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Unbeweglich wie ein steinerner Nepomuk stand der Wächter am Galgen. Die Hellebarde stach mit dem Schaft in die feuchte Erde, mit der Spitze in den Himmel. Ein Stern tanzte darauf wie ein Elmslicht.
Gödeke schwankte im Nachtwind.
Er hing die dritte Nacht und hatte Leben und Sterben schon vergessen. Er war tot, wie er einst lebendig gewesen war. Ein Rabe, der sein linkes Auge gefressen hatte, saß auf seinem kahlen Schädel. In der leeren Augenhöhle kroch ein brünstiger Glühwurm. Von Hamburg herüber schlug es zwölf Uhr. Von zwölf Kirchen hintereinander. Der Wächter zählte bis hundert, da war er im Stehen fest eingeschlafen.
Er schreckte auf.
Was war das für ein verdächtiges Geräusch? Er fällte die Hellebarde.
Wer da?
Marlen legte ihm von hinten die Hände über die Augen.
Rate, mit wem du zu tun hast!
Der Wächter fluchte. Mit des Teufels Großmutter wahrscheinlich. Verdammtes Weibsstück, laß los. Wer bist du?
Deine Freundin, sagte Marlen. Und wenn du willst, deine Geliebte.
Sie riß ihn zu sich heran, daß die Hellebarde ins Gras fiel und er nach Atem schnaufte. Als er seine Arme frei spürte, suchte er nach ihren Brüsten. Er schälte sie aus dem groben Leinenhemd wie Früchte. Sie fielen neben der Hellebarde ins Gras, das noch feucht war vom Gewitter. –
Du bist schwanger, sagte der Soldat.
Sie lagen im Gras und sahen in den Himmel, wo die Sterne verschlafen blinzelten wie sie selbst.
Ja, sagte Marlen, ich bekomme ein Kind.
Von wem? fragte der Soldat.
Von meinem Mann, sagte Marlen.
Und wer ist dein Mann? fragte der Soldat.
Marlen zeigte mit spitzem Knöchel nach oben.
Der da!
Wer da? Ich sehe niemand da oben als Sterne. Also ist ein Stern dein Mann.
Er glänzte wie ein Stern und zog seine Bahn wie die Sonne.
Und wer ist es?
Marlen hob wieder den Finger:
Der, der da hängt.
Der Soldat richtete sich auf.
Der am Galgen, der ist dein Mann?
Ja, sagte Marlen, der Mann am Galgen ist mein Mann.
Der Soldat schüttelte den Kopf:
Da kannst du froh sein, daß du ihn los bist. Er war ein roher Patron, ein Räuber und Bandit. Er hat dich sicherlich jeden Tag geprügelt.
Marlen dachte nach:
Ja, er hat mich wohl zuweilen geprügelt. Das war so seine Art. Aber er hat mich geliebt, und ich habe ihn geliebt.
Du verstehst zu lieben, sagte der Soldat.
Und zu hassen, sagte Marlen.
Sie schwiegen.
Dem Soldaten war, als wäre ein kühler Wind über ihn hinweggestrichen. Ihn fröstelte.
Der Mann am Galgen schwankte leise. Der Rabe hatte ihn verlassen. Nur der Glühwurm leuchtete noch.
Hier in der Nähe ist ein Friedhof, sagte Marlen.
Der Soldat schwieg.
Gestern ist der Sohn des Tuchhändlers begraben worden. Das Grab ist noch nicht zugeschüttet.
Was soll das? fragte der Soldat.
Marlen fuhr fort:
Gödeke soll das Begräbnis eines ehrlichen Christenmenschen erhalten. Denn er war ein Christ wie wenige.
Vielleicht, sagte der Soldat. Auch Räuber sind zuweilen umgängliche Menschen. Ich habe mal mit einem Karten gespielt und ihm all seinen Raub abgenommen.
Hilf mir, sagte Marlen. Und sie hatte plötzlich Tränen in den Augen.
Der Soldat drehte verlegen an einem Rockzipfel.
Wie könnte ich dir helfen, ich bin hilflos wie du.
Marlen stand auf:
Wir graben den Sohn des Tuchherren aus und hängen ihn an die Stelle von Gödeke an den Galgen. Der Galgen ist hoch. Man kann von hier unten nicht unterscheiden, wer da oben im Winde hängt.
Und Gödeke graben wir ehrlich in die Erde an Stelle des Kaufmannssohnes.
Der Soldat:
Ich verlier meinen Kopf, wenn es an den Tag kommt –
Die Nacht ist finster, es kommt nicht an den Tag.
Sie zog ihn zu sich heran. Da spürte er ihre Brüste.
Wie Katzen schlichen sie die hundert Schritte zum Friedhof.
Wie schwer die Toten wiegen! sagte der Soldat, als sie den Kaufmannssohn zum Galgen trugen. Nun: es schadet nichts, wenn von dem Patrizierpack einmal einer hängt. Ich wünschte noch manchen an den Galgen. Sind hochmütig wie der Kaiser. Unsereiner ist ja nur ein Stück Vieh für sie.
Sie setzten eine Leiter an.
Der Soldat löste Gödeke die Schlinge.
Er hielt sich die Nase zu. Alle Wetter, dein Liebster duftet nicht schlecht.
Er ließ Gödeke die Leiter hinabgleiten.
Marlen nahm ihn zitternd in ihre Arme und küßte seinen stinkenden Mund.
Die Schlinge wehte leicht und lustig. Marlen sah empor.
Ach, sieh die lustige Schlinge! Wie hübsch sie sich ringelt! Wie eine Schlange.
Sie sucht ein neues Opfer. Soldat, zeig mir doch einmal, wie man die Leute hängt. Möcht's gern wissen.
Der Soldat lachte.
So mein Täubchen, hängt man die Leute, so mein Täubchen.
Er legte sich die Schlinge kunstgerecht um den Hals.
Als er den Hals in der Schlinge hatte, stieß Marlen die Leiter um. Er zappelte noch ein wenig wie ein Frosch, zuckte ein paarmal und hing still.
Marlen sah zu ihm hinauf:
So soll es allen gehen, die Schergenknechte sind.
Ihre Brust ging schwer.
Gödeke!
Sie schleifte die Leiche zum Friedhof und begrub ihn. Den Kaufmannssohn zerrte sie bis übern Damm und warf ihn, mit einem Stein beschwert, in die Elbe.
Als um sechs Uhr früh die Ablösung der Galgenwache kam, sah sie zu ihrem Entsetzen den Wächter am Galgen hängen.
Von Gödeke ward keine Spur mehr gefunden.
Aber durch die Bürgerschaft Hamburgs ging ein Zittern.
Der Teufel ist mit den Rebellen im Bunde! wisperte der Erzpriester von Sankt Georgen und legte diese Worte seiner nächsten Sonntagspredigt zugrunde und malte ein Bild des Teufels, daß die christliche Gemeinde schaudernd in den Mittag auseinanderging und sie sich in der grellen Sonne voreinander fürchteten.
Einige Tage darauf warf Marlen wie eine Hündin in einer Nische der Nikolaikirche einen Knaben, der später Störtebecker genannt wurde.