Eduard von Keyserling
Nachbarn
Eduard von Keyserling

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Eduard von Keyserling

Nachbarn

Novelle

Das kleine Bergtal füllte sich mit durchsichtiger Dämmerung. Die fetten Wiesen lagen farblos da, und der Bergbach, weiß in den sinkenden Schatten, begann lauter zur rauschen. Immer, wenn es abendlich still wurde, erhob er so die Stimme, um endlich im Schweigen der Nacht allein das Wort zu behalten. Vom See, der drüben hinter den Bäumen still und dunkel dalag, wehte es kühl herüber. Oben aber an den Berggipfeln hing noch roter Abendschein. Das Ehepaar von Bassel kehrte von seinem Spaziergange zurück, langsam, müde, die Glieder schwer von dem langen heißen Tage und dem weiten Wege. Sie gingen nicht nebeneinander, sondern hintereinander. Oskar war Dina einige Schritte voraus, dann blieb er stehen, nahm seinen Hut ab und schaute zu den Bergspitzen empor, aufmerksam wie jemand, der entschlossen ist, einen Eindruck in sich aufzunehmen. Hier auf dem Lande hatte er sich einen blonden Bart stehen lassen, auch das Haar war ziemlich lang geworden. Aus dem hübschen, sonst so diplomatenhaft gepflegten Kopf war so etwas wie ein Dichterkopf entstanden. Oskar war auch überzeugt davon, daß ein Dichter in ihm stecke. In seiner Jugend hatte er Verse in Zeitschriften veröffentlicht, und jetzt sprach er stets davon, daß er den Plan zu einem bedeutenden Werke in sich trug. Wenn nur das Leben ihm Zeit dazu lassen würde, aber da war seine Anstellung im Finanzministerium, da war die Geselligkeit, er war beliebt, er war Lebemann, er war Sportsmann, wo sollte da die Zeit zum Dichten herkommen. Aber hier auf dem Lande, hier mußte auch dem Dichter sein Recht werden. Dina war stehengeblieben und schaute auch zu den Bergen auf. »O sieh doch«, sagte sie. »Ich bin ja gerade dabei, das zu sehen«, erwiderte Oskar ärgerlich und ging weiter. Dieses kurze Zwiegespräch hatte sich manchen Abend schon wiederholt, wenn die Bergspitzen rot wurden, konnte Dina nicht umhin zu sagen: »O sieh doch!«, und das verstimmte Oskar jedesmal, als würde das Abendrot ihm dadurch verdorben. Ja es wurde ihm gewiß dadurch verdorben, dachte Dina, denn wenn sie miteinander zankten, liebte es Oskar, zu sagen: »Ich weiß nicht, durch dich wird meine Natur verfälscht.« Nun, wahrscheinlich verfälschte sie ihm auch das Abendrot. Ja, Dina war unglücklich und begriff doch nicht, warum sie es sein mußte. Sie war doch so bereit, glücklich zu sein und glücklich zu machen. Das wollte ihr jedoch nicht gelingen. Wenn das Leben Oskar keine Zeit für seine große Dichtung ließ, so ließ es ihm noch viel weniger Zeit für Dina. Alles ging vor, die Geschäfte, die Vergnügungen, die Freundinnen, und für Dina blieben nur einige Stunden eines gereizten und säuerlichen oder einsilbigen Beisammenseins übrig. Dina konnte es nicht ändern, daß sie dann weinerlich und vorwurfsvoll und eifersüchtig war. Zuweilen allerdings kamen große Versöhnungsszenen, die für Dina große Festtage waren, sie gerieten jedoch zu bald in Vergessenheit. Nach solch einer Versöhnungsszene war es gewesen, daß sie diesen Landaufenthalt beschlossen hatten. Hier in der Einsamkeit, vor der großen Natur wollten sie sich wieder finden, hier wollte Oskar ganz den beiden Vernachlässigten, seinen Gedichten und seiner Frau, leben. Anfangs war es auch hübsch gewesen, obgleich die Art, mit der Oskar seine Freundlichkeit unterstrich, ein wenig unbehaglich war und Dina befangen machte. Dann aber ging es mit dem Gedicht nicht recht vorwärts, und Dina schien daran schuld zu sein, Oskar wurde bitter und Dina weinerlich, sie stritten oder sie schwiegen miteinander, und Dina fühlte, daß das Glück, welches sie nun zu halten geglaubt hatte, ihr wieder entwischte. Alles um sie her schien ihr traurig und bedrückend, diese Berge, diese hellen Tage, der starke, süße Duft der Wiesen und die fette Behäbigkeit der Kühe und Menschen. Das melancholischste aber war stets dieses Heimkommen vom Abendspaziergange, wenn Oskar und sie so stumm hintereinanderher gingen, die Müdigkeit lag schwer auf ihren Schultern, die gepflückten Feldblumen welkten in ihrer heißen Hand, und nichts, nichts war zu erwarten, das sie ein wenig glücklich machen konnte. Drüben in der niedrigen Bauernstube würden die Abendmilch und der langweilige Aufschnitt sie erwarten, und dann würden sie auf dem Balkon sitzen, in die Nacht hinaussehen, den Tönen lauschen, und Oskars Schweigen würde Dina wie eine körperliche Qual krank machen. Dinas hübsches rundes Gesicht, das ganz auf ein glückliches Lächeln eingerichtet war, wurde, während sie langsam hinter Oskar her ging, kummervoll, und das Junge und Blühende in ihm, das es sonst hübsch machte, schien wie erloschen.

Aus dem Waldwege, der vom See heraufführte, bog jetzt ein zweites Paar in die Hauptstraße ein. Ein ganz junger Mann in gelbem Radfahrkostüm, schmalschulterig wie ein Knabe, den Hut in der Hand, das reiche schwarze Haar im Abendwinde flatternd, umschlang mit dem rechten Arm ein junges Mädchen. Sie war überschlank, ganz in Weiß gekleidet, das Haar, unbedeckt, hing feucht von Abendnebeln ihr über die Stirn. Sie lehnte sich ganz fest an ihren Gefährten, als sei es ihr schwer, ohne Stütze zu gehen.

»Das ist das Paar, das unter uns wohnt«, sagte Dina. »Ich sehe es«, erwiderte Oskar, und nach einer Weile setzte er hinzu: »Ich weiß nicht, warum es dir ein Bedürfnis ist, mir alles, was hier geschieht, sozusagen vorzustellen.«

»Ach, man sagt das so«, meinte Dina.

Oben in der Bauernstube, in der Oskar und Dina wohnten, standen in der Dämmerung die Milch und der Aufschnitt auf dem Tisch. Das Ehepaar setzte sich und begann schweigend zu essen.

Kann es etwas Traurigeres geben, dachte Dina, als diese Mahlzeit. Endlich wurde ihr das Schweigen so unerträglich, daß sie beschloß, etwas Freundliches zu sagen: »Ist dir auf dem Spaziergange etwas Hübsches für dein Werk eingefallen?«

Überrascht sah Oskar auf, und dann antwortete er in einem Ton, als habe Dina ihn beleidigt: »Was soll mir einfallen? Und überhaupt mein Werk! Ich liebe es nicht, wenn danach gefragt wird, etwa wie man fragt: Hast du noch Zahnweh?«

»Ach so, das wußte ich nicht«, entgegnete Dina spitz.

Eine Wohltat war es, als Resei, die Magd, in das Zimmer trat, um das Geschirr zu holen. Sofort begann Dina mit ihr zu sprechen: »Sagen Sie, der Herr und die Dame, die unter uns wohnen, was sind das für Leute?« – »Die«, erwiderte Resei, »mit denen ist es nicht ganz richtig. Da kennt man sich nicht aus. Verheiratet sind sie nicht, Geschwister sind sie nicht, tags sitzen sie zu Hause hinter geschlossenen Fensterläden, abends gehen sie fort und fahren auf dem See herum, bis es dunkel wird, und wenn sie heimkommen, sitzen sie dort auf dem Balkon die ganze Nacht und sprechen und sprechen. Und wie sehen sie aus, bleich wie die Gespenster, ordentlich zum Fürchten. Ja, was die haben, kann man nicht wissen. Er nennt sich Doktor Krammer und sie Adine Mieke, Studentin.« Und dann seufzte Resei und fügte hinzu: »Ja, es gibt so allerhand Leute.«

»So, so«, meinte Oskar, und damit war das Mädchen entlassen.

Oskar und Dina gingen auf den Balkon hinaus und schauten schweigend in die Nacht hinein. Sehr hell und unruhig flimmernde Sterne standen am Himmel über all dem Schwarz, welches auf dem Lande lag. Zuweilen erwachte ein Ruf irgendwo sehr weit und kam durch die Finsternis heran wie durch eine große schweigende Leere. Ein Gefühl unendlicher Einsamkeit ergriff Dina, sie hätte weinen mögen, und angstvoll wartete sie darauf, daß er etwas sage, um sie aus dieser Einsamkeit zu reißen. Er schwieg jedoch oder pfiff zuweilen leise eine Melodie vor sich hin, welche Dina hoffnungslos traurig erschien. Plötzlich ließ sich eine Stimme vernehmen. Sie kam von dem unteren Balkon, eine tiefe, ein wenig singende Frauenstimme, die ihre Worte langsam aussprach, als wollte sie ihnen Zeit lassen, ein jedes für sich in die Finsternis hinauszufliegen. »Ach, du mußt Geduld mit mir haben, es wird kommen, ich weiß bestimmt, daß es kommen wird, aber heute wieder war es so eigen –«

»Wir haben Zeit«, erwiderte eine Männerstimme, die gegen den dunklen veträumten Ton der Frauenstimme unruhig und erregt klang, »natürlich wird es kommen, wie etwas Notwendiges, nicht einmal die Anstrengung eines Entschlusses wird es kosten. Es wird uns nehmen wie das Selbstverständliche, wie das einzige, das wir wollen können.«

»Heute«, begann wieder die Frauenstimme, »heute auf dem See, da kam ein Augenblick, in dem ich es hätte tun können, als die Dämmerung kam und die Nebel um uns aufstiegen und alles um uns her wie fortgelöscht schien. Nichts war das als ein kühles Wehen. Da wollte ich dir sagen, jetzt – aber da sah ich plötzlich, daß in den Häusern am anderen Ufer die Lichter angesteckt wurden, kleine gelbe Punkte, und sofort stellte ich mir die Stuben vor, in denen die Lichter brannten, und die Menschen, die dort eng und warm beisammensaßen, sicher hinter verschlossenen Türen – und da fror mich und da –«

»Ich weiß, ich weiß«, fiel die Männerstimme ein, »aber du kannst ruhig sein, nächstens werden wir diese schmutzigen gelben Lichter nicht mehr ansehen können. Warte nur, bis wir ganz auf unserer Höhe sind.«

Jetzt schwiegen die Stimmen. Dina hatte atemlos gelauscht, und als das Gespräch verstummte, da erfaßte sie ein Grauen, es war ihr, als hätten die beiden klagenden Stimmen in die Stille der Nacht ein unheimliches Fieber hineingelegt, etwas, das lauert und droht und einsam leidet. Nein, sie hielt es nicht aus. »Ich zünde die Lampe an«, sagte sie und ging ins Haus. Oskar folgte ihr, er hatte blanke Augen und begann sehr angeregt zu sprechen: »Ein Schicksal vollzieht sich da unter uns, du wirst sehen. Das nenne ich ein Erlebnis, das nenne ich eine Impression.«

»Ich finde das unheimlich«, sagte Dina und schmiegte sich an Oskar. Der Landaufenthalt gewann für Oskar jetzt an Inhalt, er sprach beständig von dem rätselhaften Liebespaar unter ihnen. Er versuchte es, ihnen zu begegnen, wenn sie zum See hinuntergingen, wartete mir großer Aufregung auf ihre Rückkunft, oder er stand am Seeufer und schaute zu, wie der Kahn mit den beiden Liebenden auf dem Wasser schaukelte. »Es ist klar«, sagte er zu Dina, »er reißt das arme Mädchen mit in sein Verderben, er hat sie hypnotisiert, ja, so sieht sie aus. Wenn man nur wüßte, man könnte sie vielleicht retten.«

»Wer? Du?« fragte Dina.

»Ja, warum nicht«, erwiderte Oskar eifrig. »Wenn ich sehe, daß ein Unglück geschieht, so ist es Menschenpflicht zu retten. Aber man weiß eben nicht. Übrigens habe ich sie heute ganz nahe gesehen, sie hat eins dieser schmalen, bleichen Gesichter, die so ergreifend sein können. Und dann die Augen, goldbraun, die aussehen, als seien sie müde von dem eigenen Glanze, den sie ausstrahlen müssen. Und der Mund, der so geistvoll Schmerz ausdrückt.«

»Du dichtest ja«, warf Dina hin. Allerdings, Oskar gestand, daß diese Begegnung ihn sehr anregte. Dina zog die Augenbrauen ein wenig empor, was ihrem Gesichte einen Ausdruck verleihen sollte, als langweilte sie das Gespräch. »Für dein Talent«, meinte sie, »ist es schade, daß ich ein rundes Gesicht habe, keine müden Augen und keinen geistreichen Mund.«

»Unsinn«, brummte Oskar, dann fuhr er auf: »Ich wundere mich, daß du kein Mitleid fühlst. In solch einem Fall kann man sich doch einer gewissen menschlichen Teilnahme auch für Fremde nicht erwehren.« Dina zuckte die Achseln: »Mitleid schon, aber Damen in solchen Verhältnissen stehen mir so fern, daß mein Interesse für sie nicht sehr lebhaft ist.« Da lachte Oskar höhnisch: »Natürlich, ihr drapiert euch in eure bürgerliche Tugend und seid dann aller menschlichen Gefühle überhoben.«

»Ja, wünschst du denn, daß ich mich für solche Damen interessiere?« fragte Dina gereizt. »Solche Damen?« wiederholte Oskar, machte eine abwehrende Bewegung, nahm seinen Hut und lief hinaus.


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