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12.
Mütterchen Sylvias Lohn

Wuchtig brauste Orgelklang durch die Kirche.

Die Türen wurden weit zurückgeschlagen.

»Sie kommen! Sie kommen!«

Die Neugierigen drängten nach vorn in den Bänken, die hinten waren, hoben sich auf die Zehenspitzen. Oben auf der Empore sah man Kopf an Kopf.

In den Stühlen um den Altar waren nur wenige Hochzeitsgäste versammelt – bis jetzt waren die Schauenden nicht zu ihrem Recht gekommen.

Umso mehr dachten sie, sich jetzt schadlos zu halten.

»Sie kommen! Sie kommen!«

Durch die weitgeöffnete Kirchentür strömte eine Fülle des goldensten Sonnenlichts herein, hinaus strömte eine Fülle der weihevollsten Klänge.

Inmitten dieser Licht- und Tonflut, wie davon verklärt, gehoben, getragen, schritt eine zarte, schmale, weiße Gestalt, von duftigen Schleierwolken umwallt – Sylvia. Sie hatte das braune Gesichtchen gehoben, und in dem leuchtenden Blick der Braunaugen lag eine Welt von Glück.

Dem Mann an ihrer Seite stand dasselbe im Gesicht geschrieben – man sah, die beiden waren eins – eins in der Liebe, die ihnen das Geleite durchs Leben geben sollte.

Die da gekommen waren, bloß zu schauen und schöne Kleider zu sehen, die kamen nicht auf ihre Kosten. Die aber da waren aus warmem Interesse an Sylvias Glück, die »Mütterchen Sylvia« kannten in ihrem Lieben und Tun, die konnten ihre helle Freude haben an dem Geleite, das hinter dem Brautpaare herschritt.

Wo sonst in bunter Folge Paar an Paar sich reiht, in Frühlingsfrische und Anmut, wo farbenfrohe Gewänder mit den Frühlingsblumen wetteifern in leuchtender Farbenpracht, wo Gespielinnen die Braut, Freunde den Bräutigam zum Altare führen, da folgte hier dem Paare ein ganz verschiedenes Geleite.

Nur sechse waren's, und zwar sechs »Männer«, wie Jörg und Heinz am Morgen behaupteten und sich stolz dazu in die Brust warfen. Der Vater und Gerhard, Achim und Dieter, Jörg und Heinz.

Sylvia hatte es sich so ausgebeten, und wahrlich, ein stolzeres Geleite war noch keiner Braut gefolgt. Keines jedenfalls, dessen ganzes Sinnen und Denken einzig so der Braut galt und ihrem Glück.

Das empfanden alle, die diese blonden Enaksgestalten sahen, die in die blitzenden, warmen Blauaugen blickten.

Doktor Eriksen mit den drei erwachsenen Söhnen, Riesen gleich ihm, mit Jörg und Heinz, die's Vater und Brüdern an Kraft und Wuchs nachzutun versprachen – es war wirklich ein stolzes Bild. »Des loß ich mer gefalle,« brummte ein altes Mütterchen, »die do hinne sein mehr wert als wie die Mädercher in ihre bunte Fähncher, die wo sonst hinnerm Brautpaar hertrippele. Do dät' ich auch noch mitmache, wenn's sein mißt'.«

Und sie lachte und riß den zahnlosen Mund auf.

»Die do vorn is awer auch mehr wert als manch eine, des sag' ich Ihne, Webern, die verdient's, wann se e Extrawerschtche gebrate kricht. Des Sylvche, du lieber Himmel, was hätt' ich ohne des Sylvche angefange, wie selwigs Mol mein Kind de Scharlach gehabt hat. Ich –«

Brausender, gewaltiger noch setzte die Orgel ein, die hehren Klänge verschlangen jeden anderen Ton.

Die Kirchenbesucher hatten sich alle erhoben, fromm hielten sie die Hände gefaltet. Vorne am Altar stand das Brautpaar vor dem Geistlichen.

Die Orgel verstummte.

Und eine Stimme, tief und voll wie der Orgelton selber, setzte nun ein, die Stimme, der Sylvia schon in so mancher ernsten Stunde gelauscht hatte. Sie hatte am Sarg der Mutter geredet, hatte Sylvia vorbereitet zur Einsegnung, hatte das Gelübde der jungen Christin entgegengenommen. Sie hatte zuletzt Alf-Bübchen zu Grabe geleitet. Heute – heute sollte sie Sylvias Glück einsegnen.

»O du frommer und getreuer Knecht, du bist über wenigem getreu gewesen, ich will dich über viel setzen, spricht der Herr.«

So setzte die Stimme ein.

Und dann redete sie von Sylvias jungem Leben, an das so ernste und große Pflichten so frühe herangetreten waren. Wie dies junge Leben ein Leben der Pflicht gewesen sei und somit ein Leben des Glücks. Wie treue, heilig-ernste Pflichterfüllung es würdig gemacht, neue, große, schöne Pflichten auf sich zu nehmen.

»Neue, große, schöne Pflichten und, so Gott will, neues großes, schönes Glück. Denn jede voll erfaßte und erfüllte Pflicht dient einzig dazu, den Hort des Glückes in der eigenen Brust zu mehren. Wohl dem, der früh beginnen darf, solchen Hort anzulegen, wohl dem, der ihn wahrt und hütet wie sein heiligstes Gut. Wen der Herr lieb hat, dem gibt er Pflichten, und wem er wohl will, dem schenkt er Kraft, sie zu erkennen und auf sich zu nehmen. Suchet die Pflicht, weicht ihr nicht aus, das ist das Geheimnis des dauernden Glücks im Leben. Des Glückes zartes Pflänzchen sprießt einzig von innen heraus aus der Menschenbrust, und köstlich muß der Boden bereitet sein, auf dem es wachsen und blühen soll. Pflichterfüllung, ernste, treue Pflichterfüllung, das ist der Grund, in dem es am liebsten gedeiht. Und dieser gute Grund ist ihm bereitet hier in den Herzen der beiden, die da stehen, den Bund fürs Leben zu schließen.«

Bald rot, bald blaß war Sylvia. Tränen strömten ihr über die Wangen. Sie wehrte ihnen nicht. Sie hielt die Hände gefaltet, und ihr ganzes Wesen löste sich auf in einem Dankgebet gegen Gott, der ihr Pflicht und Kraft zugleich gegeben, in ein Flehen, ihr beides auch fernerhin zu gewähren in Liebe und Gnade. Und jetzt die Frage. »Willst du dem hier gegenwärtigen usw. usw.?«

Hell und klar, wie ein Schwur klang ihr Ja durch die Kirche. Sie wollte, ja, sie wollte sein treues Weib sein, und daß sie daneben die treue Tochter und Schwester bleiben durfte, das war ein Geschenk des Herrn in seiner besonderen Gnade.

Mit herzlichem Blick sah Sylvia beim Ringwechsel Wolf an. Leuchtender Sonnenglanz brach durch die bunten Scheiben und überflutete die beiden.

Und jetzt setzte die Orgel wieder brausend ein.

Wolf und Sylvia waren Mann und Frau.

Die beiden wandten sich, den Gang zur Türe hinzuschreiten. Da sah Sylvia den Vater stehen, fühlte, wie sein Blick sie in Liebe umfaßte.

Sie dachte nicht an Ort und Stunde, sie hing an seinem Halse.

»Vaterherz!«

»Grasmückchen!«

Der starke Mann zitterte, als er sich zu seinem Kinde niederbeugte.

»Gott segne dich, Grasmückchen!«

Die Brüder drängten heran.

Lachend, weinend umfing sie Sylvia.

»Ich bleibe Mütterchen Sylvia, ich bleibe es, glaubt mir!«

Heinz riß ihr fast den Schleier vom Kopfe, so ungestüm drängte er herzu.

»Mütterchen Sylvia! Mütterchen Sylvia!«

Jörg riß ihn zurück.

»Altes Weib! Heulmeier!«

Aber die dicken Tränen liefen auch ihm übers Gesicht.

Die Szene war ungewöhnlich, aber die sie sahen, begriffen sie.

Sylvia faßte sich schnell. Sie trat zu Wolf heran.

»Verzeih, ich konnte nicht anders!«

Er faßte nur still ihre Hand und zog sie durch seinen Arm.

»Was dein ist, ist mein,« sagte er schlicht.

»Lobet den Herrn,« brauste es von der Orgel.

Und unter diesen Klängen, die in ihrem Herzen tiefen Widerhall fanden, traten die beiden vor das Tor der Kirche.

Drunten hielt August. Stolz schwenkte er die geschmückte Peitsche über den geschmückten Häuptern seiner »Rösser«.

»Mecht' der Frau Doktor ergewenst grateliere. Basse Se obacht, Freilein Sylvche, daß Se Ihne Ihr Kleid nit schmutzig mache.«

Damit schob er die junge Frau grinsend in den Wagen, wischte erst die Hand am Rock und bot sie dann dem jungen Ehemanne, der sie herzlich schüttelte.

»Sie hawe des große Los gezoge, Herr Doktor. E annerer dappt dernewe. No, Ihne gönn' ich's.«

»Danke,« sagte Doktor Wolf Brandt und lüftete lachend den Hut.

Die Pferde zogen an, der Wagen fuhr davon.

Unter der Kirchentür standen dicht gedrängt die Zuschauer.

Kaum daß sich Doktor Eriksen mit den Söhnen durchschieben konnte.

Nach allen Seiten mußte er die Hände schütteln.

Die Anwesenden nahmen teil an seinem Leid, seiner Freude, wie er in guten und bangen Tagen zu ihnen stand.

.

Im kleinen Ort wachsen die Menschen enge zusammen. Des einen Freude und Schmerz zieht weitere Kreise, als das in der großen Stadt zu sein vermag, wo alles im allgemeinen Strudel untergeht.

Doktor Eriksen und seine Söhne gingen zu Fuß heim.

Unten fuhren noch zwei Wagen vor für die anderen Gäste. In den ersten stiegen Professor Holle und Frau. Auch Trude war mit ihrem Mann zu Sylvias Ehrentag gekommen.

Die vier fuhren fort.

Oben standen nur noch die letzten Gäste und schickten sich an, vorsichtig die Stufen herabzusteigen.

Sie hatten schon während der Feier vielen zu raten gegeben.

»Wer is dann nor des?« Die Frage war allenthalben laut geworden.

Das Erstaunen, das drin lag, war gerechtfertigt.

Das Bäuerlein im Sonntagsrock, das Weiblein im Kirchenstaat, das schüchterne, linkische Mädchen, das die Stadtkleider nur noch mehr zum Landkind machten, sie waren fremde Erscheinungen in dieser Umgebung.

»Wer is dann nor des?«

»Ei dem Breitigam sein' Eltern und sein' Schwester. Alweil hot mer's die Kathrine gesagt. Die weiß es von ihrer Bas' und die hot's von 's Doktors Lene. Des Freilein Sylvche hot se partu derbei hawe wolle, und gestern sin se komme, und se schlafe bei 's Doktors, und des Sylvche is ganz vernarrt in die Schwichermutter, secht mei Bas', secht die Lene, und ich sag' –«

Was die Betreffende sagte, verklang im Rollen des abfahrenden Wagens, der die letzten Gäste dem alten Doktorhause zuführte.

Das hatte sich hochzeitlich-festlich geschmückt.

Diesmal hatte August, von Achim und Dieter, Jörg und Heinz unterstützt, sich selbst übertroffen.

Buchengrün, wohin man schaute. Eine Laube wölbte sich über der Tür, Gewinde vor allen Fenstern. Blumentuffe im Grün, Blumen am Boden, Blumen vor den Fenstern.

Ja, das alte Haus hatte ein Hochzeitskleid angelegt, und am hochzeitlichsten prangte der blaue Septemberhimmel darüber, vergoldete es die strahlende Septembersonne.

Auch drinnen Blumen und Grün, wo irgend möglich, angebracht. Diele, Treppe, Festgemach.

Und die Festtafel!

Da hatte Achim mit poetischem Sinn das Regiment geführt. Rosen und zartes Grün überall.

Heinz hatte Dahlien, Jörg Sonnenblumen zugeschleppt, und sie waren über deren Verbannung von der Tafel sehr ungehalten gewesen.

Achim blieb fest. Die beiden hatten sich darein finden müssen.

Als Achim aber vorhin den Festraum betreten hatte, um alles nochmals zu besichtigen, da fand er die Stühle des Brautpaars mit den verbannten Blumen wunderbar herausgeputzt.

Es verdarb den ganzen Eindruck der sinnig geschmückten Tafel, aber Jörg und Heinz strahlten dermaßen über den »patenten Gedanken«, daß Achim nicht den Mut fand, diesen Schmuck zu entfernen.

Der schönste Tafelschmuck aber waren doch die frohen Gesichter derer, die rundum saßen.

Das Brautpaar inmitten. Neben Sylvia Wolfs Mütterchen, neben Wolf das Altchen. Gegenüber die beiden Väter.

Die anderen reihten sich dran. Das männliche Element war vorherrschend.

Gretchen, Wolfs Schwester, saß zwischen Jörg und Heinz. Sie hatte es sich so ausgebeten. Es schien ihr am sichersten.

Jörg und Heinz waren ganz Kavaliere vom Scheitel bis zur Sohle, und Gretchen hatte ihre liebe Not, sich all der sie beängstigenden Ritterdienste zu erwehren.

Jörg füllte ihr Glas, Heinz häufte ihren Teller voll, dazwischen erkundigten sie sich unaufhörlich nach alle den Michel, Jakob und Peterchen, die sie damals in Gretchens Heimat kennen gelernt hatten.

Gretchen gab eifrig Auskunft – Gretchen war gut versorgt.

Trude hatte Gerhard zum erstenmal seit ihrer Verheiratung wiedergesehen.

Er war mit frohem, offenem Blick auf sie zugekommen und hatte ihr beide Hände gereicht.

»Glücklich, Frau Trude?«

Sie nickte nur, warm strahlten ihre Augen.

»Das freut mich.«

Die schlichten Worte kamen aus tiefstem Herzen.

»Ich bin inzwischen draußen gewesen, Trude, und habe mich in der Welt ein bissel umgeschaut. Wieviel gibt's noch zu sehen und zu lernen. Das Leben ist reich, Trude, und mein Beruf ist mir lieb.«

Gerhard dehnte die breite Brust – das Leben lag vor ihm, seine frische, ungebrochene Kraft sehnte sich danach, sich dran zu messen. Vergangenes war abgetan.

War die Zahl der Gäste auch klein – Sylvia hatte des kaum abgelaufenen Trauerjahrs halber auf einer ganz stillen Hochzeit bestanden –, so waren die wenigen dafür umso munterer.

Nur der Geistliche war außer den Eltern des Bräutigams und der Familie Holle da.

Der Lust des Tages brauchte ja kein Gedanke an Trennung Abbruch zu tun.

Sylvia schied nicht von den Ihren, die gewannen bloß ein liebes Familienglied dazu.

Das betonte nun auch der Geistliche, der nochmals eine schwungvolle Rede auf das Brautpaar hielt. Sylvia wußte kaum, wohin schauen – es kamen gar zu viele warme Worte auf ihr Teil.

Als dann der Vater Miene machte, den Stuhl zu rücken, hob Sylvia flehend die Hände.

»Bitte, bitte nicht!«

Und sie fuhr sich so drollig verschämt über das heiße Gesichtchen – man sah, sie ahnte, was kommen würde – daß alle lachen mußten.

Aber Doktor Eriksen stand doch in seiner ganzen stattlichen Höhe. Er hob sein Glas.

»Meinem Grasmückchen – unserem Mütterchen Sylvia!«

Er leerte sein Glas bis zur Neige – die Tränen liefen ihm über den blonden Bart.

Die schlichten Worte zündeten.

»Mütterchen Sylvia! Mütterchen Sylvia!«

In donnerndem Jubel klang's, in Rührung – in stammelnder Liebe. Die Gläser klangen zusammen, wieder – wieder und wieder.

Als der Tumult, den namentlich Jörg und Heinz stets aufs neue anfachten, etwas ebbte, da legte sich eine rauhe, schwielige Hand auf die Sylvias.

»Kind, Kind, du kannst stolz sein. Awer du wirst glicklich werde, das weiß ich gewiß. Mein Bub war immer e guter Sohn, er wird auch e guter Mann. Wer Liebe säet, wird Liebe ernten.«

Sylvia zog die rauhe, schwielige Arbeitshand von Wolfs Mutter an ihre Lippen.

»Mutter, liebe Mutter! Er ist ja dein Sohn!«

Ganz erschrocken riß das Weibchen die Hand zurück. Dann sah sie sich verstohlen um, ob's auch niemand bemerkt habe. Aber ihre Augen leuchteten.

Nur des Sohnes Augen leuchteten Antwort. Lange und tief sahen sich die beiden an. Ernst nickte die Mutter dem Sohne zu. Dann faltete sie die Hände wie zu stillem Gebet.

Jörgs Stimme wurde laut.

»Du, Trude, wie steht's denn mit den Socken?«

Trude sah ihn verständnislos an. Da blitzte ihr die Erinnerung auf. Sie wurde feuerrot und lachte ihrem Mann schelmisch zu.

»Du, der junge Mann dort interessiert sich für deine Fußverhältnisse. Möchtest du ihm nicht mal deine Socken zeigen?«

»Meine Socken?«

Professor Geibelt riß die Augen auf. Der schelmische Ausdruck in Trudes Gesicht belehrte ihn.

»Ach so! Ja, Jörg, die haben die Prüfungszeit überstanden. Im Anfang zeigten sich stets bedenkliche Zusammenziehungen da, wo Spitze und Ferse sein müssen. Liebe aber duldet alles. Jetzt wird's allmählich besser.«

»Und wie war's mit dem Essen?« erkundigte sich Heinz. »War viel verbrannt und versalzen?«

»Ging so an,« lachte Professor Geibelt. »Hab' meinen Magen drauf dressiert. Der Mensch kann alles, seht ihr!«

»Ha, ha, ha, ha!« lachten Jörg und Heinz.

Professor Geibelt aber fuhr herum. Er fühlte sich nicht eben sanft am Ohrläppchen gezupft.

»Willst deine Frau verleumden, he? Schäm' dich,« sagte Frau Trude und tat sehr entrüstet.

»Jörg! Heinz!« hatte Mütterchen Sylvia dazwischen ganz erschrocken gemahnt. Sie fürchtete Frau Trudes Empfindlichkeit, die sie von früher kannte.

Aber die nickte ihr lachend zu.

»Laß, Sylvchen. Meines Mannes Vollmondgesicht und Körperfülle sind meine besten Fürsprecher.«

So hatte sie die Lacher auf ihrer Seite.

Gretchen hatte offenen Mundes zugehört.

»Ja, lerne dann die Mädchen bei euch nit alle Strimp flicke un koche?« erkundigte sie sich heimlich bei Jörg.

»Behüte,« sagte der sehr ernst, »bloß Strümpfe zerreißen und selber essen, was andere kochen.«

Gretchen sah ihn ungewiß an.

»Des kennen bei uns schon die kleine Kinner,« sagte sie.

»Seid ihr aber gescheit.« Jörg blieb sehr ernst.

Heinz fühlte sich berufen, die Ehre der Stadtleute zu retten.

»Du, Gretchen, kannst du malen und Klavier spielen?«

»Nein. Awer kannst du Kartoffel hacke un melke?«

Heinz war geschlagen. Er gab's nicht zu.

»Kannst du Lateinisch? Was heißt vitae?« Was heißt mors

»Weiß ich nit, is mer auch eins! Awer Bauredeitsch kann ich! Was heiß Värgebanser? He? Was heißt Vajuhn?«

Dem war Heinz nicht gewachsen. Wie hätte er wissen sollen, daß »Värgebanser« Viergebeinser – »Eidechse« bedeutete. Daß »Vajuhn« einfach Gelbveigelein war. Ja, ja, Gretchen war nicht auf den Mund gefallen.

Lene, die eben Gretchen die Bratenschüssel über die Schulter bot – sie hatte sich das Aufwarten bei Tafel nicht nehmen lassen und tat's mit viel Anstand und Würde – Lene lachte laut hinaus.

»Bravo Freinleinche, das war gut gegewe. Nor ordentlich frih die Mannsbilder geduckt. Des tut en nix.«

Jörg und Heinz waren nun seit acht Tagen wieder mit Sack und Pack daheim eingerückt und inzwischen zu Lene längst wieder in die althergebrachten Beziehungen getreten.

»Meinst du mit den Mannsbildern uns, Lene?« erkundigte sich Jörg neckend. »Das wäre nämlich eine große Schmeichelei.«

Lene drohte ihm mit der fetten Faust.

»Rackerzeug,« sagte sie, »Deiwelsplanze.« Aber sie sah dazu fast zärtlich nach den beiden hin.

Noch ein kurzes, friedlich-frohes Stündchen.

Dann erhob sich das Brautpaar.

Man hörte August von unten mit der Peitsche knallen.

In Altchens Zimmer kniete Sylvia vor dem Stuhl der Greisin.

»Leb wohl, Altchen!«

»Gott mit dir, Herzenskind. Und, Sylvia, Kind, merke: die Festtage verrauschen. Der Alltag bringt dann wieder allerlei Ecken und Kanten, an denen man sich stoßen kann und stößt. Wenn wir uns dann da nicht überall leicht herumfinden, dürfen nur wir selbst uns die Schuld daran geben. Aber Liebe, Kind, Liebe überwindet alles. Daran halte fest.«

Sylvia hatte das Gesicht in Altchens Schoß geborgen.

Leise strich die Greisin mit der Hand über das braune Köpfchen.

»August wird ungeduldig, hör, wie er knallt,« sagte sie leise und mild. »Geh, Kind, unsere Liebe folgt dir, wohin du auch gehst. Wer Liebe säet, soll Liebe ernten. Auf Wiedersehn!«

»Sylvia, Sylvia!«

»Grasmückchen!«

»Mütterchen Sylvia!« tönte es von draußen in allen Klangfärbungen und Tonlagen.

Sylvia stand draußen, sie wußte nicht wie.

Sie fühlte sich umringt, Arme umschlangen sie, man küßte sie, drückte ihr die Hand. Sie fühlte sich fortgezogen, unaufhaltsam – es war wohl Vaters Arm, der sie stützte. Sie hörte, daß alle folgten, hörte Jörg und Heinz vorauf poltern, hörte August mit der Peitsche knallen – sie ging wie im Traum.

Dann wurde sie in den Wagen gehoben. Blendender Sonnenschein schloß ihr die tränenfeuchten Augen. Kaum daß sie unter den Lidern vorblinzeln konnte. Sie sah nur Vaters goldenen Bart dicht, dicht am Wagenschlag.

Sie streckte die Hände aus. »Vaterherz!«

»Grasmückchen!«

Da ein Krachen und Splittern, ein Schmettern und Klirren wie von berstendem Geschirr aller Art.

»Mei Henkeldopp!« kreischte Lene und stürzte auf Jörg und Heinz zu, die ihre Geschosse wie toll neben dem Wagen aufs Pflaster schmetterten. Wer weiß, wo und in welchem Zusammenhang sie von solchen Zeremonien gehört hatten. Sie hatten sich das als Schluß- und Knalleffekt erkoren, da Böllerschüsse oder Feuerwerk verboten waren. Sie versprachen sich kolossale Wirkung davon und hatten tagelang sorgfältig allerei Geschosse gesammelt, ohne allzu wählerisch zu sein. Die Wirkung blieb auch nicht aus, obgleich sie dann doch etwas verschieden ausfiel davon, wie Jörg und Heinz sie sich eigentlich gedacht hatten.

Vorderhand zeterte Lene gellend weiter.

Sylvia wollte sich, treu ihrer Rolle als Vermittlerin, aus dem Wagen lehnen.

»Mütterchen Sylvia!«

»Hoch, Mütterchen Sylvia!« schrien die Jungen. Erneutes Krachen von Scherben!

Die Pferde bäumten sich und zogen dann mit heftigem Ruck an. Sylvia war auf die Polster zurückgefallen.

Heidi, wie die Pferde ausgriffen! Wie August stolz and bedeutsam mit der Peitsche knallte.

Die ganze Nachbarschaft war an den Fenstern.

Viel warme Blicke, tausend gute Wünsche folgten Sylvia auf ihrem Wege.

Wieder war's Herbst.

 

Die Familie hatte dem jungen Paare, als es damals von der Reise heimkehrte, ein gar lauschiges Nestlein bereitet gehabt im lieben, alten Hause.

Sylvia war das eine Überraschung gewesen. Sie dachte in ihrer Bescheidenheit, sich in das Allgemeine einfach einzufügen wie bisher.

Statt dessen fand sie ein reizend behagliches, kleines, Reich vor, von Liebe ersonnen und ausgeschmückt. Sie kam nicht aus dem Freuen und Bewundern heraus.

»Ein kleines Nest, Kind,« hatte Altchen fast wie entschuldigend gesagt. »Aber warte nur, bis die Alte fort ist, dann gibt's Raum!«

Sylvia hatte ihr den Mund mit Küssen geschlossen.

»Böses Altchen, wie kannst du so reden!«

Und dann hatte das alte, liebe Leben begonnen, nur so viel schöner und reicher für Sylvia.

Sie schaltete und waltete im Hause wie zuvor.

Der Vater ging seiner Praxis, Wolf seinem Amte nach. Und wenn sie heimkehrten, fanden sie ihr Hausmütterchen mit dem sonnigsten Gesicht, den heitersten Willkomm auf den Lippen.

Es war gut sein in dem alten Hause.

Unter Schwager Wolfs liebevoller Leitung und Aufsicht wurden aus Jörg und Heinz tüchtige Schüler und leidlich gesetzte Menschenkinder, die für die Zukunft Gutes versprachen.

Gerhard war Assistenzarzt an einer großen Klinik in Leipzig. Von Achim und Dieter kamen stets frohe Briefe. Mutig und voll Zuversicht sahen sie an der hohen Leiter empor, die's zu erklimmen galt, und auf deren Anfangssprossen sie erst standen.

»Unsere Schuld soll's nicht sein, wenn wir nicht Feldmarschall werden,« hatte Dieter geschrieben. »Sollte es aber gegen alles Erwarten doch nicht gelingen, so müssen wir uns eben mit denen trösten, die unser Los teilen. Wenige sind das nicht. Wie viele Leutnante gehen aus einen Feldmarschall? Das ist eine Frage für Heinz, unser Rechengenie.«

Nur frohe Kunde kam von außen in das alte Haus, und innen, innerhalb der alten, wetterfesten Mauern, da hatte jetzt auch noch ein neues Glück, ein wunderniedlich winziges und doch so unfaßbar großes Glück die Äuglein aufgeschlagen.

In eben jenen lauschigen, traut behaglichen Räumen des jungen Paars war das geschehen.

Dort saß Sylvia auf ihrem Langstuhl am Fenster und hielt etwas Wunderweiches, rührend Hilfloses in ihren Armen. Ein vorwitziger Sonnenstrahl hatte sich durch die zugezogenen Vorhänge gestohlen, huschte erst suchend an den Wänden hin, traf dann die Gruppe am Fenster und vergoldete dort den zarten Federflaum auf dem Köpfchen eines winzigen, noch ganz weltfremden Erdenbürgerleins. Blauäugelein blinzelten nichtssagend ins Licht, ein Näslein träufelte sich, zwei Fäustchen hoben sich und rieben dran. Und der Sonnenstrahl huschte weiter und fing sich in zwei braunen Frauenaugen, die verklärt auf das kleine Wunder niederblickten.

Eben wurde die Tür geöffnet, nur ein Spalt, vorsichtig traten der Vater und Wolf ins Zimmer. Jörg und Heinz schoben sich hinterher.

Sie kamen, wie nun schon alle Tage der letzten Wochen, sich zu vergewissern, ob das, was da auf Sylvias Schoß vor ihnen lag, kein Traum sei, ob es nicht, während sie da draußen weilten, auf und davon geflogen oder in nichts zerstoben wäre.

Nein, da war's noch, es atmete und lebte. Lächelnd wies Sylvia darauf hin, sie hob den Finger bedeutungsvoll an die Lippen.

Noch lag der Sonnenstrahl über dem goldenen Flaum des Köpfchens, die Blauäugelein aber hatten sich bereits wieder geschlossen. »Alf-Bübchen!« flüsterte Sylvia leise.

 


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