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Lisa hatte zu Weihnachten für Friedel eine ganz wunderbare Gabe gesandt. Das duftigste zartrosa Gewebe bauschte sich über schimmerndem Seidenstoff, und Apfelblütenzweige, frisch wie vom Baum gepflückt, lagen in den Falten. Eine Feengabe, bei deren Anblick jedes normal veranlagte Mädchenherz hoch aufgeklopft hätte, jedes natürlich organisierte Mädchenauge die bezauberndsten, rosigsten Zukunftsbilder hätte schauen müssen. Nicht so Friedel.
Sie stand vor der duftigen Pracht, verständnislos, fast scheu, und wagte kaum, mit zagem Finger dran zu rühren.
Tante Lenchen trat mit beglückter Miene heran: »Was sagst du dazu, Frida, Kind? Ist's nicht entzückend?«
»Das Spinnwebzeug da, Tantchen? Nee. Was Lisa nur gedacht haben mag? Für mich ist das nichts!«
»Auf die Bäume kann man freilich mit so was nicht klettern!« – Tante Lenchen war schon etwas gereizt. – »Lisa hat's nach meiner Angabe besorgt. Wir dachten, dir eine große Freude damit zu bereiten.«
Friedel war sofort weich wie Wachs.
»Ja, Tantchen, es sieht ja sehr hübsch aus, aber wozu soll ich's benutzen?«
»Wozu du's benutzen sollst? Hat man je eine solche Frage von einem jungen Mädchen gehört? Wozu man ein Ballkleid benutzen soll?«
Tante Lenchen war ganz entrüstet.
»Ja aber, Tantchen, Papas Junge geht doch auf keinen Ball! Was sollte der da wohl tun?«
Lachend, sorglos, wie selbstverständlich rief's Friedel.
»So?«
Dies »so« der Tante stach förmlich, so spitz kam es heraus.
»Konrad, willst du deiner Tochter einmal sagen, was wir für die nächste Zeit beschlossen haben?«
»Deine Tochter« war in dieser Aufforderung dreimal unterstrichen.
Der Papa hatte sich etwas abseits gehalten und trat nun sichtlich widerstrebend heran.
»Ja, Kind, der Regierungsrat Metzler, Lillys Vater, hat vor ein paar Tagen brieflich bei mir angefragt, ob ich nicht gewillt sei, dich an einer Tanzstunde teilnehmen zu lassen, die von einigen bekannten Familien arrangiert werden soll. Da meint nun die Tante –«
Ein Blick Tante Lenchens fuhr dem alten Herrn in die Kehle, er räusperte sich nachhaltend und stark.
»Da meinten wir nun,« verbesserte er sich, »es sei ganz nett, und eine hübsche Abwechslung für dich –«
»Das heißt, wir« – dick unterstrichen – »meinten, es sei dir von Nutzen und zuträglich, dich einmal als Mädchen unter Mädchen zu bewegen, und so haben wir beschlossen –«
»Um Himmels willen, ich soll doch nicht etwa gar tanzen lernen?«
Ungeheuchelter Schreck sprach aus Friedels Zwischenruf.
»Haben wir beschlossen,« fuhr Tante Lenchen unbeirrt fort, »daß du teilnehmen sollst an der Veranstaltung und –«
»Je, das überleb' ich nicht. Ich soll tanzen, mit den dummen Jungens herumhüpfen?« Friedels Entsetzen und Jammer war ungeheuchelt, ordentlich mitleiderregend. »Papa, das kannst du deinem Jungen nicht antun!«
Der alte Herr schmolz innerlich, ein Blick auf Tante Lenchen aber gab ihm die Haltung wieder.
»Schnickschnack! Gehab dich nicht so, als ob dir der Kopf abgeschlagen werden sollte. Es bleibt dabei! Basta!«
Und bei dem Basta blieb's wirklich.
Als nach den Weihnachtsferien der Nähunterricht wieder anfing, redeten die Mädchen von nichts anderem als von der kommenden Tanzstunde, und fast wider ihren Willen gewann die Sache auch allmählich für Friedel Interesse.
Es würde doch am Ende gar nicht so übel werden, und es ließ sich sicherlich mancher Ulk dabei herausschlagen.
Zwölf Paare etwa sollten teilnehmen, und Tante Lenchen hatte mit Friedel reihum in den betreffenden Familien bereits Besuch gemacht. Man war erstaunt gewesen, in dem Wildfang, den man von den berüchtigten Schlittenfahrten her kannte, ein ganz manierliches junges Menschenkind zu finden, und Regierungsrat Metzler insbesondere bereute danach nicht mehr, den glühenden Bitten seiner Lilly, auch die »kleine Polten« einzuladen, nachgegeben zu haben.
Die Tante merkte wohl, daß Friedel sich nicht mehr ganz so ablehnend gegen den Plan verhielt, und sie triumphierte innerlich. Sie versprach sich goldene Berge von dieser zwischen ihr und Lisa ausgeheckten Idee, durch erwachende Eitelkeit und den Umgang mit gleichaltrigen Genossinnen das Interesse an weiblichen Dingen in dem Kind endlich zu erwecken.
So war der fünfzehnte Januar herangekommen, der für die erste Tanzstunde festgesetzte Tag.
Um sechs Uhr Abends sollte sie beginnen und Punkt zehn Uhr zu Ende sein. Die ersten zwei Stunden sollten dem Einüben von Schritten, Figuren für Kontertänze und dergleichen gewidmet werden, die Verwendung der noch übrigen Zeit dem freien Willen und dem Vergnügen der Schüler überlassen bleiben.
Im Hotel »Zur goldenen Krone« waren alle Fenster hell erleuchtet. Vermummte flinke Gestalten, denen man die Ungeduld ansah, huschten heran, von anderen verhüllten Gestalten, die sich langsamer und würdiger bewegten, geleitet und gezügelt. Alle verschwanden im weitgeöffneten, gastlich erleuchteten Torweg besagten Hotels. Jünglinge näherten sich einzeln und truppweise, um ebenfalls da zu verschwinden, und neugierig spähende Blicke folgten aus den umliegenden Häusern diesen erregenden Vorgängen.
Frau Schneidermeister Müller drückte sich fast die Nase platt an den dunstbeschlagenen Scheiben ihres Fensters und wischte und wischte, um sich den klaren Ausblick auf drüben zu bewahren.
»Jetzt sin se bald all driwe, Peter,« rief sie ihrem Manne ganz aufgeregt zu, »alleweil läuft unser Freileinche von drowe iwer die Gass' ... der pressiert's. Gott deß jung Blut! Da is auch der jung Herr und jetzt kommt die Frau Mama. No, jetzt kann's losgehe. Was hawe die's so gut. Ei, wer hat denn unsereins danze gelernt? Da is mer derheim um den Disch erumgehippt, bis mer's gekennt hat odder bis die Mutter geschennt hat: dumm Ding, da setz dich her und stopp Strimp, des is besser.«
»No, mir sin auch vergnigt gewese, Settche,« unterbrach ihr Peter hier den Wortschwall seiner Frau Eheliebsten, »und gedanzt hawe mer auch, was Zeug gehalte hat, weißte noch im Lamm?«
»Ach ja, Peter, 's is schen, wammer jung is!«
Melancholisch senkte die Frau Schneidermeister den grauen Kopf, um ihn sofort wieder lauschend zu heben und mit erneutem Eifer am Fenster zu wischen.
Drüben fuhr eben ein Wagen vor.
Es waren die Dresdorfer Herrschaften.
Friedel hatte darauf bestanden, daß der Papa mitkommen müsse, und der hatte nach längerem Sträuben nachgegeben.
So erschien Friedel von Tante und Vater geleitet oben im Saal.
Das schlichte weiße Wollkleid stand ihr allerliebst. Ihr braunes Gesichtchen mit den blitzenden Schelmenaugen und dem kurzen Kraushaar hob sich sehr vorteilhaft davon ab!
Lilly Metzler flog auf die Freundin zu und umarmte sie stürmisch. Dann knickste Lilly wohlerzogen vor Tante Lenchen, was die anderen jungen Mädchen sich alsbald beeilten nachzuahmen.
Zu ihrem Leidwesen bemerkte Tante Lenchen, daß Friedel wohl sehr artig die älteren Damen begrüßte, nirgends aber sich zu dem üblichen tiefen Knicks entschließen konnte.
Wie hatte sie ihr dies anempfohlen!
»Versprechen kann ich's nicht, Tantchen, ich will's versuchen,« war alles, wozu Friedel sich verstand.
Und jetzt streckte sie einfach jeder der Damen kameradschaftlich die Hand hin, als ob das selbstverständlich sei, und von Knicks und schuldiger Ehrfurchtbezeigung war keine Rede.
Tante Lenchen seufzte tief auf.
Wie sie aber sah, daß Friedel auch ganz harmlos und freundschaftlich jedem der ihr vorgestellten jungen Herren die Hand bot, da sank sie ächzend und tief aufseufzend auf den nächsten Stuhl.
»Das Mädchen ist der Nagel zu meinem Sarge!«
Glücklicherweise trat nun Frau Regierungsrat Metzler zu Tante Lenchen heran und lenkte ihre Aufmerksamkeit von dem Unglückskinde ab.
Friedel aber stand seelenvergnügt und unbefangen mitten unter einer Gruppe von jungen Herren und plauderte lebhaft.
Lilly Metzler hatte Bruder Max sofort vorgestellt und der das Bekanntmachen mit den anderen Herren übermittelt. Die meisten hatten sich schmunzelnd mit einem »Habe schon die Ehre« oder »Bereits den Vorzug gehabt« verneigt.
Erst hatte Friedel erstaunt aufgeblickt, dann waren ihr die meisten Gesichter merkwürdig bekannt vorgekommen.
»Ah, Sie waren wohl auch bei der Schneeballenschlacht?« hatte sie lachend gefragt. »Ganz recht, ich erinnere mich, ich habe Sie gesehen!«
Und lachend hatte sie dem Betreffenden die Hand geschüttelt wie einem guten Kameraden.
Das beste Einvernehmen war sofort hergestellt.
Ihre Getreuen von der Nähstunde hielten sich dicht um Friedel geschart, namentlich Lilly wich nicht von ihrer Seite. Lilly war klein, schmächtig, zart, mit blassem, aber feinem Gesichtchen. Friedel überragte sie fast um Kopfeslänge.
»Wie gefällt dir der Max?« flüsterte sie der Freundin zu.
Friedel mußte sich erst besinnen, wen sie meine.
»Ach so, dein Bruder? Ganz nett! Jedenfalls der Netteste von allen, wie's scheint.«
Lilly war ganz stolz und beglückt.
»Du gefällst ihm auch so gut,« flüsterte sie dagegen und sah scheu zu Friedel auf.
Die aber zuckte nur gleichmütig die Achseln und lachte.
»Na, das freut mich!«
Elsbeth und Mariechen Wendel, zwei niedliche blonde Schwestern, zählten auch zu Friedels Nähstundintimen. Dann Gerta Hehlen, eine dunkle Brünette, Helene Martens, eine überschlanke Braune, und zuletzt die Schönheit des kleinen Kreises, Ingeborg Dahlen, gewöhnlich Inge genannt, eine hochblonde, schlanke, feine Nordländerin mit großen braungoldenen Rehaugen im zarten, lieblichen Gesicht. Bis Friedel kam, war sie in ihrer zarten, vornehmen Schönheit der Schwarm ihrer jungen Gefährtinnen gewesen. Friedels kecker, lustiger Übermut, ihr allzeit zu Streichen aufgelegter Frohsinn hatte sie dann etwas in den Schatten gestellt.
Außer diesem engsten Kreis waren noch fünf andere Mädchen anwesend, die teils um die Zahl der Teilnehmenden zu runden, teils äußerer Rücksichten halber aufgefordert worden waren, den anderen aber ferner standen.
Die anwesenden Herren waren teils Primaner, teils junge Techniker. Max Metzler und seine beiden Freunde, Moritz Meissen und Hans Löffler, alles angehende Ingenieure und Architekten, stellten die Löwen der Gesellschaft vor. Zu Friedels ganz besonderer Freude war der »dicke Ede«, ihr spezieller Jugendbekannter, nicht aufgefordert worden, wie sie schon gefürchtet hatte. Er stand bei ihr, obwohl unschuldig, in selch unliebsamer Erinnerung seit jener Radfahrerszene nach dem Kirchgang von damals.
Ein paar Bogenstriche machten dem fröhlichen Geplauder der jungen Leute ein Ende.
Friedel sah sich erstaunt um.
Aus der Ecke des Saales chassierte ein seltsames kleines Männchen mit den drolligsten Gebärden bis zur Mitte des Raumes vor, wo es sich anmutig und gelenkig nach allen Seiten verneigte. Die Violine hatte es geschultert gehalten und im Chassieren mit dem Bogen gestrichen; nun senkte es beides zugleich mit dem eigenen geschmeidigen Oberkörper tief zu Boden in respektvollem Gruße.
Monsieur Fournère, der berühmte Tanzmeister des Städtchens.
Friedel musterte ihn neugierig. Der also sollte sie in die Geheimnisse der edlen Tanzkunst einweihen.
» Mesdames et messieurs, allons, commençons! Ick werde vous montrer d'abord die Valse, die schöne valse, wo sein la reine de toutes les danses. Eh bien, voyons!«
Und Monsieur Fournère drehte sich zum Klang seiner Geige um sich selber und setzte die Füße und hob sich und bog sich und wiegte sich und neigte sich, daß es Friedel ganz schwindlig wurde.
Die meisten der Mädchen hatten in der Schule schon Tanzunterricht gehabt und brauchten jetzt nur aufzufrischen.
Monsieur Fournère nahm sie einzeln vor, es ging leidlich.
Bei Inge Dahlen zerschmolz er vor Entzücken.
» Quelle grace, mon Dieu, quelle grace!«
Und er verdrehte die Augen, daß man nur noch das Weiße sah. Friedel mußte hell auflachen.
Wie sie danach an die Reihe kam, verging ihr die Lachlust.
Sie fand das Herumhopsen so albern, daß sie sich zuerst wirklich der Sache fast schämte. Dann ärgerte sie sich über sich selber, schüttelte das dumme, beengende Gefühl ab, lachte mit den Lachenden und hüpfte munter und flink wie ein Böcklein und genau mit derselben Anmut und Grazie zu Monsieur Fournères Geigenstrichen dahin.
Papa Polten stand in der Nähe und schaute grinsend, hochrot vor unterdrücktem Gelächter, dem Gebaren seines »Jungen« zu. Dies sehen, zu ihm Hinstürzen, ihn umfassen, wie toll im Kreise wirbeln, war für Friedel das Werk eines Augenblicks.
Erschöpft, atemlos sank der alte Herr auf den nächsten Stuhl.
Einen Augenblick stand Friedel vor ihm wie die zürnende Göttin der Gerechtigkeit.
»Lach du deinen armen Jungen auch noch aus, Vaterherz,« rief sie fast drohend.
Dann fuhr sie dem alten Herrn mit beiden Händen in den Bart, zauste ihn und drückte zum Schluß einen schallenden Kuß auf seinen Mund.
Danach flog sie wieder in ihren übermütigen Walzerbocksprüngen dahin.
Alles lachte. Tante Lenchen, hochrot vor Entrüstung, wußte kaum, wo Hinsehen.
»Ein merkwürdig munteres, frisches, natürliches Wesen hat ihre Nichte.«
Frau Regierungsrat Metzler sagte es lachend zu Tante Lenchen.
»O du grundgütiger Himmel!«
Tante Lenchen erörterte die Sache nicht weiter.
Auf Monsieur Fournères Kommando hatten sich die jungen Leute nun in Paaren aufgestellt.
Er zeigte jedem Herrn, wie er seine Dame zu halten habe.
» Pas trop lourdement – nickt su fest und nickt su lose – comme ça.«
Max Metzler hatte auf Friedel losstürzen wollen, die aber stand dicht neben einem schmächtigen kleinen, blassen, weißblonden Primaner, von den Gefährten »der sanfte Heinrich« genannt.
Der hatte hocherrötend ein paar Worte zu Friedel gestammelt.
»Kommen Sie her,« hatte die ganz mitleidig gesagt – sie vermutete, daß er sie engagieren wollte – und hatte kameradschaftlich ihren Arm in den seinen geschoben.
Sehr enttäuscht hatte Max Metzler sich Inge Dahlen zugewandt, die scheu ihre Hand auf seinen Arm legte.
Nun klangen von Monsieur Fournères Geige die lockendsten Walzerklänge durch den Saal.
Die Paare standen aufgereiht, und eines nach dem anderen stürzte sich in die Wogen des Tanzes. Erst ging's leidlich, dann aber gab's ein trostloses Durcheinander mit Anprall und Zusammenstoß – die jugendlichen Tänzer hatten noch nicht gelernt, ihre Tänzerinnen sicher durch die Strudel und Wirbel des Tanzes zu steuern.
Friedel namentlich hopste sehr außer Takt mit ihrem sanften Heinrich dahin, und wo es irgend etwas anzurennen gab, rannten die beiden sicher an.
»So geht das nicht,« meinte endlich Friedel energisch. »Lassen Sie mich mal als Herr tanzen ich bin größer und kann besser aufpassen, daß wir nicht immer gestoßen werden!«
Und ehe der sanfte Heinrich sich's versah, hatte seine energische Dame die Rollen gewechselt, und von ihr gesteuert, wand sich das Paar nun glatt und schlank an allen Hindernissen vorbei.
Friedel gewann Geschmack an der Sache – sie fühlte eine gewissermaßen zärtliche Sorgfalt für den Schützling in ihren Armen und trachtete, ihn immer unbehelligter durch das Durcheinander zu bringen.
Es ging besser und besser – keine Püffe und Stöße mehr. Im Eifer merkte Friedel gar nicht, daß dies weniger ihrer Geschicklichkeit, als der nachlassenden Tanzlust ihrer Gefährten zuzuschreiben war. Mehr und mehr Paare pausierten.
Endlich tanzte Friedel mit ihrem sanften Heinrich allein oder doch beinahe allein.
Ein schallendes Gelächter ertönte plötzlich. Jetzt erst merkte man, daß Friedel und ihr Tänzer die Rollen gewechselt hatten.
» Mais mademoiselle, Sie dansen en cavalier, qu'est-ce-que ça veut dire?«
Monsieur Fournères Fiedelbogen gebot dem Paare Einhalt.
Lachend gab Friedel den »sanften Heinrich« frei, der sich hocherrötend die weißblonden Haare aus der feuchten Stirne strich.
»Ja, so ging's nun einmal besser,« entgegnete Friedel lachend auf Monsieur Fournères Frage. »Ich bin doch ein gut Teil größer, und da konnte ich besser sehen, wohin wir gerieten. Vorher stießen wir überall greulich an und wurden gepufft und getreten. Es ist übrigens auch viel netter, als Herr zu tanzen, meine ich, und schließlich ist's doch ganz gleich, nicht?«
Lautes Lachen antwortete ihr. Monsieur Fournère aber schüttelte nur schweigend den Kopf. So etwas war ihm in seiner Praxis noch nicht vorgekommen.
Tante Lenchen warf dem Bruder einen hilfeflehenden Blick zu; Vater Polten aber hatte kein Verständnis für ihren Kummer; er amüsierte sich königlich über »seinen Jungen«.
» Encore!« kommandierte Monsieur Fournère, und seine Geige lockte aufs neue.
Diesmal war's Max Metzler gelungen, Friedel zu engagieren.
»Als Herr oder als Dame?« hatte Friedel gefragt.
Im Gefühl seiner Manneswürde hatte Max gar keine Antwort gegeben, sondern nur schweigend den Arm um Friedel gelegt.
Die hatte sich's denn auch ruhig gefallen lassen.
Das war nun freilich ein anderes Tanzen als mit dem »sanften Heinrich«.
»So laß ich mir's eher gefallen,« sagte sie denn auch kameradschaftlich zustimmend zum Schlusse, »da läßt sich's auch als Dame allenfalls tanzen. Netter ist's aber doch anders! Papas Junge ist nun mal nicht zum Mädel geboren!«
Max lachte hell auf. Lilly hatte ihm schon davon erzählt, daß Friedel ihres Vaters »Sohn« sei.
»Ja, das läßt sich doch nun aber mal nicht ändern,« meinte er neckend, »für uns sind gnädiges Fräulein nun einmal eine junge Dame und –«
»Um Himmels willen,« unterbrach ihn Friedel lachend und hielt sich beide Ohren zu. »Ein Mädel bin ich nun mal, daran läßt sich allerdings nichts ändern. Aber eine ›junge Dame‹ will ich nicht sein und ein ›gnädiges Fräulein‹ erst recht nicht, hören Sie! Wenn Sie noch einmal so sagen, werde ich sehr ungnädig. Wozu wären wir denn zusammen, als daß wir 'n bissel Ulk treiben, und das können wir nur, wenn wir gute Kameraden sind, ergo –«
»Ja aber wie befehlen, gnä –«
Friedel drohte mit dem Finger.
»Wie soll ich denn aber sagen?« fragte Max.
»Einfach ›Friedel‹. Oder warten Sie mal, das geht doch wohl nicht. Tante Lenchen wäre damit keinesfalls einverstanden. Wissen Sie was, sagen Sie ›Fräulein Friedel‹, das wird besser sein.«
»Gut, also Fräulein Friedel!«
Max betonte das Fräulein sehr.
»So zu betonen brauchen Sie's nun gerade nicht,« tadelte Friedel wieder, »ich sagte Ihnen ja schon, daß ich nicht gerne immer dran erinnert werde, daß ich ein Mädel bin.«
»Also, Fräulein Friedel!«
»So ist's recht! Und nun lassen Sie uns noch einmal herumtanzen, da ist man doch wenigstens in Bewegung.«
Gehorsam legte Max den Arm um seine Dame, und gleich darauf waren sie mitten im Gedränge.
Nach dem Walzer kam noch Galopp und Polka dran, und jedesmal holte sich Friedel, um sich extra zu delektieren, wie sie Lilly anvertraute, ihren »sanften Heinrich«, der ganz verwirrt und niedergedrückt war von so viel Huld. Ehe er sich's versah, tauschte Friedel mit ihm die Rollen und tanzte als Herr, bis die Paare nach und nach aussetzten, und man es hätte merken können.
Erwischen ließ sie sich nicht mehr dabei, aber es war in der Folge das größte Gaudium unter den jugendlichen Tanzenden selber, »Herrn Friedel und die sanfte Heinrike« zu beobachten, wie die beiden nun scherzweise hießen.
Um acht Uhr trat Pause ein, und zugleich wurden kalter Aufschnitt, Limonade und Bier herumgereicht.
Elsbeth und Mariechen Wendel, die zwei netten, blonden Schwestern, eiferten mit Lilly Metzler um die Wette, die etwas mangelhafte Bedienung des Hotels zu unterstützen. In liebenswürdigster Weise ließen sie es sich angelegen sein, die Mütter und Tanten zu versorgen.
Friedel saß auf ihrem Stuhle, hatte sich zurückgelehnt, das Köpfchen hintübergeworfen und spitzte die Lippen wie zum Pfeifen. Mit glänzenden Augen schaute sie von einem zum anderen.
Tante Lenchen trat heran.
»Könntest du nun nicht auch ein bißchen behilflich sein, Frida?« fragte sie vorwurfsvoll. »Sieh, wie nett Lilly und die kleinen Mendels sich bemühen! Das nenn' ich aufmerksame junge Mädchen!«
»Weshalb nicht? Sofort, Tantchen!«
Friedel fuhr auf.
Tante Lenchen sah ihr etwas unsicher nach. Sie war solch nachgiebige Bereitwilligkeit bei der Nichte nicht gewöhnt.
Friedel hatte schon die ganze Zeit über einen besonders beweglichen, zappeligen kleinen Kellner beobachtet, der mit Trippelschritten vom einen zum anderen huschend, sich durch außergewöhnliche Komik auszeichnete.
Seinen Spuren folgte sie nun. Der Himmel weiß, wie die Serviette unter ihren Arm, der gerade Scheitel urplötzlich in ihr Kraushaar gekommen war.
Die Wirkung auf ihr Publikum war jedenfalls sehr bedeutend, als sie ganz wie jener Kellner einher trippelte, seine Windungen und Drehungen nachahmte und sich die Versorgung der Herren mit Bier angelegen sein ließ. Kunstgerecht hob sie auf der flachen, zurückgebogenen Hand ein Servierbrett mit vollen Gläsern über die Schulter – der geborene Kellner, wie Papa Polten schmunzelnd versicherte.
Wie sehr dann Tante Lenchen ihre Aufforderung bereute! Man war bei dem Unglückskind doch vor nichts sicher. Hätte sie doch den unglückseligen Gedanken mit der Tanzstunde nicht gehabt! Wer weiß, was man da noch alles erlebte. In der Einsamkeit mußte man Friedel halten, dort wo keines Menschen Auge sie sehen konnte, außer dem der Ihren, dort wo sie nicht Schande bringen konnte über sich und ihr Haus. Und der Unglücksmensch, der Konrad, der stand dabei und lachte – lachte! Was sollte daraus noch werden?
Tante Lenchen seufzte so schwer und tief, daß Frau Regierungsrat Metzler an ihrer Seite sie ganz erstaunt ansah.
Sie folgte der Richtung von Tante Lenchens Blicken und ahnte, was die alte Dame drückte.
Beruhigend legte sie ihre Hand auf deren Arm: »Übermut, mein liebes Fräulein Polten, nichts als jugendlicher Übermut. Das gibt sich mit der Zeit, gibt sich oft nur zu schnell.«
Tante Lenchen schüttelte den grauen Kopf und seufzte. Das Herz war ihr zum Zerspringen voll.
Lilly kam daher. Sie schob den Arm in den Friedels und zog sie zu Inge und Max hin.
Inge saß in ihrem Stuhl zurückgelehnt, Max dicht neben ihr. Er wehte ihr mit ihrem Fächer Kühlung zu. Er zeigte sich sehr beflissen in seiner Aufmerksamkeit und schien das Herankommen Friedels und seiner Schwester gar nicht zu bemerken.
»Arme Inge, du hast wohl Rheumatismus in den Händen, weil du dir nicht selber fächern kannst?« meinte Friedel. »Wart, ich helfe euch ein bißchen.«
Eilig zog sich Friedel einen Stuhl auf Inges andere Seite und ahmte mit der drolligsten Beflissenheit Maxens Ritterdienste nach. Lilly mußte hell auflachen. Inge wollte sich zuerst ärgern, konnte aber dem Schelmengesicht neben ihr nicht widerstehen, sie lachte mit.
»Herr Max!«
»Fräulein Friedel?«
Lilly traute ihren Ohren kaum, Friedel blinzelte ihr zu.
»Herr Max, lassen Sie uns doch mal irgend einen Ulk aushecken. Tanzen allein ist doch furchtbar öd und langweilig. Wir müssen noch etwas anderes erfinden. Helfen Sie doch mal!«
»Wie wär's, wenn wir Schneeballen machten unten, um unsere Schlacht von neulich fertig auszufechten?« neckte Max.
Friedel überlegte einen Augenblick ganz ernsthaft.
»Geht nicht, Tante Lenchen wäre nicht damit einverstanden,« entschied sie dann.
»Ja, ich wüßte wirklich nichts – vielleicht ein Spiel? Schlagen Sie mal was vor!«
Friedel sann. »Wie wär's, wenn wir Räuber und Gendarm spielten? Oder einfach nachlaufen? Oder, – halt ich hab's – Blindekuh!«
Lilly und Inge sahen sich zweifelnd an.
»Ja, aber –«
Helene und Gerta mit Moritz Weissen und Hans Löffler traten heran.
»Friedel will Blindekuh spielen!«
Die viere lachten unbändig.
»Halt, da weiß ich noch was Besseres,« schlug die lustige Gerta vor. »Suchen nach der Musik! Friedel soll hinausgehen, wir wollen ihr schon eine Nuß zu knacken geben!«
Friedel war sofort bereit. Sie tänzelte der Tür zu, bekam unterwegs den Papa zu fassen, drehte ihn zweimal im Kreise und huschte zur Tür hinaus.
»Wohin, Jungchen?« rief der ihr nach.
»Bischen in den Schnee, Vaterherz!«
Entsetzt rannte der alte Herr hinter ihr her. Dem Tollkopf war alles zuzutrauen. Wie er hinauskam, sauste sie eben auf der Treppenbalustrade nach unten.
»Friedel!«
Er beugte sich über das Geländer, da war sie unten angelangt, setzte aber sofort zu seiner Beruhigung, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe wieder hinauf. Noch einmal nahm sie, ehe er es hindern konnte, den vorigen Weg in die Tiefe. Er sah sich scheu um. Niemand war in der Nähe; erleichtert atmete er auf. Das Mädel trieb's denn doch zu toll.
»Friedel!«
Da war sie auch schon wieder oben und fiel ihm ohne weiteres um den Hals.
»So, Vaterherz, jetzt hat sich dein Junge mal wieder zurecht getobt. Jetzt geht's wieder leichter, die sittsame Jungfrau zu spielen. Uff, 's ist aber recht schwierig!«
Sie machte solch ein komisches, zerknirschtes Gesicht, daß Papa Polten hell auflachen mußte.
»Oho!« rief er dann, »von der sittsamen Jungfrau bist du so weit entfernt, wie der Esel vom Rassefohlen!«
»Dafür bin ich dein Junge, Vaterherz, was?«
Der alte Herr machte ein etwas zweifelhaftes Gesicht und sah sich unwillkürlich um.
»Tante Lenchen hört's nicht,« beruhigte der Schelm. Papa Polten probierte eine gestrenge Vatermiene aufzusetzen, schmolz aber sofort bei einem Blick in das Schelmengesicht. »Mein Jungchen!« sagte er zärtlich und strich über den wirren Krauskopf.
Da klang's von der Saaltür her: »Friedel!«
»Fräulein Friedel!«
Lilly und Max riefen zugleich, und Friedel flog auf die geöffnete Tür zu.
Papa Polten folgte.
Drinnen waren die Mütter zuerst sehr erstaunt gewesen, daß die Jugend Spiele statt Tanz wählte, sie ließen sie aber gewähren.
Man saß an den Wänden des Saals aufgereiht und ein einsames Stühlchen stand in der Mitte.
Die Tante der Wendelschen Schwestern saß am Klavier und ließ eine muntere Polka erklingen.
Eine Minute blieb Friedel an der Tür stehen, um sich die Situation anzusehen. Der einsame, kleine, lehnenlose Stuhl dort mußte etwas zu bedeuten haben. Sie flog auf ihn zu und ließ sich bequem nieder.
Die Musik verstummte, eine Sekunde Totenstille. Dann brach ein stürmisches Hallo los.
»Total falsch!«
»Falsch!«
»Weiter raten!«
So klang's durcheinander.
Friedel stand überlegend da.
Und doch mußte der kleine Stuhl etwas zu bedeuten haben.
Die Musik setzte wieder ein.
Da traf Friedels Blick wie von ungefähr auf den sanften Heinrich.
Weshalb der wohl so rot und verlegen hin und her rutschte? – Da fiel's Friedel wie Schuppen von den Augen. »Natürlich!« Sie flog auf den sanften Heinrich zu, neigte sich vor ihm, umfaßte ihn und drehte sich mit ihm zu den immer lauteren Klängen der Polka durch den Saal.
»Bravo, bravo!«
Nach einigen Runden schoß es Friedel durch den Kopf: Aber der Stuhl?
Halt, nun hatte sie auch das!
Sie geleitete den sanften Heinrich vorsichtig zu dem Sitze, ließ ihn niedersitzen, beugte sich dienstbeflissen über ihn, wie sie es vorhin Max Metzler abgelauscht hatte, und wehte ihm mit ihrem Fächer Kühlung zu.
Ein schallendes Bravo lohnte die gelungene Lösung, man amüsierte sich königlich. Tante Lenchens Miene war die einzig ernste im ganzen Saal.
Nun mußte Inge Dahlen unter großem Protest ihrerseits hinaus. Sie löste sich durch einen graziös getanzten Walzer aus, den sie solo vorführen mußte. Lilly Metzler sollte ein Lied singen.
»Leise zieht durch mein Gemüt,« klang's mit ihrer frischen, noch etwas scheuen jungen Stimme durch den Saal.
Max Metzler war nun draußen.
»Er muß Knüttelverse machen auf sechse aus der Gesellschaft,« schlug Lilly vor.
Jubelnd stimmte man bei.
Max kam.
Nach den ersten Takten verstummte die Musik vollständig und blieb stumm, wohin und wie Max sich auch bewegte.
Er schüttelte den Kopf.
»Ja, aber –« begann er – da setzte die Musik leise ein.
»Also reden?« rief er.
Die Musik tönte lauter.
Er stellte sich in Positur.
»Verehrte Anwesende,« begann er, »ich –«
Die Musik wurde leiser. »– fühle mich sehr beehrt –«
Die Musik verstummte.
Max schüttelte den Kopf.
»Na, denn nicht! Meine Damen und Herren, ich rede sonst zwar gern –«
Schallend setzte die Musik ein.
»Aha, also Verse!«
Jetzt wußte Max, woran er war.
Aufleuchtend, flog sein Blick über die Versammlung und blieb an Inge Dahlen haften. Er trat zu ihr heran und neigte sich: »Des Mondes lieblich sanften Strahlen – Ist zu vergleichen –«
»Inge Dahlen!« jubelte der Chorus.
»Wir kennen sie, seit sie ganz kleene. – Und schätzen sie – Martens –«
»Helene!« schallte es im Chor.
»Bravo, weiter!«
»Noch weiter? Na denn: ›Zu Füßen möcht' ein jeder kriechen – Den Schwestern Elsbeth und Mariechen!‹«
»Au, au! Schwach!«
»Besser machen!«
»Autsch, das heißt man Knüttel!«
»Vorwärts!«
»Rausbeißen!«
Das letzte hatte der »sanfte Heinrich« mit seiner hohen knabenhaften Stimme gerufen und war ob seiner Kühnheit selbst sehr erschrocken.
Max stürzte auf ihn los.
»He, wüster Schreier, sag' ich, er da, – Weiß er 'nen Vers auf Fräulein Gerta?«
Heinrich der Sanfte glaubte in den Boden sinken zu müssen, als er alle die lachenden Augen auf sich gerichtet sah.
Schon aber stand Max vor Friedel.
»Wo Übermut keck streicht die Fiedel, – Da gibt den Ton an Fräulein –«
»Friedel!« jubelten die anderen.
»Halt ein mit deinem Segen, Max, – Du stellst in Schatten selbst Hans Sachs!«
Vater Metzler war's, der unbemerkt eingetreten war und nun die Hand auf die Schulter des Sohnes legte, dessen Extemporationen so ein Ende zu machen.
Er begrüßte die Anwesenden der Reihe nach.
»Und wie wär's nun noch mit einem Tänzchen?« schlug er vor. »Es ist knapp vor zehn Uhr, und die Tanzstunde sollte doch eigentlich mit einem Tänzchen schließen!«
Jubelnd stimmte die Jugend bei.
Eine der Mütter ließ einen Walzer erklingen. Im Nu standen die Paare geordnet und flogen in lustigem Durcheinander alle zumal durch den Saal.
Diesmal war Friedel nicht rasch genug gewesen, den »sanften Heinrich« zu erwischen. Der hatte schon Elsbeth Wendel am Arm. Und da stand auch schon Max Metzler, und Friedel flog mit ihm dahin.
»Glauben Sie, daß ich Ihren Herrn Papa einmal holen könnte, ich möchte so gern mit ihm tanzen?« fragte sie nach einer Weile Max.
Der lachte überrascht.
»Und ob! Wird ihm eine große Ehre sein!«
Und da stand Friedel auch schon vor dem Herrn Regierungsrat, der sich eben angelegentlichst mit ihrem Papa unterhielt.
Sie knickste schelmisch.
Der Herr Regierungsrat wandte sich überrascht um.
»Ich soll tanzen, Kind?« fragte er sichtlich sehr geschmeichelt, »ja aber wie komme ich denn zu der Ehre? Bei so viel Jugend –«
»Wissen Sie, ich mag die alten Herren viel lieber,« sagte Friedel zutraulich.
Mit etwas süßsaurer Miene umschlang der Herr Regierungsrat seine kleine Tänzerin.
Seine Frau aber lachte sehr belustigt hinterdrein. Sie hatte dabei gestanden und wußte, daß der Herr Regierungsrat eine Achillesferse hatte, und das war eben seine Jugendlichkeit. Er konnte sich nur schwer in die Rolle eines Vaters zweier beinahe erwachsener Kinder finden.
Mit rauschendem Akkord schloß der Walzer und somit der erste Tanzstundenabend.
Man hatte sich allerseits sehr gut unterhalten und versprach sich von den folgenden Zusammenkünften viel Vergnügen.
Der Abschied war ein sehr lebhafter, herzlicher von allen Seiten.
*
So flogen die Wochen hin zwischen Nähen, Kochen und Tanzen.
In der Nähstunde war Friedel bis zu den Mysterien des Stopftuches aufgerückt. Wenn Fräulein Hummel an Friedels Stopfarbeit auch nicht viel Freude erlebte, da sie ihre Erwartungen in dieser Beziehung längst sehr herunter geschraubt hatte, so konnte sie auch weiter keine Enttäuschungen erleben. Im übrigen mochte sie Friedel in ihrer frischen Natürlichkeit sehr gerne leiden und sah längst in ihr kein verderbliches Element mehr, das den Ruf ihrer Unterrichtsstunden gefährden konnte. Wurde doch nie fröhlicher, fleißiger und mit mehr Lust gearbeitet als an den Tagen, an denen Friedel kam. Denn die Mädchen alle schwärmten nach wie vor für sie, und nie flogen die Nadeln flinker, als wenn Friedels flinkes Zünglein und flinker Witz den Takt angaben.
Die arme Babette daheim hatte nach wie vor ihre Last mit der unbändigen Schülerin. Heute zeigte diese das innigste Verständnis, um morgen wieder im Abc zu straucheln. Babette wußte nie, woran sie mit ihr war, und wenn sie an Friedels Kochtagen des Morgens erwachte, so seufzte und lächelte sie zugleich im Gedenken an all den Unsinn, der heute wieder zu Tage treten würde. Nie war es in den unteren Wirtschaftsräumen lauter und fröhlicher als am Abend solcher Tage, wo Babette dem ganzen Personal jedesmal Bericht erstatten mußte, was »unser Freileinche« nun heute wieder angestellt hatte.
Bei den allwöchentlichen Tanzabenden aber hätten sich die anderen Teilnehmenden schon gar kein Vergnügen mehr ohne Friedel denken können.
Immer lustig, immer frisch, immer witzig, immer amüsant und originell, war sie auch der Liebling der Mütter und Tanten, die ihr in Anbetracht ihrer urwüchsigen Natürlichkeit selbst das hie und da derb Burschikose verziehen. Sie hätten ja nicht gerade gewünscht, daß ihre Töchter und Nichten sich solches Wesen aneigneten, aber der »kleinen Polten« stand eben alles gut.
Daß Tante Lenchen sich offenbar um die Nichte grämte, sah man und verstand man auch – man hätte es in ihrem Falle wohl ebenso getan –, trotzdem aber: die kleine Polten war eben anders als andere, an die mußte ein besonderer Maßstab gelegt werden.
Ihren jungen Tänzern war Friedel der beste Kamerad, und namentlich Max Metzler war ihr der liebste von allen. Seinen Versuchen, ihr, wie's die anderen nannten, »den Hof zu machen«, hatte sie eine solch absolute Unbefangenheit und eine solche Verständnislosigkeit entgegengebracht, daß er bald davon abstand und sich mit ihr auf die harmlosest vertraute Weise unterhielt. Sie hatten das »Fräulein« und »Herr« in der Anrede fallen lassen und nannten sich nur mit ihren Vornamen, und was Friedel nicht wußte, das wußte Max, und was Max wollte, das wollte Friedel, und die beiden waren die Anstifter und Anführer zu so manchem Scherz, den die anderen dann jubelnd mitmachten.
Ihre besonderen Beziehungen zum »sanften Heinrich« hatte Friedel auf Tante Lenchens inständiges Mahnen aufgegeben. Sie schickte sich drein, als »Dame« zu tanzen und entschädigte sich durch umso größeren anderweitigen Übermut.
Wie aber das Menschenherz ein unergründliches Ding ist, so fühlte sich der »sanfte Heinrich« eben dadurch, daß Friedel ihre Tyrannei von ihm wendete, nun gerade zu ihr hingezogen und er stellte sich ihr jetzt öfter als je in den Weg.
So oft er sich aber auffordernd vor ihr neigte, schob diese ihn gutmütig zur Seite.
»Führen Sie mich nicht in Versuchung, mein Junge. Ich habe Tante Lenchen gelobt, ein Mädel zu sein, in dieser Beziehung wenigstens. Gehen Sie zu Elsbeth oder Gerta, die werden die Ehre zu schätzen wissen.«
Und wie ein begossener Pudel schlich der »sanfte Heinrich« von dannen.
So war es mittlerweile März geworden.
Rauhe Winde fegten daher und zausten Friedels Lockenhaar, wenn sie Morgens entweder auf dem Kutschersitz des Wagens oder aber auf ihrem Rade zu den Nähstunden nach der Stadt fuhr.
Wie grimmig die Winde sich aber anstellten, es lag doch ein herbes Frühlingsahnen in ihrem Hauche, und wo sie mit grimmem Zerren und Zausen durch Sträucher und Büsche fuhren, da war's eher, als mahnten sie sie mit täppischer Hand: geht, macht fort, eilt euch, sputet euch, knospet, sprießet, treibet, es will Frühling werden, Frühling!
Märzveilchen schlug sein blaues Auge auf, die gelben Krokus drängten ihre Kelche der Sonne zu: küsse uns! Schneeglöckchen läuteten sanft und leise: Frühling, Frühling, der Frühling zieht ein.
Die Amsel prüfte wie scheu, ob ihr der Flötenton in der Kehle geblieben sei, Meisen und Lerchen zwitscherten und jubilierten, der Fink übte seinen Schlag und blieb in seinem künstlichen Schnörkel stecken. Die ganze Natur mußte sich erst allmählich wieder aufs Leben, auf die Lust besinnen.
Am fünfundzwanzigsten März war Friedels Geburtstag; sie wurde siebzehn Jahre alt.
Tante Lenchen hatte sich für diesen Tag eine ganz besondere Feier ersonnen. Es war gegen zehn Uhr Morgens, als sie in des Bruders Zimmer trat.
»Konrad!«
»Lenchen!«
Dem alten Herrn war sehr wohl. Er saß mit seiner geliebten Pfeife in Dampfwolken eingehüllt, hatte die Zeitung in Händen und ein Glas Wein vor sich – trotz des Tabakrauchs war alles rosig um ihn und in ihm.
»Konrad, in acht Tagen ist des Kindes Geburtstag, der siebzehnte – ich bin der Meinung, wir sollten ihn besonders festlich begehen.«
»Je, ja, Lenchen, siebzehn Jahre! Wie die Zeit fliegt. Vor ganz kurzem war Jungchen noch ein kleiner Hosenmatz, und nun –«
Der alte Herr versank in Sinnen und paffte gewaltig vor sich hin.
Tante Lenchen, die nur ihr Ziel vor Augen hatte, gab sich den Anschein, diese verpönten Ausdrücke gar nicht zu hören.
»Ja, die Zeit fliegt,« meinte sie, und begleitete mit gefühlvollem Augenaufschlag diesen ebenso richtigen als wenig neuen Ausspruch.
Sekundenlange Pause – dann fuhr sie sehr angelegentlich und geschäftig fort: »Siehst du, Konrad, ich glaube nämlich doch, daß meine Methode bei Frida anschlägt, ich habe so meine Anzeichen.«
Der alte Herr sagte nichts, er entsann sich ganz anderer Anzeichen. Wenn aber Tante Lenchen zufrieden war, weshalb sollte er ihr Behagen stören?
»Ja, ja, meine Anzeichen!« wiederholte Tante Lenchen noch einmal nickend und sehr befriedigt. »Da habe ich mir nun ausgedacht, wenn wir zur Feier des Geburtstages und zugleich zum Schluß der Tanzstunde eine kleine Tanzgesellschaft hier im Hause gäben! Frida könnte sich dann als Tochter des Hauses zeigen, vielleicht einige Proben ihrer Kochkunst ablegen, kurz endlich einmal wirklich als junge Dame auftreten. Was meinst du dazu?«
Papa Polten räusperte sich. Er traute der »jungen Dame« nicht so recht, behielt aber seine Zweifel für sich.
»Na ja, die Idee ist ja gar nicht übel,« sagte er. »Ich habe nichts dagegen, wenn Friedel –«
»Frida wird gebührend dankbar sein, hoffe ich!«
Und selbstbewußt rauschte Tante Lenchen aus dem Zimmer.
Papa Polten nahm die Pfeife aus dem Munde und sah der Verschwindenden ganz erstaunt nach.
»Na nu!«
Damit lehnte er sich behaglich wieder in seinen Sessel zurück, paffte weiter und lachte zuweilen etwas hämisch in sich hinein.
Woran er wohl dachte?
Ein kleines braunes Zigeunergesicht tauchte plötzlich in den Tabakswolken auf, weiße Zähne und Schelmenaugen blitzten ihn an.
Das nichtsnutzige Koboldsgesicht paßte so in die wachen Träumereien des alten Herrn, ja war so augenscheinlich deren Verkörperung, daß er über den Anblick weiter gar nicht erstaunte.
»Vaterherz!«
»Jungchen?«
»Da bin ich!«
»Das seh' ich!«
»Ja, aber, erstaunst du dich denn gar nicht?«
»Nee!«
»'s ist doch noch Vormittag!«
Jetzt wurde der alte Herr aufmerksam. Es war richtig, Friedel sollte ja heute zur Nähstunde in der Stadt sein.
»Streiche gemacht?«
»Ausgerückt!«
»Hab's nicht ausgehalten, Vaterherz, in den dumpfen Mauern. Sie haben nicht einmal das Fenster aufgemacht und die Sonne hat doch so golden geschienen. Und in den dummen, engen Gassen hört man nur Spatzen schreien, keinen Fink schlagen, keine Meise rufen und sieht nichts als Mauern, Mauern und Dächer, keinen Baum, keinen Strauch, und 's ist doch Frühling draußen. Da hat's mich gepackt, Vaterherz, ich hab's nicht ausgehalten. Ich hab' den ganzen Krempel auf den Tisch geworfen, hab' mir den Hut aufgestülpt, war eins, zwei, drei, hast du nicht gesehen, zur Tür draußen, drunten, auf dem Rad, fort, fort, in den Sonnenschein, in die Luft, in die Freiheit, in den Frühling! Ha, ha, ha, werden die verdutzte Gesichter gemacht haben!«
Laut auflachend warf sie die Arme um des Vaters Hals, rieb ihr weiches Gesicht an seiner stoppeligen Wange, war ebenso flink wieder mitten im Zimmer und drehte sich dort wie ein Kreisel.
Papa Polten hatte die Pfeife aus dem Mund genommen. Er räusperte sich.
»Hm, hm! Ausgekniffen? Gefällt mir nicht!«
»Vaterherz!«
»Nee, gefällt mir gar nicht!«
»Aber –«
»Was du tust, das tue recht. Pflicht geht vor Vergnügen!«
»Ja, aber –« Friedel ließ den Kopf hängen, ihr braunes Gesicht war von roter Glut überzogen; sie tanzte schon längst nicht mehr.
»Wie lange brauchst du zur Stadt mit dem Rad?«
»Eine halbe Stunde.«
»Der Unterricht dauert?«
»Für mich bis zwei Uhr, weil ich Nachmittag frei habe.«
Der alte Herr zog die Uhr.
»Viertel nach zehn – dreiviertel elf bis zwei Uhr, sagen wir noch volle drei Stunden. Aufgesessen!«
»Väterchen!«
»Mut zeiget auch der Mameluck, Gehorsam ist des Christen Schmuck! Allons, marsch! Order pariert! Nur nicht gefackelt – basta!«
Friedel sagte kein Wort weiter. Mit hochrotem Kopfe wandte sie sich zur Tür, prallte dort mit Tante Lenchen zusammen, die ihr offenen Mundes nachstarrte, wie sie durch den Korridor zur vorderen Haustür flog, ihr Rad erfaßte, sich hinaufschwang und davonsauste wie aus der Pistole geschossen.
Tante Lenchens offener Mund schnappte mit hörbarem Ruck zu. Es lag ihr wie Blei in den Gliedern, als sie sich matt nach dem Bruder umwandte. »Konrad! Was bedeutet das?«
»Deine ›junge Dame‹ war ausgekniffen, weil sie nur Mauern sah und Spatzen pfeifen hörte!« Der alte Herr lachte in sich hinein, daß er wackelte.
»Das Kind, das Kind,« jammerte die Tante. »Sie ist der Nagel zu meinem Sarge!«
»Nur nicht gezetert, Lenchen!« Damit unterbrach sie der Bruder etwas schroff. »Ich hab' ihr heimgeleuchtet, und sie ist gegangen, ohne zu fackeln, damit ist die Geschichte erledigt – basta!«
In der Nähstunde hatten die Mädchen mit ganz verdutzten, verblüfften Gesichtern hinter Friedel dreingestarrt, als die ihre Arbeit so plötzlich, ohne ein Wort zu sagen, hinwarf, den Hut vom Nagel nahm und davonstürmte. Noch verdutzter und verblüffter aber blickten sie drein, als nach Verlauf von einer Stunde etwa die Tür sich öffnete und Friedels Gesicht durch den Spalt blickte, worauf alsbald die ganze geschmeidige kleine Person folgte.
Sie winkte den Freundinnen zu und schritt mit erhobenem Köpfchen zu Fräulein Hummel hin.
»Verzeihen Sie, Fräulein,« sagte sie mit ihrer hellen Stimme, »ich wollte auskneifen, aber Papa hat mich sofort wieder zurückgeschickt. Es tut mir sehr leid, und es soll nicht wieder vorkommen.« Der Blick ihrer grauen Augen war so zerknirscht und zugleich so ehrlich abbittend, daß Fräulein Hummel nicht zürnen konnte.
»Was trieb Sie fort, Kind?« fragte sie nur milde.
»Die Sonne – der Frühling! Wer kann da so stille im Zimmer sitzen!«
Es lag wie verhaltene Ungeduld in Friedels Ton.
»Die Pflicht, Kind, die Pflicht lehrt es einen, die ist der beste Lehrmeister. Ich war auch einmal jung, und ich habe die Sonne lieb gehabt und den Frühling und –«
Fräulein Hummel brach ab. In ihren braunen Augen lag ein mildes Leuchten, als habe sich ein Strahl von jener Sonne, die sie geliebt hatte, als sie noch jung war, drin gefangen, und sie trage seitdem ihre Sonne und ihren Frühling wohlgeborgen in der eigenen Brust, ob es draußen auch winterte und stürmte.
Friedel beugte sich rasch über die Hand des alten Fräuleins und küßte sie warm.
*
Friedel hatte Tante Lenchens Plan zu der großartigen Geburtstagsfeier etwas mißtrauisch aufgenommen.
»Weißt du, Tantchen, es wäre mir schon lieber, wenn ich mit dem Papa mal wieder so recht querfeldein traben könnte. Seit den Näh- und Kochstunden komme ich ja kaum mehr dazu, meine Lady ist ganz steif geworden. Oder ich könnte mir die Dorfjungens rufen und eine Razzia auf Spatzen- und Rabennester machen, oder –«
»Mal zur Abwechslung die Schweine hüten, oder Purzelbäume schlagen, oder – Himmel, Mädchen, wirst du denn nie vernünftig werden? Siehst du denn gar nicht ein, daß ich nur dein Bestes will? Ist das der Dank für all meine Liebe und Sorge?«
Tante Lenchen war schwer gereizt, und Friedel tief zerknirscht. Sie fügte sich Tantes Anordnungen für die Feier wie ein Lamm, ja heuchelte sogar das größte Interesse und die herzlichste Freude.
Tante Lenchen war doch so gut, sie wollte ihr ja wirklich nur einen frohen, schönen Tag machen. Konnte sie dafür, daß ihr Geschmack nun einmal Friedels Geschmack nicht war?
Friedel freute sich ja sehr, die frohen Gefährten aus der Tanzstunde bei sich zu sehen, aber dieser eine Satz, den Tante Lenchen stets mit Nachdruck wiederholte, daß Friedel sich als »Tochter des Hauses« zeigen solle, flößte ihr ein gewisses Grauen ein.
Himmel, was dachte sich die Tante wohl dabei? Sie, Friedel, wollte vergnügt sein; ob sie das als »Tochter« könne, war ihr nicht so ganz klar.
Jedenfalls aber beteiligte sie sich eifrig bei den Vorbereitungen. Sie hatte tausenderlei Vorschläge, die Tante Lenchen alle verwarf, und fügte sich trotzdem willig in alle Küchenpläne, Backwerk, Kuchen und derlei betreffend, wodurch die Tante endlich einmal mit der Nichte weiblichen Talenten zu glänzen gedachte.
In der Tanzstunde war allgemeiner Jubel gewesen, als Friedel ihre Einladung vorbrachte.
Friedels beste Freundinnen, Lilly, Inge Dahlen, Gerta, Helene und die beiden semmelblonden Schwestern Elsbeth und Mariechen sollten schon tags zuvor kommen, das hatte Friedel sich ausbedungen. Im Laufe des Vormittags stellten dann die anderen sich ein, und Abends zeitig, sechs Uhr war festgesetzt, erschienen die Eltern der Mädchen zum Beginn des Balles.
Schon tags zuvor war alles in Dresdorf in fieberhafter Tätigkeit, Friedel immer mitten drunter, hier einmal mit Verständnis und Geschick helfend und fördernd, dort durch Tollheiten und Unsinn hindernd und ablenkend.
»Was wirst du denn anziehen, Kind?«
Friedel sah die Tante ganz verständnislos an.
»Anziehen? Je ja« – ein zweifelhafter Blick flog an der karierten Bluse und dem blauen Rock hinunter – »irgend was! Mein grünes Tuchkleid oder, wart mal, das wird zu schwer sein, ich könnte ja eine frische weiße Bluse nehmen oder –«
»Daß du deinen Radfahranzug nicht vorschlägst, wundert mich,« sagte Tante Lenchen sehr spitz. »Sei du froh, daß du eine Tante hast, die für dich denkt und sorgt und –«
»Das bin ich auch, Tantchen, ganz gewiß, das bin ich auch! So'n gutes kleines Tantchen! Ich hätt' mich, glaub' ich, längst zum wirklichen Jungen ausgewachsen, wenn du nicht wärst, die so'n mustergültiges Mädel aus mir gemacht hat.«
Und Friedel faßte die kleine Dame, drehte sich mit ihr im Kreise, ließ sie dann fahren, so daß sie ganz schwindlig auf den nächsten Stuhl sank.
»Unband!« keuchte die Tante und rückte die schiefgerutschte Haube wieder gerade. – –
Es war etwa drei Uhr Nachmittags. Tante Lenchen rüttelte sich eben aus süßem Schlummer auf und wiederholte sich im Geiste die Obliegenheiten dieses letzten Nachmittags.
»Schinken abkochen, Poularden schlachten – Pastetenteig –«
Da fuhr unten ein Wagen über den Hof.
Tante Lenchen eilte ans Fenster.
Es war der Break. Friedel stand aufrecht auf dem Kutschersitz und lenkte die Braunen eben dem Tore zu.
»Friedel!«
Durchs aufgerissene Fenster gellte Tante Lenchens Stimme.
Friedel wandte nur kurz das Köpfchen.
»Ich hole die Mädels. Johann ist beschäftigt, und da fahre ich allein. Der Papa hat's erlaubt!«
Damit bog sie zum Tore hinaus.
Seufzend zog Tante Lenchen den Kopf zurück.
Was half da alles Predigen!
Wenn nur der Tag erst vorüber wäre, den sie selbst heraufbeschworen hatte. Was konnte man da noch alles erleben! Was würde diese »Tochter des Hauses« noch alles ersinnen und ausführen, ehe man zwei Tage älter war.
Friedels Gespann sauste inzwischen in schlankem Trab der Stadt zu.
Lilly stand schon fix und fertig am Fenster und harrte des Wagens.
»Sieh doch, Max, sieh doch, da kommt der Wagen. Friedel fährt.«
»Wahrhaftig, ja! Und wie flott! 'n fixer Kerl!«
»Max!»
Mild tadelnd sagte es die Mutter, gestand sich aber selber, daß die Bezeichnung eigentlich die treffendste für Friedel sei.
»Ist es denn aber sicher, die Mädchen alle Friedel als Kutscher anzuvertrauen?« fragte sie ängstlich.
»Keine Sorge, Mutterherz! Bei Friedel sind sie sicher, das ist ein vortrefflicher Kutscher!«
Er folgte der Schwester, die inzwischen zum Abschied hastig die Arme um Mütterchens Hals geschlungen hatte und nun die Treppe hinunterflog.
Unten gab's eine laute fröhliche Begrüßung.
»Friedel!«
»Lilly! Nur rasch aufsteigen, wir haben gar keine Zeit. Es gibt noch entsetzlich viel zu tun daheim. Tag, Max! Kommen Sie nicht zu spät morgen, bitte. Fix, Lilly! Los, Rollo! En avant, Bella!«
Das galt den Pferden. Und wie Lilly aufgeklettert war und vom Mädchen noch einen großen Karton in Empfang genommen hatte, senkte Friedel die Peitsche grüßend gegen Max und gegen das Fenster oben, wo die Frau Regierungsrat, immer noch etwas zweifelnd und ängstlich lächelnd, herunternickte.
»Auf Wiedersehen!«
Damit stob der Wagen um die Ecke.
Mit kleinen Variationen spielte sich dieselbe Szene vor den anderen Häusern ab, aus denen Friedel sich ihre frühlingsfrische Ladung holte. Überall freudig erregte, eiligst herzufliegende, jungfrohe Mädchengestalten, stürmische, wortreiche, laute Begrüßung. Überall ängstliche, ungewisse Mütter. Überall umfangreiche, nachgeschobene Kartons.
»Himmel, Mädels, wollt ihr denn das alles anziehen? Mit dem, was da drinnen steckt, müßte man ja ein ganzes Regiment kleiden können, sollte ich denken,« lachte Friedel, und die Freundinnen lachten mit.
Sie mußten heute über alles lachen. Das Lachen lag so in der Luft.
»Elsbeth und ich haben Blau,« erzählte Mariechen Wendel wichtig. »Was für eine Farbe hast du denn, Friedel?«
»Weiß nicht!«
»Du weißt nicht?«
Es kam unglaublich erstaunt aus sechs fragenden Kehlen.
»Nee!«
»Ja, aber –«
»Ohne Sorge, Mädels, ich zieh' was an, weiß nur noch nicht was,« lachte Friedel belustigt. »Übrigens werd' ich euch mit meinem braunen Jungengesicht keine Konkurrenz machen; nur keine Furcht.«
Lilly wollte das nicht recht gefallen.
»Bruder Max sagt, du seiest sehr niedlich und –"
Da kam sie aber gut an.
»Niedlich, niedlich!« fuhr Friedel entrüstet auf. »Bin ich eine Porzellanpuppe? Niedlich!« – Unsägliche Verachtung lag in dem Ton.
Lilly sah sehr unsicher drein. Die anderen lachten, schließlich mußte Lilly mitlachen.
Rollo und Bella spitzten die Ohren. Friedel schnalzte mit Zunge und Peitsche, und der Wagen mit seiner Frühlingslast sauste in den goldensonnigen Vorfrühlingstag hinein.
Papa Polten stand auf der Freitreppe, die geliebte Pfeife im Munde. Pferdestampfen, Peitschenknallen, Räderrollen und dazwischen helles, junges Stimmengetön.
»Aha, da sind sie!«
Und sie bogen zum Tor herein!
»Hurra, Papa Polten!«
Friedel führte an und sechs jubelnde Stimmen folgten.
»Hurra, Papa Polten! Hurra, hurra, hurra!«
Und der alte Herr riß die Mütze vom Graukopfe, nahm die Pfeife aus dem Mund und schwang beides zum Empfang der jungen Gäste.
Im Nu hatte sich der Wagen entleert. Friedel türmte die Kartons zum ehrfurchtgebietenden Haufen und lachte unbändig, da sie des Papas ungewiß fragende Miene sah.
»Ja, Vaterherz, so viel brauchen Mädels, wenn sie junge Damen sind. Dank du dem Himmel –«
Das weitere schnitt Tante Lenchens Erscheinen unter der Haustür ab, und die jungen Mädchen beeilten sich, sie ehrfurchtsvoll mit Knicks und Handkuß zu begrüßen.
»Und nun, Mädels, hinauf in die Kaserne!«
Friedel hatte die beiden Räume so getauft, in denen die Tante sie auf ihr inständiges Flehen für diese beiden Nächte mit den Gefährtinnen untergebracht hatte.
Jedes der Mädchen schleppte ihr Bündel mit sich und mit Hallo ging's nach oben.
Gleich darauf kam man beim Kaffeetisch zusammen.
»Den Kuchen hat Friedel ganz allein gebacken,« rühmte die Tante. »Bitte, es sich recht schmecken zu lassen.«
»Wahrhaftig, Friedel?«
Es klang Erstaunen und Zweifel durch.
»Ja so halb und halb, gewissermaßen,« gestand Friedel zu, »aber wartet nur bis morgen! Morgen sollt ihr eure blauen Wunder sehen. Da zeigt sich Tante Lenchens Nichte, und Papas Junge wird daheim gelassen! Jetzt aber spült mal schnell den Kaffee runter, hört ihr. Ihr müßt helfen, den Saal schmücken!«
»Gleich, gleich!«
»Wir sind ja schon fertig!«
» Allons, enfants de la patrie!«
»Hurra, gerne!«
»Fertig, los!« kommandierte denn auch Friedel, und wie ein Rudel Rehe stob die muntere Schar zur Tür hinaus.
Papa Polten folgte etwas langsamer.
Drüben im Saal – demselben Saal, in dem vor nun bald Jahresfrist Lisas Hochzeitsfeier begangen worden war – in eben diesem Saal war alles in rührigster Tätigkeit.
Ein paar Knechte hatten Berge von Grün herbeigeschafft, Koniferengrün, denn die junge Laubpracht stak trotz der goldenen, lockenden Sonne noch allzusehr in der verhüllenden Knospe.
Dafür hatte Friedel Weiden- und Pappelkätzchen, lichtgelbe Cornuszweige, ja Schneeglöckchen in Masse gesammelt und mitten im Wintergrün nahmen sich kleine Tuffs von diesen Frühlingsboten reizend aus.
Kronleuchter und Wandarme trugen ihren Schmuck. Vom Kronleuchter aus zogen sich grüne Gewinde nach den vier Ecken des Saals, die von oben bis unten mit Grün ausgesteckt waren und blühende Pflanzengruppen von Cinnerarien, Azaleen und dergleichen zeigten. Die Einförmigkeit der Wandflächen unterbrachen Tuffs von Grün, und um das Klavier herum standen dicht gereiht Lorbeerbüsche, aus denen Tante Lenchens Stolz, ihre Kamelienbäume in all ihrer Blütenpracht hervorleuchteten.
Inge Dahlen hatte die Ideen gehabt, die anderen sie willig ausgeführt. Selbst Papa Polten hatte mit steifen, ungewohnten Fingern ein Büschelchen Schneeglöckchen nach dem anderen zusammengeklaubt.
»Kinders, der alte Papa wird am Ende noch selber zum Schneeglöckchen,« seufzte er drollig. »Hätt' ich mir auch nicht träumen lassen, daß ich auf meine alten Tage noch einmal das Blumenmädchen spiele, nur weil mein Fräulein Tochter ein würdiges Lokal für ihren ersten Ball haben will!«
»Das heißt, Väterchen, weil du deinem Jungen eine Freude machen willst,« verbesserte Friedel schelmisch.
»Na meinethalben!«
Inge war eben mit dem Kronleuchter fertig.
»Reizend, Inge, ganz reizend,« jubelten alle, »das hast du allerliebst gemacht! Sind wir jetzt fertig?«
Inge tüftelte hier noch und rückte dort noch etwas zurecht, zupfte hier das Grün leichter und steckte dort ein weiteres Büschelchen Kätzchen und Schneeglöckchen hinein.
Die anderen aber hatten keine Geduld mehr.
»Und nun laßt uns mal Fangen im Park spielen, kommt!« rief Friedel lustig und stürmte zum Zimmer hinaus, die anderen wie die wilde Jagd hinter ihr drein, und draußen klang's wieder von fröhlichen, jauchzenden Stimmen.
Papa Polten und Inge folgten langsam und holten die anderen erst auf jener Bank unter der großen Eiche am Ende des Parkes ein, wo einstmals Klaus v. Rödern Zeuge des Abschieds zwischen den beiden Schwestern gewesen war.
Eine Glocke tönte.
»Abendläuten!« sagte Friedel.
Fast andächtig lauschten die Mädchen.
»Ich möchte auf dem Lande leben,« meinte Inge träumerisch. »Man glaubt beinahe dem lieben Gott hier näher zu sein.«
»Ach ja, im Sommer denke ich mir's ja ganz nett,« sagte Elsbeth Wendel ungewiß, und Mariechen nickte eifrig Beifall, »aber im Winter mit all dem Schnee – puh, gräßlich!«
Helene und Gerta hielten sich umschlungen.
»Gräßlich!« stimmte Helene lachend bei, »und selbst im Sommer sehe ich lieber Menschen, als immer nur Ochsen und Kühe, und Wiesen und Wald!«
»Ich auch, ich auch,« bekräftigte Gerta.
»Mir ist eine gescheite Kuh immer noch lieber als ein dummer Mensch,« meinte Friedel lakonisch. »Und du, Lilly?«
»Ich, verzeih, Friedel, aber ich würd' mich, glaub' ich, fürchten, so allein mitten in der großen Natur zu wohnen. Ich brauche Häuser und Dächer rings um mich her, dann erst fühl' ich mich geborgen. Mein Haus und mein Dach allein sind mir nicht Schutz genug.«
Die kleine blasse Lilly war ganz rot geworden und sah ungewiß zu Friedel auf.
Fast mitleidig sah die zu ihr nieder. Dann schlang sie die Arme um des Vaters Hals.
»Und wir, Vaterherz, dein Junge und du, wir atmen erst, wenn uns der Sturm ganz allein anbläst, wir –«
»Reißen aus vor Mauern und Dächern und pfeifenden Spatzen,« ergänzte der alte Herr neckend, und Friedel verstand ihn.
Da kam eine stämmige Magd grinsend herangetrabt und meldete, daß das Abendessen fertig sei.
»Die Laken-Dörte!« stellte Friedel sie vor.
Und die Dörte grinste noch mehr, und die Mädchen lachten, und Friedel forderte zu einem Wettlauf dem Hause zu auf, wobei sie natürlich Siegerin blieb.
Und sie stürmte zum Haus hinein, stürmte ins Eßzimmer, rannte fast die Tante um und sank hochrot und atemlos auf den nächsten Stuhl, um sich alsbald das aufgetragene Essen schmecken zu lassen.
Tante Lenchen war noch ganz zitterig von dem Zusammenprall.
»Erbarme dich, Kind, bist du ganz aus dem Häuschen?«
»Nein, nur hungrig,« sagte Friedel trocken, und hatte schon eine dicke Butterschnitte mit Schinken halb verschluckt, als die anderen erschienen.
Tante Lenchen sagte nichts, sondern seufzte nur tief und schmerzlich auf, Friedel aber nahm sich fest vor, von nun an manierlicher zu sein.
Das Abendessen verlief unter Scherzen und heiterem Geplauder. Die Mädels zeigten einen solch unverblümten, natürlichen Appetit, daß Papa Polten seine helle Freude daran hatte.
»Was tun wir jetzt, Kinders? Können doch nicht gleich in die Klappe?« fragte er, als man nach dem Abendessen zusammen im Salon stand.
»Schwarzer Peter! Bitte, bitte, Schwarzer Peter!« schlug Friedel vor. »Mit richtigen Schnurrbärten! Ich kann wundervoll malen!«
Jubelnd stimmten die anderen bei, nur Inge zeigte sich etwas zweifelhaft.
»Kriegt man denn das danach wieder sauber ab?« fragte sie zagend.
Das machte auch die anderen bedenklich, aber Friedel lachte und spottete alle Bedenken fort.
»Hurra, los, Kinder!«
Im Nu saß man um den großen Tisch, Papa Polten wie ein alter knorriger Baumstamm mitten unter blühendem Rosengeranke.
Als Tante Lenchen, die gleich nach Tisch zu Babette berufen worden war, nach einer halben Stunde etwa wieder eintrat, bot sich ihr ein Anblick, der jeden anderen als sie zum herzlichsten Lachen gereizt hätte.
Tante Lenchen aber schlug sprachlos die Hände über dem Haupte zusammen.
Da saß der Bruder mit seinem guten, dicken, roten Gesicht, mit dem grauen Bart und der dampfenden Pfeife und hatte eine ihrer höchsteigenen Nachthauben übergestülpt, und die stattliche weiße Schleife unter dem Kinn erglänzte durch den grauen Bart hindurch. Die jungen rosigen Gesichter um ihn herum aber hatten alle breite, kohlschwarze Schnurrbärte gemalt, die Spitzen kühn nach oben gedreht, und Friedel, die selbst den martialischsten aufwies, war eben dabei, Inges Blumengesicht auf gleiche Weise zu entstellen.
»Seid ihr toll? Wie wollt ihr denn die Bescherung wieder loskriegen? Und morgen der Ball!«
Ganz entsetzt rief's Tante Lenchen, und ganz entsetzt und erschreckt fuhren die Hände der Schnurrbartbesitzerinnen nach den Gesichtern und wischten aufs Geratewohl drin herum. Das gab eine schöne Bescherung! Friedel und Papa Polten wollten sich totlachen. Statt der sechs Schnurrbärte sah man sechs Mohrengesichter.
»Liebstes, bestes, gnädiges Fräulein, was machen wir?«
Inge war dem Weinen nahe.
»Ihr tanzt eben als Mohrenköniginnen, Inge, wär' auch nicht übel!«
Aber die Mädels hatten mit einem Male die Lust an Friedels Scherzen verloren. Sie umdrängten hilfeflehend Tante Lenchen.
Die warf nur einen anklagenden Blick auf Friedel und verschwand dann mit der Schar ihrer Mohrenköniginnen.
Papa Polten hatte schon lange die Haube vom Kopf genommen. Ungewiß starrte er Friedel an.
»Ist's wirklich so schwer wegzukriegen, Jungchen?«
»Na ja! Tüchtig reiben muß man schon, ich hab' den Pfropfen ordentlich angebrannt. Na, wenn sie nun auch 'n bissel schwarz bleiben, was liegt dran?«
»Na, du, hör, das wäre doch nicht so einerlei. Geh, mach dich auch sauber, Tante Lenchen wird sonst ernstlich böse.«
»Vaterherz, tu mir das nicht an. Heute abend bleib' ich so! Wer weiß, ob ich je noch mal wieder 'nen Schnurrbart krieg'! Ich weiß was, daß Tante Lenchen alles vergessen soll!« – Und fort war sie.
Schon kamen auch die anderen kichernd und sehr befriedigt wieder. Die Gesichter sahen allerdings etwas poliert und überreinlich aus, aber außer vielleicht ganz leichten Schatten, die bis morgen sicher auch noch weichen würden, war die Schwärze geschwunden.
»Da sind wir wieder!«
»Hatten schöne Not!«
»Friedel darf uns nie mehr damit kommen!«
»Wo ist sie denn?«
»Wird gleich wieder da sein!« erklärte Papa Polten.
Tante Lenchen erschien hochrot mit Seifenlappen, Waschwasser und Salbe unter der Tür.
»Wo ist Frida, Konrad? Wenn sie nicht heute noch –«
Klänge von überirdischem Wohllaut, von wunderbarer Weichheit schnitten ihr das Wort ab.
Dort stand Friedel, die Geige im Arm. Sie hielt das Köpfchen geneigt, ein helles Leuchten lag auf dem schmalen, braunen Gesichtchen, und seltsam stach der forsche Schnurrbart von dem träumerisch verklärten Ausdruck der grauen Augen ab, die vollaufgeschlagen in weit abgerückte Sphären zu schauen schienen.
Atemlos lauschten die Mädchen.
War das Friedel, ihre tolle, übermütige Friedel?
Tante Lenchen hatte sich auf einen Stuhl neben der Tür gesetzt, das Waschbecken neben sich auf den Boden gestellt und förmlich andächtig die Hände gefaltet.
Friedel mit der Geige – wohlgemerkt, wenn sie nicht Tollheiten auf dem Instrumente trieb – war für Tante Lenchen ein vollständig verschiedenes Wesen von der Friedel, die, wie sie behauptete, im gewöhnlichen Leben der Nagel zu ihrem Sarge war.
Also die Mädchen hielten den Atem an, und dasselbe tat Tante Lenchen. Der Papa schmunzelte.
»Deibelskerl!« flüsterte er in sich hinein.
Aber dann lauschte auch er atemlos.
Und Friedel spielte. Die Geige in ihren Händen war lebendig geworden, sie jubelte, jauchzte, lockte, klagte, weinte, tröstete, sang. Woher Friedel das alles nahm?
In kleinen Zwischenpausen, wenn der Ton zu ersterben schien, erwachte Tante Lenchen jedesmal aus ihrer Verzückung, hob den Finger gegen die Nichte und wies bedeutsam nach dem Waschbecken.
Aber dann nahm die Geige einen neuen Anlauf, und Tante Lenchen versank aufs neue in eine andere Welt, in der Schnurrbärte und Waschbecken keine Rolle spielten.
Hätte nicht Friedel selber ein Einsehen gehabt, die anderen hätten ihr so weiter und weiter gelauscht.
Plötzlich, mitten in die weihevollsten Klänge mischten sich die Schelmentöne einer Operettenmelodie, verklangen, tauchten wieder auf, um schließlich zu triumphieren.
Der Fledermauswalzer setzte ein.
Nun war der Bann gebrochen.
Hüpfend, tanzend, jubelnd wurde Friedel von den Gefährtinnen umdrängt.
»Nein, Friedel –«
»Friedel, aber so was –«
»Friedel, warum hast du nie –«
»Du bist ja eine Künstlerin, Friedel!«
So klang, schwirrte, jubelte und fragte es durcheinander.
Friedel aber geigte weiter.
Mit Schelmenmiene machte sie der Tante und dem Waschbecken einen Knicks, flog dem Papa um den Hals, wobei sie einen Augenblick das Spiel unterbrach, um ihr Gesicht an dem seinen zu reiben und danach mit hämischem Koboldsgelächter davonzustieben, immer fiedelnd, die ganze Schar hinter sich herziehend, wie weiland der Rattenfänger von Hameln.
Geigentöne und Silberlachen verklangen in der Ferne.
Tante Lenchen atmete auf, als ob sie aus einem Traum erwache.
»Ein tolles Ding!« seufzte sie, aber es klang etwas merkwürdig Weiches durch.
Gleich danach lachte sie hell auf.
Papa Poltens rotes Gesicht, das die deutlichen Spuren von Friedels Schnurrbart trug, sah aber auch zu komisch aus.
»Spiel du bald wieder einmal Schwarzer Peter! Dort steht Waschwasser und Seife, hab's also doch nicht ganz umsonst gebracht. Gute Nacht, Konrad!«
Bald danach lag tiefe Stille über dem Hause. Nur aus den Räumen, die die jungen Gäste bargen, klang hie und da noch ein heller Silberton, danach nur noch leise verschlafenes Zwitschern, dem alsbald nächtliches Schweigen folgte.
Dresdorf schlief.
*
Goldener Morgensonnenschein! Friedel hob das Köpfchen und blinzelte in die Frühlingspracht.
Was war doch nur heute?
Einen Augenblick sann sie, dann sprang sie mit beiden Füßen zugleich aus dem Bett.
Die Faulpelze! Die wollte sie aber wecken!
Friedel huschte durch das Zimmer. Ihr Blick fiel wie von ungefähr in den Spiegel. Erschreckt blieb sie stehen und fuhr mit der braunen Hand in das braune Gesicht.
Was war denn da Schwarzes?
Ja so!
Der gerettete Schnurrbart!
Ein koboldartiges Grinsen im Gesicht, fiel sie über die Nächststehende oder vielmehr Liegende – Lilly – her und küßte sie wach. Ebenso die anderen, ehe eine sich wehren konnte.
Die Mädchen saßen aufrecht und rieben sich erstaunt die Augen.
Friedel führte einen stummen Indianertanz inmitten des Zimmers aus und grinste wie ein Dämon, sie sah ordentlich zum fürchten aus mit dem jetzt wie schwarz tätowierten Gesicht.
»Friedel!«
Lilly hatte zufällig in den gegenüberliegenden Spiegel gesehen und Friedels Attentat auf ihr Gesicht entdeckt. Die anderen belehrte ein Blick in die gegenseitigen Physiognomien.
»Friedel!«
Im Nu waren alle auf den Füßen und stürzten auf die Missetäterin los. Die flüchtete an den Waschtisch und schlug mit Wasserstrahlen ihre Verfolgerinnen in die Flucht.
Lachend wurde Waffenstillstand geschlossen, und dann ging's an ein allgemeines »Reinemachen«.
Tante Lenchen traute ihren Ohren nicht, als sie schon um sieben Uhr erst ein unterdrücktes Kichern unter ihren Fenstern hörte, dem dann etwas dünn und schwach, aber ganz deutlich das Mendelsohn-Shakespearesche Morgenständchen: »Horch, horch, die Lerch im Ätherblau« folgte. Allmählich schwoll der Ton, und beim Refrain: »Steh auf, steh auf, du ho–olde Ma–aid, steh auf ...« fiel der Chorus der jungen Stimmen voll ein.
Tante Lenchen mußte lächeln, stellte sich aber taub. Nachdem die unten mit hörbarem Wohlbehagen ihre »holde Maid« noch des öfteren zum Aufstehen aufgefordert hatten, verzogen sie sich.
Papa Polten erhielt einen Hagel von kleinen Kieselsteinchen gegen seine Fensterladen, riß sie auf und zeigte scheltend seine weiße Nachtmütze, worauf der Schwarm der Unholde davonstob, in den taufrischen Park hinein.
Die Frühstücksglocke tönte.
»Fix, Mädels, ich hab' 'nen Wolfshunger!«
Friedel stürmte voran.
An der Verandatür, die vom Eßzimmer in den Garten führte, stand im maiwarmen Märzsonnenschein Tante Lenchen mit feierlicher Miene und trat der herantollenden Friedel gemessenen Schritts entgegen.
»Liebe Frida, ich gratuliere dir zu deinem siebzehnten Geb –«
»Alle Wetter, ja so!«
Friedel war sichtlich über alle Maßen überrascht.
»Verzeih, Tantchen, aber das hatt' ich ja wahrhaftig total vergessen!«
Das braune Mädchengesicht legte sich nun an der Tante runzelige Wange, und weiche Arme umfaßten der Tante Hals.
»Danke tausendmal, gutes Tantchen. Behalt die tolle Friedel lieb!«
Tante Lenchen war sichtlich gerührt und wollte eben eine salbungsvolle Antwort geben, da kam Papa Polten zur Tür herein.
»Vaterherz, Vaterherz!« Damit flog Friedel auf den Vater los. »Sag mal ›Wohl bekomm's‹ zu deinem Jungen. Siebzehn Jahre! Ein ehrfurchtgebietendes Alter, was?«
»Sehr, mein Jungchen! Der liebe Gott segne dich!«
Auch Papa Polten war sehr bewegt. Er zwinkerte ganz verdächtig mit den Augen. Auch Friedels große Grauaugen zeigten einen merkwürdigen Schimmer. Sie faßte des Vaters Kopf zwischen beide Hände, sah ihm erst tief in die Augen und drückte dann einen langen warmen Kuß auf seinen Mund, während sie ihm zugleich derb zausend in den Bart fuhr, wobei was Nasses über ihr Näschen herunterkugelte und just auf des Vaters Nase liegen blieb.
»Hast dich nicht recht trocken abgeputzt heute morgen, Vaterherz,« sagte sie schelmisch und wischte ohne weiteres mit ihrer flinken Hand das kleine nasse Etwas von des Vaters Gesicht. Beide lachten. Jetzt kamen die Freundinnen, die inzwischen rasch oben gewesen waren, zum Gratulieren heran. Jede hatte irgend eine niedliche Kleinigkeit für Friedel. Und Friedel flog aus einem Arm in den anderen.
»Frida, willst du nun nicht deine Geschenke sehen?«
Tante Lenchen fragte es von der Tür des Nebenzimmers aus.
Ob Friedel wollte.
Drinnen stand ein großer Tisch, dessen Mitte ein fix und fertig gestellter, vollständiger Gesellschaftsanzug einnahm. Fächer, Handschuhe, Taschentuch, Schuhe, alles war vertreten.
Das Kleid war von feinem rosa Kaschmir, sehr schlicht und jugendlich gemacht, und aus sechs jungen weiblichen Kehlen tönten sechs Ausrufe inbrünstigster Bewunderung.
Friedel stand etwas ungewiß davor. Sie konnte sich nicht recht in die rosige Pracht hinein denken. Unwillkürlich sah sie an ihrer karierten Bluse und dem geliebten blauen Rock hinunter und seufzte.
»Dein Anzug für heute abend, Frida,« sagte Tante Lenchen, jedes Wort betonend. »Wie gefällt er dir?«
Friedel zögerte einen Moment.
»Sehr gut, Tantchen, nur –«
Sie wollte sagen: »Fürcht' ich, werd' ich ihm nicht so besonders zu Gesichte stehen,« da fiel ihr Blick auf etwas, das ein Freudenrot auf ihre Wangen zauberte und die Augen aufleuchten machte.
»Vaterherz, die Stiefel!«
Sie hielt ein paar große Schaftstiefel wie für einen Jungen in der Hand und strich liebkosend darüber hin.
»Das sind ja Jungenstiefel, Friedel!« sagte Inge zweifelnd.
»Na eben! Mein größter Wunsch! Jetzt kann ich bei dem tiefsten Schmutz durch den Wald patschen, Hos –« ein zweifelhafter Blick auf Tante Lenchen – »ich meine Rock rein gesteckt und durch! Hurra, Vaterherz, das hast du gut gemacht.«
»Und das Kleid, Friedel?«
Papa winkte mahnend mit den Augen nach Tante Lenchen, die offenbar nur mit Mühe bei der Stiefelszene an sich hielt.
Friedel verstand den Wink.
»Das Kleid ist wundervoll, nur viel zu schön für deinen Jungen.«
»Drilchhosen und ein derber Kittel wären freilich besser angebracht!«
Tante Lenchen war schwer gereizt.
»Ach was, Herzenstantchen,« – Friedel schob mit Gewalt das abgewandte, zürnende Gesicht sich zu – »ach was, sollst mal sehen, wie dein Fräulein Nichte der Rosenpracht dort heute abend Ehre machen wird!«
»Wollen's erleben!«
Tante Lenchen seufzte tief und schwer.
*
Zu Mittag wurden die übrigen jungen Gäste erwartet.
Friedel schlug vor, »den Jungens« entgegenzugehen.
Tante Lenchen bestand in Anbetracht der abendlichen Ereignisse darauf, daß jede größere Anstrengung vermieden werde.
So lagerten sich die »jungen Damen« am Ende des Parks und erwarteten dort die Gäste.
Friedels Geburtstag zu Ehren hatte sich Mutter Natur im Kalender vergriffen und statt des rauhen März einen golden sonnigen Maientag angesetzt, so jung und taufrisch wie Friedels junge, taufrische siebzehn Jahre.
Durch das laublose Geäst der Bäume liebkosten die Sonnenstrahlen alle die blonden und braunen Köpfchen und spielten mutwillig über die rosigen Gesichter. Blaue und braune Augen blinzelten in die Pracht und leuchteten mit den Sonnenstrahlen um die Wette.
Sie wollten sich alle ausschütten vor Lachen.
Friedel war eben dabei, ihre Erlebnisse im Paradiese zu schildern.
Sie tat es so frisch und anschaulich, so lebendig und dramatisch, daß die jungen Gefährtinnen dort den jungen Gefährtinnen hier wie altbekannt und vertraut erschienen.
»Weißt du, wer mir von allen am besten gefällt?« sagte Inge träumerisch, »deine Irmgard von Priesen. Ich denke sie mir so sanft und so zart wie eine Blume.«
»Du bist wie eine Blume,
So hold, so zart, so rein,
oder wie es im Gedichte heißt,« deklamierte Friedel neckend. »Die Irmgard hätte zu dir gepaßt. Übrigens war sie nett, aber die Edith war mir doch lieber.«
»Hörst du noch von dort?«
»Wenig. Mir gruselt vor Feder und Tinte, und den anderen wird's gerade so gehen. Neulich hat mal die Edith geschrieben. Sie ist wieder in Berlin bei ihren Eltern. Irmgard soll an der Riviera sein, um einen bösen Husten zu kurieren. Im Paradies selbst sind nur noch drei oder vier, die mit mir dort waren, alle anderen sind neu. Die Tante war schrecklich gut, und auch Fräulein Lange war recht lieb. Aber daheim ist's doch am besten. Juhu!«
Erschreckt fuhren die Mädchen bei diesem Ausruf zusammen. Friedel war mittlerweile aufgesprungen, juhute wie toll drauf los und schwang immerzu ihr Taschentuch um den Kopf.
»Juhu! Juhu–hu–hu!«
»Was gibt's?«
»Was ist los?«
»Wo brennt's?«
Die Mädchen umringten sie und fragten es ganz entsetzt.
»Die Jungens, juhu, die Jungens!«
Friedels Falkenauge hatte weit, weit dahinten am Waldesrand die Erwarteten entdeckt. Allmählich konnten's auch die anderen unterscheiden.
Und nun schwenkten alle die Tücher hüben und drüben, und Jubel- und Willkommrufe tönten hin und her.
Inge besann sich zuerst.
»Aber, Friedel, es schickt sich eigentlich doch nicht, die Herren –« mahnte sie stockend.
»Ach was, schickt sich nicht – Herren,« spottete diese. »Bei uns auf dem Lande schreit man, wie einem der Schnabel gewachsen ist, und den Jungens werd' ich doch noch ein Willkommen zurufen dürfen?«
Inzwischen waren die jungen Herren herangekommen und nun gab's endlose Verbeugungen, Erkundigungen und Begrüßungen.
Mißbilligend sah das Friedel. Ihr wollte dieses Süßholzraspeln, wie sie's nannte, auf die Dauer nicht gefallen.
»So haben wir nicht gewettet,« platzte sie mit hellklingender Stimme plötzlich los. »Zum Süßholzraspeln und Komplimentemachen sind wir nicht beisammen, das fehlte noch! Wir wollen uns amüsieren. Holla he! Jetzt wird noch was gespielt, eh's zu Tisch geht, daß ihr auf andere Gedanken kommt.«
Man lachte, etwas verlegen, und Lilly stieß Friedel in die Seite.
»Du, wie kannst du!«
»Ach was, das dumme Getue ärgert mich immer! Kann man denn nicht ohne das beisammen sein?«
»Friedel!«
»Na, schon gut. Ich sage nichts mehr.«
»Also, meine Herrschaften, Fräulein Friedels Wunsch sei uns Befehl. Es wird gespielt!« nahm nun Max Metzler das Wort.
»Gedanken erraten!«
»Rebus!«
»Scharaden!«
Es wurde allerlei vorgeschlagen.
Friedel war alles zu zahm.
»Nichts zum Sitzen,« meinte sie. »Wie wäre Räuber und Gendarm?«
Das war nun den anderen zu toll. Schließlich einigte man sich auf »Hasch, hasch!«
Man ordnete sich zu Paaren.
Friedel blieb übrig, die sich freiwillig als erster »Hascher« erboten hatte.
»Ja aber, wie ist denn das, es sollten doch zwölf Herren sein?«
Jetzt erst merkte man, daß einer fehlte, und der sanfte Heinrich, genannt »Herr Müller«, entsann sich, daß ihm der Auftrag geworden war, seinen Kameraden, den Primaner Kurt Groß, zu entschuldigen, den ein Unwohlsein in der Nacht befallen hatte.
»Macht nichts,« meinte Friedel gleichmütig, »einer mehr oder weniger, darauf kommt's nicht an!«
Gleich danach aber wurde sie sich ihrer Unhöflichkeit als Wirtin bewußt. Eine feine Röte überzog ihr braunes Gesichtchen.
»Das heißt, es tut mir natürlich sehr leid –« versicherte sie.
Unter fröhlichem Lachen ging man dann zum Spiel über, und nun flogen die jungen Gestalten dahin, mehr oder minder geschickt, mit mehr oder weniger Grazie.
»Jetzt Anschlagen!« bat Friedel nach einer Weile.
Voll Lust schickte man sich zu dem neuen Spiele an.
Friedel wollte die erste sein, die die anderen suchte, und im Nu war die Gesellschaft zerstoben.
Lange brauchte Friedel nicht auf dem schwierigen Posten des »Anschlagers« auszuharren.
Ihren scharfen Augen, ihren flinken Füßen war schwer Konkurrenz zu machen, im Nu hatte sie sich durch den Anschlag nicht nur eines, nein so und so vieler gelöst.
Bald darauf kamen Tante Lenchen und Papa Polten vom Hause herübergeschritten, die Gäste zu begrüßen, und damit ging's zu Tisch.
Am Nachmittage bestand Tante Lenchen darauf, daß keinerlei Ermüdendes vorgenommen werde, ja daß von fünf Uhr an die jungen Mädchen still auf ihrem Zimmer bleiben sollten.
Um sieben Uhr sollte die Festlichkeit beginnen, von halb sieben Uhr an konnten die Gäste erwartet werden.
Die jungen Mädchen nützten denn auch die Zwischenzeit, ihre Toilette zu machen.
Auf den verschiedenen Betten lagen, bunt wie die Ostereier, die verschiedenen Staatsgewänder ausgebreitet.
Mit großem Staunen und ehrlicher Verwunderung sah Friedel, wie viele Wichtigkeit ihre Gefährtinnen dem feierlichen Akt des Ankleidens beilegten.
Gutmütig erbot sie sich zu allerhand Hilfeleistungen, wurde aber, nachdem man zuvor ihre Zofendienste willig angenommen, nach sehr kurzer Frist lachend abgewiesen.
»Laß nur, Friedel, du reißt mir ja das Haar aus!«
»Nicht so zufassen, du zerdrückst ja die Schleife!«
»Da, nun ist der Knopf ab. Warum hast du so dran gedreht? Jetzt muß ich ihn wieder annähen!«
»Au, mein Fuß! Bitte, ich schnür' die Stiefelchen lieber selbst.«
»Ihr seid mir ja eine dankbare Gesellschaft! Na, dann seht zu, wie ihr ohne mich fertig werdet!«
Friedel setzte sich auf den Tisch inmitten des Zimmers, baumelte mit den Beinen, spitzte die Lippen zum Pfeifen und begleitete das Tun und Treiben ihrer Gefährtinnen mit ätzender Kritik.
»Na nu, Inge, jetzt ließe ich's sein mit dem Haar. Siehst ja sonst aus wie die Dame, die sich im Friseurladen immer dreht und so holdselig lächelt!«
»Elsbeth und Mariechen sind so blank gescheuert wie Babettes Kupferpfannen am Sonnabend!«
»Lilly, Herzblatt, laß sein! Ein Stumpfnäschen wird nicht griechisch, und wenn man noch so sehr dran herumzupft.«
Lilly wurde feuerrot.
»Du, wie abscheulich!«
»Helene und Gerta, laßt jetzt doch mal die Geschwister Wendel an den Spiegel. Er wird sonst blind vom allzu langen Anblick solcher Schönheit!«
Helene und Gerta fuhren auf Friedel los. Ein lustiges Ringen entstand.
Friedel hob die Hände.
»Ich zaus' euch die Frisur!«
Aufschreiend fuhren Helene und Gerta zurück.
»Unhold!«
»Friedel, du mußt dich anziehen!«
»Ich brauch' nur zehn Minuten!«
Unbekümmert pfiff Friedel vor sich hin.
Die anderen waren nun in fieberhafter Tätigkeit.
Elsbeth und Mariechen steckten schon in ihren blauen Hüllen und sahen sehr niedlich aus.
Inge im schlichten weißen Kleid mit drei brennend roten Nelken im Gürtel war überraschend schön.
Staunend mußten sie die anderen immer wieder ansehen.
»Wie der Frühling,« meinte Lilly schüchtern und doch begeistert.
»Bravo, Lillychen. Und du bist unser Maiglöckchen!«
Der Vergleich war gut für die kleine zarte Lilly im duftigen weißen Kleide.
Gerta hatte ein cremefarbiges Kleid, Helene ein lichtgrünes, beide sahen sehr vorteilhaft aus.
Es rollten unten schon die Wagen vor.
»Flink, Friedel, 's ist die allerhöchste Zeit!«
Lilly sagte es fast flehend.
Friedel fügte sich.
Sie war wirklich unheimlich flink.
»Kurze Haare sind bald geordnet!« sagte sie lachend und fuhr sich mit dem Kamme durch das Kraushaar.
Lilly warf ihr das Rosengewand über.
»Dem wird mein braunes Gesicht mal hübsch stehen!« meinte Friedel ironisch.
Wortlos wurde sie von Lilly vor den Spiegel geführt.
Ganz erstaunt sah Friedel auf das, was ihr aus dem Glas entgegenblickte.
»Potztausend, nein so was! Bin ich das wirklich?«
Ihr naives Erstaunen war so urdrollig, daß die anderen sich ausschütten wollten vor Lachen.
Friedels Verwunderung war aber wirklich zum Teil wenigstens gerechtfertigt. Was sich da im Spiegel sehen ließ, sah der Alltagsfriedel so ganz und gar nicht ähnlich.
Das braune Gesichtchen war ja freilich dasselbe, das dunkle weichgeringelte Kraushaar dasselbe; dieselben auch die blitzenden Schelmenaugen und blanken Zähne, der rote Mund, die kleine, feine Nase. Aber über allem lag es wie ein verklärender Rosenschimmer.
»Ja, Kleider machen Leute,« erklärte Friedel. »Respekt, sag' ich!«
Und sie machte ihrem Spiegelbild eine tiefe, ehrfurchtsvolle Reverenz, um gleich danach Lilly zu fassen und wie toll mit ihr durchs Zimmer zu wirbeln.
»Rosenknospe!« neckte Lilly.
»Wenn du das noch einmal sagst, Maiglöckchen, dann sollst du das bereuen! Ich bin kein zimpferlicher Backfisch, ich bin meines Vaters Junge. Und der bunte Lappen da,« – verächtlich breitete Friedel die Falten ihres rosigen Rockes aus – »der kann mir gleich gestohlen werden; ich –«
Weiter kam sie nicht.
Es klopfte an die Tür.
Tante Lenchen streckte den Kopf herein.
»Laßt mal sehen!«
Errötend und kichernd standen die jungen Mädchen vor der Tante.
»Niedlich, sehr niedlich! Hübsch, wirklich hübsch! Allerliebst schön!« Ein bewundernder Blick streifte Inge.
»Nun, Frida, und du?«
Friedel knickste und bemühte sich, zu tun wie die anderen.
»Ganz passabel,« lobte Tante Lenchen, ein Mehr erlaubte die Tantenwürde nicht, obgleich der Tantenstolz durchleuchtete. »Ein ganz niedliches Rosenknösp –«
Die Mädchen lachten unbändig. Friedel schlug eine Pirouette und stürzte davon, die anderen hinterher; Tante Lenchen folgte und schüttelte verständnislos den Kopf.
»Erbarm dich! Wenn's nur erst morgen wäre!«
Unten im Saal war die Gesellschaft schon fast vollzählig versammelt. Es folgte eine allgemeine frohe Begrüßung. Die jungen Mädchen suchten zuerst ihre Mütter auf und jede der Mütter rückte verstohlen noch irgend etwas an dem Anzug des Töchterchens zurecht.
Friedel knickste vor dem Papa.
Beinahe abbittend und doch schelmisch hingen ihre Augen an den seinen.
»Vaterherz, dein Junge –«
»Ist zur Rosenknospe geworden,« ergänzte der alte Herr, behaglich schmunzelnd.
Aber Friedel warf ihm einen zornigen Blick zu, ballte die kleine Faust, hielt dann beide Hände an die Ohren und stürzte davon.
Verdutzt sah der Papa hinter ihr drein.
»Na nu! Was ist denn da nun wieder los? Unband!«
Max Metzler trat Friedel in den Weg.
»Friedel, Sie sehen ja heute abend wie die reine Rosenknospe aus, ich –"
Aber da kam er schlecht an.
»Daß Sie's nur wissen,« platzte Friedel los, »das verbitte ich mir. Ich lasse mich nicht so ohne weiteres beleidigen. Ich –«
»Aber, ich bitte Sie, Friedel, das ist doch keine Beleidigung, wenn ich sage, Sie seien eine Ro–«
»Sagen Sie das dumme Wort nicht noch einmal, oder ich werde wild. Ja, das beleidigt mich! Ich bin keine Rosenknospe, verstehen Sie! Ich will keine Rosenknospe sein! Für was halten Sie mich? Kommt da erst die Lilly mit dem einfältigen Wort, dann die Tante, dann der Papa und nun auch noch Sie! Himmel, bin ich denn so 'n süßlicher Jammerlappen von Backfisch? Ich bin kein Backfisch, verstehen Sie, ich will kein Backfisch sein! Ich bin Papas Junge und damit basta!«
Die hellen Zorntränen standen ihr in den Augen.
Max war verblüfft, belustigt und auch verlegen. So ein kleiner Feuerteufel! Dabei tat sie ihm leid, denn sie war ernstlich gekränkt, das konnte er sehen.
»Nun, nun, Jungfer Brennessel –« lenkte er ein.
Da mußte Friedel hell auflachen. Der so derb Abgekanzelte tat ihr leid. Da war ihr die Zunge wieder einmal mit dem Verstand durchgegangen.
»Das hör' ich schon lieber,« sagte sie mit leicht verlegenem Lachen und hielt errötend Max die Hand hin.
Der schlug ein, und der Friede war geschlossen.
Das Streichquartett, das für den Abend als »Orchester« engagiert war, setzte zum ersten Walzer ein, und Friedel flog mit Max dahin.
Rosenknospe und Brennessel, Backfisch und Papas Junge waren vergessen – der frohe Augenblick forderte sein Recht.
Tanz folgte auf Tanz. Galopp auf Walzer und Polka auf Galopp. Dazwischen Quadrillen. Die Freude stieg höher und höher. Friedel war immer mitten drin, wo es am lustigsten zuging, und in nichts zeichnete sich ihr Betragen vor dem der andern jungen Mädchen aus. Der fehlende Tänzer wurde nicht vermißt. Die andern tanzten immer reihum, und wo der Mangel wirklich fühlbar werden konnte, bei Quadrillen, da trat einer der älteren Herren ein.
»Sehen Sie nur, wie niedlich ist heute abend die kleine Polten!«
»Das finde ich auch. Ich wußte gar nicht, daß sie so hübsch ist.«
»Ja und so munter und so guter Laune dabei. Mein Moritz sagt -«
Was »mein Moritz« sagte, konnte Tante Lenchen nicht mehr hören, aber was sie gehört hatte, war gerade genug. Sie wiegte sich in den seligsten Träumen. Ihre »Methode« würde sich doch noch glänzend bewähren!
Zehn Uhr! Jetzt sollte die Eßpause eingeschoben werden.
In den Nebenzimmern standen einzelne gedeckte Tische und Tischchen. Dorthin begab sich nun die ganze Gesellschaft.
Die Jugend saß zusammen in einem Zimmer.
Friedel war wirklich eine allerliebst aufmerksame, muntere Wirtin.
Tante Lenchen ihrerseits verfehlte nicht, sobald eine Schüssel kam, bei deren Zubereitung Friedel nur im geringsten die Hand im Spiele hatte, diese jedesmal mit der Bemerkung weiterzugeben, »das hat meine Nichte gemacht«, »dabei hat meine Nichte geholfen!«
Sie wollte nun heute einmal absolut mit Friedel als »Nichte« glänzen.
Deren Talenten geschah denn auch allseitige Würdigung.
Auch drinnen im Zimmer der Jungen mußte Dörte, die dort servierte, auf der Tante strengen Befehl immer wiederholen: »Das hat unser Freileinche gemacht.« Die Mädchen ergingen sich dann in Ver- und Bewunderung. Die jungen Herren nicht minder.
Friedel ließ das eine Weile geschehen und lachte dazu wie ein Kobold.
»Sag mal, Dörte, glaubst du das selber?« fragte sie dann fast streng.
Dörte sah sie ungewiß an.
»No, awer doch geholfe,« lenkte sie dann ein.
Friedel sagte nichts und sah sie nur fest an.
»No – no – awer – awer doch zugeguckt!«
Ein schallendes Gelächter lohnte diese Rückkehr zur Ehrlichkeit.
Friedel lachte am tollsten.
Beim Dessert winkte Friedel die Dörte heran.
»So, Dörte, nun nimm mal dort die Schüssel mit den Schokoladebonbons, nicht die, die rechts, bitte, und dann gib's mal hier herum und sag dreist: die hat unser Freileinche gemacht, denn die hat das Freileinche wirklich ganz allein gemacht.«
Dörte grinste und tat, wie ihr befohlen.
»Bitte zuzugreifen, meine Herrschaften,« nötigte Friedel. »Diesmal hoffe ich, meiner vielgerühmten Kochkunst wirklich Ehre zu machen!«
Die jungen Leutchen ließen es sich nicht zweimal sagen. Mit siebzehn Jahren steht man mit Schokoladebonbons noch nicht auf gespanntem Fuße, und selbst mit zwanzig und als Jüngling ist man in dieser Beziehung nur selten Kostverächter.
Alle griffen tüchtig in die Schüssel, um zu beweisen, wie Friedels Kochkunstresultat sie interessierte.
Friedels Schelmenauge flog von einem zum andern.
Max Metzler war der erste, der eins der Bonbons zum Munde führte. Er biß hinein – sein Gesicht dabei zu sehen, war ein Schauspiel – erst schien er wie zu Stein erstarrt, dann wollte er eben anfangen, zu prusten und zu spucken, da traf ihn ein kräftiger Ellbogenstoß seiner Nachbarin – Friedel. Verständnislos blickte er sie an. Dann blitzte ein antwortender Strahl in seinen Augen auf. Mochten die andern doch auch auf den Leim gehen. Vorsichtig entfernte er mit dem Taschentuch, was ihn zum Prusten und Spucken reizte.
Und er und Friedel beobachteten die erwartete Wirkung bei den andern.
Und da ging's schon los.
»Alle Wetter!«
»Was ist denn das?«
»Ja, Friedel, ums Himmels willen –«
»Schändlich, wirklich schändlich!«
So prasselte es über Friedel her, die sich vor Lachen ausschütten wollte.
»Nein, aber so was!«
»Wollen Sie uns vergiften?«
»Sand, wirklicher Sand!«
»Na, Kinders, macht doch kein solches Aufheben, ich –« Friedel mußte sich erst noch einmal auslachen, die entsetzten Gesichter waren zu komisch – »ich hab' 'n bissel Sand in die Bonbons getan, euch zur Überraschung. Bei den bekannten sieben Pfund im Jahr –"
Weiter kam sie nicht.
Unzweideutige Laute aus dem Nebenzimmer zeigten, daß sich dort eben dieselbe Szene abspielte wie kurz zuvor hier.
Friedel stand auf und wurde ganz blaß.
»Je, hat denn das Unglückswurm, die Dörte –«
Ganz schwach sank Friedel auf ihren Stuhl zurück.
Eben hörte man Dörte im Nebenzimmer ganz papageimäßig wiederholen: »Das hat unser Freileinche gemacht!«
Dann Tante Lenchens kläglich weinerliche Stimme: »Erbarm dich, was ist das nun wieder für ein Streich!«
Friedel sprang empor, hochrot im Gesicht.
»Kinders, der Sand war doch nur für euch, und nun hat die Dörte –«
Damit riß sie eine noch volle Schüssel mit Schokoladebonbons vom Büfett und stürzte ins Nebenzimmer.
Verlegen trat sie dort an die nächstsitzende Dame, Frau Regierungsrat Metzler, heran.
»Verzeihung,« sagte Friedel und ihr Gesicht war recht zerknirscht dabei, »Verzeihung, aber der Scherz war wirklich nur für die Jugend bestimmt, Dörte hat aus Mißverständnis – darf ich bitten!«
Damit bot sie die volle Schüssel an, die sie in Händen hielt.
Als Frau Regierungsrat zögerte und etwas scheu auf das Gebotene sah, sagte Friedel treuherzig: »Sie können's getrost wagen, gnädige Frau, diesmal sind's wirkliche Fondants und auch wirklich von meinen höchsteigenen kunstfertigen Händen verfertigt. Sehen Sie!«
Damit haschte Friedels flinke Hand ein Bonbon, die blinkenden Zähne gruben sich hinein, und die vorgezeigte Hälfte wies wirklich einen weißen cremefarbigen Inhalt auf.
Friedels reuige Miene, die flehenden Schelmenaugen waren so unwiderstehlich, daß sie überall freundliche Abnehmer für das Produkt ihrer Kochkunst fand.
Man lobte sie sehr, sie nahm's etwas rot, etwas ungewiß hin. Der Papa drohte mit dem Finger, Tante Lenchen aber sah so eisig und so unnahbar aus, daß sich Friedel mit ihrer Sühneschüssel gar nicht an sie heranwagte.
Drinnen aber, bei den Gefährten, wurde sie dann mit Hallo empfangen. Die ließen sich die Sühnebonbons herrlich schmecken. Ab und zu vergriff sich eines und erwischte ein mit Sand gefülltes, und bei dem darauffolgenden Prusten und Spucken lachten die andern unbändig.
Und die Freude stieg.
Papa Polten ließ Sekt auffahren.
Die jungen Herren entfalteten eine ganz wunderbare Geschicklichkeit im Entkorken der Flaschen und Füllen der Gläser.
Der »sanfte Heinrich« namentlich war wie verwandelt. Seine scheuen Augen blitzten förmlich unternehmend; er schwadronierte immerzu auf die neben ihm Sitzenden, die blonden Wendels, ein, warf sich in die Brust, drehte imaginäre Schnurrbartspitzen, kurz, spielte den Schwerenöter ohnegleichen. Zuletzt erhob er sich, in der Absicht, eine Rede auf »die Jubilarin«, wie er Friedel konsequent nannte, zu halten.
Sie hatten ihm alle belustigt zugesehen, die Wandlung war zu augenfällig.
»Meine Herrschaften,« begann er und seine krähende Stimme klang noch krähender, »meine Herrschaften, wir feiern heute ein Fest – ein Fest – ja, ein Fest –«
»Das wüßten wir nun,« warf Max Metzler trocken dazwischen.
»Wir feiern heute ein Fest –«
»Ei, ja doch!«
»Ein Fest –«
»Weiter – hört, hört!«
»Wir feiern heute ein –«
»Fest!« brüllte der ganze Chorus.
Der sanfte Heinrich ließ sich aber nicht irre machen.
»Wir feiern heute ein Fest, das –«
Schallendes Gelächter unterbrach ihn. Zwischenrufe: »Bst, bst – weiterreden lassen!« Darauf Stille.
»Wir feiern heute ein Fest –«
Man gab den Widerstand auf, und der sanfte Heinrich fuhr unbeirrt fort: »Ein Fest, das – das –«
»Weiter! Zum Kuckuck!«
Friedel hatte es mit schallender Stimme gerufen.
Der sanfte Heinrich hob ihr sein Glas selig lächelnd entgegen.
»Friedel – Fräulein Friedel – famoser Kerl – Schmollis trinken!« rief er ihr mit lallender Zunge zu. Der gute Junge hatte zweifellos ein bißchen zu viel oder zu schnell von dem Wein getrunken.
Friedel sah ihn ungewiß, fast etwas erschreckt an.
Max Metzler packte ihn am Ohrläppchen. »›Sanfter‹, nicht über die Schnur hauen!«
Da schlug die Stimmung bei dem Redner plötzlich um.
»Die Sterne, die begehrt man nicht.
Man freut sich ihrer Pracht
Und mit Entzücken blickt man auf
In jeder hellen Nacht!«
deklamierte er pathetisch und dann:
»Und mit Entzücken blick' ich auf
An jedem hellen Tag,
Verweinen laß die Nächte mich,
Solang ich weinen mag!«
Bei den letzten Zeilen brach ihm die Stimme. Laut aufschluchzend warf er sich Max um den Hals, der ihn eilig hinausführte, wogegen sich der »Sanfte« zuerst sträubte, es dann aber geduldig über sich ergehen ließ.
Die Mädchen, auch Friedel, hatten sich erschrocken erhoben.
»Was fehlt ihm denn?«
»Um Himmels willen!«
»Ist er krank?«
So fragten und riefen sie durcheinander; ja Elsbeth und Mariechen waren nahe daran, in Tränen auszubrechen.
»Beunruhigen Sie sich nicht, meine Damen,« rief da Max Metzler, der eben wieder zur Tür hereinkam. »Die Krankheit ist nicht gefährlich. Ruhe und kaltes Wasser werden ihn bald kurieren!«
Max lachte verschmitzt vor sich hin, und die Freunde alle stimmten ihm bei. Die jungen Mädchen begriffen jetzt und schwiegen.
»Nein, so was!« sagte nur noch Friedel. »Und just der ›Sanfte‹!«
»Stille Wasser gründen tief!« sagte lachend Max.
»Ja aber, nun fehlt noch ein Tänzer!«
Elsbeth sagte es ganz weinerlich.
»Kinders, das gibt einen Hauptspaß, da tanz' ich als Herr!«.
Friedel war selig und wirbelte einstweilen im voraus wie toll um den Tisch herum.
»Ja, aber –«
Elsbeth schien nicht so ganz getröstet.
Friedel mißverstand den Einwurf.
»Ach was, ob ich Hosen anhabe oder nicht, das ist doch ganz egal. Meines Vaters Junge braucht so was nicht. Wartet mal übrigens, ich will mir schon was zulegen, was mich als Herr kennzeichnet, wenn ihr das lieber habt!«
Damit war sie wie ein Wirbelwind zur Tür hinaus.
Einige Minuten darauf war sie wieder zurück mit einem kohlschwarzen, dick aufgetragenen Schnurrbart im Gesicht. Die Spitzen waren unternehmend bis fast an die Augenwinkel hinauf gezeichnet.
Allgemeines Hallo empfing sie.
Zugleich hörte man die Musik vom Saale her.
Friedel ging auf Elsbeth zu und bot ihr galant den Arm. »Mein gnädiges Fräulein, dürfte ich die Ehre haben, Sie zum Kotillon zu führen?«
Elsbeth legte lachend die Hand auf den dargebotenen Arm.
Alles lachte und folgte dann paarweise.
Drüben im Saal war's herrlich kühl. Die Geigen lockten so lustig. Friedel legte den Arm um Elsbeth und wirbelte mit ihr herum.
Tante Lenchen erschien unter der geöffneten Tür. Die alte Dame war etwas rot und erhitzt, lächelte aber sehr befriedigt, offenbar war bei der Bewirtung alles nach Wunsch gegangen.
Sie ließ den Blich über die tanzenden Paare fliegen. Eben raste Friedel mit Elsbeth an ihr vorüber. Friedel nickte ihr strahlend zu.
Wie kurios sah nur das Kind aus? Die Tante hatte es in dem Wirbel nicht so recht unterscheiden können, aber es war etwas Fremdes im Gesicht, das ihr auffiel. Und weshalb tanzte Friedel als Herr? Sie, die Tante, hatte das doch verboten!
Tante Lenchen versuchte, hinter dem Paare herzuhuschen, aber immer wieder kam ihr eines der andern Paare in den Weg; sie schienen sich förmlich dazu verschworen zu haben. Und jetzt kamen auch die älteren Herrschaften alle herüber, und Tante Lenchen mußte sorgen, daß die Damen Sitze erhielten. So geriet ihr ihr Vorhaben für den Augenblick aus dem Sinn.
Ein Raunen und Flüstern, lachende Blicke, die alle Friedel galten, machten sie aufs neue aufmerksam.
Der Walzer war zu Ende, die tanzenden Paare promenierten jetzt und Friedel beugte sich so angelegentlich über ihre Dame, suchte ihr so beflissen Kühlung zuzufächeln, kurz, ahmte so genau und treu nach, wie sie es die jungen Herren tun sah, daß allgemeine Heiterkeit entstand.
Noch kehrte Friedel Tante Lenchen den Rücken. Die Tante ging zu ihr hin und faßte sie am Arm. Friedel wendete ihr lachendes Gesicht – Tante Lenchen mußte sich fest an Friedels Arm halten, um nicht umzusinken.
»Was – was bedeutet –?«
Tante Lenchen wurde ganz schwach.
Jetzt erst fiel Friedel ihr Kohlenschnurrbart wieder ein, den sie inzwischen ganz vergessen hatte.
»Ja, Tantchen, ich –«
Aber Tante Lenchen war urplötzlich weg wie eine Sternschnuppe. Friedel sah ihr ganz verdutzt nach.
Alsbald erschien sie wieder in der Tür und zog Papa Polten hinter sich her.
Der Papa stapfte, wie es schien, etwas ärgerlich hinterdrein.
Friedel dachte erst daran, schnell auszukneifen, ein Blick aber in die teils lachend, teils besorgt auf sie gerichteten Gesichter der Umstehenden machte sie auf dem Posten ausharren. Furchtlos warf sie das Köpfchen zurück.
Papa Polten kam herbei und blieb wie versteinert stehen, als er sein Töchterlein mit dem so seltsam verzierten Antlitz sah, dann mußte er dröhnend auflachen. Alsbald aber faßte er sich.
»Was soll das heißen?« fragte er streng.
Friedels Zünglein lief wie geschmiert.
»Ja, Papa, siehst du, es fehlt doch schon sowieso ein Herr, und nun ist der Sanfte auch noch« – sie besann sich einen Augenblick – »er kann eben nicht mehr tanzen, und die Elsbeth muß doch einen Tänzer haben, sie ist doch unser Gast, und damit sie bei mir nicht gar zu kurz kommt, Vaterherz, da hab' ich mir eben einen Schnurrbart gemalt und –«
Der Unband suchte sich an den Papa heranzudrängen, den Arm um seinen Nacken zu schlingen, und den blitzenden Schelmenaugen waren offenbar sonst noch allerhand Freveltaten zuzutrauen.
Papa Polten dachte an den Kuß vom Abend zuvor und hätte ums Haar vor sich hingekichert. Ein Seufzer, den Tante Lenchen aus den äußersten Fußspitzen heraufzuholen schien, brachte ihn aber zur Besinnung.
»Drei Schritt vom Leibe!« kommandierte er und schob Friedel von sich. »Stillgestanden! Achtung!«
Friedel stand stramm. Ein Kichern lief durch die Reihen, nur Lilly hatte sich ängstlich wie zum Schutz an die Freundin herangedrängt.
»Tollheiten und kein Ende,« polterte nun der alte Herr, und man fühlte ordentlich, wie er sich dazu künstlich steigern mußte. »Tollheiten und kein Ende! Abgewaschen, verstanden! Rechtsum kehrt, vorwärts marsch!«
Friedel zögerte einen Augenblick. Ein bittender Blick traf den Papa von unten herauf. Der wappnete sich dagegen mit erneutem Poltern.
»Verstanden? Vorwärts marsch!« wiederholte er.
Friedel hob nun die Hand militärisch grüßend empor zum glühenden Gesichtchen. Sie schwenkte sich auf dem Absatz, daß die Röcke flogen.
»Zu Befehl!« kam's mit klingender Stimme, und sie marschierte wie ein Soldat zur Tür. Lachend machte man ihr Platz.
Tante Lenchen eilte nach, ob zu helfen oder ihrerseits zu Gericht zu sitzen, wußte sie wohl selber nicht genau.
Draußen vereinigte sie dann beides mit viel Geschick.
Friedel, da sie den Kummer der armen Tante sah, versprach aufs bestimmteste, das solle für heute ihre letzte Dummheit gewesen sein. »Aber weißt du, Tantchen,« meinte sie, »als Herr muß ich doch tanzen. Sieh, Elsbeth kann das nicht, und meines Vaters Junge« – sie schlug sich hörbar auf den Mund – »ich meine, mir macht's weiter nichts aus!« Tante Lenchen seufzte nur, sagte aber nichts.
Strahlenden Gesichts kam Friedel danach wieder in den Saal.
Lilly und Max eilten ihr ganz besorgt entgegen.
»Den Kopf hat's nicht gekostet, Kinders, bloß den Bart,« rief sie fröhlich. »Na, dann muß es auch ohne gehen! Die Tante sieht jetzt nach dem Sanften, vielleicht kommt der bald wieder.«
Die Musik setzte ein.
»Zum Kotillon, flink, zum Kotillon!« Und Friedel flog auf Elsbeth zu, der sie äußerst galant den Arm bot.
Papa Polten hatte sich zum Festordner bei diesem Tanz erboten. Max wollte ihm dies Amt abnehmen; der alte Herr aber wollte davon nichts hören.
»Nein, mein Sohn, ich hab's Jungchen – vielmehr meiner Tochter versprochen« – dem alten Herrn war ganz heiß geworden bei diesem Versehen; unsicher sah er Max an, der aber zuckte mit keiner Miene. »Ja, also, ich hab's versprochen; wenn Sie mir aber helfen wollen, soll mir's lieb sein.«
Und Max half, und die beiden zusammen machten ihre Sache ausgezeichnet.
Bei der Blumentour entstand eine Schwierigkeit.
War die »Tochter des Hauses« hier als Herr oder als Dame zu betrachten? Friedel löste den Knoten.
Sie nahm das Sträußchen, das Max ihr bot, und befestigte es am Gürtel.
»So, damit ist meiner Mädchenhaftigkeit Genüge geschehen. Jetzt bin ich nur noch Junge!«
Und damit flog sie hin, raffte von Blumen zusammen, was sie erhalten konnte und beglückte damit die Gefährtinnen.
Zu sehen, wie drollig sie ihre Rolle als Herr durchführte, gewährte den zuschauenden älteren Herrschaften das größte Vergnügen. Die Herren namentlich ließen sie nicht aus den Augen, und Papa Polten durfte manches Kompliment über »seinen Jungen« einheimsen, was er denn auch mit behaglichem Schmunzeln tat.
Tante Lenchen dagegen verhielt sich sehr ablehnend und hörte nur mit sauersüßer Miene, was ihr die Damen über ihr »Fräulein Nichte« sagten. Sie wußte ja ohnehin, wie es gemeint war. Sie konnte ja sehen, daß Friedel frisch und munter, natürlich und unterhaltend, daß sie die Lebendigste, Fixeste unter den Gefährtinnen war. Aber Tante Lenchen wußte auch, daß keine der Damen ihr eigenes wohlerzogenes Töchterlein gerne so hätte haben mögen.
»Erbarm dich!« seufzte sie bei sich, »wenn nur die Sache zu Ende wäre! Einmal und nicht wieder!«
Und die »Sache« ging auch zu Ende, wie alles zu Ende geht, alle Sachen, alle Freuden und alle Schmerzen.
Der letzte Fiedelstrich war verklungen, das letzte Abschiedswort gesagt, das letzte Räderrollen verhallt.
Alle waren nun fort, bis auf die sechs Freundinnen, die den nächsten Tag noch hier verbringen sollten. Ja, alle waren sie fort, selbst den sanften Heinrich hatte Max Metzler zu sich in den Wagen gehoben und dem heimischen Herde zugeführt.
Die letzte Kerze war erloschen in den Festräumen, das letzte Fenster, der letzte Laden geschlossen.
Drei Räume nur waren noch erleuchtet.
In seinem Zimmer dampfte Vater Polten wie ein Fabrikschlot und starrte dabei nach der Tür, wo eben Tante Lenchen mit knallendem Nachdruck verschwunden war. Ihre Worte hallten ihm noch im Ohre: »Daß du's nur weißt, Konrad, von heute an gebe ich meine Erziehungsexperimente an deinem Kinde auf. Ich erkläre mich geschlagen. Aus der Distel wird mit aller Mühe und aller Pflege keine Rose, aus dem Unband kein gesittetes Mädchen. Sieh nun allein zu, wie du fertig wirst. Ich wasche meine Hände in Unschuld!«
So hatte Tante Lenchen gesagt und dann die Tür zugeworfen. Sie war schwer gereizt, die Schwester, das hatte er hören können.
Vater Polten dampfte und grübelte. »Was hatte denn ›Jungchen‹ groß verbrochen? Der Schnurrbart – je nun, das war eben wieder der Übermut! Jungchen war ja noch so sehr jung. Wie alt war das Kind doch heute geworden? Fünfzehn? Sechzehn? Siebzehn? Weiß der Himmel, siebzehn! – Hm, hm!«
Papa Polten verlor sich in Sinnen, und der Dampf um ihn wurde immer undurchdringlicher.
Tante Lenchen oben aber saß auf der Bettkante. Sie hatte soeben bedächtig die umfangreiche weiße Nachtmütze aufgesetzt und starrte nun traumverloren ins Licht. Sie hielt die Hände gefaltet, und zwei große, glänzende Tränen liefen ihr der Nase entlang und tropften auf die blütenweiße Nachtjacke.
»Ich hab's gut gemeint, weiß Gott, und ich hab' mein Redlichstes getan, das Krumme grad zu machen. Ich kann nicht mehr! Großer Gott im Himmel droben, schütze das Kind und laß es einst die Fehler andrer nicht zu schwer büßen. Denn das Kind ist gut – das Kind ist gut – treu wie Gold und ehrlich und wahr und –«
Tante Lenchen starrte noch eine Weile vor sich hin, dann löschte sie das Licht.
Nicht weit davon – es lagen ein paar Zimmer dazwischen – glitt der Schein einer Hängeampel über sechs Betten, sechs blütenweiße Kissen, in die sechs Köpfchen sich wohlig eingewühlt hatten. Sechs glückselige Gesichter traf und liebkoste der Strahl, und sechs Paar junge Augen blinzelten mehr oder minder aufgeregt, schwärmerisch, träumerisch oder auch schläfrig ins Licht.
»Friedel!«
»Ja?«
»'s war göttlich!«
»Herrlich!«
»Himmlisch!«
»Reizend!«
Friedel gähnte hörbar.
»So, freut mich!«
»Friedel, hast du dich denn nicht auch königlich amüsiert?«
»Ich, o ja!«
»Dein ›Ja‹ klingt aber so matt!«
»Ich bin jetzt müde!«
»Ich könnte weiterplaudern bis zum Morgen!«
»Sollte mir grade fehlen!«
Und Friedel gähnte ein zweites Mal laut und vernehmlich.
»Tu mir den einen Gefallen, Lilly, und blase das Licht aus.«
Lilly schlüpfte gehorsam vom Lager und tat, wie ihr befohlen.
Nun blinzelte der Mond durchs Fenster.
»Guter Mond, du gehst so stille« – klang's von einem Bette her.
»Pst!« ließ sich warnend eine andere Stimme vernehmen.
Inge Dahlen konnte gerade in den Mond sehen, und da lag sie und starrte hinein mit großen, weitgeöffneten Augen.
Es war so herrlich, so schön heute gewesen. War das das Leben? Und Mutter sagte doch, das Leben sei traurig. Ach, Mutter war auch schon alt, und der arme Papa so lange krank, und die Pension so knapp und – und – ja, sie war ja ein armes Mädchen; ihr würde das Leben wohl nicht immer so lachen wie heute und –
Inge seufzte tief und schwer. Sie flüsterte etwas, das niemand verstand.
Lilly schlief schon halb.
»Gute Nacht, gute Nacht, ihr alle; mir fallen die Augen zu. War das schön heute!«
Die Mädchen lachten noch ein wenig, sie flüsterten noch ein wenig. Allmählich entschlummerten sie alle.
Friedel indessen wachte noch.
In buntem Wirbel zog das Bild des Abends noch einmal an ihr vorüber.
Einmal lachte sie leise auf. Sie mußte an Max denken, wie der als erster in das Sandbonbon biß. Dann kam ihr der Schnurrbart in den Sinn und Tante Lenchens entsetzte Miene.
Wieder lachte sie und seufzte dann fast zu gleicher Zeit.
»Armes Tantchen! Hätte ich den Unsinn gelassen. Wie sie sich grämen wird! Ja, Papas Junge muß jetzt ernstlich einmal darüber nachdenken, ob er sich nicht bessern kann!«
Ein sanftes Lächeln verklärte das braune Mädchengesicht, das da in den Mond blinzelte. Und der Mondstrahl küßte die großen glänzenden Augen zu. Auch Friedel war im Traumland drüben.