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Der Präsident spottete in seinem Herzen über das Benehmen des Fürsten bei einer Sache, die ihm so widerlich und empörend vorkam. Gleichwohl war er mit der Wendung sehr zufrieden, die sie genommen hatte. Mit ganz andern Empfindungen kehrte er nach Hause zurück. Die Handlung seines Neffen malte sich mit den schwärzesten Farben vor seinen Augen. Er betrachtete sie als ein Verbrechen gegen seinen nächsten Verwandten und ihn selbst als einen gefährlichen Aufrührer gegen die Gerechtigkeit, die er nach Gesetz und Recht gegen einen schädlichen Thoren ausgeübt zu haben glaubte. Die ganze That kam ihm durch diese Vorstellung so frech und unerhört vor, daß sein ganzer Haß auf den Neffen gefallen sein würde, wenn der stärkere Haß gegen Hadem nicht in diesem Augenblick auf diesen, als den Urheber der ihm so widrigen That, gezeigt hätte. Hadem mißfiel ihm von dem ersten Augenblick an, da er ihn sah; er war nun froh, ihn schuldig zu finden und seinen Neffen, den er als Sohn seiner Schwester und dadurch als einen zu seiner Familie Gehörigen zu lieben glaubte, entschuldigen zu können. Er ließ sogleich Hadem rufen und fragte ihn mit spöttelnder, verachtungsvoller Kälte:
»Herr Hadem, wollen Sie einen Don Quixote in meinem Neffen auferziehen, der sich mit der Welt für die Dame Gerechtigkeit auf Leben und Tod herumschlage, um seine Tage endlich im Tollhause, oder auf einem Dorfe zuzubringen, wie der Held, um dessentwillen er den dummen Streich gemacht hat?«
Hadem. Ich verstehe Ew. Exzellenz nicht.
Präsident. Verstellen Sie sich nur! Wenigstens soll es Ihnen hier an Zeit fehlen, auch diese Kunst meinen thörichten Neffen zu lehren.
Hadem. Wie sollte ich zu dieser Kunst kommen? wie ihrer bedürfen? Präsidire ich doch weder am Hofe, noch in einem Departement! – Sie scheinen eine Klage gegen mich zu haben; warum bringen Sie diese nicht eben so gerade und bieder vor, als ich sie, wie Ew. Excellenz wohl sehen, erwarte?
Präsident. So hören Sie denn, biedrer, ehrlicher Mann! Ich habe so eben in den Händen des Fürsten einen Brief meines Neffen gesehen. In diesem Briefe klagt mein Neffe über die Ungerechtigkeit, welche die Kammer, deren Präsident ich bin, wie Sie und er wissen, gegen den Narren von Kammerrath begangen haben soll. Herr Hadem, glaubte ich, daß mein Neffe diesen Brief aus eignem Antrieb geschrieben hätte: ich würde ihn zur Stelle aus dem Hause stoßen, in welchem er Blutsverwandtschaft und Gastrecht so schändlich beleidigt und gebrochen hat. Aber es ist Ihr Werk; meine gestrige vernünftige Vorstellung hat Sie beleidigt, und um sich zu rächen, haben Sie den jungen Phantasten gegen seinen nächsten Verwandten empört – haben ihn selbst dem Fürsten auf immer lächerlich gemacht. Ich denke doch, Sie wissen, was für Folgen dieses für ihn haben muß. Erfährt es nun die Stadt, so muß er ein Gegenstand des allgemeinen Hasses und Abscheues werden. Und noch einmal – bei Gott – könnte ich glauben, die Bosheit käme von ihm her, ich würde ihn den Augenblick aus dem Hause jagen – ihn wegschleudern wie ein giftiges Ungeziefer – die ganze Verwandtschaft vor dem jungen Ungeheuer warnen, das schon so früh den Busen Derer verwundet, mit denen es durch das Blut verwandt ist.
Kaum faßte Hadem den ganzen Sinn der Worte des Präsidenten, als er alle die Folgen dieses unüberlegten Schrittes für sich und seinen geliebten Zögling einsah. Er begriff die That, ihren reinen Bewegungsgrund in dem Herzen des Jünglings, und schmerzlich drangen die Worte des Präsidenten: »er habe sich bei dem Fürsten lächerlich gemacht; er müsse ein Gegenstand des Abscheus werden;« in seine Seele. Dieser Schmerz wurde aber bald durch ein noch peinlicheres Gefühl verdrängt. Wenn er erklärte und bewiese, daß er von dem ganzen Vorfall nichts wüßte, so würde der edle Jüngling beladen mit dem Hasse seines Oheims, aller seiner Verwandten, vielleicht selbst seines Vaters dastehen; und wie müßte dieser Haß auf sein fühlbares Herz, seinen hochgestimmten Geist wirken! wie ganz seine Denkungsart verkehren, vergiften, und alles geträumte Glück vernichten! Sollte er ihn aus dem Hause seines Oheims stoßen lassen? sich mit ihm? wie ein, mit ihm von seinem nächsten Verwandten Verstoßner und Verbannter, zu dem Vater wandern?
In dieser Angst für den von ihm so unaussprechlich geliebten Jüngling sah er für ihn keine andere Rettung, als die Schuld allein auf sich zu nehmen, alle Vorwürfe des Oheims, ohne Entschuldigung, ohne ihn weiter zu reizen, als verdient, geduldig und bescheiden anzuhören. Er schwieg und sah ihn mit den Blicken eines Mannes an, der sich zum Besten eines Andern vergißt, dessen Glück er seinem eignen vorzieht.
Der Präsident sah sein Schweigen als ein Geständniß an und sagte:
»Ihr schweigendes, demüthiges Geständniß söhnt mich wieder mit meinem Neffen aus, und ich bin so erfreut darüber, daß ich Ihrem eignen Gewissen die Vorwürfe überlasse, die ich Ihnen zu machen so sehr berechtigt wäre. Ich ziehe einen Schleier über das Geschehene, weil ich die ganze Geschichte zur Ehre meines Hauses, der Familie und zum Vortheil meines Neffen unterdrücken will. Sie können nur dadurch einen Theil des von Ihnen veranlaßten Uebels wieder gut machen, daß Sie mir hierin behülflich sind. Ernst soll von Allem nichts erfahren; er soll nicht wissen, wie der Fürst über seine Thorheit denkt. Den Grund davon werden Sie, hoffe ich, begreifen. Sie verlassen in einigen Stunden mein Haus; ich sorge dafür, daß Alles zu Ihrer Abreise fertig ist. Sie versprechen mir jetzt, mit meinem Neffen nicht über das Geschehene zu reden und ihm zu verschweigen, daß Sie ihn verlassen, warum Sie ihn verlassen. Ich werde ihm dieses auf eine Art ankündigen, die ihn gewiß befriedigen wird. Und ferner geben Sie mir Ihr Wort, an meinen Neffen nicht zu schreiben; wir haben schon an dieser Probe genug.«
Der Gedanke an die plötzliche Trennung von seinem geliebten Zögling, die Furcht vor den Folgen dieser unvorbereiteten Trennung für denselben, erschütterten Hadems männlichen Muth. Die Thränen brachen aus seinen Augen hervor; er wankte gegen einen Stuhl hin, um sich daran zu stützen.
Der Präsident, welcher seine Empfindungen falsch deutete, klopfte ihm leise auf die Schulter und sagte kalt:
»Ich wünsche von Herzen, daß dieses die letzte Thorheit sei, die Sie zu beweinen haben mögen.«
Hadems Thränen erstarrten in seinen Augen; er sah den Mann mit einem Blick an, den dieser nicht ertragen konnte.
»Sie geben mir Ihr Wort?« fragte der Präsident abgewendet.
Hadem. Ja, ich gebe es Ihnen; es ist zugleich das letzte, das Sie von mir hören sollen. Vergessen Sie nur nicht, Herr Präsident, daß in dem Jüngling, den Sie einen Phantasten nennen, ein Mann keimt, für den Sie weder in Ihrem Herzen, noch in Ihrem Geiste einen Maßstab haben. Hüten Sie sich deßhalb, da nach Ihrer Art modeln und künsteln zu wollen, wo die Natur so kräftig und schön gebildet hat!
Er ging nach dem fürstlichen Garten, um sich zu sammeln. Unter dem tiefen Schmerz des Abschieds von dem liebenswürdigen Jüngling, in welchem er alle seine schönen Träume von edler Menschheit nach und nach lebend aufblühen zu sehen hoffte, tröstete ihn jetzt nur der einzige Gedanke, daß er durch sein Benehmen die Härte des Schlages für ihn gemildert habe. Der gestrige Tag, die Veranlassung zu dem Besuche bei dem Kammerrath, der alle die Ereignisse erzeugt hatte, drangen auf ihn ein; er sah sich von Allem als die Ursache an. Obgleich der Bewegungsgrund seiner Handlung und seiner Reden so rein war, so sah er doch jetzt mit trübem, traurigem Blicke zum Himmel auf, und seinen bebenden Lippen entfielen die Worte:
»Sieh, das Schicksal eines von deinen edelsten Geschöpfen durch Zufälle herbeigeleitet, die ich veranlaßte, weil ich ganz andere Folgen davon erwartete! Gehört der unvermuthete, für mich so peinliche Schlag zu meiner, zu des Jünglings Prüfung? Mußte ihn darum eine so rauhe Hand aus dem süßen Traume aufschrecken, aus welchem ich ihn ohne Erschütterung zu erwecken hoffte? Ich hatte sein Erwachen vorbereitet, und mitten in dieser Welt sollte er so leise und sanft erwachen, wie der Säugling an dem Busen der sorgfältig wachenden Mutter. Gleich ihm sollte er wissen, wohin er sein Haupt legen könnte. Ganz sollte er erst fühlen, wie und wozu du den Menschen gebildet hast, eh' er erführe, was der Mensch aus sich gemacht hat! Ich kann es nun nicht mehr. Erhalte du ihm die Denkungsart, die ich so sorgfältig gewartet habe; entferne den finstern Eindruck dieser Ereignisse von seinem reinen Geiste und laß die Worte der Beschwörer von seinem guten Herzen abgleiten. Gib ihm einen guten Führer, der seine Seele nicht mit Tand, Wahn und Gaukeleien vergifte. Bewahre das Heiligthum seines Herzens, in welchem sich die Schöpfung, dein erhabenes Werk, so schön und treu abspiegelt. Laß mich ihn einst wiederfinden, wie du mir ihn gabst!«
Hadem kam spät nach Tische zurück. Seine Zöglinge, gespannt durch die Erwartung des Ausgangs von ihrem Unternehmen und beunruhigt über die ungewöhnliche, lange Abwesenheit ihres Lehrers, sprangen ihm entgegen, als sie ihn die Treppe herauf kommen hörten, und führten ihn in ihr Zimmer. Er trat bis in die Mitte desselben, sah Ernsten mit seiner gewöhnlichen Freundlichkeit an und sagte:
»Lieber Ernst, vergessen Sie nicht, was ich Ihnen in diesem Augenblick und viel früher sagen muß, als es mein Vorsatz war.
»Auch Das, Geliebte, was den Menschen allein gut, groß und erhaben macht, was seinen Ursprung von Dem allein beweist, mit welchem er durch seinen unsterblichen Geist verbunden ist – auch die Tugend hat auf Erden und unter den Menschen ihr Maß und ihre Regel – auch sie verträgt, zum Besten Derer, für die sie ausgeübt wird, wie zum Besten Derer, die sie ausüben, keine Uebertreibung. Das Herz –«
Er wollte seine Empfindungen und Gedanken weiter entwickeln, als der Präsident hereintrat:
»Sie haben mir nur halb Wort gehalten, Herr Hadem; aber da es das erste gescheidte Wort ist, das Sie den jungen Leuten gesagt haben, so mag es darum sein. Das letzte ist es gewiß.«
Hadem. So lassen Sie mich denn in Ihrer Gegenwart den Abschiedskuß von meinen Zöglingen nehmen und verantworten Sie die Folgen vor Dem, der diesen Geist so erschaffen hat, wie ich ihn kenne. (Zu den Jünglingen.) Die Nothwendigkeit gebietet hier; lernen Sie von mir ihr Joch tragen.
Er drückte Ferdinanden und dann Ernsten an sein Herz. Ferdinand schrie laut und heftig: »Was ist Das? Verlassen Sie uns?«
Ernst sah, mit der Aschfarbe des Todes bedeckt, auf Hadem, auf den Präsidenten und stammelte seinem Freunde nach: Verlassen!
Hadem bedeckte seine Augen und eilte davon.
Präsident. Es thut mir leid, lieber Neffe; aber es kann nicht anders sein. Der verrätherische, schändliche Brief, den er dem Fürsten geschrieben hat, oder durch dich schreiben ließ, veranlaßt seine Entfernung. Er kann von Glück sagen, daß der Fürst mich rufen ließ und mir die Sache anvertraute; ohne meine Bitten und Vorstellungen wäre er für die That bestraft worden, wie er es verdiente.
Ernst. Er gestraft? Er den Brief geschrieben? Er hat ja nicht das Mindeste davon gewußt! Ich, ich habe den Brief erdacht und geschrieben, als er und Ferdinand noch schliefen, und ihn in dem Garten des Fürsten auf seine Ruhebank gelegt, ehe Hadem noch aufgestanden war.
Präsident. Neffe, ich sage, er hat ihn geschrieben!
Ernst. Er hat ihn nicht geschrieben; er weiß kein Wort davon. Ist es eine Thorheit, um so schlimmer für den Fürsten; aber ich allein beging sie.
Der Präsident stampfte zornig mit dem Fuße auf den Boden und rief:
»Neffe, bei meinem Gott! er muß den Brief geschrieben haben!«
Ernst. Kennen Sie Ihren Neffen als Lügner?
Präsident. Er gestand es selbst.
Sobald Ernst diese Worte vernahm, sprang er nach der Thüre. Der Präsident trat vor ihn:
»Umsonst, du siehst den Pedanten nicht wieder; er hat seinen Abschied, und ich kam, es dir anzukündigen.«
Ernst. Seinen Abschied? – Oheim! – seinen Abschied von mir? – (Mit starrer Kälte) – Herr Oheim, geben Sie ihm seinen Abschied nicht – jetzt nicht – o, nur jetzt nicht! –
Präsident. Es ist nicht zu ändern. Aber warum nur jetzt nicht? Hast du ihn noch zu einem solchen Geschäfte nöthig?
Ernst. O ja; ich habe ihn zu einem sehr wichtigen Geschäfte nöthig. Thun Sie es nur jetzt nicht! – nur jetzt nicht! – Es wird Sie gewiß reuen – denn ich glaube, es wird mich sehr unglücklich machen – jetzt, in diesem Augenblick, wird es mich mehr als unglücklich machen!
Es lag etwas Erschütterndes, unbeschreiblich Rührendes in dem sanften, ernsten Tone, den zitternden Bewegungen der Lippen, dem schüchternen Umherblicken der Augen und der ganzen Stellung des Jünglings. Er setzte selbst den Präsidenten in besorgtes Erstaunen. Ferdinands Thränen und Schluchzen nahmen mit jedem Blicke, jedem Worte von Ernsten zu. Er rief: »Ernst, wir sind verloren!«
Präsident. Schweige du! – (Sanft zu Ernsten.) Und was ist es denn, das eben jetzt von so vieler Bedeutung für dich ist?
Ernst. O, er hat mein Herz mitten entzwei geschnitten – er hat für meine lichte Seele einen schwarzen Vorhang gezogen. Lassen Sie ihn schnell zurückkehren, daß er mein Herz wieder ergänze, meiner Seele wieder das Licht gebe, das er um sie her erschuf.
Präsident. Du schwärmst und träumst gleich einem faselnden Phantasten.
Ernst. Ja freilich träume ich jetzt; aber so zu träumen, ist fürchterlich – so zu schlafen, ist ängstlich. Lassen Sie Hadem schnell zurückkehren, daß er mich aufwecke! daß ich ja erwache, Oheim, daß ich ja nicht lange so träume! Oheim, er hat die erhabne Göttin gelästert, die mich leitet; und er soll, er muß mir sagen, warum er sie gelästert hat.
Präsident. Welche Göttin?
Ernst. Kennen Sie denn diese Göttin nicht? Sie hörten ja, wie er sie lästerte! – Oheim, er hat auch Sie gelästert, alle Menschen; denn seine letzte Rede ist eine Satire, eine Schmähung auf das ganze Menschengeschlecht. Er sagte: die Tugend habe auf Erden ihr Maß und ihre Regel, vertrage keine Uebertreibung. Sie, die ich mir denke als das ganze Menschengeschlecht in einem Kreise umfassend, der von dem Throne Dessen ausgeht, der es erschaffen hat; sie, die es erhält, allein emporhebt über diese Erde; sie, diese Himmlische, Unendliche mühte beschränkt und vorsichtig ausgeübt werden? – nach Maß? – nach Regeln? – Die Menschen vertrügen sie nicht in ihrer ganzen Kraft? – Und ihr ganzes volles Dasein in meiner Brust – was ist denn das? Und was ist sie, wenn sie allen Menschen nicht so natürlich und willkommen ist, wie mir! Darf sie auf Erden nicht in ihrem vollen Glanze erscheinen, nur stückweise, nur behutsam, wie ein Gast an einer Tafel, den man nicht eingeladen hat? Oder ist das Wesen der Menschen auf Erden so eingerichtet, daß ihre Gegenwart sich nicht damit verträgt? Gründet sich das Wesen und Thun des Menschen nicht auf sie? O gewiß, Oheim, ist das gepanzerte Gespenst, von dem Sie gestern so abschreckend für mich sprachen, ihr Feind – Und wenn dieses ist – Oheim – wenn dieses ist – so sagen Sie mir geschwind: warum ist es so? warum sind die Menschen da? warum bin ich da? – Sie schweigen! – Lassen Sie Hadem zurückkehren, daß er mich belehre, meinen Zweifel beruhige, meine Göttin versöhne! – Soll ich ihm durch das Fenster, über Berge, durch Flüsse folgen? – Fort! nach meinen Bergen, meinen Thälern, meinem Eichenwalde, in meine düstre Höhle! Dort werde ich ihn und meine Göttin wiederfinden; dort erschien sie mir, dort ist ihr ungestörter Aufenthalt.
Die Empfindungen, die Gedanken des Jünglings, mit dieser Kraft, dieser Begeisterung ausgesprochen, verwirrten den Präsidenten immer mehr, und die Bewunderung des Neuen, Unerwarteten fesselte einige Augenblicke seine Zunge. Er faßte sich, so viel er konnte:
»Jetzt erst beweisest du mir recht klar, wie nothwendig die Entfernung dieses Mannes von dir ist. Beruhige dich! Du kannst den Sinn der einzigen, wahren und klugen Worte, die er gesprochen hat, jetzt nicht begreifen; wenn du mehr bei dir bist, will ich ihn dir deutlich machen.«
Ernst. Versuchen Sie es ja nicht! Von ihm muß ich es hören. Er nur weiß, wo es mir noth thut; er nur weiß, was ich bedarf. Wüßten Sie es, Sie würden ihn nicht entfernt haben.
Präsident. Du wirst, du kannst ihn nicht wiedersehen. Willst du ihn dem Zorne des Fürsten aussetzen und ihn unglücklich machen? Nur in seiner Entfernung liegt seine Rettung.
Ernst. Oheim, Hadem fürchtet keinen Fürsten der Erde, und um meinetwillen trotzte er der ganzen Welt, so wie ich um seinetwillen die ganze Welt nicht fürchte. Ich liebe ihn – Oheim, o wenn Sie wüßten, wie ich ihn liebe! – Für ihn zu sterben, wäre das Wenigste, was ich für ihn thun könnte. – Er thät' es für mich – und er sollte mich aus Furcht vor Menschen verlassen? mich, seinen Schüler, dem er tausendmal sagte, daß er durch mich seinem Leben Werth zu geben hoffte? Lassen Sie ihn zurückkehren, Oheim! Ich beschwöre Sie bei Ihrem Leben! bei meines Vaters Leben! bei meiner Mutter in jenem Leben! bei der Tugend, die er mir entstellt hat! lassen Sie ihn zurückkehren! Mein Leben, Alles was ich bin, was ich werden soll, liegt auf dem Flügel dieses vorübereilenden Augenblicks! – O, nur diese Nacht! Nur eine Stunde! Nur eine Viertelstunde, daß er den Gedanken ausführe, den Sie unterbrachen; daß er mein Herz heile; daß er mich wieder zu Dem schaffe, der ich war!
Präsident. Er selbst verläßt dich; er selbst sagt: nach diesem Streiche könne er nicht mehr in unserm Hause bleiben.
Ernst. Sagt er das? Er verläßt mich? verläßt mich willig? So muß es recht sein, was er thut: so fällt die ganze Schuld auf mich allein. So habe ich ihn vertrieben! durch eine That vertrieben, wobei ich von ihm nichts befürchten zu dürfen glaubte! So muß es sein; denn anders hätte Hadem mich nicht verlassen können. Er handelt auch hier gerecht; denn, sehen Sie, Oheim, an Hadem glaube ich, wie ich an meine Göttin glaube.
Er stand mitten in dem Zimmer, erhob seine Augen gegen die sich neigende Sonne, deren Strahlen durch einen dunkeln, vor dem Fenster stehenden Kastanienbaum gebrochen in das Zimmer fielen. Die Begeisterung schimmerte in seinen Augen; ein Licht, wie es von dem unsterblichen Geiste des Menschen ausgeht, wenn dessen ganze Kraft ihn durchdringt, umglänzte seine Stirne und schoß nun in Blitzen aus seinen Augen. Er rief:
»Nein! nie werde ich dir untreu werden, erhabene Göttin! Dir folge ich, von Hadems Lehren geleitet. So ferne du auch schwebst, so bist du mir doch nahe und sichtbar. Ich stehe unter deinem Schilde, ich gehöre dir an; und sollte mich auch das furchtbare Gespenst meines Oheims mit seiner gepanzerten Faust zerschmettern. Bin ich nicht unsterblich, unvergänglich wie du?«
Sein Blick fiel auf den Blumen- und Aehrenkranz, den jetzt die Abendsonne beleuchtete:
»Schon welkte deine Blüthe in der Sonnenhitze; erst gestern pflückt' ich sie frisch in den Feldern der Glücklichen, als ein Denkmal der stillen Tugend. Und doch bist du es noch, und zerfielest du auch in Asche – du bleibst es doch!«
Er nahm den Kranz von der Wand, und seine Thränen benetzten ihn:
»Alles hat mich verlassen – denn Er hat mich verlassen; und von dem Dasein meiner Göttin habe ich keinen andern Beweis, als dich! So umwinde nun meine Schläfe und lispele meinem Geiste und Herzen die Gedanken und Empfindungen zu, unter denen ich dich pflückte!«
Ferdinand fiel ihm um den Hals.
»Und ist dir Ferdinand nichts? Hat Hadem nicht auch mich verlassen?«
Ernst. Ja, und nun erst bist du eine Waise! Doch du sollst mich haben, und auch du sollst diesen Kranz tragen, und wir wollen durch ihn in Eins verbunden sein.
Die Jünglinge umarmten sich, und ihre Seelen, ihre Thränen flossen in einander.
Einen Augenblick legte Ernst Ferdinanden den Kranz auf das Haupt; dann hängte er ihn wieder an die Wand.
Der Präsident sah dem Schauspiele gerührt zu; aber der kalte Geist der Welterfahrung sagte ihm bald: »Die feurige Ergießung des Jünglings ist gut und heilsam; die Ruhe wird um so gewisser und schneller darauf erfolgen.«
Ernst bestärkte ihn in dieser Meinung, da er nun gefaßt zu ihm trat und sagte:
»Mein Vater wird bald kommen und Ihnen die Sorge für Ihren Neffen abnehmen. Bis dahin wird ihn der Geist Hadems führen. Dieses Zimmer verlasse ich nicht bis zur Rückkehr meines Vaters. Ich traue nun der Welt nicht mehr; Ihre Worte und diese Ihre That dienen mir zur Warnung.«
Der Präsident versuchte, ihn zu liebkosen; aber Ernst antwortete:
»Dieses ist die Stunde, in welcher Hadem mit uns die Thaten der Männer der Vorwelt las. Er wird nicht kommen: aber wir werden denken, er sitze bei uns, und alles Das thun, was wir in seiner Gegenwart zu thun pflegten.«
Er legte ein Buch auf Hadems Platz, stellte einen Stuhl für ihn hin, dann zwei andre für sich und Ferdinand und sagte zu diesem:
»Ferdinand, er ist mitten unter uns!«