Eduard von Keyserling
Am Südhang
Eduard von Keyserling

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In den Nachmittagsstunden dieser langen Sommertage pflegte es im Hause, Hof und Garten stille zu werden. Frau von Wallbaum nahm Daniela in ihr Zimmer, die Herren zogen sich zurück. Botho behauptete, in der Bibliothek lesen zu wollen, und schlief in dem großen Sessel ein. Den Grafen Lynck machten die Nachmittagsstunden nervös, und er mußte in seinem Zimmer still auf der Couchette liegen. Nur den beiden Kindern ließ der Sommer keine Ruhe. Sie trieben sich draußen unter den Obstbäumen umher, und über den einsamen Hof hastete nur die Kammerjungfer Lina sehr erhitzt, die Stirn voll nasser Haarsträhnen. Sie kam von einem Stelldichein hinter den Jasminbüschen, denn Lina hatte zu jeder Tageszeit Stelldicheins hinter den Jasminbüschen.

Karl Erdmann hatte es früher auch nicht anders gekannt, als daß man sich um diese Zeit faul hinstreckte. Er wunderte sich daher über sich selbst, über die seltsame Unruhe, die ihm jetzt im Blute saß, als könnte er etwas versäumen, als müßte etwas geschehen, etwas getan werden. Es war ihm, als hätte er die Aufgabe, etwas sehr Wichtiges seines Lebens zu erleben, und sei ungeduldig, daß die Sache nicht schnell genug vorwärtsginge. Nein, so etwas hatte er noch nie empfunden. Er hoffte sehr, daß dieses nicht mit sentimentalen Kommißgedanken an Tod und solche Geschichten zusammenhing. Aber da es nun einmal so war, so konnte er ja in den Garten zu den Kindern gehen.

Als er aus dem Hause trat, fand er unter zwei großen Linden Oda in der Hängematte liegen. Sie hielt ein Buch in der Hand, aber sie hielt die Augen geschlossen. Er ging zu ihr hinüber und sah, daß ihr Gesicht feucht von Tränen war. »Warum weinst du, Oda?« fragte er, »quält er dich?«

Oda schlug die Augen auf und errötete: »Es ist nichts«, sagte sie, »nein, warum soll er mich quälen. Komm, Karl Erdmann, es ist gut, daß du da bist, es ist so beruhigend, mit dir zu sprechen, du bist, wie sagt man doch, so neutral.«

»Oh, bin ich neutral?« fragte Karl Erdmann und zog die Augenbrauen hinauf.

Oda schaute in die Baumzweige und sprach langsam vor sich hin, als setzte sie ein Gespräch fort: »Ich glaube, es liegt daran, daß wir hier in unserm stillen Winkel ein wenig einfältig werden. So stellte ich mir immer vor, Sich-Lieben und Sich-Verloben, das sei eine einfache Sache. Nun sehe ich aber, daß Sich-Lieben etwas ganz Kompliziertes ist. Zuweilen kommt es mir vor wie eine sehr schwierige Rechnung so mit Klammern und Xen. Ottomar sagt wohl, das sei so ein sentimentaler Unsinn, daß Menschen, die sich lieben, sich verstehen müssen. Menschen können sich wohl lieben, aber verstehen werden sie sich doch nicht. Wozu auch? Lieben ist doch genug. Das ist gewiß schön und mag so sein, aber, ich weiß nicht, wenn man nicht versteht, wird es leicht unheimlich, und du erinnerst dich, ich fürchtete mich von jeher im Dunkeln.«

»Warum er dich mit seiner Rätselhaftigkeit einängstigt, verstehe ich nicht«, fuhr Karl Erdmann auf.

»Nein, sag nichts gegen ihn«, sagte Oda und schloß wieder die Augen. Sie schwieg jetzt und lag regungslos da. Karl Erdmann saß noch eine Weile auf der Bank und schaute das stille Mädchen an. »Also sie fürchtet sich vor ihrer Liebe, wie Mädchen sich vor dem Dunkeln fürchten. Na wirklich, der Herr Legationsrat, unser Herr Graf, müßte sich wirklich eine andere Technik anlegen.« Dann erhob er sich und ging tiefer in den Garten hinein

Leo stand unter einem Birnbaum und warf mit Steinen nach Birnen. Heida saß auf dem Aste eines alten, schiefen Pflaumenbaumes, aß wachsgelbe Eierpflaumen und spie die Kerne weit von sich. Als sie Karl Erdmann erblickte, sprang sie herunter. »Gott sei Dank, daß du kommst«, sagte sie, »dann brauche ich nicht mehr diese Pflaumen zu essen, man denkt, sie sind gleich vorüber und man muß sie essen, aber es ist nicht immer leicht.«

»Ach ja«, meinte Karl Erdmann, »ich erinnere mich der Zeit, wo man solche Pflichten hatte.« Heida nahm Karl Erdmanns Arm. »Wollen wir in den Schatten gehen«, schlug sie vor, »heute kann man ja mit dir sprechen, heute bist du nicht mehr der fremde Herr von gestern, heute bist du reçu.«

»So, so, sehr gütig«, sagte Karl Erdmann, »aber ganz eingeweiht bin ich doch noch nicht. Warum liegt nämlich Oda in der Hängematte und weint?«

»Das kann ich dir sagen«, berichtete Heida eifrig. »weil sie eifersüchtig auf Daniela ist. Das ist auch natürlich. Zuweilen macht Ottomar Daniela so feurig den Hof, als ob es keine Oda gäbe. Noch vorgestern ging er mit Daniela bis elf Uhr abends den Gartenweg auf und ab, und Oda saß in ihrem Zimmer und hatte rotgeweinte Augen. Das ist auch etwas Angenehmes an dir, daß du, glaube ich, noch nicht in Daniela verliebt bist. Sonst alle, auch Leo. Er will, wenn sie reitet, Kletten unter den Sattel legen, damit, wenn das Pferd durchgeht, er sie retten kann. Solch ein Unsinn. Und dann Herr Dorn. Fräulein Undamm weint sich deshalb die Augen aus. Und Botho. Daniela ist gewiß reizend, aber ich wundere mich, daß alle in eine und dieselbe verliebt sind, das hat doch keinen Sinn.«

»Das ist ja recht interessant«, bemerkte Karl Erdmann, »nur wundert es mich, daß ein kleines Mädchen wie du den Kopf so voller Liebesgeschichten hat.« Heida zuckte die Achseln: »Was kann ich dafür, das liegt hier in der Luft. Das atmet man ein. Selbst Lina, wenn sie mich abends frisiert, fragt mich: ›Haben Fräuleinchen den neuen Gärtner gesehen?‹ Und dann sieht sie zur Decke hinauf und sagt: ›Der ist ein Mann!‹«

Dann plötzlich wurde ihr Gesicht ganz ernst, und sie schaute zu Karl Erdmann auf mit weit offenen, erschreckten Augen, die feucht glänzten: »Und ist es wahr, daß du ein – ein Duell haben wirst? Ach, du brauchst nicht so böse auszusehen, ich weiß, ich weiß, es ist ein Geheimnis und niemand darf es wissen. Aber Leo hat gehört, wie du mit Botho sprachst.«

Karl Erdmann wurde blaß vor Zorn. »Leo hat geträumt«, sagte er, »und es ist sehr unrecht von euch, solche Dinge zu erzählen, die ihr nicht versteht. Ihr könnt großes Unheil anrichten.«

Heida nickte bekümmert: »Natürlich, wir durften es nicht wissen, wir sagen es auch niemand. Aber gestern abend im Bett habe ich darüber weinen müssen. Fräulein Undamm sagte, als sie es hörte –«

»Fräulein Undamm«, fuhr Karl Erdmann auf.

»Ja, ihr haben wir es gesagt«, meinte Heida. »Sie schweigt schon, aber sie sagte, als sie das hörte: ›Er so jung und hoffnungsreich.‹ Daran mußte ich immer denken.«

»Das ist ja aber alles nicht wahr«, rief Karl Erdmann. »Nur du und Leo seid ungezogene Kinder, und ich verbitte mir das.« »Das mag sein«, sagte Heida ruhig, »aber ergreifend ist es doch«, und jetzt rannen wirklich Tränen über die Wangen des Mädchens. Karl Erdmann wandte sich ab und ging. Er war sehr ärgerlich über das, was er gehört hatte, und ärgerlich darüber, daß dieses kleine Mädchen, das über ihn weinte, ihn mit einer Rührung erfüllte, die ihm die Kehle zusammenschnürte.

Gegen Abend, als die Jalousien aufgezogen und die Fenster geöffnet wurden, erwachte das Leben wieder, und Karl Erdmann empfand es deutlich, daß er jetzt wieder ganz zu diesem Leben gehörte, er fand sogar, daß er hier besonders beliebt war. Ein jeder hatte ihn nötig, wollte bei ihm sein und mit ihm sprechen. Er kannte die Scherze, über die gelacht wurde, und konnte mitlachen. Er verstand wieder so leicht und wurde wieder so leicht verstanden, wie er es hier gewohnt war. Aber ein Vorfall überraschte ihn doch. Es war nach dem Abendessen. Man saß wieder auf der Gartentreppe in der Sommernacht oder ging langsam die dunklen Gartenwege entlang. Karl Erdmann brauchte nicht mehr wie ein Herr, der zum Besuch da ist, neben seinem Vater zu sitzen und von alten Garnisonsgeschichten zu sprechen. Er stieg die Treppe hinab, um zu seinen Schwestern zu gehen, die er drüben bei den Lilien lachen hörte. Mitten auf dem Gartenwege stand Daniela. Der Graf Lynck kam auf sie zu, er blieb vor ihr stehen, und sich ein wenig vorbeugend, sagte er leise etwas zu ihr. Daniela lachte, wandte sich dann kurz ab und ging Karl Erdmann entgegen: »Kommen Sie, Karl Erdmann«, sagte sie und nahm seinen Arm, »gehen wir sehen, wie es über dem Walde wetterleuchtet.« Während sie zusammen den Weg hinabgingen, dachte Karl Erdmann darüber nach, was er sagen sollte. Es sollte nichts Gewöhnliches sein, jetzt mußte ein Erlebnis beginnen, allein er war so erregt, daß ihm nichts einfiel. Unterdessen begann Daniela unbefangen zu plaudern: »Mit Ihnen ist es so gemütlich. Was man mit Ihnen unternimmt, ist ganz einfach und selbstverständlich, wir gehen sehen, wie es wetterleuchtet, das ist ganz einfach, nicht wahr? Sie wollen nicht, daß das ein Symbol sei oder irgendwie tief.« Karl Erdmann versuchte zu lachen, aber es klang gezwungen. »Also«, meinte er, »Sie halten mich für gemütlich, harmlos und sehr einfach.« Daniela schüttelte ein wenig seinen Arm. »Nein, nein«, sagte sie, »Sie sollen nicht auch kompliziert sein wollen, alle wollen jetzt kompliziert und geheimnisvoll sein, sie glauben, dann gefallen sie uns. Was heißt denn dies ›Interessantsein‹ anders, als ich leide an mir selber und bin bereit, dich an diesem Leiden teilnehmen zu lassen. Ach Gott, wenn die Männer doch wüßten, wie angenehm sie sind, wenn sie glücklich und verständlich sind.«

»Dazu gehört«, begann Karl Erdmann mit Anstrengung, denn jetzt glaubte er es gefunden zu haben, das Bedeutungsvolle, »dazu gehört, daß einer einen glücklich macht und versteht.«

Daniela antwortete nicht darauf, sie standen jetzt am Ende des Weges und schauten über die Wiese zum Walde hinüber, der drüben wie eine stille schwarze Mauer stand. Über ihm hing eine schwere, graublaue Wolke, in der sich beständig ein grelles Gold regte. So zu stehen in dem Duft der Abendnebel und neben sich diese Frau atmen zu hören, ergriff Karl Erdmann so stark, daß er sein eigenes Herz klopfen hörte. »Heute sprach ich mit Ihrer Mutter«, begann Daniela wieder, und er wunderte sich, daß ihre Stimme so ruhig in seine Erregung hineinklang, »ich sprach heute mit Ihrer Mutter von Ihrer künftigen Frau. Wir waren uns darüber einig, daß sie eines jener entzückenden, kleinen, rundlichen blonden Wesen sein muß. Ein rundes rosa Gesicht und einen sehr roten Mund.«

»Oh, ich kenne diese runden Apfelgesichter«, sagte Karl Erdmann bitter. »Zu denen gehört dann gewöhnlich ein Paar dummer fayenceblauer Augen.«

»Durchaus nicht«, widersprach Daniela, »sie wird hellbraune Augen haben. Die lassen sich so hübsch vom Licht durchleuchten. Und dumm, das wird sie nicht sein, sie wird sehr gescheit sein, sie wird sofort verstehen, daß es Sie schmerzt, wenn Sie nicht für kompliziert und geheimnisvoll gehalten werden, und obgleich sie Sie deshalb lieben wird, weil Sie frisch und klar sind, so wird sie doch tun, als müsse sie irgendein geheimnisvolles Leiden, eine geheimnisvolle Zerrissenheit an Ihnen heilen und trösten.«

»Was für ein lächerliches Paar das geben wird«, warf Karl Erdmann verächtlich hin.

»Nein, ein glückliches«, sagte Daniela, »gehen wir jetzt.« Während sie wieder dem Hause zuschritten, schwieg Karl Erdmann, aber es war, als schnürte etwas Böses, etwas, das Daniela erschrecken und erschüttern sollte, das er sagen wollte, ihm die Kehle zusammen. Er brachte es jedoch nur zu einem kleinlauten: »Daniela, Sie sagen das alles, um mich zu kränken.« »Kränkt Sie das, armer Karl Erdmann?« erwiderte sie, und im Schein eines Wetterleuchtens sah er, wie das schmale weiße Gesicht zu ihm aufblickte und mitleidig lächelte. Dann sprachen sie nichts mehr und gingen in das Haus hinein.

Die Nacht war schwül, und Karl Erdmann konnte sich nicht entschließen, sich niederzulegen. Er stand am geöffneten Fenster seines Schlafzimmers und schaute in den Garten hinab, und in das tiefe Dunkel fuhr zuweilen das Wetterleuchten wie eine plötzliche Erregung. Karl Erdmann fühlte in sich eine quälende Lebensungeduld, ein zorniges Verlangen, als würde ihm versagt, worauf er doch ein Recht hatte, und allerhand seltsame waghalsige Pläne gingen ihm durch den Kopf. Diese Gewitternacht regte ihn auf wie eine Nacht am Spieltische. Unten auf den Gartenwegen irrte die einsame Gestalt Aristides Dorns umher. »Den läßt wieder die Liebe zu Daniela nicht schlafen«, dachte Karl Erdmann. Nun, der Gedanke, dort unten umherzuirren, war nicht schlecht, und dann mit jemandem zu sprechen, der jetzt gewiß auch nur an Daniela dachte, konnte wohltuend sein. So beschloß er auch hinunterzugehen.

Als er unten zwischen den Levkojenbeeten Aristides Dorn begegnete, schrak dieser ein wenig zusammen, dann lachte er leise und sagte: »Oh, der Herr Leutnant ist es, Sie können wohl auch nicht schlafen?«

»Ja, die Gewitternacht macht es«, erwiderte Karl Erdmann. – »Vielleicht ja«, erwiderte Dorn zögernd, »ich finde, man schläft hier überhaupt nicht gut.« – Karl Erdmann lachte. »Ich habe hier schon viele Jahre vortrefflich geschlafen.« Die beiden jungen Leute hatten begonnen langsam nebeneinander herzugeben. Aristides Dorn hielt den Kopf gesenkt; nur wenn ein Wetterleuchten den Garten erhellte, schaute er auf und strich sich die Locke aus der Stirn. Er begann wieder zu sprechen, leise und versonnen: »Natürlich, Sie sind hier in dieser Luft aufgewachsen, ich meine die ganze Lebensatmosphäre, aber wenn einer von außen kommt, aus einer ganz andern Atmosphäre, dann wirkt das seltsam stark auf ihn.«

»Gefällt Ihnen das Leben hier nicht?« fragte Karl Erdmann leichthin. Der schwere, gedrückte Ton, in dem Dorn sprach, war ihm unbehaglich. »So etwas gefällt immer«, erwiderte Dorn, »es ist ja hier alles zusammengetragen, was gefallen muß, und nach Möglichkeit alles ausgeschaltet, was verletzen könnte. Das ist alles sehr schön, natürlich sollte es solch ein Leben nicht geben.«

»Erlauben Sie«, fuhr Karl Erdmann auf, »warum darf es das nicht geben? Es ist doch genug Häßliches auf der Welt, warum soll es nicht solche stille Reservoirs geben, in denen sich das Hübsche und Vornehme und Kultivierte ansammelt, so Musterwirtschaften des Lebens?« Aristides Dorn schwieg eine Weile, ehe er wieder begann: »Es ist sehr hübsch gesagt, ein Reservoir für das Schöne, Vornehme und Kultivierte. Im Mai, glaube ich, war es, daß der Geburtstag von Fräulein Oda gefeiert wurde. Für das Diner waren Birnen aus der Stadt geholt worden. Es waren die größten Birnen, die ich je gegessen habe, und auch wohl die süßesten und die saftigsten, wundervolle Birnen, aber genau genommen, sind solche wundervolle Birnen kranke Birnen. Es sollte vielleicht solche Birnen nicht geben.«

Der Herr erlaubt sich etwas, ging es Karl Erdmann durch den Sinn, deshalb nahm er seinen Ton etwas hochmütig, als er sagte: »Das Bild ist originell, aber ich finde, daß wir hier alle recht kräftig und gesund gediehen sind.«

»Gewiß!« gab Dorn höflich zu, »hier gedeiht und blüht ja alles prächtig. Ich spreche ja natürlich nur von meinen eigenen persönlichen Erfahrungen. Da scheint es mir denn, daß hier das Lebensbild einigermaßen gefälscht wird. Das Leben ist doch eine gefährliche, drohende Sache, in die einiges Hübsche hineingestreut ist und sehr viel Hinwegdenken über alles Schlimme. Hier soll es nur weich und hübsch sein und ganz aus dem Hinwegdenken über das Schlimme bestehen. Ich habe gefunden, daß uns das ein wenig widerstandslos, ein wenig feige gegen uns selbst macht. Es ist natürlich lächerlich, wenn ich wieder auf die großen Birnen zurückkomme, aber wirklich, ich habe daran gedacht, daß ich einige Ähnlichkeit mit solch einer Birne bekomme, so weich und innerlich ganz süß. Wenn man nicht geboren ist, um in Seidenpapier gewickelt zu werden, so ist das gefährlich.« Dorn schwieg, sah in das Wetterleuchten und lächelte sein hochmütiges ironisches Lächeln. Das ärgerte Karl Erdmann, und er schnarrte im Leutnantstone: »Sehr unangenehm allerdings, eine Duchessebirne zu werden, und Sie sind recht streng mit uns hier, aber vielleicht sind es Ihre politischen Ansichten, die Zustände hier zu hassen.«

»Politische Ansichten? O nein«, erwiderte Dorn lebhafter als früher, und jetzt klang es, als mache es ihm Vergnügen zu sprechen. »Wir, das heißt ich und meine Freunde, wollen keine politischen Überzeugungen haben, wir wollen Weltanschauungen haben. Es ist ja sehr gut, zu versuchen, den Besitz gleichmäßig zu verteilen, so daß jeder genug zu essen und zu leben hat, aber ist das auch erreicht, dann sind die Daseinsfragen, die uns quälen, damit um keinen Schritt ihrer Lösung nähergerückt. Hassen, sagen Sie, nun ja, vielleicht hasse ich das Leben hier, ich lehne es ab. Natürlich, das muß ich, das ist meine Art, mich zu verteidigen, so etwas wie eine Schutzimpfung. Denn sonst könnte es mir passieren, daß ich nicht mehr hinaus könnte. Solche Erfahrungen sind ja sehr interessant, aber manche gehen dabei zugrunde. Nun schließlich, irgendeine Erfahrung bringt uns immer um.« Er wartete einen Augenblick, ob Karl Erdmann etwas sagen würde, da dieser jedoch schwieg und nicht wußte, was er mit diesen Geständnissen machen sollte, so fuhr Aristides Dorn fort: »Ja, ich habe eigentümliche Züge an mir beobachtet, die neu sind. So war ich früher sehr schnell, ja hastig von Entschluß. Jetzt passiert es mir, daß ich etwas tun will und Abend für Abend umhergehe und mich nicht dazu entschließen kann. Und jetzt, daß ich Ihnen alles das sage, das hätte ich früher nicht getan, ich war immer sehr verschlossen gegen Fremde, und nun schwatze ich und schwatze ich.«

»Machen Sie sich nichts daraus, Herr Dorn«, sagte Erdmann gutmütig, »in solch einer elektrisch geladenen Nacht wird man mitteilsam, morgen bei Tage sieht das alles anders aus.«

Im Gespräch waren sie durch den ganzen Garten gegangen, aus den Düften der Rosen waren sie in den Duft der reifen Pflaumen gekommen und von da in den Gemüsegarten mit den scharfen Gerüchen der Sellerie- und der Zwiebelpflanzen. Dann gingen sie den Weg zurück und standen wieder vor dem Hause. Die lange Front war dunkel bis auf ein Fenster, aus dem ein Lichtschein durch die Vorhänge fiel. »In der Bibliothek ist noch Licht«, bemerkte Karl Erdmann. – »Ja«, erwiderte Dorn, »dort ist gewöhnlich noch Licht. Frau von Bardow pflegt dort noch zu lesen. Sie ist es gewohnt, spät zu Bette zu gehen.«

Schweigend standen die beiden jungen Leute eine Weile da und schauten den Lichtschein an. Plötzlich sagte Karl Erdmann: »Gute Nacht, Herr Dorn, es hat mich sehr interessiert. Sie bleiben wohl noch draußen.« »Ich gehe hier noch ein wenig umher«, antwortete Dorn, »gute Nacht, Sie – Sie gehen wohl noch in die Bibliothek?« »Ja, vielleicht«, sagte Karl Erdmann leichthin. Er reichte Dorn die Hand und ging. »Das ist es, lieber Freund«, dachte er, »wozu du dich nicht entschließen kannst.«

Mit leichten hastigen Schritten eilte er durch die dunkle Zimmerflucht. Die Tür zur Bibliothek stand offen. Es wurde dort gesprochen, Ottomar Lyncks Stimme war es, die Worte konnte Karl Erdmann nicht verstehen, aber die Stimme erschien ihm ungewöhnlich wach und eindringlich. Jetzt sprach Daniela, langsam und eintönig, wie wir sprechen, wenn wir ein wenig schläfrig sind: »Wenn das nun alles so ist, so vergessen Sie eins, lieber Graf, daß Sie von Ihren Gefühlen sprechen, nicht von meinen Gefühlen.« Nun bemerkte sie Karl Erdmann, der in der Türe stand. »Karl Erdmann ist auch da«, sagte sie, »können Sie auch nicht schlafen?« Sie saß in einem der großen Sessel, hatte den Kopf zurückgebogen, und ihr Gesicht trug den Ausdruck von jemand, der sich etwas müde von einer Musik einschläfern läßt. Am Kamin stand der Graf Lynck, zwei rote Flecken brannten auf seinen Wangen, die ihn hübscher und jünger machten. Auch er lächelte Karl Erdmann entgegen und meinte: »In solchen Gewitternächten gespenstern wir alle umher.« Brillante Haltung! dachte Karl Erdmann, denn er ist doch wütend, daß ich komme, und dann berichtete er, daß er noch unten im Garten spazierengegangen sei, und da er hier oben Stimmen gehört habe, sei er gekommen, um auch dabei zu sein. »Ja« sagte Daniela, »der Graf Lynck erzählte mir hier seltsame und interessante Dinge, nur fürchte ich, daß ich nicht recht imstande war, ihm zu folgen.«

»Es ist ja auch spät«, meinte der Graf höflich und schaute nach der Uhr. »So werde ich denn gute Nacht wünschen. Karl Erdmann gelingt es vielleicht, verständlicher zu sein.« Er verbeugte sich freundlich und unbefangen und ging. Karl Erdmann hatte sich auf einen Stuhl gesetzt, saß gerade da wie gespannt auf etwas, das da kommen sollte. Daniela lag noch immer regungslos in ihrem Sessel. Eine Weile schwiegen beide. Endlich begann Karl Erdmann: »Ottomar Lynck hat Ihnen ganz einfach eine Liebeserklärung gemacht, ich hab es seiner Stimme angehört.«

»Konnte man ihr das anhören?« erwiderte Daniela noch immer in dem ruhigen, müden Tone. »Ach ja, es kam vielleicht auf so etwas hinaus, aber sehr auf Umwegen. Durch was für Gefühlslabyrinthe sind wir nicht geirrt. Eine Liebeserklärung? Natürlich. Diese Herren der großen Welt sind alle Pedanten, weil sich in ihrem Leben so oft die gleichen Lebenslagen wiederholen. Man ist eben nicht erfinderisch in der großen Welt, deshalb tun sie in der gleichen Lebenslage immer das gleiche. Eine gewitterschwüle Sommernacht, es ist spät in der Nacht, eine Dame ist allein in einer Bibliothek, da nicht eine Liebeserklärung zu machen ist für diese Herren ebenso unmöglich, wie zum Frack eine schwarze Krawatte umzulegen.«

Karl Erdmann lachte nicht, er sah böse zu Daniela hinüber und sagte: »Ich hörte seiner Stimme aber auch an, daß er litt.« Daniela zog die Augenbrauen ein wenig empor: »Gott, wer leidet nicht zuweilen, und wenn ein Herr, der von einem Mädchen wie Oda geliebt wird, leidet, wer kann ihm da helfen?«

Das Gewitter war heraufgezogen, der Birnbaum vor den Fenstern begann plötzlich eifrig zu rauschen und streute seine Birnen auf den Rasenplatz. Der Donner ließ sich vernehmen, aber ganz fern ein tiefes, weiches Rollen. Karl Erdmann schwieg eine Weile, als warte er, bis der Donner ausgesprochen hatte, dann begann er wieder zu sprechen und es klang eigensinnig und ungeduldig: »Es ist mir auch ganz gleichgültig, ob Ottomar Lynck leidet oder nicht. Ich bin gerade viel zu sehr damit beschäftigt, selbst zu leiden.«

»Sie?« fragte Daniela und richtete sich in ihrem Stuhle auf, um Karl Erdmann anzusehen, »ach nein, das sollen Sie nicht.«

»Warum soll ich das nicht«, fuhr er böse fort, »wahrscheinlich, weil ich ein so guter, gemütlicher, einfacher Junge bin und weil ich so furchtbar glücklich bin und so neutral, wie Oda sagt, das ist doch die Rolle, die Sie mir zugedacht haben. Aber Sie wissen sehr gut, daß ich all das nicht bin. Warum lassen Sie es denn zu, daß Ottomar und Botho und der Hauslehrer in Sie verliebt sind, und wenn Sie den Arm um Leos Schulter legen, so macht es Ihnen Spaß, daß der Junge ganz rot wird und wie hypnotisiert ist. Aber ich, nein, ich soll der Harmlose sein, der Kameradschaftliche. Ich kann das nicht, ich kann das weniger als all die andern. Bei Ottomar Lynck ist die Liebe eine Gemütskomplikation und bei Botho ein Urlaubsflirt und bei dem Hauslehrer eine Krankheit, aber bei mir ist es Ernst. Sie halten mich ja für einen einfachen, harmlosen Menschen, nun, bei denen wird so was immer Ernst. Es hilft ja nichts, daß ich Ihnen das sage, aber ich will, daß Sie es wissen. Ich will nicht mehr den harmlosen Kameraden spielen, das ertrage ich nicht mehr.«

Daniela ließ ihn sprechen und schaute ihn dabei teilnehmend und ein wenig ratlos an, als ob sie einen Kranken anblickte und über das Mittel nachsänne, das ihm Linderung verschaffen könnte. Als er zu Ende gesprochen hatte, errötete sie, zog die Augenbrauen zusammen und schlug mit der Hand auf die Stuhllehne: »Nein, das will ich nicht, das habe ich nie gewollt und das ist auch nicht, Sie täuschen sich, Karl Erdmann, es kommt Ihnen heute vielleicht so vor, aber morgen wird das ganz anders sein. Was würde Ihre Mutter sagen, wenn sie das hörte, sie will Sie doch ruhig und glücklich sehen. Es käme mir vor, als ob ich irgendein Heiligtum Ihrer Mutter zerstörte, etwas ihren geliebten Rasenplätzen antun würde oder so was.«

Karl Erdmann lachte schmerzhaft: »Oder als ob Sie die Meißener Zuckerdose zerschlügen. Es tut mir leid, ich bin aber nicht mehr in der Lage, die Rolle einer friedlichen Lieblingssache zu spielen. Sie verstehen es wohl zu machen, daß die Männer Sie lieben, aber wenn Sie wollen, daß einer Sie nicht liebt, dann sind Sie machtlos.«

Daniela hatte sich erhoben und war zu Karl Erdmann hinübergegangen. Sie blieb vor ihm stehen und schaute ihm sorgenvoll in das bleiche erregte Gesicht: »Sie sehen schlecht aus«, sagte sie, »Sie müssen krank sein. Legen Sie sich jetzt zu Bette, morgen, wenn es nicht mehr so schwül ist, dann wird alles anders sein.« Sie redete ihm zu wie einem Kinde, streichelte seinen Rockärmel, legte die Hand auf seine Stirn: »Ja, Ihre Stirn ist heiß, warten Sie, ich habe Brom bei mir, ich hole Ihnen etwas, trinken Sie das, Sie werden sehen, es tut Ihnen gut.« Geschäftig eilte sie aus dem Zimmer. Karl Erdmann blieb sitzen, er fühlte sich kraftlos vor Rührung, vor Mitleid mit sich selber und schämte sich dessen. Dann sprang er plötzlich auf, er durfte hier nicht warten. Wenn er hier noch ihre Medizin nahm, dann war er unrettbar lächerlich, und hastig ging er auf sein Zimmer.

 


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