranke zu behandeln, dazu ist ja Doktor Bulster da, und der Geruch in diesen Bauernzimmern macht mich krank. Das ist alles sehr unsympathisch und wenig tugendhaft – aber ich kann nichts dafür.«

»Nun, wenn du nicht kannst,« sagte Ulrich, schwieg dann und schloß seinen Mund so fest, daß die Lippen weiß wurden.

Einen festlichen Augenblick gab's an jedem dieser stillen Wintertage: das war der Sonnenuntergang. Die Sonne hing als rote Kugel am Rande des weiten Horizontes, purpurne und goldene Wolken lohten wie Flammen in den blassen Himmel hinauf, die Ebene wurde rosenrot, das Haus war voll roten Lichtes. Der Graf Pax trippelte von Fenster zu Fenster, rieb sich lächelnd die Hände und flüsterte befriedigt vor sich hin: » Grand spectacle.« Irma stieg in den Garten hinab, ging durch die verschneiten Alleen, wie durch weiße Korridore, immer der Sonne entgegen. Sich von diesem roten Lichte bescheinen zu lassen, erregte sie, es war wie ein Versprechen, wie eine Anzahlung des Lebens auf große und schöne Dinge. Eine Welt, die sich so prächtig schmückt, mußte auch ihr etwas bringen. Die Kinder liefen Schlittschuh auf einem kleinen, schmalen Gewässer des Parkes unter der Aufsicht der Frau Müller. Der Abendschein färbte das Eis. »Wir laufen auf einem rosa Bonbon,« sagte Uli. Er breitete seine Arme aus, lief lächelnd der Sonne entgegen. »Gib acht,« warnte Frau Müller. Er aber meinte: »Ich muß zur großen Roten hin!« und stieß schrille Vogellaute aus. Plötzlich aber fiel er, fiel rücklings, lag still da und wimmerte. Man trug ihn in das Haus; er hatte sich Schaden getan am Rücken und am Bein, und Doktor Bulster wurde geholt; klein, mit kurzgeschorenem Haar, stand er breitbeinig am Bett des Knaben, machte ein bedenkliches Gesicht und stopfte sich Tabak in die Nase. Uli litt Schmerzen und fieberte, und eine furchtbare Angst und Niedergeschlagenheit breitete sich von diesem Kinderbette aus über das ganze Haus, es schien leer, weil die kleine blonde Gestalt fehlte. Trübselig saß der Großvater auf seinem Platz am Fenster und sah in den Hof hinab. Selbst die Hunde schienen traurig. Ulrich kam häufig in das Krankenzimmer, schaute sein bleiches Kind ernst an. ›Ich weiß wohl,‹ dachte Irma dann, ›auch dich verfolgt diese Angst überallhin,‹ diese Angst, die sie den ganzen Tag nicht verließ, als lauere etwas Entsetzliches auf sie, wo sie ging und stand. Irma wachte die Nacht über bei Uli; sie saß bei der Nachtlampe, ein Buch vor sich aufgeschlagen, aber sie las nicht, sie starrte in die Ecken, in denen die schwarzen Schatten zitterten; Uli flüsterte leise und geschäftig im Fieber, sein Gesicht war bleich, umgeben von der Aureole der blonden Locken. Es kamen Irma Gedanken, seltsam wie schreckende Träume; wie konnte etwas so Kleines und Hilfloses mit dem furchtbaren, unbekannten Tod ringen; und dann dort drüben, – gut – es waren dort Engel, Licht – allein, jetzt sah sie dieses Jenseits ganz deutlich – eine große, dämmrige Ebene von einer erschreckenden Fremdheit, und dort sollte Uli umherirren? Allein, hilflos, klein und eine so unbeschreibliche Angst zitterte in ihr, daß sie nicht weinen konnte. Und dennoch, als Frau Müller um vier Uhr kam, um sie abzulösen, und sie sich todesmatt auf das Bett warf, da war es ein köstliches Gefühl, den Kopf in die Kissen zu drücken und die Augen zu schließen.

 

Ulis Zustand besserte sich; sein Rücken schmerzte ihn. Aber es gab Augenblicke, in denen er lächelte. Isa saß treu am Ende des Bettes und sah ihn aufmerksam mit ihren grauen Augen an. Der stete Gefährte aber des Knaben war der Großvater. Der alte Mann hätte alles getan, um ein Lächeln auf das bleiche Kindergesicht zu bringen. Er machte vier Knoten in ein Taschentuch und war dann ein Clown, ruhte nicht eher, bis Uli bei seinen Sprüngen und Künsten hell auflachte; er schleppte alle Schätze seines Zimmers herbei, Schweizer Holztiere und Häuschen, Krawattennadeln und Bilder. Er wurde der kindliche Kamerad des Kranken, und wenn Uli nicht lachte, sondern sich wimmernd in seinem Bette wand, wurde auch der alte Herr ganz niedergeschlagen und machte ein Gesicht, als hätte er Podagra. Endlich kam die Zeit, da Uli ein wenig aufstehen durfte, aber er mußte sich auf eine Krücke stützen, das Gehen fiel ihm schwer, und Doktor Bulster machte noch immer ein bedenkliches Gesicht und sagte zu Ulrich: »Wir müssen zusehen, daß uns der Knabe nicht verwächst.«

 

Draußen war währenddessen das Frühjahr gekommen, warmer Sonnenschein, über die Bäume breitete es sich wie grüne Schleier, und das junge Gras duftete aus der feuchten Erde. Die Amseln schlugen wie berauscht; Uli durfte in einem kleinen Rollstuhl, von Frau Müller geschoben, die Parkwege entlang fahren, der Großvater ging nebenher, versuchte es, aus dem Frühling alles hervorzusuchen, was den Knaben erheitern konnte. »Jetzt fahren wir zum Drosselnest,« sagte er, »jetzt zu den Veilchen,« »jetzt schauen wir uns an, wie das Vieh hinausgetrieben wird.« Er sprach unermüdlich. »Eine Livree müßten wir Frau Müller machen,« meinte er, »rot mit goldnen Tressen, dann würde jeder, an dem du vorüberfährst, sagen: ›Da fährt der Baron Buchow‹.« Das bleiche Kindergesicht lächelte und schaute erwartungsvoll zum Großvater auf, ob dieser nicht etwas Neues, Vergnügliches sagen würde.

 

Die Abende waren noch kalt, so brannte das Feuer im Kamin; der Großvater schlief in seinem Stuhl, Irma und Ulrich saßen am Feuer und schwiegen. Ja, Ulrich schwieg, denn er war es gewohnt, die Zähne über einem Schmerz zusammenzubeißen, ihn stumm in sich bohren zu lassen. Irma weinte zuweilen still vor sich hin.

»Weine doch nicht,« sagte Ulrich weich. »Ich muß weinen,« erwiderte Irma, »wenn ich an den armen Rücken des Kleinen denke, wenn ich denke, daß sein Leben Schmerzen und Entsagung sein wird.«

»Wir müssen tapfer sein, Kind,« sagte Ulrich.

»Tapfer,« wiederholte Irma und ein wenig Rot stieg in ihre Wangen, »für wen soll ich tapfer sein, für wen soll ich die Heldenmutter spielen, wenn das Leben meines Kindes zerstört wird?« Ulrich schwieg darauf, sann nach und sagte dann vor sich hin: »Viervogel sagt, wenn man auch noch so vorsichtig durchs Leben geht, sich gleichsam vor dem Leben versteckt – es hilft nichts, irgendwo an einer Ecke lauert es einem auf und trifft uns, wo wir am verwundbarsten sind.«

»Ach was, der törichte Viervogel,« sagte Irma, »der liebt nichts, der hat nichts, der sieht zu, wie die Witwe Weidemann bäckt, und wenn sie nicht bäckt, bäckt eine andre, was kann dem geschehen?« Das Gespräch verstummte wieder, Ulrich lehnte den Kopf in den Sessel zurück und rauchte, der Großvater schnarchte leise in seinem Stuhl. Plötzlich sagte Ulrich mit einer wunderlich veränderten, ein wenig heisern Stimme, als würde das Sprechen ihm schwer: »Siehst du, Kind, ich bin nun einmal solch ein steifer, verschlossener Gesell, der, was er fühlt, herunterschluckt, aber glaube mir, ich fühle sehr wohl, was in dir vorgeht, und ich würde so gern dir helfen, laß unsere beiden Schmerzen Kameraden sein, sprich dich aus, wir wollen näher zueinander rücken; wenn ich's auch nicht zeigen kann – es klingt doch alles in mir wieder, was in dir vorgeht« – und er streckte seine Hand ihr entgegen. Sie legte matt die ihre hinein und sagte leise: »Du bist sehr gut, Ulrich, aber, wer kann mir helfen?« Dann schwiegen sie wieder und lauschten dem Prasseln der Holzscheite im Kamin. Plötzlich erwachte der Ton schnellaufender kleiner Füßchen in der dunklen Zimmerflucht, und Isa erschien in der Tür. Ihre grauen Augen musterten aufmerksam die Eltern. »Nun, meine Tochter,« sagte Ulrich freundlich. Da trat sie vor und bot ihre Stirn den Eltern zum Gutenachtkuß hin. Irma küßte flüchtig die Kinderstirn, Ulrich strich dem Mädchen freundlich über das Haar. Isa küßte noch die weiße Perücke des Großvaters und verschwand dann wieder in der Dunkelheit. –

 

Diese Abende am Kaminfeuer waren kummervoll; das Ehepaar schwieg viel, zuweilen aber sprach es leise und sprach beständig von Uli. »So viel Glück als wir können, müssen wir in sein Leben bringen,« sagte Ulrich.

»Ach ja,« meinte Irma, »er, der weinte und böse war, wenn die Sonne nicht schien.«

»Nun,« sprach Ulrich nachdenklich vor sich hin, »das Leben nimmt ihn in eine harte Schule.«

»Das will ich nicht,« fuhr Irma auf. »Das Leben soll mein Kind in Frieden lassen, ich will es beschützen und bewachen vor dieser Schule, und vielleicht, vielleicht –« sie beendete ihren Satz nicht, ihre Stimme zitterte zu stark. Ulrich lehnte seinen Kopf in den Sessel zurück und sagte nach einer Weile: »Ja, vielleicht …« Dann schwiegen sie wieder beide.

Der Frühlingswind rüttelte an den Fensterläden, weckte schrille Töne an den Glastüren des großen Saales, aber es war nicht die Stimme des Winterwindes, die stets klingt, als sei etwas in Not, als klagte etwas. Es lag wie Jubel im Brausen des Windes, als wühlte er mit Wollust in den grünen Wipfeln und schüttelte lustvoll an den Knospen. Irma hörte aus ihm etwas wie ein Versprechen heraus, wie eine Wonne, die doch noch, trotz allen Kummers, in der Welt wohnte. Dieser Wind ließ in ihr das Gefühl des Jungseins und des Hoffens plötzlich erwachen.

Der Ton eines dumpfen Falles machte beide aufschrecken. Der Großvater war von seinem Stuhl vornüber auf die Erde gefallen, lag regungslos da, ein hilfloses Bündel. Man hörte ihn nur flüstern: » En été, en été.« Den Armen hatte ein Schlaganfall getroffen, er wurde in sein Zimmer geschafft. Doktor Bulster konstatierte die Lähmung der rechten Seite, und der lustige alte Herr lag klein und bleich in seinem Bette, schwieg meistens; nur einmal schien er Ulrich zu erkennen und sagte leise: » Fini

Während der Krankheit des Grafen fuhr Uli allein in den Park hinaus; zuweilen ging Isa neben seinem Rollstuhl einher, allein das befriedigte ihn nicht, er war verstimmt und weinerlich. Sein alter Spielkamerad fehlte ihm, und die Dinge um ihn her hatten, ohne die lustige Auslegung des Großvaters, für ihn keinen Sinn.

 

Aber der alte Graf erholte sich, er konnte das Bett verlassen und am Arme seines alten Dieners Lukas sich langsam fortbewegen. Das Gesicht unter der weißen Lockenperücke war kleiner und faltiger geworden, der Mund ein wenig schief, wie gezogen von einem ironischen Lächeln. »Siehst du, mein Lieber,« sagte der Graf zu Ulrich, »das sind so Winke, die ich zwar für unnütz halte, denn was geschieht, soll geschehen, wozu die Winke und Andeutungen; aber gleichviel, ich bin nicht dumm genug, um nicht zu verstehen. Aber den Gefallen will ich dem Herrn oben doch nicht lassen, und das Stückchen Leben, das mir bleibt, damit verbringen, Trübsal zu blasen. Ich habe nach einem Rollstuhl geschrieben, Lukas kriegt eine blausilberne Livree; es kann alles noch ein anständiges Ansehen haben.«

Uli lachte über das ganze Gesicht, als er den Großvater sah, streckte ihm die Arme entgegen und rief: »Du bist's, Großvater, nun ist alles gut, sie sagten schon, du …« Der Knabe hielt ein wenig erschrocken inne.

»Ich sterbe,« ergänzte der Großvater. »Nein, mein Junge, das ist eine Klatscherei, man stirbt nicht so mir nichts, dir nichts im schönsten Frühling. Ich habe jetzt auch einen Rollstuhl, den sollst du sehen, ein wahrer Thron, Lukas bekommt seine blaue und silberne Livree, Frau Müller schenke ich einen grünen Helgoländer, und so fahren wir zusammen aus.«

Und sie fuhren zusammen aus, hinein in die Pracht des Frühlings, der kleine und der große Rollstuhl, Lukas in der blauen Livree, Frau Müller im grünen Hut.

»Sieh, mein Junge,« sagte der Großvater, »wir können es ja so ansehen: jeder vornehme Mensch fährt im Rollstuhl. Das sind so mehr die kleinen Leute, die auf zwei Beinen herumlaufen. Sieht das nicht famos aus, wie wir so dahinfahren, Graf Pax und Baron Buchow; wie das klingt! So, jetzt kommen wir in die Pappelallee, wie die gerade dastehen. Wir können uns denken, sie sind Soldaten und salutieren und wir grüßen wieder, nein nicht so, nur so leicht an den Hut gefaßt, so grüßte der König von Belgien, wenn er durch Brüssel fuhr. Und jetzt fahren wir zu den Tulpen; wir wollen doch sehen, was die in dieser Zeit gemacht haben.«

Die Tulpen waren wunderschön aufgegangen, sie standen da, wie feuerfarbene und rote Becher; einige hatten ihre Spitze noch geschlossen und sahen aus wie wunderliche, bunte Früchte. »Brav, brav,« sagte der Großvater, »die tun ihre Pflicht; nun fahren wir zum Teich, nach den Fröschen; schau, die wunderlichen, nackten grünen Kerle! I, wie der dort über das Blatt steigt; sie tun so, als müßte man so aussehen!«

Uli lachte, daß ihm die Augen feucht wurden. Zuletzt fuhren sie noch an den Zaun, um nachzuschauen, ob nicht Besuch käme, allein es wurde abendlich und Frau Müller mahnte zur Heimfahrt. »Wir wollen noch die Sonne untergehen sehen,« sagte Uli weinerlich.

»Das wollen wir,« sagte der Großvater, »aber dort von der offenen Holzhalle im Garten aus.«

So standen der kleine und der große Rollstuhl in der offenen Holzhalle, das helle Gesicht des Knaben und das kleine, verschrumpfte Gesicht des Greises wurden von der untergehenden Sonne mit purpurnem Licht übergossen, und in den blauen Kinderaugen und in den grünlichen Augen des alten Mannes spiegelte sich die Sonne wie kleine, rote Pünktchen. Zuweilen gesellte sich Irma zu ihnen und sagte: »Ich komme zu euch, ihr scheint mir so glücklich.«

 

In den Ecken des Hauses saßen wohl noch die Sorgen und lauerten den Menschen auf, um sie jählings zu überfallen, aber draußen feierte der Frühling sein Fest üppiger denn je. Die Zeit der durchsichtig grünen Wipfel, der flatternden, grünen Schleier war vorüber, die Bäume gaben schon Schatten, die Alleen waren voll gedämpften, grünlichen Lichtes, alles blühte jetzt und schmückte sich. Aus den Gartenbeeten leuchtete und duftete es, und in den Zweigen saßen Stare und Amseln und schlugen aus Leibeskräften, als sei etwas Großes in diesen kleinen Wesen erwacht und müßte herausgerufen werden, wenn es auch die Brust zersprengte.

Auch Irma fühlte in sich die Lebensunruhe erwachen, ein unklares Hoffen und Warten, das die Sorgen zuweilen ablöste. Wenn sie abends im Kaminzimmer neben dem schweigenden Ulrich saß, dann kreuzten ihre Füße sich unruhig immer wieder einer über den anderen oder sie ging am Tage ohne Zweck durch die lange Zimmerflucht und ließ das Parkett unter ihren rastlosen Füßen knarren. Es war ihr zuweilen, als würde sie gerufen, als gäbe es etwas, wo sie dabei sein mußte, etwas, das sie versäumte.

Sie ging mit Fräulein Christa spazieren; der Sumpf, über den die große Brücke führte, war schon voll giftgrüner Hümpel. Im Flecken herrschte reges Leben, beim Gärtner wurde gearbeitet, die großen blonden Mädchen, Gießkannen in der Hand, riefen sich laut und lachend zu; der alte Mann mit dem schwarzen Käppchen gab Befehle; das Postfräulein wartete an der Ecke auf den Provisor, und die Witwe Weidemann hatte zwei rote Rosen an ihrem Strohhut. Selbst Viervogel ging spazieren, langsam und gelangweilt. »Ja,« sagte Fräulein Christa, »in dieser Zeit ist der Flecken wie ein Bienenstock, der sich zum Schwärmen rüstet, ich merke es selbst an den Mädchen meiner ersten Klasse, sie haben feuchte, blanke Augen und denken an ganz anderes, als an das, was ich ihnen vortrage. Aber das muß wohl so sein,« schloß sie und seufzte.

Sie hatten den Flecken hinter sich gelassen und waren zum kleinen See hinaufgegangen, der blau und voll goldenen Nachmittagslichtes vor ihnen lag. Überall Lichtflecken, die sich bewegten und doch nicht von der Stelle kamen; Schachtelhalme steckten ihre grünen Spitzen aus dem Wasser, und wohlig schwammen Bläshühner wie kleine schwarze Kähne durch all das Blau und Gold. »Das ist doch schön,« sagte Irma und breitete ihre Arme aus.

»Ja, schön,« wiederholte Fräulein Christa und machte ein strenges Gesicht, »aber gehört man dazu? Ja, das Postfräulein, das auf den Provisor wartet, die tollen Gärtnersmädchen, alle meine Schülerinnen, denen ich es ansehe, daß etwas ihnen im Blute brennt, die gehören dazu, aber ich, ich komme mir ausgeschlossen vor.«

»Nein,« rief Irma und stampfte mit dem Fuß, »ich will dazu gehören, niemand hat ein Recht, mich davon auszuschließen.«

»Ja, vielleicht,« sagte Christa, »gehörst du dazu, aber ich bin einsam und häßlich, was kümmert sich der Frühling um mich.«

»Nehmen müssen wir ihn uns,« rief Irma, »trotz aller Sorgen und trotz aller Qualen, wir wollen uns unser Recht nicht verkümmern lassen. Was heißt das, alles freut sich und schmückt sich, und ich werde sauer in der Ecke sitzen und Trübsal blasen, das will ich nicht. Wenn es einen Frühling gibt, dann gehöre ich dazu, und du auch, Christa. Was macht denn dein alter Viervogel, warum liebt er dich nicht?«

Christa machte ein tragisches Gesicht. »O der,« sagte sie, »der leidet an seinem zerstörten Leben, was soll dieser kluge Mensch hier bei uns? Es muß ihn schmerzen, daß er all seine Gaben hier verstecken muß.«

»Ach was,« sagte Irma, »er soll dich nur heiraten, statt bei der Witwe Weidemann zu sitzen, wenn sie auch zwei Rosen auf ihren Strohhut gesteckt hat. Es kommt mir vor, als sei überall Glück ausgestreut, als rufe es nach uns in den Lüften und in den Zweigen, aber wir verstehen es nicht zu fassen.«

»Nein,« sagte Christa, noch immer mit ihrem tragischen Gesicht, »unter all diesen Frühlingsschönheiten verstecken sich doch die Schmerzen und Tränen, und wollen wir den Frühling fassen, so fassen wir ja nur diese Schmerzen und Tränen.«

»Nein, das will ich nicht,« rief Irma, »warum bist du heute so traurig, ich glaubte, wir würden zusammen fröhlich sein, und nun sprichst du solche Dinge.«

»Verzeih,« meinte Christa, und schaute nachdenklich in das Flimmern des Wassers hinaus, »der Frühling macht mich immer traurig.«

»Auch das noch,« versetzte Irma zurück und zuckte die Achseln, »nun, dann gehen wir nach Hause.«

Auf dem Wasser erloschen die Lichter. Die untergehende Sonne warf über den See für wenige Augenblicke ihr purpurnes Licht, so daß der See aussah wie eine große Schale voll roten Weines dort mitten in all dem Grün. Unten im Flecken dämmerte es schon, die durchsichtige Dämmerung des Frühlingsabends. Beim Gärtner wurde noch gearbeitet, das Rufen und Lachen der Gärtnerstöchter klang hell auf die Straße hinaus. In allen Häusern standen die Fenster geöffnet, Mädchen lehnten in ihnen und schauten nachdenklich und wartend in die Dämmerung hinein. Katzen schlichen die Dachfirste entlang, und in dem kleinen Gärtchen des Lehmannschen Gasthauses stand die dicke Kellnerin und ließ sich von einem Burschen mitten auf den Mund küssen. ›Die wollen dazu gehören,‹ dachte Irma, ›und sie gehören dazu.‹ Auf der großen Brücke trennte sie sich von Fräulein Christa, und während sie das Stück bis zum Hause allein zurücklegte, fühlte sie das heimliche Leben der Frühlingsnacht.

Zu Hause kam ihr Ulrich entgegen, ernst und bleich; er sagte, Uli hätte stark gehustet, Dr. Bulster hatte die Bronchien angegriffen gefunden, ein wenig Fieber sei da und die größte Vorsicht geboten. Einen Augenblick sah Irma ihn mit großen Augen an; in einem Augenblick war alles wieder fort, der Frühling und die Lebensunruhe und die Hoffnung auf schöne Dinge. Die Angst um ihr Kind war wieder da; sie saß wieder am Bette des Kindes, starrte auf die schwarzen Schatten in der Ecke, die von der flackernden Nachtlampe leise bewegt wurden, und ihre Gedanken gingen so freudlose, angstvolle Wege, und alles, alles Schöne schien fort zu sein.

Jetzt begann für Irma ein seltsames Leben, dessen einzig Wirkliches das Kinderbett mit dem bleichen, hustenden Knaben war. Was sonst der Tag brachte, die Mahlzeiten mit dem ernsten Ulrich und der scheuen Isa, deren Augen angstvoll auf der Mutter ruhten, die Gespräche mit Fräulein Christa, all das war schattenhaft. Zuweilen blickte Irma zum Fenster hinaus, ja, die Bäume grünten und blühten, die Wipfel wiegten sich im Frühlingswinde, aber das sagte Irma nichts.

Der alte Graf Pax ließ sich schläfrig und mißmutig durch die Gartenalleen fahren. Ihre eigentliche Welt war das Krankenzimmer, in dem die Fenster offen standen und die Vorhänge zugezogen waren. Das einzig Wirkliche war der schwere Atem des Kindes und die furchtbare Angst, die ihr das Herz zusammenschnürte. Zuweilen wimmerte Uli und verlangte, es sollte heller sein; Irma zog dann ein wenig die Vorhänge zurück, und die Sonne warf einige Goldflitter auf die Decke des Knaben, dessen schwache Hände danach griffen, als könnten sie in ihnen wühlen, während die Andeutung eines matten Lächelns sich auf dem blassen Kindergesichte zeigte. »Warum spielt Isa nicht?« flüsterte er zuweilen, aber wenn sie mit ihren Püppchen kam und ernst vor ihm zu spielen begann, schloß er müde die Augen. Auch der Großvater kam, aber er war still und in sich versunken. Uli lächelte ihm zu und dann versuchte es der alte Herr, heiter zu sprechen, zu scherzen; aber Uli hörte nicht mehr, schloß die Augen und rang nach Atem. An einem Abend, nach einem sehr schlimmen Tage, flüsterte Uli: »Die Sonne geht unter, laßt sie herein.« Als Irma die Vorhänge zurückbog, kam rotes Licht in das Zimmer, legte sich einen Augenblick auf die Decke des Kranken: es war, als erblühte etwas Prächtiges rings um das Krankenlager. Uli griff unsicher nach den bunten Strahlen, als wollte er sie pflücken, dann lösten sich aus seiner Brust tiefe, rasselnde Atemzüge, es wurde dann still, ganz still … Uli lag tot da, überglitzert von den goldenen, purpurnen Lichtern der untergehenden Sonne.

 

Wenn Irma in ihrem Schreibzimmer saß, still vor sich hinweinte oder vor sich hinschaute, hatte sie noch das Gefühl, Uli ist da. Sie wußte, er lag im Nebenzimmer auf seinem Bette, in seinen Sonntagskleidern, mit einem weißen Schleier bedeckt, das Gesicht bleich und streng. Er war ganz umgeben von Blumen, deren Düfte die Luft schwer und schwül machten. Irma wagte nur selten hineinzugehen, über dem strengen, bleichen Knabengesichte lag etwas Fremdes, das sie schmerzte. Dann kam der Tag der Bestattung, traumhaft und unwirklich, viele Menschen: Damen in Trauer, die weinend Irma umschlangen, der Gang zum Friedhof, auf dem das Familiengewölbe stand. Sie hörte die Stimme des Predigers, sie sah einen Augenblick den kleinen Sarg, jemand führte sie fort. Sie fand sich wieder in ihrem Zimmer, die vielen Menschen waren fort, Ulrich stand bei ihr und strich ihr über das Haar; Christa saß neben ihr und machte ein trauriges Gesicht. Irma fühlte sich unendlich müde und sie war hungrig; sie wunderte sich darüber, aber sie freute sich, als der Diener den Tee brachte. Sie aß und trank mit Heißhunger, hörte, wie Ulrich und Fräulein Christa miteinander sprachen, und es war, als sprächen Menschen in weiter Ferne von ihr, Dinge, die sie nichts angingen, sie wollte schlafen – nur das. Und sie schlief einen langen, traumlosen Schlaf.

 

Als sie erwachte, dämmerte es bereits; Ulrich stand neben ihr und schaute sie ernst an. »Ich warte hier,« sagte er, »denn ich weiß, das Erwachen ist bitter.«

Irma schaute eine Weile wie gedankenlos vor sich hin, bis die Erinnerung wieder über sie kam, da sagte sie leise: »Ja, das Erwachen ist bitter.« Ulrich schlang seinen Arm um sie, und sie begannen langsam in der Zimmerflucht auf und ab zu gehen. Durch die geöffneten Fenster tönte das Abendlied der Drosseln, an der Tür des Saales erschien Isa, eine kleine schwarze Gestalt. Sie sah forschend ihre Eltern an und ging dann schweigend hinter ihnen her.

 

Nun kamen Tage, die Irma leer, ganz leer dünkten. Der Sonnenschein lag in den Zimmern, die Luft, die durch die Fenster eindrang, wurde immer schwerer von Düften, der Großvater ließ sich durch die Alleen fahren, bleich und gebrechlich, Isa spielte mit ihren Püppchen, indem sie lautlos die Lippen bewegte, Ulrich war draußen bei feiner Arbeit, und Irma, für Irma, war der Tag ganz leer. Eine zwecklose Unruhe trieb sie von Zimmer zu Zimmer, ließ das Parkett unter ihren rastlosen Füßen knarren; wenn sie an einem Fenster stehenblieb, sah sie, wie die Bäume grünten, wie die Kastanien und der Flieder blühten – aber das sagte ihr nichts. Nicht einmal an Uli konnte sie denken, nur eine unendliche Müdigkeit lastete auf dieser bleichen Frau im langen Trauerkleide. Zuweilen kam Fräulein Christa und sprach in ihrer resoluten Weise von Uli, vom Himmel und von Gott, aber Irma winkte ab: »Laß das,« sagte sie müde, »erzähle lieber von Viervogel.« Abends kam Ulrich; sie saßen im Kaminzimmer beieinander in der hellen Dämmerung, die Fenster standen weit offen, Fledermäuse flogen vorüber, ihren dünnen, schrillen Jauchzer ausstoßend, ein Nachtschwärmer verirrte sich zuweilen in das Zimmer, und man hörte in der Dunkelheit nur das surrende Geräusch seiner Flügel wie den Ton winziger Propeller. Irma und Ulrich hatten lange geschwiegen, jetzt nahm Ulrich Irmas Hand und sagte mit einer leisen, erregten Stimme: »Ach, Irma, wollen wir unsere Schmerzen zusammenlegen, sprich, das wird dir gut tun.«

»Sprechen,« sagte Irma, »was soll ich sprechen – es ist aus, ich wußte nicht, daß ein großer Schmerz eine große Leere ist. Uli war ein Festtag, jetzt, wo er fort ist, kommen die Werktage, die alle einander gleichen und nichts bringen.«

»Die Werktage richten uns auf,« versetzte Ulrich, »wie könnten wir ohne sie leben; sie helfen uns unseren Schmerz als eine heilige, ernste Melodie in das Leben aufzunehmen, wir gehören nicht ihm, sondern er gehört in unser Leben.«

»Ja, du hast Arbeit,« meinte Irma, »aber ich?«

»Für dich muß das Leben auch wieder beginnen,« meinte Ulrich.

»Ja,« sagte Irma klagend, »vielleicht wird es wieder beginnen, dieses Leben, ich kann es nicht hindern, aber wird es je wieder einen Inhalt haben?«

»Wir müssen ihm einen Inhalt geben,« bemerkte Ulrich, dann schwiegen sie wieder und horchten hinaus auf das Flüstern der Mainacht. –

 

Der Mai war vorüber, die Tage wurden heiß. Die Vorhänge in den Zimmern waren vor der Sonne geschlossen, im Garten begannen die Lilien und Rosen zu blühen. Graf Pax und sein Diener verkrochen sich in die schattigsten Winkel des Gartens und dort schlummerten dann beide. Auch aus dem stillgewordenen Hofe suchten die Hunde kleine Schattenflecken, um dort zu schlafen. Erst am Abend erwachte das Leben, wenn vor dem Gesindehause die Harmonika gespielt wurde und die Mägde in langen Reihen die Landstraße entlang gingen und sangen. Irma empfand die heißen Nachmittage, an denen Sonnenstrahlen durch die Vorhänge die goldenen Dolche in das Zimmer stachen, als eine Zeit, die sie doppelt traurig und müde machten. Sie legte sich dann auf ihre Ottomane, sie liebte jetzt zu schlafen, traumlos zu schlafen, denn die unwahrscheinliche und leere Welt um sie war dann fort, ganz frei.

 

So lag sie eines Nachmittags da, das bleiche Gesicht beruhigt, fast glücklich; sie hatte schon längere Zeit geschlafen, als das Erwachen begann, das mühsame, hoffnungsarme Erwachen. Sie spürte es deutlich, daß jemand sie anschaute. Es war wohl wieder Ulrich, der ihr diesen Augenblick erleichtern wollte. Aber sie schlug die Augen nicht auf, sie wollte das ernste, traurige Gesicht ihres Mannes nicht sehen. Ein leises Hin und Hergehen jedoch ließ sie aufsehen; mitten im Zimmer stand Achaz und lächelte. »Du bist es?« sagte sie. Achaz wurde gleich ernst, er machte ein trauriges und elend befangenes Gesicht. Er eilte zu ihr, küßte ihre Hand, sprach leise etwas, von tiefem Schmerz, den er mitempfinde, von dem lieben Jungen, der auch ihm fehlen würde.

»Ja,« sagte Irma langsam, »es ist seltsam, wie das Fortgehen dieses kleinen Kerls mit dem großen Lockenkopf das Hans und das ganze Leben so leer macht.«

Achaz hatte feuchte Augen, aber er wußte nicht viel zu sagen; eine ihm sonst ungewohnte Befangenheit ließ ihn nach Worten suchen. Da ertönte unter dem Fenster das Knarren der Räder eines Rollstuhls. Ein wenig erleichtert sprang Achaz auf. »Das ist der Großvater,« sagte er, damit eilte er hinaus. Irma hörte, wie sie unter dem Fenster miteinander sprachen, anfangs leise und gemessen, dann plötzlich lachte der Großvater, und dann prasselte auch Achaz jugendliches Lachen auf. Irma horchte auf, dieser Ton war ihr so ungewohnt seit langer Zeit, gab es das noch? Da war es wieder, dieses helle, sorglose Lachen. Von dem ungewohnten Tone aufgeschreckt, war Isa an die Tür geschlichen, eine kleine, schwarze Gestalt, die mit runden Augen verwundert auf dieses Lachen da draußen horchte. Würde er noch einmal lachen? dachte Irma, dieser Ton brachte ihr eine Botschaft vom Leben, die sie noch nicht verstehen wollte, aber die sie fühlte. Der Rollstuhl setzte sich wieder in Bewegung, Achaz Schritte knarrten auf dem Kies, die Stimmen entfernten sich, das Zimmer war wieder still in der goldenen Schläfrigkeit der Mittagsstunde.

Graf Pax ließ abends seinen Rollstuhl in das Kaminzimmer rollen, er wollte hören, was Achaz erzählte. Durch die geöffneten Fenster drang die weiche Luft der Sommernacht, schwer von den Düften der Lilien und der Nachtviolen. Die Unterhaltung war anfangs stockend und kleinlaut, allmählich jedoch kam Achaz in das Erzählen, seine Stimme wurde lebhaft und sein Lachen sorglos und heiter. Der alte Graf legte die Hand an sein Ohr, aus Achaz' Geschichten wehte es ihm entgegen wie der Asphaltgeruch der Großstadtstraße, er hörte wieder die Namen vornehmer Menschen und guter Restaurants, er richtete sich in seinem Stuhl auf, kicherte und erzählte seinerseits die längst bekannten Geschichten aus Paris. Irma hörte nur zerstreut zu, aber diese Stimme, diese Geschichten, dieses Lachen –es zeigte ihr, daß das Leben wartete, und unbewußt fühlte sie, es wartete auf sie. Aber gleich empfand sie dann, daß sie etwas verriet, etwas verließ, und sie wollte zurückkehren zu ihren traurigen Gedanken, wollte es unterdrücken, dieses leichte Zittern einer neu erwachenden Lebenslust. Achaz hatte langen Urlaub genommen, denn Ulrich hatte ihm geschrieben, er sei hier erwünscht. Nun meinte er, man ist doch so selten erwünscht, da muß man die Gelegenheit erfassen. Übrigens wollte er sich ganz dem Landleben widmen, wollte in der Morgenfrühe in dem See baden, morgen schon, und mit Fräulein Christa im Freien von Religion sprechen. Gerade in seinem Berufe war es wichtig, einmal wieder ganz zur Natur zurückzukehren, denn Diplomatie sei das Gegenteil von Natur. Als man sich trennte und gute Nacht bot, rieb der alte Graf sich die Hände und meinte schmunzelnd: »Wieder einmal ein anständiger Abend!«

Es war ganz früh am Morgen, als Irma erwachte. Die Sonne schien noch tief zu stehen und sandte schräge Strahlen unter den Vorhängen hindurch in das Zimmer. Erfrischende Morgenluft drang durch die Fenster. Irma wollte aufstehen, bevor die heißen Stunden kamen, sich mit Morgenkühle volltrinken. Ja, es war etwas, das sie heute den Tag mutvoller beginnen ließ, als verspräche er etwas. Was war es? Worauf konnte sie sich freuen? Achaz fiel ihr ein, aber sogleich widersprach das Gewissen ihres Schmerzes, was konnte Achaz ihr sein? Und dennoch, eine wunderliche Ungeduld, den Tag zu beginnen, trieb sie heute aus dem Bette. Sie ging in den Garten hinaus. Ein grauer, mattschimmernder Tauschleier lag auf den Blättern und Blumen, eine wohltuende feuchte Kühle mischte sich in alles Duften. Irma stand eine Weile da, die Lippen halb geöffnet, und trank diese Morgenluft ein wie einen köstlichen Trank, der sie für eine Weile ihre Jugend und ihr Leben fühlen ließ, so daß ihre Augen blank wurden. Aber dann mahnte wieder etwas in ihr zum Schmerz wie zu einer Pflicht, und sie begann ernst die Lindenallee auf und ab zu streifen. Zuweilen blieb sie stehen und sah zwischen den Bäumen hindurch auf das Land. Die Luft war noch voll eines leichten Glitzerns, vom Sumpfe stiegen weiße Nebelschleier auf, jenseits der roten Häuschen des Fleckens glänzte der See. Da kam auch Achaz die Landstraße herab, im hellen Sommeranzug, den Strohhut auf dem Kopf, wiegte er sich beim Gehen lässig in den Hüften und köpfte mit seinem Spazierrohr die Blüten des Löwenzahns am Wegrain. Plötzlich hatte er Irma erspäht, er lachte über das ganze Gesicht, grüßte, winkte mit der Hand, sie sollte ihm entgegenkommen. Gut, sie wollte ihm entgegengehen, ihm, der da lächelnd im Sonnenschein stand wie das leibhaftige Leben. Sie öffnete das Gartenpförtchen.

 

Auf der langen Brücke trafen sie sich. Achaz Gesicht war von dem Bade leicht gerötet, seine Augen glitzerten, die Morgenluft berauschte ihn; er mußte unaufhörlich sprechen, große Gesten machen, mit dem Stock auf das Brückengeländer schlagen. »Da bist du ja,« rief er Irma entgegen und küßte ihre Hand, »zufällig sehe ich zum Garten hinüber und bemerke dich zwischen deinen Bäumen, wie du mit dem Morgentau und Morgenduft eine Orgie feierst.«

»Ja,« meinte Irma, »diese Stunde gibt uns ein wenig Kraft für den langen, heißen Tag.«

»Ja, eine Orgie,« wiederholte Achaz, »während wir im Bett liegen, bereitet jeden Morgen die Natur solch ein raffiniertes Fest mit Gold und Purpur und Düften und Geschmäcken, ganz raffiniert; was sind unsere großstädtischen Diners dagegen mit ihren hohen Weinen und Sorbets; der Natur ist es ganz gleich, ob wir kommen oder nicht; sie feiert eben ihre Feste. Und dieses Bad im See! So viel Goldflitter lagen auf dem Wasser, daß es mir vorkam, als schwimme ich auf lauter Generalsuniformen, und wenn man emporschaute, war es, als ob man dieses kühle, durchsichtige Blau des Himmels trinken könnte; ich sage dir, großartig. Früher gingst du doch auch mit deiner Minna im See baden.«

Irma lächelte matt. »Ja früher,« sagte sie, »ich tat manches, was ich nicht mehr tue.«

»Und warum?« rief Achaz und schlug mit der Faust auf das Brückengeländer, »ich weiß, unser Junge fehlt uns, aber ich glaube, du trauerst um ihn nicht, wie er es wünschen würde. Er wurde ungezogen, wenn er ein trauriges Gesicht sah, wenn keine Freude in Aussicht stand. Um diesen sonnigen Jungen müssen wir trauern, indem wir ihm Sonnenschein und Duft und Freude und Lachen als Totenopfer darbringen. Lebe wieder, Irma, und du wirst es dann fühlen, daß er bei uns ist, daß er sich mitfreut, daß er mitlacht, daß er ein Teil von allem ist, das uns wohltut. Siehst du, er war ein Festkind, und um ihn müssen wir weinen, indem wir lächeln.«

Irma lächelte wieder ihr mattes Lächeln, aber Tränen standen in ihren Augen, gaben ihnen einen durchsichtigen Saphirglanz und verschönten sie seltsam. »Wenn ich das könnte,« sagte sie leise –, dann schwiegen sie eine Weile; Irma schaute auf die grünen Hümpel des Moores hinab mit ihren Wollblumen und Sumpfhyazinthen.

Achaz ging unruhig auf der Brücke hin und her; er mußte jetzt von etwas anderem sprechen, sagte er sich, von etwas Heiterem. »Es war seltsam,« begann er, »wie ich so auf dem See schwimme, sehe ich plötzlich im Schilf eine große Gestalt stehen, ein nackter Mensch, ganz blank von Wasser und Sonnenschein. Ich trau meinen Augen nicht, aber es ist Viervogel. ›Herr Rechtsanwalt,‹ sage ich, ›ich finde Sie da in einer Lebenslage, die nicht zu Ihnen paßt.‹ ›So, so,‹ sagte er, ›das ist möglich, aber täte man nie etwas, das nicht zu einem paßt, so müßte man sich aufhängen.‹ Er ist ein trauriger Mensch, dieser Viervogel, mitten in dieser glänzenden Morgenstunde vom Aufhängen zu sprechen. Wir gingen später ein Stück Weges zusammen nach Hause, der dicke, melancholische Kerl philosophierte über die Freuden des Lebens: ein Bad, wenn es heiß ist, ein Butterbrot, wenn man hungert, das sind die nie versagenden Freuden des Lebens, ›und Frau Weidemann,‹ sagte ich, ›ja, die auch,‹ meinte er. Im Ort war schon alles lebendig; die Gärtnerstöchter steckten Stangen in die Erbsenbeete, Frau Weidemann klopfte ihren Teppich, und die kleinen Mädchen gingen zur Schule. Sie rochen schon von weitem nach Seife, und ihre hart geflochtenen Zöpfe hingen ihnen über den Rücken nieder. Fräulein Christa aber stand in der Schule am offenen Fenster und sah ernst ihre Schülerinnen kommen. Nun ja,« fuhr Achaz fort und schlug mit dem Stock auf das Brückengeländer, »und wir sitzen da in den Ministerien und Gesandtschaften, treiben hohe Politik, schließen Verträge und Bündnisse, eigentlich nur, damit solche friedliche Menschen friedlich ihr Leben betreiben können, damit die kleinen Mädchen ungestört zur Schule gehen, damit Frau Weidemann ihren Teppich klopfen kann und die Gärtnerstöchter ihre Erbsenstangen stecken. Das ist die Hauptsache, darauf kommt es an, wenn das nicht mehr geht, dann ist es faul mit einem Staat.« Achaz wußte nicht, ob Irma ihn hörte, er schwieg daher und begann wieder unruhig hin und her zu gehen. Plötzlich blieb er stehen und fragte: »Reitest du noch deinen Goldfuchs?«

»Reiten?« wiederholte Irma ans tiefen Gedanken heraus, »ach nein, ich tue nichts mehr von dem, was ich früher tat.«

»Das sollst du aber,« rief Achaz lebhaft, »wir reiten heute noch, nicht wahr? Wir reiten in den Wald, den wir im Winter zusammen mit Uli sahen; der Kleine ist immer bei uns, und wir wollen den Wald jetzt im Sommerschmucke sehen. Abgemacht; jetzt bin ich aber hungrig; Viervogel hat recht: ein Frühstück, wenn man hungrig ist, ein Stuhl, wenn man müde ist, das sind ganz wichtige Dinge.« Sie gingen langsam auf der Landstraße nebeneinander her, Achaz schwieg jetzt, und Irma rollten große Tränen über die Wangen.

»Ich bin dir dankbar, daß du gekommen bist,« sagte Ulrich zu Achaz, als sie nach dem Frühstück sich in Ulrichs Zimmer die Zigarren anzündeten. »In Irma schien das Leben zu versiegen, müde und gleichgültig brachte sie die Tage hin, und ich, mein Gott, ich bin so ein steifer Geselle, ich stand ganz hilflos vor ihr. Über meinen eigenen Schmerz komme ich ja auch nur hinweg, indem ich mich in die Arbeit stürze. Es war ein recht elendes Leben hier; selbst der Großvater schrumpfte zusammen, jetzt aber, scheint mir, beginnt sich manches wieder aufzurichten, und das verdanke ich dir.«

»Mach dir keine Sorgen, mein Alter,« meinte Achaz, »das Leben will sein Recht, wir bringen die Sache schon wieder in Gang; heute reite ich mit Irma aus.«

Es war die Zeit des schweren, goldenen Nachmittagslichtes, als Achaz und Irma ausritten; kleine, gelbe Staubwolken erhoben sich unter den Hufen der Pferde, und die Wärme lag wie etwas Drückendes auf den Schultern der Reiter. Im Flecken war es ganz leer und still, die Leute hatten sich in ihre Häuser verkrochen, und beim Hufschlag der Pferde traten sie an die Fenster und schauten den Reitern aufmerksam und lange nach.

»Hier sieht es müde und nachmittaglich aus,« bemerkte Irma, »das hätte Uli nicht gewollt.«

»Nun, wir kommen gleich in den Wald,« sagte Achaz, »dort wird es festlich sein.«

Und da war er dann, der Wald, stark duftend, blank von Sonnenschein. Sie bogen von der Landstraße in die Waldschneise ein, setzten ihre Pferde auf dem harten Boden, der blank und braun von Tannennadeln war, in Trab; immer schneller ging es dahin.

»Ist es so gut?« fragte Achaz.

»So ist es gut,« erwiderte Irma, und ihre Wangen röteten sich leicht in der schnellen Bewegung; ihre halbgeöffneten Lippen waren wieder leuchtend rot, und ihre Augen glitzerten.

»Immer vorwärts,« rief Achaz, »nur nicht denken!«

Die Tannen griffen mit großen, grünen Händen nach den Reitern, der Eichelhäher flog laut schreiend auf, ein Reh setzte über den Weg; die ganze Sommerstille des Waldes schien von dem wilden Ritt in Aufruhr gebracht. An einer kleinen Waldwiese hielten sie stille; Pferde und Reiter atemlos.

»Hier steigen wir ab,« sagte Achaz und winkte den Reitknecht heran, »die Tiere müssen sich erholen.«

Irma und Achaz gingen die Waldwiese entlang, die bunt von Trollblumen und Schwalbenaugen war. »Wie Frau Weidemanns Schürze,« bemerkte Achaz. Auf der anderen Seite begann ein Bestand alter Tannen und Föhren, mächtige Bäume. Die Tannen ließen ihre großen Zweige bis auf die Erde niederhängen, wie grüne Schleppen; an ihren Ästen trugen sie lange graue Moosbärte, die Föhren hoben auf glatten rötlichen Stämmen ihre wirren Schöpfe hoch in den Sonnenschein hinauf, rauschten leise, und über ihren Wipfeln revierten die Falken.

»Hier wollen wir uns niedersetzen,« sagte Achaz und zeigte auf einen Mooshügel, »hier ist es still und feierlich.« Sie setzten sich mitten zwischen die Bäume »Hier ist es gut,« sagte Achaz, »wir wollen stille sein wie die Bäume, nur zuweilen ein wenig rauschen. So ein Baum sein, ist das nicht die schönste Existenz? Man steht still, wartet auf Sonnenschein, auf Regen, auf Wind, man wartet darauf, daß man blüht; muß das nicht köstlich sein, darauf zu warten, daß man blüht? Man fühlt etwas in sich, das schön ist, das leuchtet und schmückt und das heraus will, und plötzlich steht man da wie der schönste Traum, den man geträumt hat.«

»Warten, daß man blüht « wiederholte Irma nachdenklich, »das muß schön sein.«

»Nicht wahr,« fuhr Achaz fort, »wollen wir ganz still sitzen, uns dahinein denken, vielleicht spüren wir etwas.« Und sie saßen ganz stille da und schauten zu den Falken empor, die wie kleine silberne Scheiben im Blauen schwebten. Endlich schüttelte Irma den Kopf und lächelte. »Nein, es ist nichts,« sagte sie, »ich fühle nichts.«

»Ich glaube,« sagte Achaz, »es wäre so etwas über mich gekommen, aber dann war es wieder fort.«

In die Bäume fuhr ein plötzlicher Wind, ließ die Tannen aufrauschen und die Schöpfe der Föhren wirr durcheinanderfahren, dann wurde es wieder still und die Bäume standen regungslos da.

»Das kann ich nachfühlen, so plötzlich vom Winde ergriffen zu werden, sich zu neigen und zu rauschen und dann wieder dazustehen.«

»Ach ja,« sagte Irma nachdenklich, »dieses plötzliche Neigen und Rauschen, das kenne ich gut. Als ich Kind war, las meine Mutter Sonntags im blauen Zimmer eine Predigt vor. Diese Predigt erschien mir sehr lang. Um mich zu zerstreuen, schaute ich zum Fenster hinaus, da standen die hohen Birken ganz still im Sonnenschein, und plötzlich kam ein Wind, und alle Blätter regten sich und die großen Birken wiegten sich und bogen sich zueinander, als wollten sie sich etwas sagen und fuhren dann wieder zurück, als lachten sie über das, was sie gehört, und dann plötzlich wurde es stille, und sie standen regungslos da, als müßten sie auch einer Predigt zuhören. Dieses Schwanken und Wiegen der großen Wipfel erschien mir damals als etwas Köstliches, und ich hätte viel darum gegeben, als Birke meine Wipfel im Sonnenschein zu wiegen, statt der Predigt zuzuhören.«

»Ja,« erwiderte Achaz, »das muß auch etwas Köstliches sein, köstlicher als alle unsere Feste. Still, hörst du, jetzt kommt der Wind, wir wollen uns biegen lassen, wie die Birken.« Sie saßen still da, und als der Wind in die Tannen fuhr und die Föhren metallisch zu rauschen begannen, da fingen auch Achaz und Irma an sich zu wiegen, sich zueinander zu neigen und sich voneinander fortzubiegen. »So ist es gut, so ist es gut,« rief Achaz, »ich fühle die ganze Baumwonne!«

Irma lachte. »Ja,« sagte sie, »ich fühle etwas von den Birken in mir.«

Dann war der Wind vorüber, die Bäume standen still, und auch Irma und Achaz saßen ruhig da, schwiegen und lächelten sich an.

Es wurde abendlich; die roten Strahlen der untergehenden Sonne spannen sich zwischen den Föhrenstämmen hin. Von der Waldwiese stieg Nebel auf wie feiner, weißer Rauch, am Rande standen Rehe knietief in den Blumen und ästen. »Es wird feucht, laß uns heimreiten,« sagte Achaz.

»Heimreiten,« wiederholte Irma, »heim, dort wo das Grämen und Vermissen wohnt.«

»Ach was,« meinte Achaz, »wir nehmen das Leben aus dem Walde mit, da kann uns nichts etwas anhaben, und unser Junge sieht uns lächelnd zu.« Er reichte Irma die Hand zum Aufstehn, und dann gingen sie durch das feuchtwerdende Preißelbeerkraut zu den Pferden. Sie ritten heim über ein Land, das von der untergehenden Sonne rot überstrahlt war; überall zogen Viehherden langsam nach Hause. In Drixen saßen die Leute vor ihren Türen und sprachen miteinander, und ihre ruhig erzählenden Stimmen klangen die stille Straße entlang. Die Fenster in Fräulein Christas Wohnung waren weit geöffnet, Fräulein Christa saß am Klavier und sang laut und andächtig einen Choral. An der Ecke stand das Postfräulein und wartete auf den Provisor. »Die alle,« sagte Irma, »sind einverstanden mit dem Leben.«

»Das will ich meinen,« erwiderte Achaz und lachte.

Zu Hause empfing sie Ulrich; er legte freundlich den Arm um die Taille seiner Frau und fragte: »Hat es dich erfrischt?«

»Es war schön,« erwiderte Irma, deren Wangen leicht gerötet und deren Augen ganz blank waren. »Endlich wieder etwas Schönes.«

In der Tür erschien Isa in ihrem schwarzen Kleide, das Gesicht bleich und spitz und schaute mit den grauen Augen forschend ihre Eltern an. Als Irma freundlich sagte: »Nun, mein Kind,« kam sie heran und schlang ihre Arme um die Taille ihrer Mutter.

»Bist du draußen gewesen?« fragte Irma zerstreut, dann wandte sie sich von ihrem Gatten ab, machte sich ein wenig ungeduldig aus den Armen des Kindes frei, sagte: »Geh spielen, mein Kind,« und ging langsam der Gartentüre zu. Ulrich schaute Isa ernst nach, als sie aus dem Zimmer ging und sagte: »Sie trägt schwer an ihrer Einsamkeit; wir müssen ihr tragen helfen.« Irma wandte sich schnell um, sie errötete, als sie ein wenig heftig erwiderte: »Wer trägt nicht schwer an seiner Einsamkeit? Ich weiß, ich müßte mich dem Kinde mehr widmen, aber ich kann nicht, noch nicht, wenn sie so allein in der Tür steht, ich kann das nicht sehen.«

»Und doch,« meinte Ulrich, »dürfen wir das Kind nicht mit unserem Schmerze belasten.« Irma zuckte die Achseln und schritt weiter der Gartentüre zu. Auf der Gartentreppe saß der Großvater, und bei ihm stand Achaz und lachte; er lachte, weil der Großvater so böse war. »Den ganzen Nachmittag sich da draußen herumzutreiben!« rief er, »das ist sinnlos, ich fahre hier wie ein Eremit die Alleen auf und ab und warte! ›Die Natur genießen,‹ mein Gott, das ist vieux jeu, ebensogut könnt ihr Paul et Virginie lesen oder Chateaubriand. Wie soll ich euch denn halten? Ich gebe euch nächstens ein Frühstück, ich habe mir Delikatessen holen lassen, Hahnenkammpastete, Kaviar und so was, ich gebe euch von meinem alten Yquem zu trinken, das wird hübscher sein, als euer Naturgenuß.«

 

Das Frühstück des Grafen wurde unter der Hausgalerie eingenommen. Der Tisch war mit Chrysanthemen und Schwertlilien geschmückt.

»Nur keine duftenden Blumen,« befahl der Graf, »das ist ein Fehler.« An jedem Platze lag ein kleiner Papierfächer; Lukas hatte seine neue Livree an, und der Graf saß oben am Tisch im schwarzen Rocke, die neue Perücke auf dem Kopfe, sehr feierlich und weltmännisch. »Bitte, hier zu meiner Rechten,« sagte er zu Irma, »Ulrich zu meiner Linken, Achaz sitzt dort, Fräulein Christa gegenüber, unsere kleine Isa kommt an die Ecke des Tisches, so, eine sehr distinguierte Gesellschaft. Bei den frères provenceaux kann es nicht besser sein; für dich, Irma, wird die Hahnenkammpastete zu fett sein, nimm du davon, Ulrich, du trinkst einen Aquavit drauf. Für Irma ist hier foie gras truffée, wir trinken dazu etwas St. Peray, bitte nur zuzugreifen, meine Herrschaften, später essen wir noch etwas kalten Lachs und zum Yquem sind Krebsbrötchen und Kaviarbrötchen da und schließlich de petits fours. Lukas, die Weine nur nicht zu gleicher Zeit eingießen, da machen die Herrschaften Fehler, trinken zum Lachs St. Peray oder zur Pastete Hochheimer. Ja, ich erinnere mich, bei den frères provenceaux in einem hübschen, weißen, kleinen Saal, die Fürstin du Chateau Loux und die Gräfin Fiz James waren da; ich war ganz in meinem Element und die Damen kamen aus dem Lachen nicht heraus. Gut, wir haben soupiert und gehen; da kommen wir in einen kleinen Saal Rokoko, blau mit Rosengirlanden. Die Fürstin ist entzückt. › C'est charmant, c'est adorable‹; ›schön, meine Damen,‹ sage ich, ›soupieren wir hier noch einmal,‹ und wir setzten uns soupieren, und es wird womöglich noch heiterer als vordem. Als wir fertig sind und aufbrechen, kommen wir in einen dritten kleinen Saal, chinesisch, eine wahre Puppenstube, die Gräfin ist entzückt, und ich schlage vor, zum drittenmal zu soupieren; so haben wir dreimal soupiert, ein köstlicher Abend! – Ja, meine Jugend, ich war ein causeur ersten Ranges; es ist merkwürdig, der Mensch wird eben ein anderer! Wenn ich so im Herbst hier durch die Alleen fahre, an den nackten Bohnenstangen vorüber, so denke ich: Ist das derselbe Mensch, der in den Pariser Salons Aufsehn machte? Der Graf Pax wurde oft im Figaro genannt.«

»Man hat eben sein Milieu nötig,« meinte Achaz.

»Das ist es, das ist es,« meinte nachdenklich der alte Graf. Die anderen waren ziemlich schweigsam, nur Achaz lachte, erzählte, nannte große Namen, die dem alten Herrn wie Musik klangen. Die Mahlzeit ging ihrem Ende entgegen, das kleine, faltige Gesicht des Grafen war leicht gerötet und seine Augen blitzten. »Kaffee, Kaffee!« rief er ungeduldig, »mein Evangelist bedient langsam und laut; wie anders war's im Café anglais oder bei Véfour, man wurde dort bedient von Zephiren mit weißen Schürzen.« Plötzlich ließ sich Fräulein Christas tiefes Organ vernehmen: »Wenn ich all die seltenen und teuren Dinge esse, kommt es mir vor, als äße ich die Sünde.«

Der Graf kicherte. »Mein liebes Fräulein,« sagte er, »Sünde gut frappiert ist nicht zu verachten.«

Der Kaffee war getrunken, Irma stand auf, küßte ihren Vater auf die Perücke und sagte: »Achaz, gehen wir durch den Garten? Christa, kommst du mit?« Der Graf schaute den Davongehenden ärgerlich nach. »Natürlich wieder Natur genießen,« murmelte er. Achaz sagte etwas zu den Damen, und diese lachten. »Was hat er gesagt?« rief der Graf, »dieser Schwerenöter; Lukas, fahre mich den Herrschaften nach.« Und Lukas eilte schnell mit dem Rollstuhl den Davongehenden nach. Auch Ulrich schaute zu ihnen hinüber, sehr ernst, die Lippen fest zusammengekniffen; ›so war's doch,‹ dachte er, so hatte er's gewollt und doch – Schnell wandte er sich ab und ging aus seine Felder hinaus. Isa blieb allein zurück. Niemand hatte sich um sie gekümmert, sie stand da, eine kleine, schwarze [105] Gestalt, mitten unter den großen, roten Feuerlilien.

Ulrich ging langsam die Landstraße entlang an seinen Feldern hin. Der Roggen war schon in die Halme geschossen, jetzt wogten die grünen Halme ganz sachte, ganz wohlig, und es war, als flössen beständig dunkelgrüne und hellgrüne Schatten über sie hin. Ihnen muß wohl sein, dachte Ulrich. Es waren seine Geschöpfe, er hatte ihnen das Land bereitet, damit sie es gut haben, jetzt wogten sie lustvoll und freuten sich des Lebens, und das Reisen und Sterben war in dieses Leben eingeschaltet, eine stille, ernste Sache, von der ein jedes weiß, das sie zu ihnen gehörte. Dieses Wogen gefiel Ulrich so sehr, daß er sich an den Wegrain setzte, um zuzuschauen. Dieses Wiegen der grünen Halme tat ihm wohl, nahm von ihm das menschliche Zerren, die menschliche Qual. Etwas schien in ihm einzuschlummern, einem Wiegenliede gehorchend, das die Halme da vor ihm unhörbar sangen. Er legte sich auf den Rasen zurück; die Schafgarben sandten ihren strengen Geruch zu ihm herüber, aus den weißen Dolden des Kälberkopfs und der Kümmelstauden kam ein süßer Honiggeruch. Eine Hummel läutete schläfrig vorüber und verkroch sich endlich mit einem ärgerlichen Surren in die Glocke eines Benediktenkrautes. Schaute Ulrich aber empor, so hing der blaßblaue Himmel voll singender Lerchen. Eine süße Trägheit kam über ihn; dieses stille Leben um ihn her schläferte ihn ein, es vergingen ihm die Gedanken, und eine Weile lag er regungslos da. Das Wetzen her Feldgrillen klang in seinen Schlaf hinein; Libellen und Kohlweißlinge setzten sich zutraulich auf seine Hände.

Ein leichter Wind raschelte im Grase, machte die Blumenköpfe nicken und fuhr wie eine sanfte, kühle Hand über Ulrichs Gesicht. Er schlug die Augen auf, wirklich, er hatte geschlafen. Er mußte darüber lächeln, aber dieser Schlaf hatte ihm gutgetan; etwas, das ihn vordem quälte und beunruhigte, war jetzt ganz ruhig geworden, und er fühlte das Leben so selbstverständlich, wie die Halme und Blumen um ihn her es fühlen mochten. Er stand auf, die Beine waren ihm vom Liegen steif geworden, so ging er denn eine Strecke die Landstraße hinab. An einer Biegung des Weges standen die Knechtswohnungen, Holzhäuser mit großen Dächern und kleinen, trüben Fenstern; Kinder saßen auf den Schwellen, die Haare hingen ihnen in das Gesicht, und sie starrten wie scheue kleine Tiere den vorübergehenden Herrn an. Vor der Tür des einen Hauses stand Andrä, die Mütze in der Hand, und erwartete seinen Herrn. Der Wind wühlte in seinem blonden Haar, und sein Gesicht sah rot und böse aus. Als Ulrich näher kam, trat auch Andrä vor und begann gleich in scheltendem, klagendem Ton seine Sachen vorzubringen. Nein, er hielt es nicht länger aus; seitdem das kleine, vor zwei Wochen geborene Kind gestorben war, konnte er mit der Trine nicht mehr auskommen, sie war wie verrückt, sie weinte und klagte und lästerte und versündigte sich wider Gott, nein, solch ein Leben konnte er nicht weiterleben. Ulrich sah den Mann nachdenklich an, was sollte er ihm sagen, er wußte keinen Trost.

»Das geht wohl vorüber, mein guter Andrä,« meinte er, aber Andrä schüttelte den Kopf.

»Ich dachte,« sagte er, »wenn der Herr einige Worte mit ihr sprechen würde, vielleicht, daß sie das vernünftiger macht.«

»Das kann ich tun,« erwiderte Ulrich und ging durch die niedrige Tür des Hauses in die Wohnung des Knechtes. Eine große Stube, die voller Gerät stand, Betten und eine Wiege und ein Schrank, und all das übergossen vom Golde der Nachmittagssonne, die jetzt voll durch die kleinen, irisierenden Scheiben der Fenster drang.

»Hier ist ein Stuhl, Herr,« sagte Andrä und wischte mit einem Tuch einen Holzstuhl ab.

»Danke,« sagte Ulrich, »wo ist denn die Trine?«

»Die kommt gleich, Herr, sie gibt nur den Schweinen das Futter.«

»Sie gibt den Schweinen das Futter,« wiederholte Ulrich, »ja dann …« er wollte etwas hinzufügen, schwieg aber vor dem gespannten Blick der blauen Augen des Knechtes.

Eine Tür ward geöffnet, und Trine kam in das Zimmer, eine große, blonde Frau. Sie hatte ihr braunes Kopftuch in die Stirne gezogen, blonde Haarsträhnen fielen ihr in das rot verweinte Gesicht; die helle Kattunjacke war unreinlich, der graue Rock kurz und die Füße nackt. Sobald sie den Herrn erblickte, eilte sie auf ihn zu, hockte vor ihm nieder, umschlang seine Knie mit ihren Armen und begann laut zu weinen und zu klagen.

»Es war ein so kräftiges Kind, ein hübsches Kind, und nun ist es mir genommen worden; andere haben sieben und acht Kinder, und alle leben sie, und ich habe doch nur die Mariele und den Jungen, der geboren wurde, und gerade mir muß man den Jungen nehmen; wie kann man dann weiterleben? Man arbeitet und plagt sich, und wenn man eine Freude hat, so wird sie einem genommen; was hilft es, daß man nichts Unrechtes tut, schont Gott einen deshalb? Nein, er haut drauflos, soviel er kann.« Sie legte die Hände vor das Gesicht und ihre lauten, fast tierischen Klagen erfüllten das Zimmer.

Ulrich wußte anfangs nicht, was er sagen sollte, endlich begann er zu trösten, strich sachte mit der Hand über den Arm der Frau und sagte: »Beruhige dich, Trine, du weißt, auch mir hat Gott meinen Sohn genommen; wir müssen es tragen und weiterleben. Gott bürdet nichts auf, das wir nicht tragen können; wir müssen es nur recht anfassen. Es ist wie ein Sack voll Getreide, du denkst, den bringst du nie auf den Rücken, aber wenn du ihn nur richtig zu fassen verstehst, dann geht es. Und vielleicht schenkt dir Gott ein anderes Kind, und dann ist es gut, daß du jetzt geschmeckt hast, wie groß das Glück ist, ein Kind zu haben.«

»Nein, nein,« schluchzte Trine zwischen ihren Händen hindurch, »ich habe immer Unglück gehabt; schon voriges Jahr mit dem Kalbe! Solch ein schönes Bullkalb.« Plötzlich richtete sie sich höher auf, schaute zum Fenster hinaus mit einem bösen Gesicht und sagte scheltend vor sich hin: »Ist er verrückt, der Junge, wohin treibt er denn das Vieh?« Sie sprang auf, murmelte noch einige Scheltworte vor sich hin und stapfte zur Tür hinaus.

Ulrich schaute ihr sinnend nach, dann erhob er sich und sagte: »Ja mein guter Andrä, sie wird sich beruhigen, sie hat ihre Arbeit, ihre Schweine und ihr Vieh; wenn wir weiterleben, wie wir's gewohnt sind, dann heilen die Wunden schon. Sei du nur gut zu ihr.«

»Ich tue ihr nichts,« sagte Andrä, »ich schimpf' sie nicht, ich schlag' sie nicht, ich tue ihr nichts.«

»So, so!« meinte Ulrich, »dann wird es schon gut werden, guten Abend,« und er ging hinaus, sich wieder tief unter der zu niedrigen Tür beugend.

Draußen stand die kleine Tür des Kuhstalls offen, Trine kam heraus, den Melkkübel in der Hand; sie nickte Ulrich ernst zu und ging mit ihren nackten Füßen eilig durch die großen Pfützen.

»Sie hat ihren Schmerz eingereiht,« sagte Ulrich, »zuerst die Schweine füttern, dann klagen und weinen, dann die Kuh melken, so überwindet es sich.« Er ging wieder die Landstraße entlang. Greller goldener Sonnenschein lag auf den Wiesen und ließ sie wie Bronze erglänzen; Hütekinder lagen mitten unter ihren Schafen auf dem Bauche und sangen laut und eintönig vor sich hin; auf den Weiden hielten die Kühe im Grasen inne und schauten mit großen, leeren Augen vor sich hin in das Flimmern des Nachmittagslichtes. An seinem Garten spähte er durch das Gitter, um zu sehen, ob Irma und Achaz da seien, aber er sah nur den alten Grafen, der sich durch die Alleen führen ließ. Noch immer stramm aufgerichtet, ein feines Lächeln um die Lippen, als unterhielte er sich liebenswürdig mit einer Marquise. Als Ulrich vom Garten fort in die Landschaft schaute, bemerkte er zwei dunkle Figürchen, die dem See zuschritten; das waren sie, das waren Irma und Achaz, und sofort begann es in Ulrich wieder zu bohren und zu nagen, er wollte dem Gefühl keinen Namen geben, aber in ihm saß da etwas, das da höhnte und lachte, über ihn höhnte und lachte und ihn verwundete, wenn er nicht mit Gewalt davon fortdachte; nein, er wollte das nicht fühlen, das nicht.

 

Die Dämmerung sank herab, breitete über das Land graue Schatten, hüllte die Gegenstände in eine unsichere Finsternis, nur das Weiß der blühenden Holundersträuche und der Schlehdornhecken legte eine gespenstische Helligkeit in dieses Dunkel. Achaz stand auf der Brücke, die über den Sumpf führte, und wunderte sich über das tolle Duften, das in dieser Finsternis begann; die großen Fliederbüsche, der Holunder, die Gärten die Wiesen, selbst der Sumpf mit seinen Orchideen und Wasseriris, alles strömte seine süßen und bitteren Düfte in die laue Abendluft hinaus. Achaz stand auf der Brücke und ließ sich von den Düften anhauchen, bis ihn der Kopf schmerzte, dann ging er auf den Flecken zu und schlug einen kleinen Pfad ein, der hinten an den Gärten herumführte. Er konnte kaum mehr etwas sehen, die kleinen Häuser waren dunkel, drüben von der großen Straße hörte er die Stimmen der Leute, die vor den Haustüren saßen und sprachen, ab und zu einmal ein helles Kinderlachen. Aus den kleinen Gärten, an denen er vorüberging, stieg der Geruch von Würzkraut, Porree und Sellerie auf. Endlich gelangte er an den Garten Kappelmeiers; es roch hier nach Nesseln und Kletterblättern, die am Zaun wucherten; eine Katze, die hier still auf die Jagd gegangen war, floh erschrocken aus dem Dickicht vor Achaz Tritten; endlich gelangte er an einen Fliederbusch, der ganz weiß von Blüten war. Hier blieb er stehen; vorsichtig bog er die Blüten und Zweige auseinander, bis er zum Zaun gelangte, und so ganz in Düfte und weißes Blühen eingehüllt stand er da und ließ ein leises Pfeifen hören. Drüben im Garten regte sich etwas zwischen den Rosenbüschen. Vorsichtig näherten sich Schritte, und jenseits des Zaunes stand Agnes, die Gärtnertochter, vor Achaz. Er sah in der tiefen Dämmerung den Umriß ihres runden Kopfes, um den die blonden Zöpfe etwas wie Helligkeit legten.

»Bist du es?« fragte sie leise.

Achaz lachte. »Wer soll es sonst sein?« sagte er.

Da streckte das Mädchen die Arme aus, umschlang Achaz' Hals und zog ihn an sich; schwer lagen die runden Arme des Mädchens auf Achaz' Schultern, er hörte den kurzen, schnellen Atem, er fühlte das Wogen der Brust, und die breiten Lippen des Mädchens brannten auf den seinen. Die kühlen weißen Blütendolden überdeckten sie beide, schütteten ein wenig Tau auf sie nieder und umgaben sie mit einer Wolke eines bitteren Duftes.

»Warum kamst du gestern nicht?« sagte Agnes, »und vorgestern und vorvorgestern auch nicht? Ich stand dort jeden Abend und wartete, daß du pfeifst.«

»Das mußt du nicht,« meinte Achaz.

»Doch, ich muß es,« versicherte Agnes, »ich kann nicht anders; wenn der Abend kommt, muß ich dort stehen und warten. Die Lene hat, glaube ich, etwas gemerkt, aber es ist mir gleich, alle mögen sie es wissen, auch der Vater; die mögen mich totschlagen oder mit Fingern auf mich weisen, aber ich muß und muß aus dich warten.«

»Gutes Mädchen,« meinte Achaz und strich ihr mit der Hand über den Rücken.

»Ja,« fuhr Agnes fort, »mußt du denn nicht auch zu mir kommen, wenn die Stunde da ist? Du mußt, was auch geschieht, du mußt hier im Fliederbaum stehen. Sag', ist es dir so?«

»Ach Kind,« erwiderte Achaz ein wenig gelangweilt, »warum mußt du so heiß sein?«

Aber da begann Agnes zu weinen, er spürte die warmen Tropfen auf seinem Gesichte. »Ja du,« klagte sie, »du kannst kalt sein, aber was soll ich tun, wenn du nicht mehr kommst?« –

Und Achaz hörte im Dunkeln den leidenschaftlichen Ton ihres Schluchzens. »Beruhige dich doch,« meinte Achaz ein wenig ungeduldig, »ich höre Schritte im Garten; ich komme doch nicht her, um dich weinen zu hören – jetzt muß ich gehen.«

»Bleib noch,« bat das Mädchen, aber er nahm die schweren runden Arme von seinem Nacken, küßte flüchtig das tränenfeuchte Gesicht und ging dann wieder den Zaun entlang bis auf die Straße. Dort saßen noch die Leute vor ihren Haustüren und sprachen mit schläfrig-beruhigten Stimmen miteinander; zuweilen stand einer auf, um in das Haus zu gehen, und lautes »Gute Nacht, gute Nacht« scholl über die Straße. Vor dem Gasthause brannte eine Laterne, und unter der Laterne stand jemand und wartete.

Es war Fräulein Christa; sie rief Achaz an, als er vorüberging. »Ach, Herr von Buchow, einen Augenblick.«

Achaz blieb stehen.

Christa kam zu ihm heran, beugte den Kopf zurück, um ihm ins Gesicht sehen zu können, und fragte: »Darf ich Sie, Herr von Buchow, die Straße herunter begleiten bis zur Brücke?«

»Es wird mir ein Vergnügen sein,« meinte Achaz.

»Immer höflich,« versetzte Fräulein Christa, »gut, so gehen wir.«

Sie ging neben Achaz her in ihrem sommerlich hellen Kattunkleide, einen schwarzen Strohhut auf dem Kopfe; sie trat fest auf, klapperte mit ihren Stöckeln auf dem Straßenpflaster und warf beim Gehen ihre flache Gestalt hin und her.

»Liegt etwas vor?« fragte Achaz.

»Ja, es liegt vielleicht etwas vor,« erwiderte Christa, »ich wollte mit Ihnen sprechen, aber Sie werden mir böse werden.«

»Das werde ich nicht,« versicherte Achaz. »Sie, Fräulein Christa, sind ein kluger und ein guter Mensch, wenn Sie etwas sagen, dann hat es einen Zweck, und man kann Ihnen nicht böse sein.«

»Um so besser,« meinte Christa, »also Sie wissen, Herr von Buchow, daß ich sozusagen der Wachthund der jungen Mädchen hier am Orte bin. Sie sind alle meine Schülerinnen gewesen, und ich verfolge auch später ihr Schicksal, wache darüber, daß da keine Irrungen und Störungen entstehen. Es gibt manche Enttäuschung, aber im ganzen bin ich mit meiner Tätigkeit zufrieden.«

»Das glaube ich,« fügte Achaz, »Sie lesen in diesen Mädchenseelen wie in guten, etwas langweiligen Büchern und werden weise dabei, denn es macht immer weise, die Hand an ein Menschenschicksal zu legen.«

»Meinen Sie?« versetzte Christa nachdenklich. »Ja, vielleicht gibt das eine Art untergeordneter Weisheit. Geradlinige, einfache, friedliche Schicksale, das ist es, was diese Mädchen brauchen. Und nun komme ich zu einer Frage, die mir vielleicht nicht zusteht, die mir aber in meiner Rolle als Wachthund Pflicht ist, auf die Gefahr hin, Sie zu erzürnen.«

»Ich sagte Ihnen schon,« erwiderte Achaz, und seine Stimme hatte einen leisen, seltsam unsicheren Klang, »ich sagte Ihnen schon, daß ich Ihnen nicht zürnen kann.«

»Gut,« sagte Christa, »dann frage ich Sie also, Herr von Buchow, warum wollen Sie der armen Agnes Kappelmeier ihren Frieden nehmen? In diesem hübschen Köpfchen war nie viel Verstand, aber sie hat ein gutes und sehr heißes Herz. Denken Sie, welch eine Unordnung in dieser einfachen Seele entsteht, wenn Sie, aus der großen Welt, und mit allem Verführerischen, allem Falschen und ihr doch Unverständlichen an das Mädchen herantreten? Sie weiß nicht, daß es auch eine Liebe gibt auf wenig Wochen, so zur Unterhaltung; wenn die liebt, glaubt sie für das Leben zu lieben, und wären Sie nicht gekommen, so hätte sie ruhig ihre Rosenstöcke weiter aufgebunden und ihre Erbsenstangen in die Beete gesteckt und ihren Gärtnerburschen geheiratet. Aber jetzt, wie unklar muß sie sich selbst verkommen, welch unverständliche und bittere Schmerzen muß sie erleiden! Sie sind doch kein grausamer Mensch, nur um ein wenig Vergnügen zu haben. Sehen Sie, darum wollte ich Sie bitten, nicht mehr zur armen Agnes Kappelmeier zu gehen; sie wird darunter einige Tage leiden, aber dann wird sie wieder zu ihren Rosenstöcken und Erbsen zurückkehren, und ihr Leben wird wieder einfach und klar werden. Ich wollte Sie bitten, Herr von Buchow, und ich weiß, daß es vorlaut ist, aber ich wollte Sie bitten, mir zu versprechen, nicht mehr zu Agnes Kappelmeier zu gehen.«

Sie hatten den Ort jetzt hinter sich gelassen und schritten auf die große Brücke zu; weiße Nebel stiegen vom Sumpf auf und der Tau verschwebte in den Erlenbüschen. Achaz hatte eine Weile geschwiegen. er hatte seinen Hut abgenommen und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Endlich sagte er: »Ja, Fräulein Christa, das will ich Ihnen versprechen, was liegt mir an diesem blonden Mädchen; aber ich will nicht, daß Sie mich für einen Vergnügungsjäger halten, der um einige Stunden Vergnügens willen ein armes Mädchen kränkt. Sehen Sie, Fräulein Christa, Sie verstehen, Ihnen kann ich alles sagen: ich glaubte, die arme Agnes Kappelmeier könnte mich vor einer anderen Liebe retten, einer Liebe, die kommt; ich kann es nicht ändern, so furchtbar es ist. Aber das kann die gute Agnes Kappelmeier nicht, laß sie ihren Gärtnerburschen heiraten, ich muß mein Schicksal tragen, denen weh zu tun, denen ich dankbar sein soll und die ich liebe. Verstehen Sie, Fräulein Christa?«

»Ja,« erwiderte Christa ganz leise, »ich glaube zu verstehen, mein Gott, das ist entsetzlich. Und mich nennen Sie weise? Aber ich stehe vor unentwirrbaren Rätseln vor diesen Dingen, wie ist das? Agnes Kappelmeier sollte für Irma geopfert werden? Aber Irma, mein Gott, Irma ist in Gefahr! Sie müssen fort, Sie müssen abreisen; seien Sie großmütig, seien Sie edel, Sie können das ja.«

»Ich muß,« wiederholte Achaz, »aber kann ich denn?«

Sie waren bis zur Brücke gekommen und stehengeblieben; sie schwiegen eine Weile. Im Sumpf begannen einige Frösche zu quarren, und irgendwo in der Dunkelheit schlug ein Vogel in die Nacht hinein. »Guten Abend, Fräulein Christa,« sagte Achaz mit niedergeschlagener Stimme, »über diese Dinge soll man nicht sprechen, sie werden dadurch nur dunkler und verworrener, und wir entgehen unserem Schicksal nicht.«

»Mein Gott, mein Gott,« stöhnte Christa, und Tränen machten ihre Stimme zittern. »Könnte ich meine Irma nehmen und emporheben in die lichten und stillen Höhen, in die sie gehört.«

»Ja, in die sie gehört,« wiederholte Achaz, »aber hier kann auch Ihre Hand, die gewohnt ist, Menschenschicksale zu ordnen, nicht helfen.«

»Nein, nicht helfen,« erwiderte Christa und sie ließ ihre Arme schlaff niederhängen in einer Bewegung tiefster Mutlosigkeit; dann trennten sie sich.

Achaz ging durch die duftende Sommernacht nach Lalaiken heim; in den Büschen, auf dem Rasen raschelten vorsichtig leise Tritte; das waren wohl die Igel und Wiesel, die da vorsichtig auf ihren Jagdwegen dahinschlichen. Am Waldrande rief ein Kauz sein gespenstisches Liebeslied herüber, und weiter im Walde drinnen antwortete ihm ein anderer. Achaz ging mit gesenktem Kopfe vorwärts, die Augenbrauen in schwerer Sorge zusammengezogen; das Leben war ein unberechenbares, gefährliches Ding, und doch, hinter all der Sorge leuchtete etwas wie eine große Freude, etwas wie ein Erwarten beglückender Dinge. Durch die Sorgen muß er hindurch und dann er wagte es kaum zu denken. Er nahm seinen Hut ab, ließ den Abendwind in seinen Haaren wühlen und pfiff laut und fröhlich in die Nacht hinein.

 

Die Sonne sengte unbarmherzig auf die Rasenplätze des Gartens nieder und gab ihnen einen herbstlich-gelben Schimmer; die Blumen ließen die Köpfe hängen, und die ganze Natur schien ein großes Dürsten nach Kühlung und Wasser. Der Graf Pax hatte sich in die dunkelste Laube zurückgezogen und ließ sich von seinem Diener mit einem Fächer Luft zufächeln; Achaz irrte durch die Alleen des Gartens; in einem hellen Sommeranzug, den Strohhut im Nacken, das Gesicht gerötet, schien er von der Hitze ganz aufgelöst. In einer der Alleen begegnete er Irma, sie lächelte, als sie ihn in diesem Zustande sah. »Du leidest wohl?« fragte sie.

»Natürlich leide ich,«erwiderte Achaz, »vielen anderen Leiden kann man entfliehen, aber wo sollen wir der Luft entfliehen, die wir atmen? Wir sind eben zum Leiden geboren.«

Irma lachte. »O Gott, wie tragisch,« sagte sie, »komm nur, gehen wir zu den Wesen, denen es in dieser Hitze ganz wohl wird, die sich in ihr erst ganz entwickeln.«

»Wer sind diese Wesen?«

»Komm nur,« sagte Irma, und sie gingen miteinander durch den Garten bis zu der Stelle, wo die Gemüsebeete in langen Reihen lagen und die Treibbeete mit ihren Glasfenstern. Hier glühte die Sonne ungeschwächt, und all diese Blätter und Früchte schienen sich behaglich in dieser Hitze zu dehnen und zu erschließen.

»Wie sie hier sitzen,« sagte Achaz, »und die Hitze eintrinken und feist und rund werden; das ist ihr Geschäft, das ist ihre Pflicht, feist und rund zu werden.«

»Wie friedlich das sein muß,« meinte Irma.

»Sehnst du dich nach diesem Frieden?« fragte Achaz erstaunt.

»Jetzt zuweilen,« erwiderte Irma.

»So jetzt?« wiederholte Achaz und lächelte.

Die Zwiebelstauden standen nebeneinander wie schlanke Kandelaber, das Spargelkraut wie ein Wald grüner Federn, Porree stand da, die Blätter lang wie grüne Klingen, und endlich die krausen, satten Blätter des Salats; und wie alles das roch, streng und würzig! Die ganze Luft war wie vom Dufte einer heißen Suppe erfüllt. »Und sieh hier die Treibbeete,« sagte Achaz, »diese Gurken, wie sie sich strecken, ganz mit Warzen besät.«

»Ja,« sagte Irma, »und diese grünen Nasen, die sie ansetzen.«

»Ja,« meinte Achaz, »die kümmern sich nicht um Ästhetik, die wollen nur wuchern und wachsen. Sieh hier die kleinen Pfeffergurken, hocken sie nicht da, wie die kleinen Kröten? Oder diese hier krümmen sich wie die Blutegel, und alles wächst und blüht unbekümmert um seine Häßlichkeit. Sieh hier die Melonen, wie die in der Wärme schwellen und duften, und erst dort, der große Kürbis! Keiner will ihn so groß, keiner weiß etwas mit ihm anzufangen, aber er wächst und wächst ins Ungeheure. Daß er so dick ist, ist sein Vergnügen, sein Glück; er will ein Monstrum sein; er ist stolz darauf.« Von der Allee her ertönten Stimmen: Ulrich war es, der mit dem Gärtner sprach. »O Gott, sie kommen hierher,« sagte Achaz, »noch haben sie uns nicht gesehn.«

»Komm hier herein,« schlug Irma vor und öffnete die Türe eines aus Brettern zusammengeschlagenen Hauses, in dem die Gartenwerkzeuge aufbewahrt wurden.

Sie traten ein und Irma schloß die Tür. Von draußen hörten sie deutlich jetzt Ulrichs und des Gärtners Stimme: es wurde über neue Treibbeete beratschlagt. In dem Hause war es kühl und dämmerig, es roch nach Erde und Sämereien. Eggen standen da und Rechen und Schaufeln, und in das ganz enge Fenster, das in die Wand gesägt worden war, drang ein dicker goldener Lichtstrahl in die Dämmerung. Irma und Achaz standen einander gegenüber, lächelten und schauten sich in die Augen, schauten so scharf, daß ihnen vor der blauen Durchsichtigkeit schwindelte. Draußen entfernten sich die Stimmen, es wurde wieder still ringsumher. Achaz nahm eine von Irmas Händen und begann langsam einen Finger nach dem andern zu küssen. Aber sie entzog ihm die Hand; ein wenig Rot stieg ihr in die Wangen, und in dem Blau ihrer Augen erwachte ein seltsam scharfes Blitzen. »Das will ich nicht,« sagte sie, »wenn du mich liebst, so sag' es mir, sag's mir täglich, sag's mir stündlich, das will ich hören, danach dürste ich, aber diese Backfischheimlichkeiten, die mag ich nicht. Unsere Liebe, wenn sie da ist, soll tapfer und aufrecht sein.«

»Tapfer,« wiederholte Achaz, »ich könnte dich einer ganzen Welt abtrotzen.«

»Könntest du es?« fragte Irma, und lächelte.

»Das könnte ich,« wiederholte Achaz, »und es wäre mir gleich, was ich zerschlage und verwunde und zerbreche.«

»Mein Gott,« sagte Irma und alles Glück schwand aus ihrem Gesichte, »daß es ohne Verwunden nicht geht.«

»Das ist gleich,« meinte Achaz, »werde nicht traurig, das dürfen wir nicht; komm, gehn wir in den Sonnenschein hinaus.«

Achaz öffnete die Tür, und sie gingen hinaus in die heiße Luft, die schwer von dem Duft der Suppenkräuter war.

»Ein heißes Suppenbad,« sagte Achaz.

Irma lachte. »Ja,« erwiderte sie, »aber heute abend reiten wir zu unseren Bäumen, lassen uns vom Winde wiegen und zueinanderbiegen.«

»Das wollen wir,« sagte Achaz, »und wenn der Wind mich zu dir hinwiegt, dann sage ich immer dasselbe.«

»Und ich will immer dasselbe hören,« versetzte Irma. Dann ging sie in das Hans. Auf der Treppe stand Isa, das spitze, bleiche Gesichtchen mit dem sorgenvollen Munde und den ernsten Augen; es schaute nachdenklich in den sonnigen Garten hinab. Irma blieb einen Augenblick stehen, ein Ausdruck des Schmerzes, aber auch der Ungeduld, flog über ihr Gesicht.

»Isa, Kind, geh in dein Zimmer und spiele etwas.« Gehorsam ging Isa in das Haus.

 

Achaz trieb sich müßig auf den Rasenplätzen des Gartens umher; es fehlte ihm der Entschluß, etwas zu tun, er hätte in sein Zimmer gehen können und lesen, er hätte dem Großvater Gesellschaft leisten können oder hätte zum See gehen können und baden, aber er konnte sich zu nichts entschließen; er kühlte seine Hände an den Blütenblättern der Feuerlilien und Malven; er belauschte die Grillen im Rasen; das war alles, was er tun konnte, und noch eins konnte er: im tiefsten Innersten seines Herzens eine große Freude verspüren. Plötzlich trat Ulrich zu ihm. Sein Gesicht war bleich und hatte den Anschein, als sei es zusammengedrückt, was Achaz gut aus seiner Kindheit kannte; die Lippen, wenn sie nicht sprachen, waren wieder so fest geschlossen, daß sie weiß wurden.

»Was tust du hier?« fragte Ulrich.

»Ich tue nichts,« erwiderte Achaz. »Die Hitze löst mich auf.«

»Ja, die Hitze,« meinte Ulrich, »laß uns in die Ulmenallee gehen, dort wird es kühl sein, dort können wir miteinander plaudern, wir haben so lange nicht miteinander geplaudert.«

»Gut, wie du willst,« erwiderte Achaz und warf seinem Bruder einen schnellen, beobachtenden Blick zu. Sie gingen in die Allee; Ulrich senkte den Kopf und schien nachzudenken.

»Ja, diese Hitze,« sagte Achaz, »sie erweicht alles in mir. Wir haben eben noch nicht die Kultur der Hitze.«

»Wer hat die?« fragte Ulrich.

»Nun, die tropischen Völker,« erwiderte Achaz, »und die Gurken und Melonen.«

»Meinst du?« versetzte Ulrich, »ich leide nicht unter der Hitze; es ist mir auch angenehm zu fühlen, daß alles in mir warm ist, denn sonst ist immer etwas in mir, das friert.«

»So?« sagte Achaz interessiert, »es ist immer etwas in dir, das friert?«

»Ja,« antwortete Ulrich, »ich bin ein Mensch, der schwer auftaut.« – Dann schwiegen sie eine Weile. Um sie her in der Allee zitterten die Blätterschatten auf dem Sande, und in den Wipfeln der Ulmen schlugen die Stare. Ulrich zeichnete nachdenklich mit seinem Spazierstock Linien in den Sand.

Er will etwas sagen, dachte Achaz, und bringt es nicht heraus – was mag das sein?

Plötzlich blieb Ulrich stehen, stemmte den Stock fest auf die Erde und sagte: »Ich denke, dein Urlaub geht jetzt bald zu Ende?«

»Ja, in diesen Tagen,« erwiderte Achaz mit ein wenig unsicherer Stimme und sah dabei seinen Bruder forschend an, »in diesen Tagen, aber ich habe einen Brief geschrieben, den ich heute abschicken will, in dem ich um Verlängerung des Urlaubs bitte; es kann keine Schwierigkeiten haben.«

»So, so!« meinte Ulrich und begann langsam weiterzugehen, indem er mit gesenktem Kopf auf die zitternden Blätterschatten zu seinen Füßen herabsah.

»Du wirst es mir nicht übelnehmen, was ich sage,« fuhr er fort, »Brüder, die ihre Jugend zusammen verbracht haben, verstehen sich ja so ganz, auch in den verborgensten seelischen Empfindungen, und es ist gut, wenn zwischen Brüdern Klarheit herrscht.«

»O, sprich nur,« sagte Achaz, und es klang fast herausfordernd.

»Ich meinte,« versetzte Ulrich, »es ist vielleicht besser für uns, für uns alle, wenn du deinen Urlaub nicht verlängerst.«

Achaz lächelte. »Gut, ich kann ja morgen fahren.«

»Es ist nicht Eifersucht,« sprach Ulrich weiter, »ich habe dich gebeten zu kommen; du hast mir den großen Dienst geleistet, Irma wieder in das Leben einzuführen, du hast sie gelehrt, das Leben wieder zu lieben, und ich bin dir dankbar dafür; denn ich, siehst du, bin ein so schwerfälliger, melancholischer Mensch, bei mir verkümmerte sie in ihrem Schmerze. Also ich bin dir sehr dankbar, aber ich fühle, daß Irma sich von mir entfernt, mir entschwindet, und das soll bei einem Ehepaar nicht sein. Daher bat ich dich, uns zu verlassen. Ein Ehepaar muß sich nahe sein, und solange du da bist, wird sie mich stets vergessen. Ich sagte schon, daß es nicht Eifersucht ist; du erinnerst dich, als wir beide zusammen Kinder waren, da warst du stets freigiebig mit deinem Besitz, während ich eifersüchtig über das wachte, was mir gehörte. Wehe dem, der es mir nehmen wollte.« Und Ulrich schlug mit dem Spazierstock einem Löwenzahnstengel seine Tüllhaube ab. »Es ist nur, daß ich mit dir nicht konkurrieren kann, und ich denke, Irma wird so weit erstarkt sein, um mit mir leben zu können. Dich wird sie vermissen, aber es wird ein Vermissen sein, wie es uns im Leben so oft begegnet, wenn Menschen, mit denen wir zusammen froh waren, uns verlassen. Das vergeht.«

»Gut, also morgen!« versetzte Achaz.

»Ich danke dir noch einmal,« sagte Ulrich und reichte dem Bruder die Hand. »Du hast mich und meine Not verstanden, ich vergesse dir das nicht.«

Damit ging er dem Hause zu, wo der Inspektor schon wartend stand.

Achaz aber ging in der Allee auf und ab. Auf seinem Gesicht lag ein seltsam erregter Ausdruck, seine Augen blitzten, nein, er wollte heute Irma nichts sagen, aber morgen, was würde morgen geschehen? Diese Ehemänner waren doch alle einander gleich, sie hielten sich alle für das unentrinnbare Schicksal ihrer Frauen.

 

Achaz war früh aufgestanden; eine freudige Unruhe, das Gefühl, er müsse tun, er müsse kämpfen für das Glück, das auf ihn zukam, ließ ihn nicht schlafen.

Er ging in den Garten hinunter; auf den Blumen und Blättern lag noch der Tau; manche Blüten waren so schwer von Tropfen, daß sie ihre Köpfe hängen ließen. Die Luft war voll kühlen, feuchten Duftens. So ist es gut, dachte Achaz, so muß der Morgen meines Glückes aussehen.

Er ging vor Irmas Fenstern auf und ab und wartete, daß sie am Fenster erschiene. Endlich öffnete sie das Fenster und beugte sich hinaus. Ihr Gesicht war ganz rosig; ihr Haar flimmerte in der Sonne und sie lächelte ihm zu.

»Schon auf?« sagte sie.

»Ja,« sagte Achaz, »komm herunter zu mir, ich habe dir etwas zu sagen.«

Sie verschwand am Fenster und bald erschien sie auf der Treppe; wunderbar blühend und farbig nahm sich dieser blonde Kopf über dem schwarzen Trauerkleide aus.

»Ist das schön!« rief sie. »Mein Uli sagte immer: ›Mama, warum weinen die Blumen immer am Morgen?‹; ja – sie weinen aus Glück über ihr Blumenleben.«

Achaz ging ihr entgegen, nahm ihre Hand, um sie zu küssen, und sagte leise: »Ich fahre heute fort, er will es so; er sagt: wenn ich hier bin, entschwindest du ihm.«

Irma war blaß geworden, dann aber lachte sie und sagte: »Der Arme, ja, ich entschwinde ihm und ich werde ihm noch viel mehr entschwinden, denn, wenn du heute fährst, fahre ich auch. Fahre nur, ich komme dir nach und ich kämpfe meine Schlachten allein.«

»Ich würde sie gerne für dich schlagen,« sagte Achaz.

»Nein, das kannst du nicht,« wehrte Irma, »ich komme dir nach. Ich wohne bei Papas Schwester, Gräfin Krothow, bis, ja bis –«

»Ja bis –« wiederholte Achaz, und beide lachten.

»Bei Ulrich kann ich nicht mehr leben,« fuhr Irma fort, »hier sterbe ich: wo Ulrich ist, da zieht das Leben nur ganz fern mit seinen flatternden Fahnen vorüber.«

»Wir aber wollen mit im Zuge sein,« rief Achaz, und ausgelassen ergriff er Irmas Hände und drehte sie auf dem Rasenplatze hin und her, daß der Tau, von der schwarzen Schleppe aufgepeitscht, wie kleine Funken um sie her aufsprühte.

»Das wird ein Leben werden,« rief Achaz, »ein Musterleben; noch nach Jahrhunderten werden sie in den Schulen davon wie von einem klassischen Beispiel des Glückes reden.«

An einem der Fenster des Hauses erschien Ulrich und schaute ernst zu, wie Achaz und Irma sich auf dem tauigen Rasen drehten. –

Um zehn Uhr war der Wagen vor der Tür, der Achaz zur Station bringen füllte. Er küßte [138] Irma die Hand, sah ihr in die Augen und sagte leise: »Auf Wiedersehen.«

Irma lächelte und sagte ebenso leise: »Auf Wiedersehen.«

Sehr elegisch war der alte Graf: »Also du fährst ab?« sagte er.

Achaz zuckte die Achseln und meinte: »Man will mich hier nicht mehr.«

»So, man will dich nicht?« versetzte der Graf, » jalousie vielleicht? Das kommt vor; nichts zu machen; wärst du geblieben, so hätte ich dir noch ein Frühstück gegeben, aber so ist nichts mehr los; ich werde allein durch die Alleen fahren und an das Ende denken; nein, nein, sag nichts; so, das ist mein Schicksal. Du hast Leben hierhergebracht, mit dir geht das Leben wieder fort; wir versinken wie in ein Grab; na, nichts zu machen. Laß es dir gut gehen.«

»Kommen Sie nicht auch nach Berlin oder Rom?« fragte Achaz.

»Bis auf eine,« erwiderte der alte Herr, »ist es wohl mit meinen Reisen aus.«

Ulrich war sehr herzlich beim Abschied, er küßte seinen Bruder und dankte ihm für die Hilfe, die er ihm geleistet. »Ich danke dir auch,« sagte er, »daß du mich verstanden hast und mir nicht zürnst.«

Dann fuhr Achaz davon; auf der Treppe stand Isa und schaute ihm nach; in der Allee winkte der alte Graf mit dem Taschentuch. Achaz lehnte sich zurück und schaute befriedigt auf das schöne Land, in dem sich sein Schicksal erfüllt hatte. Als er durch den Marktflecken fuhr, stand Agnes, die Gärtnertochter, am Gartenzaun und weinte. Fräulein Christa aber winkte Achaz aus dem Fenster ihrer Schule ein Lebewohl zu.

Ulrich blieb auf dem Sofa seines Zimmers sitzen; er hörte draußen das Hin und Her der Schritte; die Stimme des Grafen Pax rief laut etwas aus, Achaz lachte, dann fuhr der Wagen davon, und Ulrich lehnte den Kopf zurück und schloß die Augen. Es war, als wäre eine Last von ihm genommen, warum sollte er jetzt nicht glücklich sein, warum sollte er jetzt nicht still und glücklich leben, mit allem, was sein war? Draußen hatten sich das Hin und Hergehen und die Stimmen beruhigt, in der großen Esche vor seinem Fenster schlug eine Amsel, schlug so leidenschaftlich, als sollte ihr die Brust zerspringen. Ulrich fühlte sich heute so leicht und ruhig wie seit langem nicht. ›Wir müssen das Leben zwingen, daß es uns gehorche,‹ dachte er, ›dann läßt es sich leben‹ und die wohlige Ruhe genießend, saß er mit geschlossenen Augen da.

Er hörte, wie seine Tür leise geöffnet wurde, der Estrich knackte unter leichten Schritten, die bis zum Schreibtisch vorgingen und dort stillstanden. Das ist Irmas Schritt, dachte Ulrich, und es war ihm unendlich wohltuend, so dazusitzen mit geschlossenen Augen und diese segensreiche Gegenwart zu fühlen, erquickend wie ein Sommerwind, der über blühende Bohnenfelder streift. Aber da es ganz still im Zimmer geworden war, so öffnete er die Augen: Irma stand am Schreibtisch und stützte beide Hände auf die Tischplatte. Sie hatte die Gewohnheit, wenn sie erregt war, ihre schlanke Gestalt an etwas zu stützen, mit den Armen etwas zu umfangen, eine Säule oder einen Pfeiler, gleichsam um sich an etwas zu ranken, wie die Zweige der kleinen weißen Rosen draußen im Garten. Es fiel Ulrich auf, daß sie bleich war, aber das Gesicht war dennoch so wunderbar jung unter dem Gewirr der blonden Haare. Die Augen sahen grellblau zu ihm hinüber, und der Mund mit der kurzen Oberlippe mit den leicht hinaufgebogenen Spitzen hatte etwas Herbes, wie er zuweilen annehmen konnte. Ulrich lächelte und sagte freundlich: »Irma, Kind, kommst du zu mir? Das ist gut, komm, setz dich her, jetzt sind wir ja wieder ungestört beisammen und wir wollen immer fester zueinandergehören.«

»Ich wollte mit dir sprechen,« sagte Irma, und ihre Stimme klang ein wenig heiser.

»Ja, Kind, sprich,« versetzte Ulrich, »jetzt können wir uns alles sagen, jetzt stört uns keiner mehr.«

»Achaz ist fortgefahren,« brachte Irma ein wenig mühsam heraus, mit dieser heiseren Stimme, die in ihrer Erregung einer Knabenstimme glich.

»Ja,« erwiderte Ulrich, »es ist wohl besser für uns und für ihn.«

»Ich wollte nur sagen,« versetzte Irma mit einer wunderlich zitternden und doch scharfen Stimme, einer Stimme, in der eine Saite zu springen schien, »ich wollte sagen, daß ich auch fortfahre, daß ich Achaz nachfahre, daß ich ohne Achaz nicht leben kann, daß ich hier bei dir nicht leben kann.« Sie schwieg, niemand sprach im Zimmer mehr, nur die Drossel aus der Esche erfüllte den Raum mit ihren schmelzenden Tönen.

Ulrich saß noch auf seinem Platz, aber in seinem ganzen Körper war etwas Gespanntes, etwas, wie zum Sprung bereit. Irma sah wartend zu ihm hinüber, und das Blau ihrer Augen bekam ein stechendes Licht. Endlich erhob sich Ulrich, langsam und als ob es ihn Mühe kostete; er machte einige Schritte bis zum Schreibtisch und blieb Irma gegenüber stehen. Er schaute sie an, aber vor dem Blick dieser blauen Augen senkte er die seinen und er ergriff ein Stück schwarzen Marmors, das dort als Briefbeschwerer lag und wog es in den Händen. Es war, als wollte er etwas sagen, aber als hätten die fest geschlossenen Lippen Mühe sich aufzutun; endlich kam es leise aus ihm heraus: »Du vergißt wohl, daß du meine Frau bist.«

»Nein,« erwiderte Irma, und ihre Stimme nahm etwas seltsam Metalliges an, »ich vergesse nicht, daß ich deine Frau war; du hast zu Achaz gesagt: ›in dieser Zeit sei ich dir ferngerückt‹, aber ich bin dir immer ganz fern gewesen, und du warst mir immer ganz fern. Ich habe von deinen Schmerzen und von deinen Freuden nichts gewußt, und wenn wir beisammen waren, wenn wir still beisammensaßen, wie du es liebst, dann war es, als warteten wir auf ein gemeinsames Unglück; o nein, dieses Leben kann ich nicht mehr leben.«

»Wir hatten einen großen, gemeinsamen Schmerz,« sagte Ulrich leise, »und das verbindet doch.«

»Du meinst unseren Jungen,« versetzte Irma, »ach nein, dein Schmerz und mein Schmerz verstanden sich nicht. Du hast ein anderes Kind [144] verloren als ich, du kanntest mein Sonnenkind nicht, das den Alltag haßte und das Traurigsein; und jetzt ist er noch bei mir, ich fühle es, er ist bei mir und ich nehme ihn mit aus diesem traurigen Hause.«

»Du vergißt,« begann Ulrich wieder mit dieser zischenden, leisen Stimme, »daß du mein bist, mein Eigentum, daß wir zusammengehören, unlöslich verbunden.«

»O nein,« unterbrach ihn Irma, »ich war deine Frau, aber nicht deine Sklavin; nichts, nichts in mir gehört dir. Unsere Ehe war ein Versuch, ob ich dir gehören könnte, aber ich sehe, ich kann's nicht.«

»Und das Kind?« fragte Ulrich, »ist das nicht ein Band, das uns verbindet?«

Irmas Augen wurden feucht. »Meine arme kleine Isa! Nein, sie soll bei dir bleiben, sie wird dich verstehen, sie ist dir so ähnlich; mich wird sie vergessen.«

»Glaubst du,« sagte Ulrich, »der Mensch habe das Recht oder auch nur die Möglichkeit solche Bande zu lösen?«

»Du kannst mich nicht halten,« rief Irma, und es klang aus ihren Worten wie Herausforderung und Triumph, »ich gehe meine hellen Wege und will deine dunklen Wege nicht teilen. Halten kannst du mich nicht, du kannst mich totschlagen mit diesem Stein, den du in der Hand wiegst; o, ich fürchte mich nicht, aber bei dir bleibe ich nicht.«

Es war ein seltsam scheuer, trauriger Blick, den Ulrich jetzt auf Irma ruhen ließ, dann legte er das Marmorstück auf den Tisch. »Nein, ich tue dir nichts,« sagte er und ging langsam wieder zum Sofa zurück, setzte sich nieder und dann –

Es war Irma, als erlebte sie das Seltsamste und Furchtbarste in ihrem Leben dann schlug er die Hände vor das Gesicht und weinte. Irma sah den weinenden Mann regungslos an; in ihren Zügen zuckte es, als wollte auch sie weinen, aber es war nicht Mitleid, es war etwas, wie ein schmerzhaftes Erstaunen, etwas wie Furcht; dabei hatte sie das Gefühl, als müßte sie etwas tun, etwas sagen, und unwillkürlich sprach sie es aus: »Ulrich, du weinst?«

»Ja, ich weine,« erwiderte Ulrich und wandte sein tränenüberströmtes Gesicht ihr zu, »aber das kümmert dich nicht, geh doch, geh – wie du sagst, deine hellen Wege; ob ich weine oder nicht weine, ist meine Sache.«

Irma machte einige Schritte auf ihn zu und sagte leise: »Ulrich, ich habe nicht gewußt –«

»Nein, du hast nicht gewußt,« unterbrach sie Ulrich, und seine Stimme klang hart und laut, »von mir hast du nichts gewußt, so geh doch, geh; ich gebe dich frei, dein Anblick schmerzt mich, er verwundet mich und kränkt mich, geh!« und er schrie fast das letzte Wort.

Irma beugte den Kopf, ging zur Tür, öffnete sie leise und schloß sie dann wieder leise hinter sich. Wie betäubt blieb sie stehen und sie fühlte, wie die Tränen aus den Augen zu rinnen begannen.

In dem Zimmer befanden sich Fräulein Christa und Isa. Fräulein Christa eilte auf Irma zu, nahm sie in ihre Arme und sagte: »Wie siehst du aus, Kind? Komm zu uns!« und sie führte sie zum Sofa. Dort saßen sie alle drei und weinten. Durch das Fenster kam der Duft der Hochsommerblumen, der Gesang der Vögel, die ganze Wonne der Natur; von weitem hörte man das Rollen des Wagens des alten Grafen, dann stand Irma auf, wischte sich die Augen und sagte: »Ich muß zu meinem Vater.«

Der Graf Pax saß in seiner Laube, rauchte eine Zigarette und ließ sich von dem Diener mit einem trockenen Palmenblatt Luft zuwehen; als Irma sich zu ihm setzte und dem Diener winkte, sie zu verlassen, beugte der Graf sich vor und sagte freundlich: »Irma, meine Tochter, kommt auch zu ihrem alten Vater. Ja, ja, mir tut vor Einsamkeit der Kopf weh; du vermißt wohl auch unseren Achaz; der Junge bringt Leben mit, wo er hinkommt, und leider nimmt er es wieder fort, wenn er wegfährt; es ist bei uns jetzt wie in einer Kirche.«

»Ja, Papa,« begann Irma, »ich kam, um dir zu sagen, daß ich auch fortfahre.«

[148]

Der Graf beugte sich vor: »Was, was?« fragte er.

»Ich fahre,« fuhr Irma satt, »ich fahre nach Berlin. Ich fahre zur Tante Krothow und wohne dort, bis – ja bis alles in Ordnung ist. Ich fahre Achaz nach.«

»Aber Kind,« sagte der Graf und machte ein ernstes, mürrisches Gesicht. »Du, als verheiratete Frau, fährst einem jungen Menschen nach, das ist ja unmöglich, was werden die Leute sagen?«

»Nein, ich kann bei Ulrich nicht bleiben,« versetzte Irma, »ich habe mit Ulrich gesprochen, er hat mich freigegeben; hier sterbe ich, und ohne Achaz kann ich nicht leben.«

»Aber Kind,« sagte der Graf, »das ist doch ein Skandal und in unserer Familie gab es nie einen Skandal. Ulrich ist ja nicht heiter, aber er ist doch ein edler Mensch.«

»Es nützt nichts,« unterbrach Irma ihren Vater, »es ist alles bestimmt, ich fahre heute.«

Der Graf schüttelte seinen Kopf. »Kind, Kind, daß du deinem alten Vater diesen Schmerz [149] bereiten kannst, nein, das überlebe ich nicht; und ich bleibe allein hier zurück! Aber vergeßt nicht, wenn ihr euch eine Wohnung nehmt, daß ihr zwei Zimmer für mich bereit haltet. Wir gehen ins Theater, soupieren dann im Kaiserhof oder bei Borchardt, oder zieht ihr am Ende nach Rom? Nun, ich kann mich ja auf dem Pincio mit dem Stuhl herumschieben lassen; und dann die Gesellschaft! Ich kenne gut die Fürstin Paterno, die Odescalchis und die Borgheses; das kann hübsch werden! Ach, aber der Schmerz, den du mir antust!«

»Sei nicht traurig,« tröstete Irma; »du kommst zu uns, und das Leben wird noch hübsch.«

»Ja, ich weiß,« erwiderte der Graf, »wenn ich wieder in die Großstadt komme, lebe ich auf wie ein Fisch im Wasser. Ich kann mir denken, daß du hier nicht leben kannst, und du weißt, Geld, Geld werdet ihr genug haben; aber, mein Kind, la morale! Es ist ein großer Schmerz, aber er muß überwunden werden; komm her, mein Kind, daß ich dich segne.« Und er legte [150] seine zitternde Hand auf Irmas Kopf. »Gott behüte dich,« sprach er weinerlich und dann fügte er hinzu: »Vergeßt die beiden Zimmer für mich nicht.« –

 

Ulrich saß noch immer in seinem Zimmer; er weinte nicht mehr; sein bleiches Gesicht hatte einen seltsamen, gewaltsamen Ausdruck: gespannt hörte er auf die Töne, die von außen in das Zimmer drangen. Wieder kamen und gingen die Schritte; es wurde etwas getragen, das waren wohl die Koffer. Er hörte Christas Stimme, dann Irmas, und beide hatten dieses wunderlich gläserne Schwingen, das verhaltene Tränen den Frauenstimmen geben. Jemand weinte ganz laut: das mußte Isa sein. Ein Wagen fuhr vor, die laute Stimme des Grafen Pax rief scherzend: »Nun, die ungetreue Frau verläßt uns.«

Jemand lachte, ein Wagen fuhr vor, die Stimmen entfernten sich, man ging wohl auf die Treppe hinaus, nur Isas lautes, kindliches Schluchzen war deutlich zu hören. Dann fuhr der Wagen wieder fort; Ulrich schaute durch das Fenster: er sah die Kalesche an den Spiräenhecken entlang fahren, er sah das Wehen eines grauen Schleiers. Müde setzte er sich auf seinen Platz zurück; also dieses Stück Leben war aus, jetzt mußte er um ein neues Stück Leben kämpfen. O, wie er sie alle haßte, die da draußen lachten und weinten und mit diesem grausamen, unergründlichen Dinge Leben wie die Kinder spielten. »Ihre hellen Wege gehen,« hatte Irma gesagt, o, er kannte diese hellen Wege, auf die legten sich nur allzubald die tiefsten Schatten. Nein, er wollte das neue Leben kräftig anfassen, mit der Kandare wollte er es reiten, er wollte der Herr sein.

 

Der Sommer verging; im Lalaikenschen Garten blühten auf den Beeten, die die Wege einfaßten, die Dahlien in langen Reihen; weinrote, weiße und gelbe Sammetbälle; große Herbstfalter, Admiräle und Trauermäntel flogen langsam über die welkenden Levkoien hin, als machten die Farben ihnen die Flügel schwer.

Im Garten roch es nach Äpfeln und Pflaumen und welkenden Blättern; zuweilen ließ sich der dumpfe Ton eines auf den Kiesweg fallenden Apfels hören, und ganz hoch im blaßblauen Himmel zogen eifrig plaudernd die Wildgänse dahin. Der Graf Pax ließ sich stumm und mürrisch durch die Alleen rollen; nur wenn er Fräulein Christa begegnete, wurde er lebhaft.

»Ich habe einen Brief von Irma bekommen, die Scheidung ist im Gange. Sie schreibt von Einsamkeit, von Melancholie, von Buße; aber das vergeht.« Fräulein Christa nickte und schaute ernst vor sich hin; ihre guten braunen Augen wurden blank von Tränen und sie sagte: »Ja, unsere arme Irma irrt jetzt einsam auf fremden Wegen.«

Der Graf schüttelte unwillig die Locken seiner Perücke und meinte: »Ach was, warum einsam.«

Ulrich stand mit Isa an der Landstraße und schaute nachdenklich auf das Wogen eines Weizenfeldes.

»Nächste Woche werden sie geschnitten,« sagte Ulrich, und Isa schaute ernst zu ihm auf. »Ja,« fuhr Ulrich fort, »die Ernte beginnt und damit die Arbeit, und das ist gut. Liebst du auch die Arbeit, meine Tochter?«

Isa dachte eine Weile nach und versetzte dann: »Ja, die Arbeit bei Fräulein Christa; wenn der Sonntag kommt, dann ist der Morgen schön; es ist, als wären die Bäume und die Blumen auch feierlich, aber der Sonntagnachmittag ist so traurig und Sonntags abends, wenn ich im Bett liege, muß ich zuweilen weinen und ich freue mich, wenn es wieder Montag ist.«

Ulrich lächelte und strich Isa sanft über den Rücken. »Du bist meine Tochter,« sagte er, »du verstehst den Werktag.« Dann kehrten sie in den Garten zurück und gingen lange in der Eschenallee auf und ab; zu ihren Füßen raschelten die welken Blätter und durch die spärlich belaubten Wipfel der hohen Bäume sank allmählich die Dämmerung nieder.

 

* * *

 


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